[258] Sommer und Herbst

Der Dichter und der große Pan

Dichter

Der Mittag glüht,
Die Glieder ermatten.
Hier am See im Olivenschatten,
Wo der Thymian blüht,
Werf' ich mich hin.
Die Lazerten huschen davon,
Grille, die luftige Springerin,
Schnellt hinweg mit surrendem Ton,
Dann alles wieder stumm.
Des Ölbaums silberne Blätter
Und dort der Tamariskenstrauch
Wie erzgegossen; – nirgend ein Hauch!
Ewige Götter,
Wie schön ist eure Welt ringsum!
Fernab von diesem Heiligtum
Der Menschen bunte Lüge,
Ihre arme Liebe, ihr ärmerer Haß.
Hier wehn der alten Mutter Atemzüge.
Beseligend ihr Kind,
Das aus dem Quell des Schlummers Kraft gewinnt
Und aller Wünsche Genüge.
Drüben über der blauen Flut
Wie hebst du feierlich dein Haupt,
Alter Monte Baldo, tief entlaubt
Von Winters stürmender Wut!
Er schläft, der Alte.
Auf seiner Stirn die graue Falte
Scheint sich im Traume zu bewegen.
Die Füße kühlt er in der klaren Flut
Und blickt so sanft, als sei ihm wohl zumut.
[259]
Wie aber? seh ich recht?
Beginnt er sich zu regen?
Er blinzt der Sonne still entgegen –
Ein Wesen von der Himmlischen Geschlecht,
Erhaben, mild und groß!
O du dort drüben, sag an,
Wer bist du, herrlicher Koloß?
Pan

Ich bin der große Pan.
Was störst du meinen Mittagsfrieden?
Dichter

O heilig Glück, daß mir beschieden,
Zu schaun, was nur die frommen Alten sahn.
So lebst du noch, Erhabner du,
Waltest in stiller Segensruh
Der Welt und ihrer Zwergengeschöpfe,
Die dein vergessend sich weise dünken?
Pan

Kindisch betrogene Tröpfe!
Keiner der Ewigen kann versinken,
Keiner vergehn.
Haben sie Augen nicht, um zu sehn,
Ohren, zu hören?
Und lassen lieber sich betören
Von jener Glocken dürftigem Gebimmel,
Die dort herab vom Kloster schallen,
Träumen sich einen neuen Himmel,
Den Weihrauchdüfte widerlich durchwallen,
Statt hier in Lorbeerhallen
Den Hauch zu trinken der reinen Flut?
Armselige Brut!
Rede mir nicht von ihnen.
Dichter

Doch mir – wie bist du mir erschienen,
Verborgner, wundersamer Gott?
[260]
Pan

Deine Seele ist rein von Spott.
Ich sah dich oft an dieser Küste schweifen,
Jetzt in Verzückung stille stehn,
Ein duft'ges Blatt vom Baume streifen
Und staunend, jauchzend weitergehn.
Nur Deinesgleichen haben mich gesehn
Zu allen Tagen;
Darfst aber nichts davon den Spöttern sagen.
Doch tätst du's auch, sie blieben dennoch blind.
Dichter

Fürwahr, ich dünke mir ein Sonntagskind!
Pan

Sonntag? Was meinst du nur?
Geht nicht die Sonne jeden Tag uns auf
Und zeigt in ihrem Lauf
Geheim' und offenbare Wunder?
Meinst du den Tag, wo jene Glocken klingen,
Wo sie vor ihrem Götzenplunder
Die unverstandnen Opfer bringen?
Doch nichts davon! Es stört den Schlaf mir nun,
Den jeder braucht, der wirken soll.
Nur diese Stund' ist mir erquickungsvoll.
Nachts, wenn die andern Götter ruhn,
Hab' ich erst eben recht zu sorgen,
Alle Wesen zu ihren Werken
Mit neuem Lebenshauch zu stärken;
Kommt dann der Morgen,
Sah Keiner mein geheimes Tun.
Dichter

Und willst du Güt'ger nun
Dich ewig meinem Aug' entziehn?
Pan

Du arglos Kind! Blick auch in Zukunft nur
Mit stiller Brust ringsum in die Natur
[261]
Und such den Alten: sicher findst du ihn.
Aber nur in der stillsten Stunde
Wird das Auge dir aufgeschlossen,
Sonst tausendfach zerstückelt in der Runde
Ist die Gestalt des großen Pan zerflossen.
Nur selten sinkt dem Menschenkinde,
Das fromm den Ew'gen sich vertraut,
Vom Aug' die dichte Nebelbinde,
Daß er das Unerschaffne schaut.
Lebwohl für heut! Die Welle schäumt
Und wiegt mich neu in Schlummer.
Hab' noch nicht ausgeträumt!
Süß ist die Ruh! – –
Dichter

Und wieder nun in stummer,
Versteinter Majestät blickt er mich an.
Pan! großer Pan! –
Kein Nicken mehr, kein Ton!
Wie? schläft er schon?
War's wirklich Götterwort, das ich vernahm,
Oder ein Traum, verwundersam?
Mein alter Monte Baldo dort,
Schlaf ruhig fort!
Horch, es schauert leis in den Bäumen –
Ein Kräuseln furcht den See –
Spürten auch sie des Gottes Näh'?
Still! Laß uns ruhn und träumen!

An die Natur

Dein Bilderbuch, Allmutter Natur,
Drin Jahreszeiten
Und Sternenheere,
Länder und Meere
Vorübergleiten,
Gibst du den großen,
Ewig unmündigen
Kindern zu schauen,
[262]
Bis ihnen spät im Abendgrauen
Vom Blättern matt
Die Hand hinsinkt auf das letzte Blatt.
Aber der Dichter, der großen Kinder
Eigensinnigstes, wunderlichstes,
Am Meeresstrand
Sitzt er und hält in träumender Hand
Die bunte Muschel und horcht mit Sinnen
Dem Brausen drinnen.
Dann versucht er, im kleinen Rund
Auszuschöpfen den Meeresgrund,
Indes mit Hohngelächter die andern
Vorüberwandern:
Seht den Toren,
In sein vergebliches Spiel verloren!
Du aber, hehre Mutter,
Blickst milde lächelnd
Auf dein Schoßkind,
Und in den Schaum, der versprüht im Sand,
Streut deine Hand
Perlen, mit denen entzückt
Er seiner Liebsten Haupt und Busen schmückt.

Frage

Die ihr über dem Haupt mir schwebt,
Dunkle Mächte des Lebens,
Holder Gaben die Fülle gebt,
Ach, nur daß ihr den Schleier hebt,
Der den sterblichen Blick umwebt,
Hofft die Seele vergebens?
Allmacht, ewige Meisterin,
Ist denn Frevel die Frage,
Ob ich einst das Woher? Wohin?
Zu enträtseln berufen bin,
Ob dem ahnungumwobnen Sinn
Himmlische Klarheit tage?
[263]
Oder ruf' ich umsonst dich an?
Mußt du herrschen und schweigen?
Darfst du, wie dem gefangnen Mann,
Was ich nimmer erreichen kann,
Durch des ehernen Gitters Bann
Nur von ferne mir zeigen?

Resignation

Ich hab' es nur zu spät als Wahn erkannt,
Daß Brüder ich in allen Menschen fand.
Wohl zeigte mir ihr Antlitz selten nur
Von meines Vaters Bild die fernste Spur.
Sie starrten mich als einen Irren an,
Sprach ich die Muttersprache dann und wann,
Und was an Gab' und Gütern dankeswert
Geist und Natur zum Erbteil mir beschert,
Wenn brüderlich davon ich andern gab,
Mit Achselzucken wandten sie sich ab,
Daß eine Trauer staunend mich beschlich,
Und weil ich jung war, weint' ich bitterlich.
Nun aber ward ich alt und still und klug
Und weiß, wie selten der Familienzug,
Wie mit des Vaters Adel, Mild' und Macht
Ein Hirsch, ein Vogel reichlicher bedacht,
Und von der Mutter Schönheit, Füll' und Art
Ein Blatt, ein Blumenkelch mehr offenbart,
Als eine Larve weiß und rot geschminkt,
Die sich ein Ebenbild des Höchsten dünkt.
Seitdem wie unter Fremden geh' ich stumm
In dieser buntgemischten Welt herum.
Doch wo ein echter Bruderblick mir glänzt,
Ein Schwesterohr mein stammelnd Wort ergänzt
Und zu den Meinen mich geführt mein Sehnen,
Umflort sich auch mein Blick, doch süß sind diese Tränen.

Welträtsel

Manchmal, wenn jäh dein eigen Angesicht
Aus klarer Spiegelfläche zu dir spricht,
Dünkt dir's, du sähst, was dir so wohlbekannt,
[264]
In dunkle Hieroglyphen umgewandt.
Du fragst dich, wem dies fremde Bildnis gleicht,
Bis vor dir selbst ein Graun dich überschleicht
Und das Geheimnis deiner Einzigkeit
Mit deinem dumpfen Frieden dich entzweit.
Und wieder: siehst du einen Baum, ein Laub,
Ein Sandkorn, einen bunten Sonnenstaub,
Ergreift dich's plötzlich wie ein brennend Weh,
Daß rings das All dich ewig fremd umsteh',
Daß niemals du der Lösung näher bist
Der alten Frage: was das ist, was ist,
Und vor des Daseins rätselvollem Schmerz
Krampft sich zusammen dein verschüchtert Herz.

Ein Brief

Du hast dich leider fortgemacht
Wie eine Diebin bei der Nacht,
Doch scheidend ließest du zum Glück
Mein Herz, das ich dir lieh, zurück.
Zwar blieb's bei dir nicht unversehrt,
Doch hat's noch immer seinen Wert,
Und bessert man's ein wenig aus,
Hält's wohl ein Weilchen noch – fürs Haus.
Dir war's zu alt und unscheinbar,
Zu wunderlich, zu echt wohl gar.
Nach Neuem immer steht dein Sinn,
Ein Herz wie meines wirfst du hin.
Auch geht's nicht immer nach der Schnur,
Ganz wie die alte Taschenuhr,
Ein Erbstück noch vom Vater her,
Nicht ihres Schlags recht sicher mehr.
Bald geht sie vor, bald steht sie still,
Tut eigensinnig, wie sie will,
Und dennoch, raubte sie ein Wicht,
Mich tröstet' eine neue nicht.
[265]
Altmodisch ist's, du lachst dazu!
Nun, alt bin ich und jung bist du,
Ich still und warm, du kühl und toll –
So fahr denn wohl – und ohne Groll.

Lied des Alten

In Maientagen, im Jugenddrang,
Da lebt' ich von Luft und Liebe.
Ich hoffte, daß es den Sommer lang
So lustige Lebzeit bliebe.
Der Sommer kam, der wußte nichts
Von Tänzen, Kränzen und Küssen.
Ich hab' im Schweiße des Angesichts
Den Tag mir verdienen müssen.
Die Schloßen stürmten, es traf der Blitz,
Nun herbstet es schon in den Zweigen.
Im Busen reift mir ein voller Besitz –
Wie lang wohl bleibt er mein eigen?
Gleichviel! und friert es Stein und Bein,
Man ruht doch Winters im Hafen.
Wer wacker geschafft, darf müde sein;
Wie freu' ich mich, auszuschlafen!

Das Schwerste

Nichts wird dem Herzen so leicht,
Als zu vergessen des Schweren,
Wie durch den Schleier der Zähren
Plötzlich ein Lächeln sich schleicht.
Schwerer vergißt sich das Glück,
Später das Labende, Süße;
Sehnende Seufzer und Grüße
Rufen es oft noch zurück.
[266]
Aber die reizende Lust,
Wenn sie mit schaudernder Kälte
Plötzlich ein Gott uns vergällte,
Nimmer verschmerzt sie die Brust.
Ach, wer verwindet das Heil,
Das sich zum Unheil gewendet?
Erst wenn das Leben sich endet,
Schwärt aus der Wunde der Pfeil.

Aus der Tiefe

Über mir, ein dunkles Meer,
Schlägt Vergessenheit zusammen.
Still, wie still ist's um mich her,
Stumm von Klagen und Verdammen.
Nur wie durch des Tauchers Glas
Seh ich rings der Tiefe Schrecken,
Sehe machtlos Groll und Haß
Hundert Arme nach mir strecken.
Laßt mich eine Weile kühl
Einsam in mich selbst versinken,
Fern dem sonnigen Gewühl
Neuen Mut und Hoffnung trinken;
Bis sich meine Wimper hebt
Neugestärkt zum Sonnenscheine.
Wem die Erde je gebebt,
Wissen wird er, wie ich's meine!

Allerseelen

Was säuselt in den Lüften?
Was singt im Gemüt?
Ist's Frühling, ist's Liebe,
Was neu mir erblüht?
[267]
Ach, hörst du nicht sausen
Den Herbstwind im Baum?
Ach, ging nicht die Liebe
Dahin wie ein Traum?
Vom Hügel, darunter
Sie schlummert schon lang,
Klingt leise das Liedchen,
Das einst sie dir sang:
Es findet die Liebe
Im Grabe nicht Ruh;
Am Tag Allerseelen
Da winkt sie dir zu.
Am Tag Allerseelen
Da weckt sie der Schmerz,
Da sucht sie den Liebsten
Und küßt ihn aufs Herz.

Der Tod im Baum

Im Nebelduft am Straßensaum
Da steht ein Ebereschenbaum.
Die Früchte schimmern blutigrot,
Im kahlen Wipfel hockt der Tod.
Die Fiedel hält die Knochenhand,
Mit Menschensehnen bleich bespannt.
Den Schädel, der wie Silber glänzt,
Ein Kranz von Vogelbeeren kränzt.
Der Kiefer blank die Zähne zeigt,
Er grinst vergnügt und singt und geigt.
Aus schwarzer Ackerfurch' zu hauf
Ein Schwarm von Krähen flattert auf.
Der Singsang des Gerippleins gellt:
»Nun bist du mein, du weite Welt!
Die schwarzen Vögel hör' ich schrein,
Ihr sollt die Totengräber sein.
[268]
Was je geblüht, was je gelacht,
Wird nun ins kalte Grab gebracht.
Die Welt ringsum liegt tot und stumm –
Was aber klingt dort für Gesumm?«
Ein Büblein kommt des Wegs daher,
Zur Schule trägt's sein Ränzel schwer.
Der Ostwind pfeift ihm ins Gesicht,
Den kleinen Mann bekümmert's nicht.
Und wie er tapfer fürbaß zieht,
Er summt ein lieblich Weihnachtslied.
Der Tod im Baume lauscht voll Grimm,
Möcht schweigen gern die Kinderstimm'.
Er wirft den Kranz ihm an den Kopf,
Da lacht hinauf der muntre Tropf:
Das schöne Kränzel heb' ich auf! –
Mit Schrein entschwirrt der Krähenhauf.

Wiesengang

Der letzte Grummetwagen ist herein,
Rund sind die Wiesen leer; das Reich ist mein;
Kein Ährenfeld, das mir verschlossen bleibt,
Nur Stoppeln, über die der Ostwind stäubt.
Ich wandre, wandre. In erschrocknem Lauf
Springt dann und wann ein Häschen vor mir auf.
Die scheue Feldmaus schlüpft behend ins Loch,
Nur ihres Schwänzleins Spitze seh' ich noch.
Zeitlosen ringsumher. Ihr bleiches Rot
Lügt nur das Leben; doch ihr Saft bringt Tod.
Nichts Farbenfrohes, keiner Blume Spur;
Zum Winterschlaf anschickt sich die Natur,
[269]
Wie sich ein schönes Weib am Abend spät
Des Schmucks entkleidet, eh' sie schlafen geht.
Doch wer sie liebt, der findet tausendmal
Sie holder so, als in des Festes Saal.
Geborgen vor der Schmeichler ödem Schwarm
Hält er sie jetzt am Busen, liebewarm,
Entzückt von ihres Auges letztem Gruß,
Den vorm Entschlummern sie ihm gönnen muß,
Wie dort der Sonne letzter Schimmer müd
Aus tiefgesenkter Wolkenwimper sprüht.

Kehraus

Gib dich drein, Herz, gib dich drein!
Der Tanz muß mal zu Ende sein.
So helle die Geigen,
Die Tänzer so jung,
Sie schwangen im Reigen
Sich nimmer genung.
Nun ächzet die Fiedel,
Nun schnarrt das Fagott
Ein schläfriges Liedel –
So helfe dir Gott!
Gib dich drein!
Gib dich drein, Herz, gib dich drein!
Es bricht einmal die Nacht herein.
Die nebligen Sterne
Mit flackerndem Licht,
Sie blinken so ferne
Und wärmen dich nicht.
Noch dämmert ein Funken,
Im Busen entfacht;
Auch der nun versunken,
Rings gähnet die Nacht.
Gib dich drein!
[270]
Gib dich drein, Herz, gib dich drein!
Wer weiß, dich weckt ein Morgenschein.
Du lägest wohl lieber,
Verschliefst immerzu
Das hastige Fieber
Des Lebens in Ruh.
Doch hebt dann aufs neue
Der Tanz sich an,
Tritt keck in die Reihe
Und steh deinen Mann!
Gib dich drein!

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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Sommer und Herbst. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-684B-9