[487] An Personen

Dem Andenken König Maximilians II. von Bayern

O daß der Wert der höchsten Lebensgüter
Erst im Verluste reift, daß wir, vom Trug
Des Augenblicks umspielt, sorglose Hüter
Des Ew'gen sind, und dünken uns so klug!
Ein echter Mensch, der innige Gemüter
Zur Liebe zwingt, wer dankt ihm je genug?
Er geht dahin – nun ist sein Bild vollendet
Und wirket fort, wo andrer Wirken endet.
Wohl, dies ist Menschenlos! Und dieses Los
War dein, o Fürst, der du ein Mensch gewesen,
In deiner Krone Glanz so schimmerlos,
Daß manche wohl verkannt dein hohes Wesen.
Doch der begriff dein Wollen, rein und groß,
Dem je vergönnt war, dein Gemüt zu lesen
In jenem Auge, das so sinnend glühte
Von Adel, Mut, Gewissensernst und Güte.
Du lebtest nicht dir selbst. Dein Sinn und Denken
War deinen Pflichten rastlos zugekehrt.
Du dachtest stolz vom Amt, ein Volk zu lenken,
Bescheiden von der Kraft, die dir beschert.
Nichts sollte dir den freien Blick beschränken,
Denn wer die Wahrheit sucht, ist ihrer wert;
Heraufzuführen ihren lichten Morgen,
Die Blüte war's all deiner Fürstensorgen.
So, statt in weicher Ruhe dich zu wiegen,
Hast du den Kampf der Geister selbst entfacht.
Nie zweifelnd an des Lichtes schönen Siegen,
Ein Wecker standet du auf hoher Wacht.
[488]
Du sahst die Gipfel rings im Glanze liegen,
Unwillig aus der Tiefe wich die Nacht;
Dein Lohn, hoch überm Lohn der Welt erhaben,
War, an der Strahlen Wachstum dich zu laben.
Dann liebtest du's, nach ernster Tagestat
Im Hain der Musen deine Stirn zu kühlen,
In ihrer heil'gen Quellen tiefes Bad
Eintauchend deine Sorgen abzuspülen.
Ein Reigen hoher Abgeschiedner trat
Still vor dich hin, mit ewigen Gefühlen
Die Brust dir stärkend, und des Zwangs entbunden
Floß das Gespräch in jenen reichen Stunden;
Dem Jüngsten selbst. Als deine Huld ihn rief,
Den Namenlosen, der die ersten Flüge
Mit schwankem Fittich kaum getan, wie tief
Empfand er seiner Jugend Ungenüge!
Er wußte nur, daß etwas in ihm schlief,
Das er erwachend dir entgegentrüge,
Und frohgewillt, zu leben und zu lernen,
Folgt' er vertrauend dir und seinen Sternen.
Du gönntest ihm von allen seltnen Gaben
Die seltenste, die je ein Fürst verliehn:
Freiheit, nach eignem Trieb sich Bahn zu graben,
Und wie er sich dir gab, so nahmst du ihn.
Nicht wolltest du den Ruhm des Kenners haben,
Den Schaffenden nach deinem Wink erziehn;
Du ehrtest stets und ließest frei gewähren
Den graden Wuchs in eignen Charakteren.
Der Dichter, dessen Lied die Welt zu spiegeln
Sich unterfängt, soll erst die Welt erkennen,
Und wie er Menschenrätsel lernt entsiegeln
In Hütten, wo die dürft'gen Feuer brennen,
So mögen sich die Pforten ihm entriegeln,
Die von dem Sitz der Macht die Menge trennen.
Erst wenn er Höhn und Tiefen maß der Erden,
Lernt er die schwerste Pflicht: gerecht zu werden.
[489]
Und so genoß ich deiner edlen Milde
Sorglosen Herzens manch ein Jugendjahr,
Still hoffend, einst durch dauernde Gebilde
Zu zeugen, daß sie nicht vergeudet war.
Nun hast du dich vom irdischen Gefilde
Hinweggewandt zu sel'ger Geister Schar
Und ließest mich in meines Strebens Mitte,
Daß ich den Schmerz versäumten Danks erlitte.
Was gälte dir mein Dank? Verklärte fragen
Nach Zeichen nichts, erlöst von allem Schein.
Mich aber drängt's, den Lebenden zu sagen,
Was du mir warst, und dir ein Mal zu weihn.
Mag mir die Zukunft reifre Früchte tragen,
Die Erstlinge von jedem Herbst sind dein,
Wie dieser Kranz, den mit bewegter Seele
Ich deiner Gruft zu schlichtem Schmuck erwähle.

An Hermann Lingg

Wie, Freund? Ist's Wahrheit, was ich seh'?
Wir zwei beim Bundesschützenfeste,
Nicht als beschaulich stille Gäste,
Nein, feierlich im Komitee?
Ist denn die Zeit zurückgekehrt,
Da noch Apollo ward verehrt
Nicht bloß als treuer Musenpfleger,
Auch als berühmter Schütz und Jäger?
Denn daß wir beide, wie wir hoffen,
Ins Schwarze hie und da getroffen
Mit unsrer stillen Art und Kunst,
Erwarb uns schwerlich so viel Gunst,
Daß, wo es knallt den ganzen Tag,
Man unser nicht entraten mag,
Zumal kein Mangel ist an biedern
Grünangehauchten Schützenliedern,
Daß nun ein großer Lyrikus,
Wie du, ein frisches dichten muß,
Zu schweigen von meiner Wenigkeit.
[490]
Doch sieh! da fällt mir ein beizeit,
Daß ich in Tagen, die schon fern,
Auch war ein Jäger vor dem Herrn,
Wovon der Münchner Magistrat
Etwa ein Gerücht vernommen hat,
So daß er nun auch mich erlesen
Zum Beirat diesem Schützenwesen,
Als einen, der der Jägerei
Zwar nur als Dilettant beflissen,
Doch auch nicht übel kundig sei.
Da treibt mich leider mein Gewissen,
Zu beichten, was mich lang gebrannt,
Wie's um mein erstes Jagdglück stand,
Daß einst nicht meinen Grabstein zieret
Ein Nachruhm, der mir nicht gebühret.
Ich war im schönen Berchtesgaden
Anno Sechzig zu Hof geladen,
Wo ich im luftigen Sommerschloß
Gar vielfach Liebs und Guts genoß
Von meinem königlichen Herrn,
Der so viel Huld an mir bewiesen –
Nie würde sie genug gepriesen.
Nun mocht' er seine Gäste gern
Vergnügt und guter Dinge sehn,
Sollt' einem jeden nach Wunsch geschehn;
Und da von manchem Jägerzug
Ich keine Beute nach Hause trug –
Ein blutiger Neuling, wie ich war,
Nicht ungeschickt im Treffen zwar,
So lang es nur die Scheibe galt,
Doch wenn das Hochwild durch den Wald
Hinstürmte, gleich mit Herzenspochen
Fühlt' ich das Blut in den Adern kochen,
Und schoß, wie's Sonntagsjägern geht,
Zu hoch, zu tief, zu früh, zu spät –
Da schien's meinem hohen Gönner fast,
Als würde das Weidwerk mir verhaßt,
Und nagt' ein Wurm mir am Gemüte.
Drum, da es wieder waldwärts ging,
[491]
Ich eine Büchse von ihm empfing,
Einen schönen Zwilling von sondrer Güte. –
Die hat mir selbst bei keiner Jagd,
So sprach er lächelnd, je versagt;
Mit der soll's Ihnen heut gelingen.
Nun, Weidmannsheil! –
Und also gingen
Wir Schützen jeder an seinen Stand.
Ein Wäldchen, das Ahornet genannt,
Im wolkennahen Hochgebiet
Empor zur Gotzenalm sich zieht,
Von steilem Felskamm überragt,
Des jäh abstürzendes Gewänd
Vom Königssee den Talgrund trennt.
Hier war bestellt die frühe Jagd
Und ward ein Stand mir zugewiesen,
Nie einen schönern gab's als diesen.
Aus eines Tännleins grünem Schatten
Sah ich hinab die sanften Matten,
Von Ahornwipfeln überdacht,
Dazwischen spielt in Ringen sacht
Die golden heitre Sommersonne.
Ich saß verträumt in stiller Wonne,
Doch späht' ich scharf und hielt zum Schuß
Die Büchse fertig auf den Knieen.
Ein Jagdgehilf' war mir verliehen,
Mit seltnem Namen: Phrygius.
(Dies aber war sein ganz Latein,
Mocht' eines Ahnherrn Erbschaft sein,
Der einer Schul' einmal gewaltet
Und sich lateinisch umgestaltet.)
Ein hagrer Bursch mit Augen blau,
Ein rechter Jäger fest und schlau,
Und war's wohl längst von Herzen satt,
Daß der Herr Doktor aus der Stadt
Sein Pulver nebenbei verknallte.
Wie nun die Jagd das Tal durchhallte
Und ferne fiel ein erster Schuß –
Heut, sag' ich, teurer Phrygius,
[492]
Sollst du dich meiner nimmer schämen;
Ich will mich scharf zusammennehmen. –
Und sieh, kaum ward die Rede laut,
Stößt mein Gesell mich heimlich an.
Ein junger Spießer zog heran,
Vorsichtiglich, nicht gar vertraut,
Und windet äugend um sich her,
Als ob's ihm nicht geheuer wär'!
Ich flugs die Büchse von den Knien,
Doch er gewahrt mich, wie mir schien,
Er wend't sich – tut einen Satz – und krach!
Donnert mein Mordgewehr ihm nach.
Doch was war das? Im selben Nu
Kracht's abermals – Was Teufel! du?
Phrygius? – Er achselzuckte bloß:
's war nix. Mein rechter Lauf ging los,
Von selbst. Doch der Herr Doktor hat
Getroffen. Schaun's nur, grad aufs Blatt!
Hin durch die Lichtung eilen wir.
Da lag im Gras das edle Tier,
Die Lichter halb verglast, und wendet
Den Kopf nach mir, eh' es verendet,
Fast vorwurfsvoll, als früg' es an,
Wer von uns zwein ihm das getan.
Mein Phrygius murmelt nur: Den hat's!
Und schleicht zurück zum alten Platz.
Doch ich: Phrygius – der Schuß war gut;
Doch ist mir wunderlich zumut.
Ging deine Büchse – schwör mir's heilig! –
Von selber los? – Los ging sie freilich.
Hab' mit der Hand am Schloß gespielt
Und auch – mein Eid! – nicht erst gezielt.
Doch jetzt sein's stat. Es kimmt noch mehr.
Wohl kam's, doch nimmer zu uns her.
Die Jagd nahm ihren raschen Lauf,
Ein Wetter zog vom See herauf,
Bald sahn wir auch die Treiberkette.
Nun ging's bergunter in die Wette,
Bis zu dem sichern Ort am Strand,
[493]
Wo schon gedeckt die Tafel stand,
Die Köche für den Königstisch
Sotten und brieten, Wild und Fisch.
Da ward mit Zuruf ich empfangen.
Schon war die neue Mär ergangen,
Daß heut auch mir ein Schuß geglückt.
Den Zweifel, der mich heimlich drückt',
Ich schluckt' hinunter ihn und saß
Ganz still, da nun das volle Glas
Der königliche Jagdherr hob
Und sprach: Dem Doktor ziemt ein Lob.
Er tat heut seinen Meisterschuß.
So wollen wir verdientermaßen
Den wackren Schützen leben lassen! –
Und neigte mir sein Glas zum Gruß.
Ich murmelt was von Phrygius,
Doch nahm es niemand mehr in acht,
Denn plötzlich brach mit wilder Macht
Das Wetter los, der See ging hoch,
Wir leerten kaum die Gläser noch
Und schwammen durch Gewittergraus
Bis auf die Haut durchnäßt nach Haus.
So losch mein erster Glückstag aus.
Doch nachts im Traum ist mir erschienen
Mein junger Hirsch und sah mich an
Mit spöttlich überlegnen Mienen,
So gut ein Waldtier grinsen kann,
Als wollt' er sagen: Hast du nun
Das Herz, auf Lorbeern auszuruhn,
Die du nicht selber konntst gewinnen?
Bei deinem Leisten bleib hinfort:
Mach Verse! Sinne nicht auf Mord! –
Spuk, rief ich, hebe dich von hinnen!
Vernahmst du nicht des Phrygius Schwur? –
Der Unhold aber lachte nur,
Und um den Spötter rings zuhauf
Tauchte viel andres Wild noch auf,
Rehböcke, Gemsen ohne Zahl,
Die sprangen um mich her zumal,
[494]
Vertraut und nah, um mich zu necken,
Und stupften mich an allen Ecken,
Und hob ich meine Büchs' empor,
Hohnkicherte der ganze Chor,
Bis mir vom Haupt der Angstschweiß lief,
Ich überlaut: Hilf, Phrygius! rief –
Da war das Nachtgespenst zerstoben.
Seitdem gab ich wohl beßre Proben,
Das Treffen mit der Kugel sei
Doch eben auch kein' Hexerei.
Nur seltsam: Keiner hatt' es acht,
Ob ich meine Sache gut gemacht,
Und kam ich siegesfroh nach Haus,
Bracht' niemand einen Trinkspruch aus.
Dir aber les' ich's am Gesichte:
Was die Moral sei der Geschichte? –
Ei, daß man uns um manches ehrt,
Was nicht der Red' und Ehre wert,
Indes die Welt bleibt wiederum
Bei unsern besten Taten stumm,
So daß mit ruhigem Gewissen
Wir eins ins andre rechnen müssen.
Und also, wenn ich heut' uns seh'
Im Bundesschützenkomitee,
Laß uns nicht grübeln, ob wir wert
Des Ehrenamts, so uns beschert,
Vielmehr bescheiden Arm in Arm
Durchwandern wollen wir den Schwarm,
Und wenn am Himmel Wolken schweben,
Die Hände zum Apoll erheben,
Daß diesem frohen Festgetreibe
Der Fernhintreffer günstig bleibe,
Mit seiner Sonne schönstem Glanz
Vergoldend jedes Siegers Kranz,
Daß ungetrübt in alt und jung
Nachleuchte die Erinnerung.
So wären denn auch die Poeten
Im Ausschuß nicht umsonst vertreten.

Juni 1881

[495] An Theodor Storm

Zum 14. September 1887


Heut von meinem Sommerhaus
Trägt mich über Tal und Hügel
In dein Holstenhaus hinaus
Phantasie auf raschem Flügel.
In dein Zimmer führt sie mich,
Wo vor kurzen Jahr' und Tagen
Wir am Fenster abendlich
Trauter Wechselrede pflagen.
Vor uns Feld und Waldesaun,
Drauf des Herbstes Schimmer ruhte,
Daß uns Alternden im Schaun
Eichendorffisch ward zumute:
Gleich als hätten ausgespannt
Unsre Seelen weit die Schwingen,
Übers abendstille Land
Friedlich uns »nach Haus« zu bringen.
Da auf einmal hört' ich dich
Halb wie zu dir selber sprechen:
Herbst ist da. Es melden sich
Schon die fröstelnden Gebrechen.
Frühreif fiel mir auf das Haupt,
Wenig blieb mir noch des Holden;
Doch, solang man liebt und glaubt,
Soll man sich den Tag vergolden. –
Sieh, da war dein junges Kind
Uns verstohlen nachgegangen,
Hielt mit schlanken Ärmchen lind
Ihres Vaters Hals umfangen.
Und ich sprach: Wem frisch und rot
Solche Sommerfrüchte reifen,
Dem wird noch des Winters Not
Nicht so bald ans Herze greifen,
[496]
Und er läßt die Siebzig nahn,
Nicht gebückt auf die Postille:
Aufrecht, wie wir stets ihn sahn,
Wandelt er in Lebensfülle.
Wie ein Fruchtbaum herbstbereift
Grünt er auf des Lebens Gipfel,
Und der Ernten manche reift
Sonnig noch in seinem Wipfel. –
Wohl prophetenäugig sah
Damals ich in Lebensweiten.
Sieh, nun sind die Siebzig da,
Und du stehst noch wie vorzeiten.
Deiner Tage Kampf und Schmerz
Hast du mild verklärt im Singen,
Denn ein rechtes Menschenherz,
Weißt du, ist nicht umzubringen.
Schenkst dem Volke Jahr um Jahr
Goldner Früchte reichen Segen,
Dem nun schon die Enkelschar
Gleich den Vätern harrt entgegen.
Und so woll'n wir's, alter Freund,
Noch ein Weilchen weitertreiben,
Wenn der Herbst das Laub auch bräunt,
Eingedenk des Sommers bleiben.
Während auf Parnasseshöhn
Aberwitz'ge Knaben lärmen:
»Schön ist häßlich, Häßlich schön!«
Und im Hexensabbat schwärmen,
Wird der Drang dir nie gestillt,
Deines schönen Amts zu walten,
Dieser Welt verworrnes Bild
Leise deutend zu gestalten.
[497]
Noch ist keine Ruhezeit
Dir im Abendrot erglommen –
Aber still! Noch mancher heut,
Dünkt mich, will zu Worte kommen.
In dem schieferdunklen Haus
Schwärmt es ja von Frohgesichtern,
Und in all dem Saus und Braus
Mangelt's wohl auch nicht an Dichtern.
Ich, anstatt in deine Hand
Einen Blumenstrauß zu drücken,
Kann zum Fest nur weit ins Land
Ein beschriebnes Blatt dir schicken.
Laß dir's lesen von Dodo,
Und dir duftet ins Gemüte,
Rosen gleich von Jericho,
Alter Freundschaft frische Blühte.

An Gottfried Keller

Zum 19. Juli 1889


Mittsommerabend. Auf der Schattenbank
In meinem Gärtchen saß ich, nach der Glut
Des Tags mich kühlend im gelinden Hauch
Des Lüftchens, das vom nachbarlichen Hain
Zu mir herüberflog. Ein zartes Rot
Umglomm die Zwillingsgiebel meines Hauses,
Die Sphinxe dort und Adler leicht vergoldend,
Und auf dem First, einsam ins Abendglühn
Ausschauend, saß der schwarze Amselkönig,
Stumm und gedankenvoll, wie alte Leute
Die Nacht durchwachen, wenn die junge Brut
Schon lang zu Nest gebracht ist. Hinterm Gitter
Der Ahornwipfel schwamm in feuchtem Glanz
Des frühen Mondes Silberkahn herauf,
Und stille war's ringsum.
Wie ruhig floß
Des Lebens tiefer Strom an mir vorbei,
[498]
In seiner Welle so viel Holdes spiegelnd,
Das all mein eigen war! Und doch – warum
Verschloß dem Zauber dieser Stunde sich
Voll Unmut diese Brust? Laß mich's gestehn:
Ich hatte dieses Tages Feierstunde
Mir selbst vergällt, da ich ein Buch gelesen,
Der neusten eines, der so laut gepriesnen,
Die uns Gealterten der kecke Nachwuchs
Mitleidig höhnend vor die Nase hält:
»Da seht! Nur das allein ist wahre Kunst!
Wie hier die Welt sich spiegelt, als ein Haufe
Wüstheit und Unrat, Jammer, Aberwitz
Und Niedertracht, so ist's um sie bestellt,
Und so nur, ob es auch zum Himmel stinkt,
Sie darzustellen, ist des Dichters Recht
Und heil'ge Pflicht, nicht wie ihr allzu lang
Euch selbst betrügend sie uns vorgetäuscht.
Denn Wahrheit ist der Zukunft Feldgeschrei,
Schönheit ein gleißend Götzenbild und Anmut
Ein Tand, der Jungfräulein, nicht Männern ziemt.
Das lernt von uns, ihr altersschwachen Herrn,
Und seid ihr klug, so macht ihr's, wie im Land
Der Wilden jene Greise, die, sobald
Sie fühlen, daß ihr letztes Stündlein naht,
In große strohgeflochtne Flaschen kriechen,
In der Familiengruft sich selbst bestattend,
Und von den Enkeln sorgsam zugekorkt
Bescheiden warten, bis ihr lahmes Herz
Den letzten Schlag will tun.«
O liebster Freund,
Auch dich betörte jener alte Wahn.
Denn seit du deine »lieben Fensterlein«
Auftatst »dem goldnen Überfluß der Welt«,
Den du mit Farb' und Stift zu bannen suchtest
Und dann mit Meisterzügen auf die Blätter
Der Büchlein, die das Herz uns aufgeregt
In Heiterkeit und Tiefsinn, Lust und Leid,
Hast unermüdlich du Begnadeter
Der Schönheit heil'gem Dienste dich geweiht.
»Nicht jener Schönheit, die voll Eitelkeit
[499]
Und Selbstsucht sich mit Pfauenfedern schmückt
Und wie der Pfau von allen Dächern kräht;
Und nicht der Schönheit, die das Aug verdrehend
Mit matter Salbung schale Heuchler pred'gen,
Die auf den Gassen mit der Halbheit buhlen,
Der Dinge Wesen schwächlich übertünchend
Und mit dem unerschöpften Redeschwall
Die Kraft zur schönen Tat im Keim ersticken!
Die Schönheit ist's, die Friedrich Schiller lehrt,
Die süß und einfach da am liebsten wohnt,
Wo edle Sitte sich dem Reiz vermählt
Und der Gedanken strenge Zucht gedeiht!
Die Schönheit ist's, die nicht zum Ammenmärchen
Die Welt uns wandelt und das Menschenschicksal –
Nein, die das Leben tief im Kern ergreift
Und in ein Feuer taucht, draus es geläutert
In unbeirrter Freude Glanz hervorgeht,
Befreit vom Zufall, einig in sich selbst
Und klar hinwandelnd wie des Himmels Sterne!« –
So sprachst du, Meister Gottfried, damals schon
Vor drei Jahrzehnten, da in deiner Stadt
Man jenes hehren Genius Fest beging,
Der dichtend wob der Morgenröte Duft
Um die gemeine Deutlichkeit der Dinge
Und adelte des Lebens Nichtigkeit
Mit ewigen Gedanken. Er auch nahm
Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit,
Daß er ein Wecker uns und Tröster ward.
Das ist nun abgetan. Trostlosigkeit
Ward Glaubenssatzung, und die jünste Welt
Spottet der Toren, die in Ehrfurcht noch
Zu ihm emporschaun.
Und die Nacht brach ein.
Der Giebel Purpurglanz erblaßte jäh,
Und um mich schwirrt' in ungewissem Fluge
Der Fledermäuse graue Schattenbrut.
Mein Haupt sank auf die Brust. Auf einmal – horch!
Von rechts her klang ein leiser Donnerhall,
Und in die halbgeschloßne Wimper drang
[500]
Ein wetterleuchtender Schein. Ich blickt' empor
Und lauschte. Von der Gitterpforte kam's,
Als tue sie sich auf und eine Schar
Von späten Gästen trete zaudernd ein.
Entgegen wollt' ich ihnen, doch die Glieder
Lähmte der süße Schreck. Und an die Bank
Gefesselt, sah ich einen langen Zug
Sich zu mir winden auf dem Gartenpfad,
Sanft überglüht vom fernen Wetterschein,
Fremdartige Gestalten. Doch je näher
Sie kamen, je vertrauter schienen sie,
Wie alte Freund', in deren Zügen wir
Freudig zurecht uns finden allgemach.
Voran ein stattlich schönes Frauenbild
Mit dunklen Augen, Hand in Hand mit ihr
Ein schlanker Juvenil in grünem Kleid,
Sinnend das Antlitz, doch nicht kummervoll;
Denn aus dem Blick ihm leuchtete die Freude
Des Wiederfindens. Und zu der Gesellin
Sprach er ein leises Wort, ich hört' es wohl:
Dies ist noch alles, Judith, wie es war.
Dort in dem Wäldchen um die Glyptothek
So manche Sommernacht verträumt' ich ja;
Doch dazumal stand dieses Haus noch nicht. –
Und schalkhaft nickend, sprach die Schöne: Nur
Zuviel, du Grüner, hast du hier geträumt! –
So schritten flüsternd sie an mir vorbei,
Als würden mein sie nicht gewahr. Nach diesem
Ein zweites Paar, sich eng umschlungen haltend,
Wie eingehüllt in süßer Leidenschaft
Magischen Schleier. Um die schmale Stirn
Des Mädchens flogen krause Löckchen spielend
Im Abendwind. Ei, Vrenchen, grüß dich Gott!
Was führt dich her? – Und ihr Begleiter blitzte
Mich finster an, als spräch' er: Sie ist mein!
Rühr sie nicht an! Zwei Arme sind wir, reich
An Lieb' und Todeswonnen. – Und sich neigend
Auf ihre glänzenden Augen küßt' er sie.
Doch vorwärts drängte sie die Folgeschar,
Seltsam, doch wohlbekannt. Ha, edler Landvogt
[501]
Salomon Andolt, führst du deine fünf
Verschmähten Bräute durch die Nacht spazieren?
Es lächelt rotverschämt der Distelfink,
Und dem Hanswurstel raunt Figura Leu
Ein Wort ins Ohr – der Nachtwind trägt's davon.
Und jetzt – das hagre, feierlich gestrenge
Gesicht des alten Mädchens, ehrerbietig
Umstaunt von ihren drei Gesellen dort –
O edle Züs, dich hab' ich gleich erkannt!
Kramst du die Schätze deiner Bildung aus,
Was Sehenswertes berge diese Stadt?
Sie hängen dir am Mund; es rührt sie nicht
Mein Rosenflor. Doch still bewundern ihn
Dort jene Zwei. Küngold und Dietegen,
Seid ihr's? Verweilet doch! – Auch diese wandeln
Wortlos vorbei, und immer dichter schwillt
Der Zug heran, durch alle Gartenpfade
Hör' ich's von Flüstern, leisverhaltnem Lachen
Und schwebender Gestalten Regung schwirren.
Jetzt aber wie ein Führerruf erklingt's,
Und alsobald sich an den Händen fassend,
Beginnt das spukhaft liebliche Gesinde
Auf meiner Wiese sich im Tanz zu drehn,
So zierlich, wie ein Wölkchen zarter Mücken
Am schwülen Sommertag in Lüften spielt.
Dazwischen, doch den Reigen nicht verwirrend,
Schwingt dann und wann ein übermüt'ger Fant
Sein Hütchen, sich in tollem Sprung ergötzend,
Indes abseits ein Grüppchen heil'ger Fraun
Und ernster Büßer in Gesprächen sich
Ergeht, empor zur Mondessichel spähend.
Vernähm' ich doch ihr Wort! Doch unversehns
Springt auf die Schulter mir, erhobnen Schweifs,
Ein muntres Kätzchen, reibt an meiner Schläfe
Das seidenweiche Fell und schnurrt mir zu:
Hab guten Abend, Freund! – Der Tausend, Spiegel,
Bist du es wirklich, mein vielteurer Liebling?
Wie geht dir's nur? Was macht der edle Pineiß,
Der dir den Schmer abkaufen wollt' und schlimm
In seiner Tücke Netz sich selber fing?
[502]
Und Spiegelchen: Da kommt er – siehst du ihn? –
Mit der Beghine. Immer fleißig, fleißig
Hext er, was Zeug hält! – Und der lose Dieb,
Ein schadenfröhliches Miau anstimmend,
Schwingt sich hinweg und mischt sich in den Reigen,
So ehrbar tanzend, wie die kleine Heil'ge,
Die dort mit Sankt Vitalis unermüdlich
Die schlanken Füßchen hebt.
Doch endlich wird
Der bunte Schwarm des Drehns und Schleifens satt
Und steht hochatmend stille, Paar an Paar.
Mir aber war noch Zung' und Hand gebannt,
So schwer mich's auch verdroß, daß undankbar
Und völlig ungesittet ich erschien.
Da trat vom Wiesenplan heran zu mir
Die schöne Judith, und die blassen Lippen
Zum Lächeln schürzend, sprach sie: Lieber Herr,
Als ungebetne Gäste drangen wir
Hier bei Euch ein und stehen nun beschämt,
Verzeihung hoffend. Doch auf nächt'ger Reise
Zu unserm Herrn und Meister, der auch Euch
Vor allen lieb und wert, erblickten wir
Den freien Rasengrund vor Eurem Haus,
Und die mutwill'ge Jugend dort beschlich
Die Lust zu einem Tänzchen hier im Kühlen.
Die ist gebüßt, und jetzo unverweilt
Geht's fürder südwärts. Hättet Ihr etwa
Uns einen Gruß und Botschaft mitzugeben?
Und ich – denn plötzlich löste sich das Band
Von meiner Zunge –: Schöne Judith, sprach ich,
Wohl kenn' ich Euch und, werter grüner Heinrich,
Auch Euch; was sprecht Ihr von Verzeihung? Sprecht
Von Dank! Was konnte Lieberes mir geschehn,
Als endlich auch zu sehn von Angesicht,
Die ich so lange warm im Herzen trug?
Doch sagt, wie kommt's, daß ihr so dichtgeschart
Auf Reisen gingt? Woher denn bracht ihr auf?
Wollt ihr nicht zu verweilen euch verstehn,
Daß meine Hausfrau, die euch liebt gleich mir,
[503]
Euch auch begrüßen und ein wenig euch
Bewirten mag?
Da wiegte sie ihr Haupt:
Ihr sprecht gar liebreich, aber töricht, Herr.
Wir werden nicht erquickt durch irdische Kost,
Durch freundliche Gedanken derer nur,
Die uns befreundet. Denn wir wohnen längst
Dort oben auf dem Mond mit Tausenden
Verklärter Geister, denen Dichterkraft
Unsterblich Dasein lieh. Dort ist die Luft
Zu leicht, daß Menschen darin atmeten;
Uns Dichterkindern gnügt sie. Dorten haust
Ein herrliches Geschlecht einträchtiglich.
Tell zieht den Hut vorm Fähnlein jene sieben
Aufrechten, mit Frau Amrain Hand in Hand
Geht Base Terzky, unser Vrenchen dort
Und Sali plaudern mit dem Montagu
Und seiner Liebsten, und ob jedes auch
Die eigne Sprache spricht, verstehn sich alle
Gar leicht und gut. Denn aus den Augen glänzt
Des Genius Flamme jeglichem von uns,
Und was da schön und wahr, ist Eines Bluts.
Nun hörten wir, daß unserm Meister ihr
Ein Fest zu feiern euch gerüstet habt,
Und dachten: mitzufeiern zieme wohl
Vor allen uns. Und raschen Aufgebots
Uns sammelnd, sind wir nun herabgeschwebt,
Bei Nacht zu reisen übern Bodensee,
Wie Söhn' und Töchter gern am Jubelfest
Dem lieben Vater überraschend nahn.
Wenn er dann aufwacht morgen, stehen wir
An seinem Lager, daß er, der nicht viel
Des eignen Ruhms gedenkt, im Herzen doch
Sich freuen mag, welch adliges Geschlecht
Unsterblich atmender Kinder er gezeugt,
Und hauchen unsrer Lebenskraft auch ihm
Ein wenig zu, daß um sein alternd Haupt
Ein frischer Morgenglanz verjüngend schwebe
Und er empfinde, was die Welt ihm dankt.
Nun sprecht, und was bestell' ich ihm von Euch?
[504]
Und ich: Was könnt' ich ihm zu wissen tun,
Das ihm nicht längst bekannt? Auch trägt ein Mann
Gerechte Scheu, dem liebsten Freunde laut
Von seiner Lieb' und Treue vorzuplaudern,
Wie einem Mägdlein man sein zärtlich Herz
In art'gen Versen wohl zu Füßen legt.
Bring, wenn du magst, ihm von den Rosen dort
Den schönsten Strauß, und er, der ein Poet,
Wird, was ich ihm sub rosa beichten will,
Unschwer verstehn. Und kränzet auch euch selbst!
Doch sag mir eins: ist's wahr? was Dichter schufen,
Lebt dort im Mond ein zweites Leben fort?
So sucht euch wohl auch manch Gelichter heim,
Das nicht die reinlichste Gesellschaft ist
Und doch, entsprungen kräftiger Phantasei
In kranken Dichterhirnen, Ausgeburten
Des Wahns und üppiger Triebe, zügellos
Sein Wesen treibt und kecklich nach dem Kranz
Zu greifen sich erdreistet ew'gen Ruhms?
Wie nur mit solchen dort vertragt ihr euch?
Und aus der Schar, die hinter Judith stand,
Trat vor ein hoher Mann, Herr Salomon
Landolt, der Landvogt, und mit Stirnerunzeln
Sprach er: Es steht ein großes Siechenhaus
Dort oben, da wird alles eingepfercht,
Was uns von solcherlei Gesindel naht.
Da hinter sichern Gittern sehn wir sie
Unschädlich toben, ihrer Schäden sich
Berühmen und mit Neidgrimmassen scheel
In unsern Frieden schaun, den das Gebell
Der armen Hauptverwirrten nicht verstört.
Doch nun mit Gunst, Herr –
Und er grüßte leicht
Und schritt hinweg mit seinen Freundinnen,
Stolz wie der Hahn vor seiner Hennenschar.
Doch Judith brach von einem Rosenzweig
Die schönste Blume, purpursammetfarbig,
Mit fester Hand und sprach: Die leg' ich morgen
Dem Vater auf sein Kissen. Und so wollen
[505]
Wir scheiden. Lebet wohl und zürnet nüt! –
Und ihrem Heinrich an der Schulter lehnend,
Folgt sie Herrn Andolt und die andern ihr,
Zuletzt das Spiegelchen, den glatten Schweif
Zierlich bewegend. Hundert Fragen brannten
Mir auf den Lippen noch. Doch unaufhaltsam
Sah ich die Gäste schon der Pforte nahn
Und, ohne daß der Riegel klirrte, leis
Wie Raucheswölkchen durch das Gitter wallen.
Ich schämte mich, daß mir der Fuß versagte,
Auch bis zum Weichbild meines Hauses nur
Sie zu geleiten – da erklang herab
Vom heitren Firmament ein Donnerton,
Und wie von einem Himmelsstrahl geschmolzen
Fiel von den Gliedern mir die Fessel ab.
Aufsprang ich von der Bank und späht' umher –
Nichts war zu schauen mehr vom Nachtbesuch,
Kein Halm auf meiner Wiese schien geknickt
Von rascher Füße Tanz, nur dort am Strauch –
Fehlt wirklich jene purpursamtne Rose,
Die ich zuvor noch sah? So war's kein Traum? –
Ich fühlte einzler schwüler Tropfen Fall
Dort aus dem Wölkchen, das so still im Blau
Gen Süden segelt', und nachdenklich schritt ich
Ins Haus zurück. Nun drängte mich das Herz,
Dir dies Gesicht zu künden, Freund, auf daß
Du wissest, wenn du eine Rose morgen
Erwachend finden wirst auf deinem Pfühl,
Daß sie dir Grüße bringt vom Isarstrand.

An Theodor Fontane

Zum 30. Dezember 1889


Ein Sonntag war's – lang, lang ist's her,
Vierzig Jahr' und etliche mehr;
Mir sproßte noch kaum der erste Flaum –
Da trat ich in den geweihten Raum,
»Der Tunnel über der Spree« genannt,
Wo Sonntags sich zusammenfand
Ein Kranz Berlinischer Geisteslichter,
[506]
Geheime und öffentliche Dichter,
Die fanden ein inniges Behagen,
Ihre neusten Verse sich vorzutragen,
Balladen, Oden, Lieder und Dramen
Im Schutz erlauchter Dichternamen.
(Lessing, Immermann traf man dort,
Bürger, Schenkendorf und so fort.)
Darauf so ernsthaft als gemütlich
Tat man an scharfer Kritik sich gütlich,
Und schließlich ward reihum gefragt,
Wie jedem die Leistung zugesagt,
Welche Zensur er verleihen möcht':
Gut – sehr gut – ziemlich – oder schlecht.
Das mußten sich hergebrachtermaßen
Die würdigsten Herrn gefallen lassen. –
Mir deuchte das ein kurioser Brauch,
Hatt' aber doch sein Gutes auch,
Denn alt und jung und arm und reich –
Vor der Kritik waren alle gleich,
Und selbst der ältste Geheimerat
Für schlechte Verse Buße tat.
(War freilich an Geheimeräten
Kein Mangel unter den Tunnelpoeten.)
Mir grünem jungem Studentenblut
Ward in dem Schwarm nicht wohl zumut,
Hatte mir doch die Dichterwelt
Ein wenig anders vorgestellt.
Da schwankte mit wiegendem Seemannstritt
An mir vorüber der dicke Smidt.
Ihm nickte zu sein treuer Gesell,
Der fette blonde Hesekiel,
Und neben ihm schwieg stundenlang
Der Mann, der Waterloo besang.
Mild lächelnd plauderte Schulrat Bormann,
Stets andrer Meinung als sein Vormann.
Franz Kugler führte den Eulenstab,
Trat oft dem kleinen Merckel ihn ab,
Der sehr harmlose Satire trieb,
Den »Frack des Herrn von Chergal« schrieb.
Auch Kriegern war die Muse geneigt,
[507]
Die sonst wohl unter den Waffen schweigt;
Freund Lepel glänzt' hervor aus ihnen;
Und bildende Künstler waren erschienen,
Mein teurer Menzel, der immerdar
Heimlicher Lyrik verdächtig war.
Doch ich, der unter den letzten saß,
Fragte mich heimlich: Sind sie das?
Sind das die Tunnelgrößen alle?
Da ging die Tür, und in die Halle
Mit schwebendem Gang wie ein junger Gott
Trat ein Verspäteter, frei und flott,
Grüßt' in die Runde mit Feuerblick,
Warf in den Nacken das Haupt zurück,
Reichte diesem und dem die Hand
Und musterte mich jungen Fant
Ein bißchen gnädig von oben herab,
Daß es einen Stich ins Herz mir gab.
Doch: Der ist ein Dichter! wußt' ich sofort.
Silentium! Lafontaine hat 's Wort.
Und wahrlich zeigte sich's bald genug,
Daß »Phöbus' Wort in mir kein Lug«.
Denn als am Tischlein er niedersaß
Und hob nun an – weiß nicht mehr, was,
Ob's von den »Männern und Helden« war,
Oder Archibald Douglas gar,
Oder der Tag von Hemmingstedt –
Weiß nur, wie gerne gelauscht ich hätt'
Auf dieser beseelten Stimme Klang,
Da sie nun schwieg, noch stundenlang,
Und wacht' erst auf aus meinem Traum,
Als um mich her im dämmrigen Raum
Die »Sehr gut!« wurden eingesammelt.
»O sehr, sehr gut!« hab' ich gestammelt.
»Sehr gut!« Wie oft noch klang's im Chor
Zu deinem Liede, Freund Theodor!
Wie manchmal sagt' ich's vor mich hin,
[508]
Seit ich im Süden heimisch bin,
Wenn mir von dir ein Büchlein kam,
Heimweh mich wieder gefangen nahm
Nach unsrer Mark, so lieb und schlicht,
Wie einer Mutter Angesicht,
Das, ob's auch unscheinbar vielleicht,
Den Kindern immer das schönste deucht.
Wie fühlte mein Herz sich wieder jung,
Nahmst du mich mit auf die Wanderung
Durch Oderbruch oder Osthavelland –
Der Wagen ächzt im mahlenden Sand,
Nichts Hochromantisches rings zu sehn,
Pappeln, umschwirrt von Spatzen und Krähn,
Ein roter Kirchturm hin und wieder,
Ein Schloßdach dunkelt schwarz hernieder,
»Dächer von Ziegel, Dächer von Schiefer, –
Dann und wann eine Krüppelkiefer,
Am trägen Flusse Schilf und Rohr,
Und am Abhang schimmern Kreuze hervor –«
Ein Land, mit dem verwöhnte Touristen
Wohl nicht viel anzufangen wüßten.
Doch haftet des Dichters Auge dran,
Fängt alles zu leben, zu leuchten an.
Aus alten Familiengrüften zuhauf
Steigen verschollne Geschlechter auf
Und haben ernste und heitre Geschichten
Dem horchenden Wandrer zu berichten.
Und der dicke Krüger, die stämmige Magd,
Der Flachskopf, der am Daumen nagt,
Das leibt und lebt so frisch und echt,
Spricht seine Sprache schlecht und recht;
Ist nichts so groß und nichts so klein,
Der Dichter schließt's in sein Herz hinein,
Und wie er geliebt, was er beschrieben,
So müssen wir's nun wieder lieben.
Denn also war's von Anbeginn:
All eure Kunst bringt nicht Gewinn,
Blickt zwischen den bunten Zeilen nicht
Hervor ein Menschenangesicht,
[509]
Das seine eigenen Züge trägt;
Ob's nun zur Ehrfurcht uns bewegt,
Oder treuherzig lächeln mag:
Ich bin von bürgerlichem Schlag.
Doch lieb' ich alles, was diese Welt
An schlichter Menschlichkeit enthält,
An Geistesadel und Seelenglut,
Scheinlosem Verdienst und Heldenmut
Und Anmut, die in dürft'ger Hülle
Sich labt an Liebes- und Lebensfülle.
Das freilich zu erkennen taugen
Nur liebevolle Poetenaugen.
Doch wer aus solchen Augen schaut,
Der, wenn des Alters Zwielicht graut,
Blickt noch so klar ins Leben hinein,
Wie einst im Jugendsonnenschein.
So grüßest auch du den Freund noch immer,
Tritt er zu dir ins traute Zimmer,
So prunklos bürgerlich noch heut,
Fast wie zur achtundvierziger Zeit.
(Sind unsre Dichter doch nicht gewohnt,
Daß man sie königlich belohnt,
Und hätten sie mit Feuerzungen
Des Vaterlandes Ruhm gesungen.)
Und staunend hab' ich bei mir gedacht:
Was fabelt man von der Jahre Macht?
Trat er viel anders dazumal
In den rauchgeschwärzten Tunnelsaal?
Sitzt er als Murmelgreis gebückt,
Seit bei den Siebz'gern er eingerückt?
Ein leiser Reif hat angestaubt
Sein appollinisches Lockenhaupt,
Doch pflegt er's immer noch hoch zu tragen,
Und wollt' ich ihn aufs Gewissen fragen:
Spürst nun auch du, mein alter Freund,
Daß nicht so hell mehr die Sonne scheint?
Er würd' einen Scherz vom Zaune brechen
Und sein Berlinisch »Is nich!« sprechen. –
[510]
So recht! So laß, wie die Jahre schwinden,
Dich immer tapfer den Alten finden.
Zeige den Jungen, den Naturalisten,
Wie sie's eigentlich machen müßten,
Wollten sie Wirkliches nur verehren
Und doch als Dichter sich bewähren,
Und sieh dem tollen Lauf der Zeiten
In heiterm Gleichmut zu vom weiten.
Du lässest ja zwischen Ernst und Lachen
Das alles längst von andern machen.
Dem, der getreu sich bleibt wie du,
Fällt auch die Treue der andern zu.
Und nimmt dir einst den Wanderstab
Der Wirt »zur stillen Einkehr« ab,
Gib acht, nicht bleibt's bei müßigem Trauern:
Nicht viele Jahre fürwahr wird's dauern,
Da werden die Enkel in Neuruppin –
Nicht doch! gleich mitten im alten Berlin
Ein schmuckes Standbild dir errichten,
Reliefs am Sockel aus deinen Gedichten,
Treffliche Reden werden erschallen
Und dichtumschart die Hülle fallen
Unter Musik und Vivatgeschrei.
Unsichtbar bist du auch dabei
Und blickst hernieder aus Sternenhöh'n.
Ich höre dich sprechen: »Wunderschön!
Ein herrliches Kunstwerk! Doch verzeiht –
Mir fehlt der Sinn für Feierlichkeit!«

An Theodor Fontane

(zum siebzigsten Geburtstage)


13. März 1893


O du, der Übersetzergilde Meister,
Der schon so jung Don Juan nachgesungen,
Gereift mit Shakespeares hoher Kraft gerungen
Und kühn besiegt Ariostos wilde Geister;
Zuletzt, durch dein Gelingen dreist und dreister,
In Dantes Höllenschlund hinabgedrungen
[511]
Und dann geläutert dich emporgeschwungen
Zum Paradies – Gruß dir, Freund Gildemeister!
Zu selbstlos bargst du stets den eignen Wert,
Da doch an goldner Weisheit, Witz und Wissen
So reiche Lebensfrucht dir ward beschert.
Nun, da der Herbst erschien, laß uns nicht missen
Den Segen deines Werks, und hundertfarben
Zum Erntefeste sammle deine Garben!

Auf Schloß Labers

(An Max Kalbeck)


Vom luftigen Altan, an dessen Brustwehr,
In Efeu dicht gehüllt, ein Bienenschwarm
Geschäftig summend um die Blüthen schwirrt,
Gern schau' ich nieder, wenn der Tag verblaßt.
Zu meinen Füßen senkt die Halde sich
Mit ihrer Rebengärten Überschwang,
Noch glühend von der Sonne Feuerkuß,
Und aus dem Grün mit ihren Zinnentürmchen
Ragen die stillen Schlösser, Trautmannsdorf,
Rametz, zur Rechten Planta – wohlbekannt.
Und tiefer, wo in ihrer Felsenkluft
Die wilde Passer rauscht, die schatt'gen Gassen
Merans, aus deren Mitte sich der Turm
Der alten Kirche hebt. Weit drüben aber
Kommt, hin und wieder in der Sonne blitzend,
Die Etsch herab, wie ein mutwillig Kind
Die Treppenstufen niederspringt, und reicht
Der Schwester vom Passeiertal die Hand
Und grüßt vertraut hinauf zu Schloß Tirol.
Gesegnetes Gefilde, märchenhaft
Geschmückt mit Anmut, vom erhabnen Kranz
Der Bergeshöhn umblaut, der tiefer jetzt
Sich färbt, bis an den höchsten nackten Firnen
Der letzte Purpurhauch erlischt! Nun liegt
Die weite Runde still, als hielte sie
Den Atem an. Und drunten in den Häusern
Glimmt Licht an Lichtlein auf, wie in der Dämmrung
[512]
Leuchtkäfer funkeln durch ein Gartenland,
Am dunklen Berge dort beim Eggerbauern
Noch ein versprengtes Fünkchen. Aber golden
Ob all dem Erdgeleuchte schwebt die Sichel
Des Mondes still dahin im reinen Äther,
Und ihre taubeschwerten Fittiche
Entfaltet jetzt die Nacht.
Auf meine Seele
Senkt Schwermut sich herab. Sie schweift zurück
In langversunkne Zeit, das Auge sucht
Im nächt'gen Schatten drunten jenes Haus,
Wo sommerlang ich schwerstes Leid erduldet
Und rings um mich die Kraft und Segensfülle
Der üppigen Natur ein Hohn mir deucht'
Auf mein verarmend Dasein. Ihre Zauber
Besel'gen nur den Glücklichen. Wer hat,
Dem wird gegeben – unbarmherz'ge Weisheit,
Die eines Bettlers spottet!
Doch die Nacht,
Die blasse Schatten aus den Gräbern weckt,
Hat Balsam auch für alte Wunden. Sacht
Vom hellgestirnten Firmamente träuft
Ein Friede nieder, an das Ew'ge mahnend,
Und schauernd fühlt von einer höhern Macht
Die Seele sich umfangen. In dem Hauch
Des Nachtwinds dehnt sich die beklommne Brust,
Und, das noch eben Geistertönen lauschte,
Das bange Ohr, nun hört's im Hause drinnen
Vertrauter Stimmen Ruf, der Kinder Lachen
Und deine seelenvolle Geige, Freund,
Die mit dem Zauber holder Harmonieen
Das Herz, von Jenseitsdämmerung umgraut,
Zurück ins Leben lockt.

An Grillparzer

Es schien das goldne Buch geschlossen,
Drin die erlauchten Namen stehn,
Die als Unsterblichkeitsgenossen
Hell durch der Zeiten Wandel gehn.
[513]
***Der letzte, der vom Gotte trunken
Im wachen Tag ein Träumer stand,
War in die Schattennacht versunken,
Penthesileen wahlverwandt.
Nun loschen aus die schönen Flammen,
Die leuchteten der goldnen Zeit.
Der Dichtung Hochwald schrumpft zusammen,
Nur flacher Nachwuchs weit und breit.
Zum Zerrbild schwand das Große, Kühne,
Dem Sinnentaumel ward gefrönt,
Und Friedrich Schillers stolze Bühne
Schien wieder des Kothurns entwöhnt.
Da stand in weiheloser Öde
Einsam ein Nachgeborner auf,
Ein gottbegnadeter Tragöde
Begann den raschen Siegeslauf.
Aus der Romantik Jugendwildnis,
Wo er den ersten Kranz sich brach,
Zog ihn der ernsten Muse Bildnis
Auf vielverschlungnem Pfad sich nach.
Sie führt' ihn, der ihr fromm vertraute,
In alter Sagen Dämmernis,
Ein kühner Dichterargonaute
Zu retten dort ihr goldnes Vließ.
Und als nach Haus die Segel schwellen,
Umrauschen ihn auf sichrer Bahn
Des Meeres und der Liebe Wellen,
Und Sapphos Schatten schwebt heran.
O frohe Fahrt, rings mit Trophäen
Geschmückt des Schiffes hoher Bord!
Wohl flog die Kunde von Medeen
Durch alle Lande siegend fort;
Doch ihm, der Heimat treustem Sohne,
Schien kein Gewinn dem Ruhme gleich:
Sein Geist gehöre jeder Zone,
Sein Herz nur seinem Österreich.
[514]
Da, auf des Lebens Sonnenwende,
Stellt' er die mächt'gen Bilder hin
Von jenes Böhmen Glück und Ende
Und Habsburgs leuchtendem Beginn.
Nie herzgewinnender und schlichter
Ging auf ein fürstlich hoher Stern,
Und freie Liebe macht den Dichter
Zum treusten Diener seines Herrn.
Das Werk des Künstlers ist sein eigen,
Doch daß es wirke, braucht's der Zeit.
Am lauten Markt hüllt sich in Schweigen
Der Genius, den ein Gott geweiht.
Anbrach mit stürmischen Gewalten
Ein Völkerfrühling wild und schwül;
Des Dichters sinnende Gestalten
Sahn fremd herab auf das Gewühl.
Da ließest du, erhabner Meister,
Weltabgewandt den Griffel ruhn.
Was dir vertrauten hehre Geister,
Mißgönntest du dem Volke nun.
Vergessen wähntest du, verschollen
Die Tage deines Sonnenflugs,
Da rings die Zahl der liebevollen,
Der harrenden Gemeinde wuchs.
O liebe noch dies Erdenleben
Mit seinen Freuden, seiner Last!
Noch hast du Herrliches zu geben,
Vor dem der Jüngern Ruhm erblaßt.
Rings sucht man trügliche Gewinste,
Statt heil'ger Flammen Rauch und Dunst,
Und im Gedränge kleiner Künste
Verloren ging die große Kunst.
Du aber lebst! Und liegt in Trümmern
So viel des Alten, Stein an Stein –
Nichts soll den Glauben uns verkümmern:
Du bleibst der Unsre, wir sind dein!
[515]
In deinem Werk ist uns gegeben
Des Wiederfindens Unterpfand;
Denn ihre großen Geister weben
Der Völker unverbrüchlich Band.

An Emanuel Geibel

»Wie lieblich fließt durch grüne Tannen

Auf Böhmens Höh'n der Sonnenstrahl!

Durchs Dickicht rauscht das Reh von dannen,

Durch Felsen dringt der Quell ins Tal,

Und fern zu blauen Bergeswarten

Verliert sich träumend Aug' und Sinn,

Du aber wandelst durch den Garten

In stiller Anmut lächelnd hin.«

»Und wie dein Blick mit leiser Frage

Sich freundlich zu dem meinen neigt,

Da muß ich denken jener Tage,

Die mir zuerst dein Herz gezeigt;

Da ich, ein ungestümer Knabe,

Von dunklem Jugenddrang bewegt,

Der ersten Lieder frühe Gabe

Schamrot in deine Hand gelegt.«

»Ach damals –«

Damals! – O mein Alter, rührt
Ein Hauch dich wieder an aus jenen Stunden,
Wo du noch scheu der Muse Gunst gespürt?
Dein »Junius«, dein Sommer ist geschwunden,
Zu deinen Füßen rauscht das rote Laub,
Wie manches Glück ward frühen Winters Raub!
Und doch, was jemals einer Menschenbrust
Ereignis ward, bleibt immer ihr bewußt.
So, da ich heut das schlanke Büchlein fand,
Auf dessen erstes Blatt so wohlbekannt
Mit jenen kräft'gen Zügen, die du liebst,
Du jene seelenvollen Strophen schriebst,
Wie lebte da mir auf die alte Zeit,
Da ich dich fand, noch jung, noch stets bereit,
»Mit Liedern und mit Herzen süß zu spielen«,
Und doch schon zugewandt den ew'gen Zielen!
Ich sah das Haus, das uns so oft empfing,
Das Gärtchen, drin Frau Klara sich erging,
»In stiller Anmut lächelnd«. Wieder fliegen
Wir Arm in Arm hinauf die schmalen Stiegen
Und treten ein ins niedrige Gemach,
Wo es an frohem Willkomm nie gebrach,
[516]
Am Widerhall für jeden Herzensklang,
An alles Gut' und Schönen Überschwang.
Ich seh' dich wieder, wie mit finstrem Blick
Du streichst die braunen Locken dir zurück
Und deinen Kinnbart zausend träumst und sinnst,
Bis tiefen Tons zu lesen du beginnst
Ein neues Lied, das dir der Tag beschert.
Und ringsum lauschen, ernst in sich gekehrt,
Die Frau'n und Jünglinge, des Spiels vergessen
Die Kinder, die am Tische mitgesessen,
Und wenn du schweigst, bleibt's noch ein Weilchen stumm.
Dann schweift die Rede frischen Fluges um;
Der Frauen Lob erklingt, nach Männerart
Wird auch ein kritisch Wörtlein nicht gespart,
Bis Franz die Tasten anschlägt am Klavier
Und hebt mit weichem Baß zu singen an,
Was alle kennen, dein »O komm zu mir –«
Sodann »Du mit den schwarzen Augen –«, dann
Das trübste Lied: »Wenn sich zwei Herzen scheiden –«,
Das freudigste, vom Kaiser, dessen Thron
Du schautest in prophetischem Traume schon.
Und während wir an Wort und Ton uns weiden,
Hältst du Luisen vielgeduldig still,
Die dein Profil ins Hausbuch zeichnen will.
Die Kinder wurden längst zu Bett gebracht,
Zu scheiden mahnt auch uns die Mitternacht.
Doch zwischen Tür und Angel, schon im Gehn,
Bleibst du, ein flüchtig Wort erhaschend, stehn
Und windest aus dem Stegreif eine Kette
Melodischer Oktaven und Sonette,
Elegisch bald, bald humoristisch endend,
Aus deinem Füllhorn unerschöpflich spendend,
Daß der sonoren Verse Klang hinaus
Sich dröhnend schwingt und unten vor dem Haus
Ein später Wandler stehen bleibt und staunt,
Was für ein Spuk da droben rauscht und raunt.
Ja, damals! Nie vergess' ich dir's, wie mich,
Den jungen Fant, du ließest brüderlich
An deiner Hand dies traute Haus betreten:
[517]
»Da bring' ich euch den werdenden Poeten!« –
Ein grüner Neuling, in der Prima noch,
Hatt' ich, mit drei Gefährten treu verbunden,
In deine Klause früh den Weg gefunden
(Am Enkeplatz, du weißt, drei Stiegen hoch).
Du aber wähltest aus der kleinen Schar
Gerade mich, der ich der Jüngste war,
Und ließest mich mit schüchternem Entzücken
In deine Mappen, deine Pläne blicken.
Wie in des Meisters Werkstatt ein Geselle,
Betrat ich lernbegierig deine Schwelle;
Du aber führtest, wenn ich ratlos stand
Vor eignem Werk, ermunternd mir die Hand.
Mit kund'gem Ohr in fremden Ton und Stil
Hinein dich horchend, lehrtest du mich meiden
Jedweden Klang, der aus der Tonart fiel,
Mit strengem Richtmaß das Zuviel beschneiden,
Beständig warnend: »Nicht zu früh hinaus!
Reif' erst zu deiner vollen Kraft dich aus!«
Und guter Lehre mehr, die dankbewegt
In feinem Herzen ich getreulich hegt',
Obwohl ich frühe schon mir ward bewußt,
Daß ich auf andern Wegen wandeln mußt',
Als dich dein Genius führte. Immer doch
In Einem hielt ich mir dein Vorbild hoch:
Im redlich ernsten Sinn, dem reinen Streben,
Sein Bestes stets, sein Eigenstes zu geben,
Nicht rechts noch links nach Volkesgunst zu spähn,
Fromm zu den hohen Alten aufzusehn
Und in der Zeiten wandelvollem Drang
Sich treu zu sein in Leben und Gesang.
So wahrtest du das edle Vätergut,
Die künstlerische Zucht, in treuer Hut,
Dich selbst nie überhebend, nie gebeugt,
Ein Priester, der von seinem Gotte zeugt,
Ein Wächter, der sich auf die Zinne schwang,
Das Tagelied des neuen Reiches sang
Und, ob auch oft gelästert und verkannt,
Doch endlich Neid und Schmähsucht überwand,
Bis nach und nach des schweren Siechtums Nacht
[518]
Die liederfrohe Lippe stumm gemacht.
Da saßest du in deinem stillen Haus
Und horchtest dem verworrnen Lärmen drauß
Und wiegtest wohl dein Haupt, von Zweifeln voll,
Wie's dahin kam und wie's noch enden soll!
Denn mittlerweile kam bei uns in Schwang
Ein seltsam Wesen, ein gespreiztes Spiel
Mit altertümlich krausem Kling und Klang,
Das flachen Halbtalenten wohlgefiel.
Der Freund, der liedesmächtig, stark und zart,
Zur Urständ half dem edlen Ekkehart,
Wohl ahnt' er nicht, daß er heraufbeschwor
Den minn- und meistersingerlichen Chor.
Ein Narr macht mehre, Freund. Doch gib nur acht,
Wie viele Toren erst ein Weiser macht!
Der Maskentrödel, guter alter Zeit
Entlehnt, birgt nun moderne Nichtigkeit.
Da schleift und stelzt ein blöder Mummenschanz,
Ein Landsknechtminnespiel und »Govenanz«,
Mit Hei! und Ha! und Phrasenputz verbrämt,
Der totem Kunstgebrauch sich anbequemt.
O wie den Herrn, die nichts zu sagen hatten,
Die fremde Schnörkelrede kam zu statten,
Und wie der Zeit, die nicht zu eignem Stil
Den Mut erschwang, die Äfferei gefiel!
Zumal zum altertümelnden Gerät,
In Haus und Tracht als höchster Schmuck bewundert,
Die Butzenscheibenlyrik trefflich steht,
Verleugnend unser lichteres Jahrhundert!
Und wo der Dichter sonst begeistert stand
Im Vortrab der Geschichte, Hand in Hand
Mit denen, die am Werk der Zukunft bauten
Und Zeichen deutend nach den Sternen schauten, –
Heut, nicht mehr lauschend in die eigne Brust,
Vergräbt er sich in Raritätenwust
Und girrt dem kindisch leichtbegnügten Schwarm
Sein Spielmannsliedel vor, daß Gott erbarm!
Sich selber dünkend ein gewalt'ger Held,
Wenn er sein Lichtlein auf den Scheffel stellt.
[519]
Du aber, Muse, die uns einst gelehrt,
Nur reiner Seelenklang sei liedeswert,
Betäubt vom Schall der Glöcklein und der Zinken,
Ach, lässest trauernd du die Stirne sinken?
Wie lange noch wird dieser dürft'ge Wahn
Sinn und Gedanken des Geschlechts umfahn?
Wann wird, die wieder schlafend liegt im Hag,
Die deutsche Lyrik ihren Meister finden,
Der aus des Mittelalters Dämmergründen
Dornröschen rettet an den lichten Tag?
Da, während sinnend ich bei mir erwog,
Warum so manches Hoffen uns betrog,
Warum, da groß die neue Zeit erstand,
Der Vorzeit sich so mancher zugewandt,
In falscher Andacht nur Verlebtes preist
Und stammelt: Selig sind, die arm an Geist! –
Da wird ein Büchlein mir ins Haus gebracht,
Des Anblick mich auf einmal fröhlich macht:
Dein Liederbuch, o Freund! nicht ganz so schmal,
Wie, da zuerst du hingabst scheuen Bebens
Die Erstlinge der Ernte deines Lebens,
Und sieh – vom Titel grüßt die Hundertzahl!
Mein alter Geibel lebt noch! rief ich aus;
Noch duftet frisch sein erster Blütenstrauß,
Von dem er selbst nicht allzusehr erbaut,
Seit ernstern Blicks er in die Welt geschaut.
Nun denn, so ist's nicht hoffnungslos bestellt,
Trotz allen Bänkelsangs, um diese Welt;
So lebt noch eine Jugend, nicht allein
Bedacht zu tändeln, Maskenspiel zu treiben,
Wie fahrend Volk zu zechen und juchhein:
Noch will sie treu dem edlen Sänger bleiben,
Dem hell hervor aus eignem Busen drang
Auf alles Groß' und Schöne ein Gesang.
Dir aber, Freund, in deine Krankenzelle
Schickt diesen Gruß dein treuer Altgeselle
Und wünscht, aufblühen mög' in Geist und Blut
Noch einmal dir ein frischer Lebensmut,
Daß du das Saitenspiel zu Handen nimmst,
[520]
Noch einmal das so lang verklungne stimmst,
Und während sanft der Abendröte Glanz
Umpurpurt deines Hauptes grünen Kranz,
Anhebst ein Lied, wie dir's so oft gelungen,
Ein Trost den Alten, eine Lust den Jungen,
Bis vor der Saiten wundersamem Ton
Der Spuk der Afterkunst hinweggeflohn.
Wir aber, wenn der letzte Klang verweht,
Wir sehn empor zu jenem klaren Sterne,
Der lieblich funkelnd dir zu Häupter steht
Und leuchten wird in späte Zeitenferne.
So schrieb ich dir, so sollte dich mein Gruß
Erfreun im stillen Haus am Travefluß.
Doch eh' auf diese Zeilen fiel dein Blick,
Vollendet ward dein irdisches Geschick:
Stumm in die stillste Wohnung zogst du ein,
Kein Wort der Liebe dringt zu dir hinein.
Nie schwingt sich mehr ein Lied aus deiner Brust,
»Der Alten Trost, den Jungen eine Lust«!
Ach, da ich noch zu hoffen scheu gewagt,
Hat schon der letzte Morgen dir getagt,
Und tiefbewegt der Kunde denk' ich nach,
Daß dieses leidumflorte Auge brach.
Nun hebt alsbald um den vielteuren Mann
Die Totenklage tausendstimmig an;
Nur ich, der mehr als einer ihn verlor,
Ich wäre wohl verstummt im lauten Chor,
Denn langsam reift mir das Gefühl zum Wort.
Nun trag' ein Lufthauch diese Blätter fort,
Und zu den Kränzen, welche taubeträuft
Das Volk auf seines Dichters Hügel häuft,
Innigster Trauer, echten Ruhms Symbol –
Geselle sich des Freundes Fahrewohl!

7. April 1884

[521] An Karl Stielers Grab

15. April 1885


So ist's denn wahr? wir senkten dich hinab,
Du lebenswarmes Herz, ins kalte Grab?
Stumm ward so bald der frohe Sängermund?
Der Wandrer rastet zu so früher Stund'?
Nie singst du mehr dein muntres: Weil's mi freut!
Dein jauchzend keckes Trutzlied: Habt's a Schneid?
Das Aug erlosch, das dieser Berge Ring
Mit freud'gem Aufblick tausendmal umfing!
Hier, wo du oft hinflüchtetest, zu ruhn,
Die letzte enge Ruhstatt fandst du nun,
Und Greise, die dich noch als Knaben sahn,
Sie werden wankend deinem Hügel nahn
Und leise sprechen: Hab' ihn auch gekannt,
Den Stieler Karl – der hatt' ein Herz fürs Land!
Doch wir, die Freunde, wenn wir tränenvoll
Dir brachten unsrer Liebe letzten Zoll,
Wir gehn hinweg und lassen dich allein,
Und nie mehr, nie mehr trittst du bei uns ein!
Wie sonnig war dein Aufgang, klar und schön!
Du schrittst mit freier Stirn auf Lebenshöhn
Und warfst vom Gipfel überm Bachgebraus
Dein helles Lied weit in das Land hinaus.
Des Volkes Herzschlag war dir früh vertraut
Und heimisch deinem Ohr sein tiefster Laut.
In Lust und Leid, in Trutz und Übermut
Wie rein dein Ernst, wie klang dein Lachen gut!
Und wo du sangst, da trug der Widerhall
Von Herz zu Herzen den willkommnen Schall,
Ja, über deines Stammes Marken weit
Scholl deines Hochlandsliedes Lieblichkeit,
Daß, wo die Ostsee blaut, das Nordmeer rauscht,
Man diesem Fremdling hingerissen lauscht',
Und wo er gastlich pocht' an eine Tür,
Mit offnem Arm die Liebe trat herfür.
Doch er, bescheiden, schlicht, von echter Art,
Heim sehnt er sich auf jeder Ruhmesfahrt.
[522]
Nun, lieber Wandervogel, trägt ans Meer
Zu keinem Gastfreund dich die Schwinge mehr,
Der Frühling naht, die Halde grünt ringsum, –
Dein Flügel brach, und deine Brust ist stumm.
Nein, nur ein armer Trost ist's, der uns blieb:
Jung müsse scheiden, wer den Göttern lieb!
Ein Baum, im frischen Saft vom Blitz gefällt,
Mag herrlich dünken einer fremden Welt;
Doch wer geruht in seinem Schatten oft,
Stets neue Frucht vom neuen Herbst gehofft,
Der senkt mit Recht in bittrem Leid das Haupt,
Wenn seinen Liebling ew'ger Frost entlaubt.
O schön ist's, durch ein langes Leben gehn,
Die Saat, die jung man säte, reifen sehn,
Heranblühn seiner Kinder zarte Schar,
Des Weibes Locke, die einst golden war,
Sich silbern färben sehn und im Gemüt
Die Jugend hüten, welche nie verglüht!
Dir ward's versagt! Wir rufen bang: Warum?
Ins Grab dir nach – sein dunkler Mund bleibt stumm.
Doch in uns lebt noch dein beseeltes Wort,
Dein edler Sinn und deine Treue fort.
In jedes Festes traulichem Verein
Wirst du uns fehlen – und wirst bei uns sein.
In mancher Stunde, einsam durchgewacht,
Grüßt uns dein stilles Bild mit Liebesmacht;
Und führt das Leben uns in Wohl und Weh
Hieher zurück nach deinem Tegernsee,
Dann wird uns sein, als hüte diese Gruft
Ein Geist, der zu uns spräch' im Hauch der Luft:
Von seinen Lippen klang des Volks Gemüt,
Ein Quell vom Hochland rauschten seine Lieder.
O seid getrost! Erwachen wird er wieder,
So oft der Lenz in seinen Bergen blüht!

[523] An Wilhelm Jensen

Wie mir's gehe, seitdem nun endlich zu meinem geliebten
Gardasee ich wiedergekehrt, in Villa Annina
Sehnlich der Ankunft harre des hier auch zögernden Frühlings,
Fragst du mich, Freund, und sagst, du gönnest mir, über des Gartens
Palmen und Lorbeerlauben und dunkle Zypressen die Blicke
Weithin schweifen zu lassen zu Kap Manerba, der Garda-
Insel, die lang hinlagernd, vergleichbar einer gekrönten
Schlange, das Haupt aus den Wellen erhebt, und drüben zur Küste
San Vigilio's, zart von silbernem Duft umwoben,
Während das goldene Licht mit zitterndem Glanz in der weiten
Fläche des Sees sich spiegelt, das Herz im Busen belebend.
Wem dies alles zu schauen vergönnt, dem müsse, so schwärmst du,
Auch die Seele sich weiten und still zum Empfange der hohen
Muse sich rüsten, die hier vor zwei Jahrtausenden gern schon
Weilte, seitdem Katull sein Häuschen in Sirmio baute.
Und so rufst du mir fröhlich Glück auf! und erwartest mit Nächstem
Wieder ein dichterisch Werk des Freunds zu empfangen, darinnen
Leise das Rauschen erklingt von der purpurnen Flut des Benacus.
Fromme Wünsche, mein Teurer! Es ändern sich leider die Zeiten,
Wir mit ihnen. Und wär' auch die Hand des Gealterten, die einst
Unermüdlich die Saiten gerührt, noch kundig des zarten
Musischen Spiels, heut regt nur selten sich noch in der Seele
Irgend ein dichtender Trieb, und der ich jeglichen Tag einst
Für verloren erachtet, an dem die Muse mir fern blieb,
Jetzt, wenn irgend ein Traum mir ihr Nahn ankündigt, erschreck' ich,
[524]
Daß sie mich unwert fänd', und möchte mich gern ihr verleugnen.
Fühl' ich es doch: das Beste, das Eigenste, was ich zu geben
Hatte der Welt, längst gab ich's dahin, und da ich mein Herzblut
Nimmer gespart, wie Wein, in eigener Vigne gekeltert,
Und aus Vollem geschenkt, ich hätte nur dürftige Neigen
Jetzt zu kredenzen den Freunden, die einst ich besser bewirtet.
Ach, und leider versäumt ich, obwohl in mancherlei Künsten
Ich mit Glück mich versucht, von allen die schwerste zu lernen:
Müßig zu gehn! Was köstlich bedünkt an der Schwelle der Achtzig
Tausenden, jetzt von den Mühen des lebenslänglichen Werktags
Auszuruhn, gleichsam in beständiger Sonntagsfeier
Still zu verzehren ihr Ruhegehalt, das sauer verdiente,
Täglich des Otiums froh cum dignitate – und wär's auch
Ohne besondere Würde –, vor Augen stand es mir immer
Als ein drohend Gespenst, nicht Lohn, nein Strafe des Dichters.
Anders freilich genießt dies Los, wer nur um des Lebens
Notdurft kämpfend in schwerem Geschäft, nun endlich die Bürde
Abwirft, täglich beglückt, daß nicht am Morgen die Pflicht ihn
Zwingt, halb ausgeschlafen, das wohlige Bett zu verlassen,
Um zur Arbeit zu gehn, dran nie sein Herz sich erquickte;
Anders der Glückliche, der, stets auf des Genius Weckruf
Lauschend, das Werk nur schuf, das tief im Busen ihm reifte.
Wenn nun der ihm verstummt, ward alles umher ihm auf einmal
Öd und tot. Nicht klingt der Natur melodische Stimme
Ihm noch lieblich ans Ohr. Er wandelt ein lebender Schatten
Unter der strebenden Menschen Gewühl, als hätte das Recht er
Mitzuatmen verscherzt und stünd in der Welt, ein verdorrter
Baum, dem nimmer vergönnt, in Früchten den Saft zu entladen.
Dann wohl neidet er selbst die Genügsamen, welche die leeren
Stunden des müßigen Tags ausfüllen mit allerlei Kurzweil,
Sei's mit Altersgenossen beim Skat im Café und am Abend
Am Biertische die Weltpolitik wohlweise bekrittelnd,
[525]
Oder sie treiben vergnüglich mit ernster Beeiferung eine
Liebhaberei als Sammler und Dilettanten und täuschen
Spielend sich drüber hinweg, daß jetzt mit dem Ernst es vorbei sei.
Wer sein Leben dem Schönen geweiht, die höchste der Wonnen
Kostete, die nur der Künstler genießt, im Äther der reinen
Phantasieen zu schweben, den irdischen Nöten enthoben,
Dem kann, wenn er verloren die Flugkraft und auf der niedern
Erde dahin soll schreiten, den Sinn nichts wieder erheitern,
Wie dem Kraniche, dem es versagt mit zerschossenem Flügel
Seinen Gefährten zu folgen. Nun brütet er trauernd und einsam,
Auch wenn Futter vollauf ihm gereicht wird, über sein herbes
Los, an die Scholle gebannt im Staub notdürftig zu kriechen.
Doch, was sag' ich nur dir, was längst im Freundesgemüt du
Ahnst und vielleicht einst selber erfährst? Auch wirst du den schalen
Trost mir ersparen, womit Wohlmeinende gleich bei der Hand sind,
Wenn dem Alten einmal in verdrossener Stunde der Seufzer
Über die Lippen sich wagt: nicht leicht sei's, müßig am Austrags-
Stübel zu sitzen und still in den Schoß die Hände zu legen.
Viel ja hast du geschafft, so sagen sie, und dir den Feier-
Abend verdient. Nun magst du auf Lebensernten zurückschaun,
Die dir danken die Besten der Zeit, ein reiches Vermächtnis.
O ihr Guten, nur allzu viel, wohl weiß ich es, schuf ich,
Wertlos manches und einiges doch, das wohl noch ein Weilchen
Mich überdauert, so daß der Richter mich nicht zu den faulen
Knechten gesellt, die schlecht mit ihrem Pfunde gewuchert.
Doch – und wäre mir Höheres noch, mir Höchstes beschieden,
Daß mein Bestes bestünd' im launischen Wandel der Zeiten
Und noch spätesten Enkeln vertraut mein Name erklänge –
Nie hat Hoffen und Wunsch, nach solchem Kranze zu streben,
Je mich erfüllt und die Schritte gelenkt und die Seele beflügelt.
Nur zu genügen dem inneren Drang tiefwurzelnder Bildkraft,
Wie ein Weib das empfangene Kind ans Licht zu gebären
Ringt in seliger Qual, so schuf ich meine Gebilde,
Keinem der Menschen zulieb und nicht hinhorchend im Volke,
[526]
Ob sie auch wohlgeraten und beifallswürdig erschienen.
Tat ich doch nur, was nicht ich zu lassen vermocht' und so gut ich's
Konnt'. Ein Schelm gibt mehr als er hat, und des eignen Gewissens
Spruch wiegt schwerer, als Lob und Tadel des mäkelnden Haufens.
Hätt' um Ruhm ich der Muse gedient, bei klarem Besinnen
Wär' ich ein Tor mir erschienen, des Alltags Götzen betrachtend,
Denen das Volk zujauchzt und heut verschwenderisch Weihrauch
Streut, um morgen sie schon von den eitlen Altären zu stürzen,
Hingeopfert dem neusten Idol. So schwebte der Ruhm mir
Nie vor Augen als Ziel, das glücklich errungen die Sehnsucht
Stillt' im schaffenden Geist und süß nun machte das Ausruhn.
Nein, ein besserer Trost im schleichenden Winter der Jahre
Bleibt nach allem Verzicht: in fröhlichen Kindern und Enkeln
Sich fortleben zu sehn und Lieb' im Kreise der Nächsten
Reich zu empfahn und zu geben. Und wie auch dürft' ich der hohen
Freundin, die so getreu ausharrt bei dem Greisen, vergessen?
Weisheit ist ihr Name. Sie ist die Letzte von allen
Himmlischen Musen und bleibt, wenn ihre Schwestern gegangen.
Zwar nur wie im Kamine die Glut die fröstelnden Glieder
Wärmt, nicht lieblicher Hauch der sonnigen Lüfte des Sommers,
Hegt sie und hütet sie uns vor eisigem Seelenerstarren
Und ist traun nicht immer bequem. Sie raubt uns die letzten
Täuschungen, läßt so manches, daran ein alterndes Herz sich
Kindisch selbst sich betrügend, ergötzt, als nichtigen Trug uns
Mitleidslos durchschauen und weniges nur frei ausgehn
Aus dem großen Bankrott des irdischen Glückes. Doch lehrt sie
Auch mit gefaßtem Gemüt erkennen die schicksalsvolle
Macht der Notwendigkeit, der sich mit Würde zu fügen
Göttern und Menschen geziemt.
Nur manchmal, wenn sich wie heute
Über Gebirg und See der lachende Frühlingshimmel
Breitet, die Kinder des Orts auf dem Schulweg jauchzend vorbeigehn
Und sein Eselchen treibend ein Bursch die Straße daherkommt
[527]
Vor dem beladenen Karren – er knallt mit der Geißel und singt aus
Vollem Halse sein Ritornell und dem lockigen Mädchen
Nickt er mit lustiger Schalkheit zu – da mag wohl ein Heimweh
Heimlich den Alten beschleichen nach lange verschollener Jugend,
Und er gäbe die Weisheit gern, die teuer erkaufte,
Gegen die selige Dumpfheit hin der Kinder und Toren,
Wenn er auch noch so stoisch sich beugt der ehrnen Ananke.

Gardone, 28. März 1909


License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. An Personen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-661B-3