[251] Verteidigung

Nein, das kannst du doch nicht im Ernste meinen,
Daß in Freundschaft die Liebe sei verwandelt,
Da ich längst mich des guten Brauchs entwöhnte,
Dich in zärtlichen Liedern anzusingen.
Pflegt doch selber die Nachtigall, sobald ihr
Nest sie baute, die lyrischen Ergüsse
Ihrer schmachtenden Brautzeit einzustellen.
Denn, sein Weibchen zu loben, ist mit Recht wohl
Unter Männern verpönt als höchst geschmacklos,
Da man stets in der Frau sich selber lobe.
Ich nun vollends – verdient' ich deine Klage,
Da, gesteh es nur ein, auf all mein Dichten
So bedenklichen Einfluß du geübt hast?
Ach, ich höre von meinen hochwohlweisen
Rezensenten noch heut den ew'gen Vorwurf,
Daß, so alt ich geworden, ich noch immer
Schönheitstrunken den schnöden Schattenseiten
Dieser heutigen Welt den Rücken wende,
Daß insonderheit meine Fraungestalten
Stets von adligem Glanz umflossen schienen.
Doch, Geliebteste, wenn in meiner Dichtung
Holde weibliche Wesen dir begegnen,
Liebevollen Gemüts, von feiner Klugheit,
Auf sich selber beruhend und so weiter –
Wer, du Zweiflerin, hat die große Sünde
Meines Idealistentums verschuldet,
Als die Eine, die mir an Durchschnittsweibern
Ein für allemal den Geschmack verdorben?

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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Verteidigung. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-65C3-2