Lieder des fahrenden Schülers

1.

Spazier' ich so die Gass' entlang,
Wenn kaum der Tag verrauschet,
Da heb' ich an einen hellen Sang,
Der Mond geht auf und lauschet.
Wo zwei und zwei beisammen sind,
Da stiehlt das Lied sich ein geschwind,
Wo einsam weint ein Mutterkind,
Dem scheucht's die Nachtgespenster.
So weit der Sonn- und Mondenschein
Mag auf die Erde blicken,
Will sich zusammen nichts so fein
Wie Lieb' und Lieder schicken.
Das wußt' auch König David wohl
Und sang zur Harf' in Dur und Moll
Gar meisterlich und wundervoll
Die schönsten Serenaden.
Und das geschah vor alters schon,
Ist heut noch Brauch geblieben.
Ich mein', ich säß auf Davids Thron,
Sing' ich ein Lied vom Lieben.
Der Thronen Glanz in Staub verweht,
Das Reich der Liebe nie vergeht,
Und wer das Singen recht versteht,
Ist aller Herzen König.

[151] 2.

Je weiter aus den Augen,
Je tiefer nur im Sinn –
Das soll zum Trost mir taugen,
Wenn ich voll Heimweh bin.
Ich scheide nicht weit,
Gott weiß die Zeit;
Wiederkommen bringt Freude.
Ihr sollt mich nicht verachten
Um mein unstät Gemüt.
Muß mir die Welt betrachten,
Soweit sie grünt und blüht.
Ich scheide nicht weit ...
Die Bäch' und Ströme rinnen
So freudenvoll ins Meer.
Die festen Türm' und Zinnen
Sind steinern, kalt und schwer.
Ich scheide nicht weit ...
Wohl dem, den durch die Halde
Sein Glück noch schweifen läßt!
Zugvögel, ach wie balde
Baust du dir auch ein Nest.
Ich scheide nicht weit,
Gott weiß die Zeit;
Wiederkommen bringt Freude.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Lieder des fahrenden Schülers. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-662F-8