[249] Hauspoesie

1896/1897

Ein Schatten

Die letzten sind gegangen, das Geschwirr
Der Stimmen drauß' im Vorplatz ist verhallt,
Die Haustür fiel ins Schloß, und Wagenrollen
Tönt von der Gass' herauf.
Die Hausfrau geht
Umher und öffnet alle Fenster weit
Der balsamreichen Nachtluft. Dann zum Gatten,
Der stumm im Sessel ruht, zurückgekehrt,
Streicht sie ihm leise mit der weichen Hand
Die Stirne: Dir ist heiß. Es war ein wenig
Zu viel des Zigarettendampfs. Doch sonst
War's, wie mir scheint, recht hübsch. Sie waren alle
Sehr munter und gesprächig, unsre kleine
Hausnachtigall besonders gut bei Stimme,
Das Essen gut, und meine Bowle –
Hm!
Die schien mir nur zu süß.
Meinst du? Ei nun,
Doch fand sie Beifall und ward ausgetrunken
Bis auf den kleinen Rest. Dir aber, Liebster,
Hab ich's wohl angesehn, daß etwas Bittres
Dir auf der Zunge lag, und grade bei
Dem Lied des Orpheus, das du sonst so liebst,
Fiel dir ein düstrer Schatten auf die Stirn.
Wie wandelte so plötzlich diese Schwermut
Dich an?
Er blickt versonnen vor sich hin,
Nur drei Sekunden. Dann erhebt er sich,
Und seinen Arm um ihren Nacken legend,
Komm! sagt er. Laß uns auf und nieder gehn.
Jawohl, es war recht hübsch, und eben darum –
Du hast ganz recht gesehn: mich überfiel's
Unheimlich, just da Orpheus Furien
Beschwor und Larven, in die Unterwelt
[250]
Ihn einzulassen. Da zufällig blieb
Mein Blick am Bilde meines Vaters hängen,
Das von der Wand mich ansah. Und da war's
Verwundersam: ich glaubt' ihn selbst zu sehn,
Die sinnend edlen Augen fest auf mich
Gerichtet – oh! du hast ihn nicht gekannt!
Er war der Liebenswerteste der Menschen,
Von jugendlicher Zartheit des Gefühls
Und hohem Freiheitssinn, ein ganzer Mann,
Ein tapfrer Dulder, seiner Pflichten Joch
Klaglos durchs Leben schleppend. Und zu allem
Das frühe Kranken, das ihn uns entriß,
Eh' er sich ausgelebt, da er so viel
Des Freudigsten noch zu erleben hatte.
Wie oft, wenn mir ein Glück beschieden ward,
Ein fröhlicher Erfolg – den er mir immer
Geweissagt – trübte mir's die frische Freude,
Daß ich mit ihm sie nicht mehr teilen sollte!
Und Reue fühlt' ich, wie so oft, auch heut,
Daß ich ihm alle Lieb' und allen Dank
Nicht wärmer noch und inniger ausgesprochen,
Ihm nicht gesagt, wie alles Beste, was
Ich in mir trug, nur sein Vermächtnis sei,
Aus seinem Blut entsproßt – und da begann
Des Orpheus Lied, das den geliebten Schatten
Heraufbeschwört, und in mir sprach's: So wird
Kein Zaubersang, mein Vater, von den Schatten
Dich auferwecken, daß du deines Sohns
Gesegnet Leben teilst, von allen Seinen
Geliebt, geehrt, daß du das Beste, was
Ihm sein Geschick gegönnt hat, diese Frau
Mit Augen sähest, die, wie ich dich kannte,
Auch dir das ganze Herz gewonnen hätte.
Denn dich unwiederbringlich hält die Nacht
Der Unterwelt und keines Eros Gunst
Kann dich zurück uns bringen.
Findest du's
Noch wundersam, Geliebte, daß ein Schatten
Auf meine Stirne fiel und daß der Trank,
Den du uns botest, mir zu süß erschien?

[251] Verteidigung

Nein, das kannst du doch nicht im Ernste meinen,
Daß in Freundschaft die Liebe sei verwandelt,
Da ich längst mich des guten Brauchs entwöhnte,
Dich in zärtlichen Liedern anzusingen.
Pflegt doch selber die Nachtigall, sobald ihr
Nest sie baute, die lyrischen Ergüsse
Ihrer schmachtenden Brautzeit einzustellen.
Denn, sein Weibchen zu loben, ist mit Recht wohl
Unter Männern verpönt als höchst geschmacklos,
Da man stets in der Frau sich selber lobe.
Ich nun vollends – verdient' ich deine Klage,
Da, gesteh es nur ein, auf all mein Dichten
So bedenklichen Einfluß du geübt hast?
Ach, ich höre von meinen hochwohlweisen
Rezensenten noch heut den ew'gen Vorwurf,
Daß, so alt ich geworden, ich noch immer
Schönheitstrunken den schnöden Schattenseiten
Dieser heutigen Welt den Rücken wende,
Daß insonderheit meine Fraungestalten
Stets von adligem Glanz umflossen schienen.
Doch, Geliebteste, wenn in meiner Dichtung
Holde weibliche Wesen dir begegnen,
Liebevollen Gemüts, von feiner Klugheit,
Auf sich selber beruhend und so weiter –
Wer, du Zweiflerin, hat die große Sünde
Meines Idealistentums verschuldet,
Als die Eine, die mir an Durchschnittsweibern
Ein für allemal den Geschmack verdorben?

Der verlorne Sohn

Schon elf – und er noch immer nicht zu Haus! –
– Ei nun, gewiß auf Liebesabenteuer,
Wie er gewohnt ist, ging der Schlingel aus.
Doch sorge nicht; sein jugendliches Feuer
Hält ihn wohl warm, und dafür will ich stehn,
All deiner Ängste lacht das Ungeheuer.
[252]
Wir aber sollten endlich schlafen gehn. –
– Wie? schlafen? Nein, kein Auge könnt' ich schließen,
Bevor ich sicher ihn zu Haus gesehn.
Doch daß er mich so ängstigt, soll er büßen.
Er treibt's zu toll! Dies Streunen auf den Gassen
Wird er sich endlich abgewöhnen müssen.
Nur – vor verschloßnem Haus ihn stehn zu lassen
In eis'ger Nacht, wär' allzu grausam, mehr
Als er verdient. Drum will ich auf ihn passen.
Geh du zu Bett! –
– Nun bei den Göttern, wer
Verdächte mir's, wenn ich, dein teurer Gatte,
Auf diesen Hausfreund eifersüchtig wär'?
Auf meine Tugend zwar fiel nie ein Schatte,
Drum bist du ruhig stets zu Bett gegangen,
Auch wenn ich nachts mich mal verspätet hatte. –
– Ja, aber schlief ich dann? Horcht' ich mit Bangen
Nicht stets hinaus, unruhig und beklommen,
Bis dann die wohlbekannten Schritte klangen?
Du hattst ja auch den Schlüssel mitgenommen,
Indessen er – doch still! Täuscht mich mein Ohr?
– Ich höre nichts. – Doch, doch! Ich hör' ihn kommen.
Er rüttelt, hörst du nicht? am Gartentor,
Und jetzt, o sieh, versucht er gar zu schellen
Und springt und reckt zur Klingel sich empor.
Sein schlecht Gewissen hält ihn ab zu bellen.
Nein, armer Sünder, wer bereut, dem wird
Gnade vor Recht zuteil. In solchen Fällen,
Wo unerfahrne Jugend sich verirrt,
Muß man mit Liebe sie zu bessern streben.
Ich lass' ihn ein. – – O sieh nur, wie verwirrt
[253]
Er näherschleicht und meine Knie mit Beben
Umpfotet und reumütig mir am Rock
Emporstrebt. Nun, so muß ich wohl vergeben,
Und hungrig wirst du auch sein, armer Flock!
Dein Futter steht noch da. – Was lachst du so?
Nein, wenn ich ihn erzöge mit dem Stock,
Verhärtet wurde sein Gemüt und roh. –
– Gewiß! Sei nur wie alle Pädagogen
Inkonsequent. Des aber bin ich froh,
Daß du die Kinder besser mir erzogen.

Geisterbannung

Der Tag ist trüb, die Welt ist grau,
Wie Bodensaß in schalem Wein,
Und hätt' ich nicht die liebe Frau,
Wohl schlich' ein böser Geist sich ein.
Der Märzwind im Kamine raunt,
Strichregen an die Scheiben sprüht,
Nur Sie ist immer holdgelaunt
Und um mein Seelenheil bemüht.
Vom nächsten Sommer spricht sie mir,
Wo unsre Kinder bei uns sind.
Mir klingt die liebe Stimme schier,
Als hört' ich schon den Frühlingswind.
– O sieh, schon länger wird der Tag,
Die Sonne gibt sich redlich Müh'.
Heut morgen ward von Amselschlag
Ich schon geweckt in aller Früh',
Und hab' im Garten zart und frisch
Die ersten Veilchen schon gesehn.
Hier stell' ich sie auf deinen Tisch;
Du aber sollst ins Freie gehn.
[254]
Du hast zu viel geträumt, gedacht,
Bis dir das Blut am Herzen stockt.
Die Mutter kommt heut auf die Nacht,
Dann wird geplaudert und tarockt. – –
Der Tag ist trüb, die Welt ist grau,
Doch warm und heiter ist's im Haus.
Das Lächeln einer lieben Frau
Treibt alle bösen Geister aus.

In such a night ...

(Kaufmann von Venedig V)


In der Veranda. Durch den Garten weht
Die Sommernacht. Der Vollmond glänzt im Blau,
Daß jeder Busch und Baum versilbert steht.
Mit leisem Rieseln sprüht herab der Tau,
Die Nachtviolen duften. Träumend ruht,
Das Haupt zur Brust geneigt, die holde Frau.
Sie späht, wie der Johanniskäfer Brut
Im Grase funkelt, das Gesicht, das blasse,
Sanft überflogen von der roten Glut
Des Lämpchens auf den Tisch. Drauß' auf der Gasse
Verhallt der Lärm. Ihr gegenüber sitzt
Ihr Mann, versonnen heut im Übermaße,
Die Stirn nachdenklich in die Hand gestützt.
Die Zeitung, die er las, liegt auf den Knieen,
Der Funke, der an der Zigarre blitzt',
Erlosch. Als lausch' er fernen Melodieen,
Hat er den Blick zu Boden still gesenkt,
Und wie aus magischer Laterne ziehen
Bilder an ihm vorbei. Da endlich fängt
Sie an: Was ist's, das dich so schweigsam macht?
Ich möchte wissen, was mein Liebster denkt.
[255]
Und er: Ja, Kind, woran ich jetzt gedacht –
Lang, lang ist's her. Im Frühling war's und eben
So mondhell wie in dieser Sommernacht.
Du hattst an jenem Abend dich fürs Leben
Mir angelobt und, da ich von euch ging,
Zur Treppe noch mir das Geleit gegeben,
Wo scheidend ich noch einmal dich umfing.
Dann, wie im Rausch, schwankt' ich hinab die Stiege,
Den Kopf zurückgewandt. Mein Auge hing
Entzückt an deinem Antlitz, dessen Züge
Der Kerze Schein mir zeigte wie verklärt,
Ganz so wie jetzt. Und in mir war's, als früge
Mich mein Gewissen: bist du's denn auch wert,
Daß dies holdsel'ge Wesen dir zu eigen
Sich geben will, dir, dem das Herz beschwert
So manch Erinnern? Wenn die Schatten steigen
Aus ihrer Gruft, wird sie's nicht traurig machen?
Da sah ich grüßend dein Gesicht sich neigen,
Die Augen strahlend mir entgegenlachen
Und hört' ein letztes süßes Liebeswort
An deinem jungen roten Mund erwachen,
Ein letztes »gute Nacht!« – Dann stürmt ich fort,
Ein heiliges Gelübd' in mir, auf Händen
Zu tragen das geliebte Leben dort.
Und jetzt – auf einmal war es mir, als fänden
Wir uns beisammen wie in jener Nacht,
Und konnte nicht von dir das Auge wenden.
Doch während Zeit und Schicksal ihre Macht
An deinem Reiz verloren, mußt' ich zagen:
Was damals ich gelobt, hab' ich's vollbracht? –
[256]
Und sanft errötend sprach sie: Kannst du fragen
Und überschätzest wie ein Bräutigam
Mich heut noch, wie in unsern jungen Tagen?
Ja, manchmal dünkt mich's selber wundersam,
Daß ich noch nicht gebeugt durchs Leben schreite,
Da so viel schweres Leid uns überkam.
Hätt' ich's gekonnt, wenn du an meiner Seite
Mit einem Hauch nur das Gelübde brachst?
Komm, laß dich küssen, noch viel wärmer heute,
Da du so töricht-liebe Worte sprachst!

In dunkler Nacht

In dunkler Nacht zuweilen fahr' ich jäh empor
Aus tiefem Schlaf, und auf den leisen Atemzug
Der Liebsten horchend, lieg' ich eine Weile still
Und starre bangend in die leere Finsternis,
Wo hinterm Schirme dämmernd nur ein Lichtschein glimmt.
Kein Laut des Lebens dringt herauf vom Garten her,
Das Herz nur pocht mir in der Brust. Und stiller noch
Und stummer wird's, als sänke rings in Todesschlaf
Die weite Welt. Und plötzlich ist's, als stände still
Der sanfte Atem neben mir – mit Knistern lischt
Das Flämmchen aus, und lähmend überschauert mich
Ein eisig Grauen.
Ew'ge Mächte, käm' es je,
Daß dieses Lebens Flamme, dran das meine sich
Belebt und wärmt, des besten Weibes Liebeshauch
Verlodert' und verweht' im rauhen Todessturm
Und ich – o Gott! – in ungeheurer Einsamkeit
Zurückgeblieben – wie – wie sollt' ich das bestehn
Und nicht ihr nach hintaumeln in die ew'ge Nacht!
Ist nicht, was Holdes je auf meinem Pfad geblüht,
Nur an der Sonne dieses Auges aufgesproßt,
Und wenn sie auslischt, fänd' ich meine Straße noch
In winterlicher Wüste? Ew'ge Machte, nein,
Nur das, nur das nicht! Tut mir euer Ärgstes an,
[257]
Laßt mich erblinden, laßt an Kraft und Lebensmut
Mich ganz verarmen, keiner Freude mächtig mehr –
Nur das, nur das nicht! Schon bei dem Gedanken tritt
Der kalte Schweiß mir auf die Stirn, im Busen klopft
Das Herz, wie ihn zu sprengen, mir am Gaumen klebt
Fiebernd die Zunge – auf vom Lager heb' ich mich,
Ein Licht zu zünden – da an meiner Seite tönt
Die liebe Stimme: Schläfst du nicht? Ist dir nicht wohl
Gib deine Hand mir – so! Nun wird's vorübergehn.
Du hast zu lang geschrieben.
Und die zarte Hand
In meine legend, schlummert sie von neuem ein.
Mir aber ist, als wär' an meinem Haupt vorbei
Ein Blitz gestreift, und gnädig hätte noch einmal
Das Schicksal sich erbarmt des armen Sterblichen.
Und sieh, schon kündet tröstlich sich das Frührot an.
Vom Garten leise klingt herauf ein Vogelruf
Und von dem nahen Turme der Basilika
Das Glöcklein, das zur Messe ruft.

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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Hauspoesie. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6702-2