[388] Nur ein Laie

Heut traf ich einen Gelehrten an,
Schien mir soweit kein übler Mann,
Ein Professor der Universität,
Allwo er hoch in Ehren steht,
Chemie und auch Physik doziert
Und fleißig experimentiert.
Und da im Laboratorium
Die Schüler lauschen in Ehrfurcht stumm,
Nistet' Allwissenheitsbewußtsein
Sich allgemach in seine Brust ein,
Und heiter sprach er fort und fort
Über all und jedes das letzte Wort.
Nun kam die Rede natürlich auch
Hier in Italien auf Sitt' und Brauch
Des Volks, sein Wesen und seinen Sinn,
Und unter anderm warf ich hin:
Versagt wohl sei ihm manche Gabe,
Die hohen Preis im Norden habe,
Doch was von jeher mir gefiel
An diesen Menschen: sie haben Stil.
Der Professor zog die Brauen hinauf:
Wie meinen Sie das?
Und ich darauf:
Stil hat, was mit ureigner Kraft
Die rechte Form seinem Wesen schafft,
Von innen her gestaltet wird,
Durch keinen fremden Zwang beirrt
Der Bildung oder Konvention.
So lebt hier jeder Muttersohn
Aus hohem oder niederm Haus
Sich unverlegen harmlos aus
Und läßt im Guten wie im Schlimmen
Nur vom Naturtrieb sich bestimmen.
Und da das südlich heiße Blut
In Lieb' und Haß, in Scherz und Wut
Die Adern ihnen höher schwellt,
Als Kindern einer kühlern Welt,
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Ergeht sich auch in Ernst und Spiel
Ihr Tun und Reden in größerm Stil,
In Formen, die sich trefflich schicken,
Poeten und Maler zu entzücken.
Und er darauf: Der Form entspricht
Nur leider oft der Inhalt nicht.
Man sieht's an jeder hohlen Blase.
Hier in Italien herrscht die Phrase.
(Woher erfuhr's der große Mann?
Kam gestern erst hier bei uns an.)
Doch wer da pflegt in allen Fällen
Zunächst die Fakta festzustellen,
Wie mir's Bedürfnis wurde, kraft
Meiner exakten Wissenschaft,
Der findet in dieses Volks Natur
Von höherem Inhalt keine Spur,
Der auch zu höherer Form berechtigt.
Auch ihre Kunst ist mir verdächtig,
Und ich behaupte frank und frei,
's ist wenig Woll' und viel Geschrei.
Selbst die sistinische Madonne,
Die aller Kunstbeflissnen Wonne,
Hat mich enttäuscht, muß ich gestehn.
Ich hab' genau sie angesehn.
Nun ja, ein artiges Gesicht,
Doch Göttliches entdeckt' ich nicht,
Nichts von dem überirdischen Geist,
Den man so enthusiastisch preist.
Ich kann's nicht anders definieren:
Die Mutter und das Kind posieren.
Ja, dieser Raffael überhaupt,
An den die Welt kritiklos glaubt!
Er wird von der Ästhetik jetzt
Doch gar zu töricht überschätzt.
Ich hasse jeden Aberglauben,
Auch in der Kunst, und sprech' ich hier
Als Laie nur, ich lasse mir
Gleichwohl mein gutes Recht nicht rauben,
Zu sagen, wie ein Ding mir scheint,
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Und ob sich alle Welt vereint,
So oder so es anzuschauen:
Ich kann nur meinen Augen trauen. –
Nach diesem letzten stolzen Trumpf
Genoß er lächelnd den Triumph,
Daß niemand der Madonna wegen
Wagt' eine Lanze einzulegen.
Ich aber sprach: Sie haben recht!
Es lebt im heutigen Geschlecht
Zuviel Respekt noch vor der Phrase.
Ein jeder folge seiner Nase!
Und wenn ein kühner Geist, wie Sie,
Dem Gott gesunde Sinne lieh,
An Raffael nichts finden kann,
So sag er's dreist. Selbst ist der Mann,
Auch wenn er fremd Gebiet durchstreift.
Man gleicht dem Geist, den man begreift,
Und lehrreich ist's, wenn man von Laien
Erfährt, wes Geistes Kind sie seien.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Gedichte. Gedichte. Italien. Frühling am Gardasee. Nur ein Laie. Nur ein Laie. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-68F0-2