Sündenregister

Stets nahm ich dich in Schutz und bliebe
Dein Anwalt gegen eine Welt,
Du Volk Italiens, das ich liebe,
So manches mir an dir mißfällt.
Doch unter uns und ohne Zeugen
Nehm' ich ein Blatt nicht vor den Mund
Und kann als Freund dir nicht verschweigen:
Sie tadeln dich nicht ohne Grund.
Das süße Nichtstun – deinen Kindern
Verwehrt's die liebe Sonne nicht,
Und fremde Reisende zu plündern,
Scheint jedem Gastwirt Ehrenpflicht.
Man schilt auch, daß du ohn' Erröten
In schmutz'gen Mauerhöhlen wohnst,
Die kleinen Vögel liebst zu töten,
Jedoch das Ungeziefer schonst;
Und daß man selbst den Angestellten
Vergolden mag die hohle Hand –
Nun, dies und andres noch, nicht selten
Trifft man's wohl auch in anderm Land.
[419]
Doch Schlimmres noch: Brigantenhorden
In deiner Berge wildem Schoß,
Vendetta, die, zur Pflicht geworden,
Geschlechter mordet gnadelos,
Der Wälder gräuliche Verwüstung,
Camorra, die das Ärgste wagt,
Und wes in sittlicher Entrüstung
Dich gutes Volk man sonst verklagt:
Das alles dünkt dir sehr verzeihlich,
Was Hohn Europens Sitte spricht,
Nur eine seltne Tugend freilich
Macht Vieles gut: du heuchelst nicht.
Auch ich, so sehr ich dir gewogen,
Bin nicht für deine Fehler blind.
Ich weiß, du wurdest schlecht erzogen,
So bliebst du stets ein großes Kind.
Unarten, die in deinem Blute
Verderblich nisteten bis heut,
Sie wurden nicht mit scharfer Rute
Von deinen Zwingherrn ausgebläut.
Sie knechteten dich manch Jahrhundert,
Mit schlauer Priesterschaft im Bund,
Daß billig eins nur uns verwundert,
Wie unverwüstlich du gesund.
Gewiß, dir wäre hoch vonnöten
Ein deutscher Unteroffizier,
Würd' auch sein Drill so manches töten,
Was liebenswürdig ist an dir.
Doch da man endlich aus Ruinen
Verjährten Wust beiseite räumt,
So malerisch er lang erschienen,
So wundersam man drin geträumt;
[420]
Da selbst in Roms verfallne Gassen
Dem Licht man einen Weg gebahnt,
Ob auch erhabne Trümmermassen
An ferne große Zeit gemahnt,
So wünsch' ich, daß du, neu erstanden
Aus langem Schlummer, dich befreist
Von den jahrtausendalten Banden,
Die dir umschnürten Seel' und Geist;
Daß du, was nie zuvor du lerntest,
Dich selber nimmst in strenge Zucht
Und vollgereift nun endlich erntest
All deiner edlen Gaben Frucht.
Dann wirst du deine Rache nehmen
Und, die dich höhnten dünkelhaft
Als »Land der Toten«, stolz beschämen
Durch Taten freud'ger Lebenskraft.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Gedichte. Gedichte. Ein Wintertagebuch. Sündenregister. Sündenregister. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6762-C