Erscheinungen

Gedachte man der letzten Belagerung von Dresden, so wurde Anselmus noch blässer als er schon war. Er faltete die Hände auf dem Schoß, er starrte vor sich hin, ganz verloren in trübe Gedanken, er grollte und murmelte sich selbst an: »Herr des Himmels! fuhr ich zur rechten Zeit in die neuen Klappstiefel hinein mit beiden Beinen, rannte ich, brennendes Stroh und berstende Granaten nicht achtend, schnell hinaus über die Brücke nach der Neustadt, so bog sich gewiß dieser, jener große Mann aus dem Kutschenschlage und rief, mir freundlich zuwinkend: ›Steigen Sie nur getrost ein, mein Guter!‹ Aber so wurd' ich eingesperrt in den verfluchten Hamsterbau von Wällen, Parapets, Sternschanzen, verdeckten Gängen und mußte Not und Elend ertragen wie einer. – Kam es denn nicht so weit, daß der müßige Magen, stieß er, zum Zeitvertreib in Roux' Diktionär blätternd, auf das Wort: Essen, ganz verwundert ausrief: ›Essen? was ist denn das?‹ – Leute, die sonst wohlbeleibt gewesen, knöpften ihr eignes Fell über als breiten Brustlatz und natürlichen Spenzer. – O Gott! wär' nicht noch der Archivarius Lindhorst gewesen! – Popowicz wollte mich zwar totschlagen, aber der Delphin spritzte wunderbaren Lebensbalsam aus den silberblauen Nüstern. – Und Agafia!« – Bei diesem Namen pflegte Anselmus vom Stuhl aufzufahren, ein ganz klein wenig – zwei – dreimal zu springen und sich dann wieder zu setzen. Es blieb ganz vergebens, den Anselmus zu fragen, was er eigentlich mit diesen verwunderlichen Redensarten und Grimassen meine, er sagte bloß: »Kann ich's denn erzählen, wie alles sich begab mit Popowicz und Agafia, ohne für närrisch gehalten zu werden?« Alle lächelten zweideutig, als wollten sie sagen: »Ei Lieber, das geschieht ja schon ohnedem.« – An einem trüben nebligen Oktoberabend trat Anselmus, den man fern glaubte, ganz unvermutet bei seinem Freunde zur Stubentür [447] hinein. Er schien im tiefsten Gemüt aufgeregt, er war freundlicher, weicher als sonst, beinahe wehmütig, sein zuzeiten vielleicht gar zu wild herumfahrender Humor beugte sich gezähmt und gezügelt dem mächtigen Geist, der sein Innerstes erfaßt. – Es war ganz finster worden, der Freund wollte Lichter herbeischaffen, da sprach Anselmus, indem er den Freund bei beiden Armen ergriff: »Willst du mir einmal ganz zu Willen sein, so steck' keine Lichter an, laß es bewenden bei dem matten Schein deiner Astrallampe, der dort aus jenem Kabinett zu uns herüberschimmert. Du kannst machen, was du willst – Tee trinken, Tabak rauchen, aber zerschmeiße keine Tasse und wirf mir keinen brennenden Fidibus auf die neue Weste. Beides könnte mich nicht allein kränken, sondern auch unnützerweise hineinlärmen in den Zaubergarten, wo ich nun heute einmal hineingeraten bin und mich sattsam erlustiere. – Ich setze mich hier ins Sofa!« – Er tat das. Nach einer ziemlich langen Pause fing er an: »Morgen früh um acht Uhr sind es gerade zwei Jahre her, als der Graf von der Lobau mit zwölftausend Mann und vierundzwanzig Kanonen aus Dresden auszog, um sich nach den Meißner Bergen hindurchzuschlagen –« »Nun, das muß ich gestehen,« rief der Freund laut lachend, »mit wahrer Andacht hab' ich gewartet auf irgendeine himmlische Erscheinung, die deinem Zaubergarten entschweben würde, und nun! – Was geht mich der Graf von der Lobau und sein Ausfall an? – und daß du es behalten hast, daß es gerade zwölftausend Mann und vierundzwanzig Kanonen waren! Seit wann kleben denn kriegerische Ereignisse fest in deinem Kopfe?« – »Ist dir denn,« sprach Anselmus, »ist dir denn die so kurz vergangene verhängnisvolle Zeit schon so fremd geworden, daß du es nicht mehr weißt, wie das geharnischte Ungetüm uns alle erreichte und erfaßte? – Das: Noli turbare rettete uns nicht mehr vor eigner Gewaltanstrengung, und wir wollten nicht gerettet sein, denn in jedes Brust schnitt der Dämon [448] tiefe Wunden, und, aufgereizt von wildem Schmerz, ergriff jedes Faust die ungewohnte Waffe, nicht nur zum Schutz, nein, zum Trutz, damit die heillose Schmach gebüßt und gerächt werde im Tode. – Lebendig gestaltet in Fleisch und Blut, tritt mich eben heute die Macht an, welche in jenen dunklen Tagen waltete und mich forttrieb von Kunst und Wissenschaft in das wilde blutige Getümmel. – War es mir denn möglich, am Schreibtisch sitzen zu bleiben? – Ich trieb mich auf den Gassen umher, ich lief den ausziehenden Truppen nach, soweit ich durfte, nur um selbst zu schauen und aus dem, was ich geschaut, Hoffnung zu schöpfen, erbärmliche prahlhafte Anschlagszettel und Nachrichten nicht achtend. Als nun vollends jene Schlacht aller Schlachten geschlagen war, als ringsumher alles hoch aufjauchzte im entzückenden Gefühl wiedergewonnener Freiheit, und wir noch gefesselt in Sklavenketten lagen, da wollte mir die Brust zerspringen. Es war mir, als müsse ich durch irgendeine entsetzliche Tat mir und allen, die mir gleich an die Stange gekettet, Luft und Freiheit verschaffen. – Es mag dir jetzt und so, wie du mich überhaupt zu kennen glaubst, abenteuerlich, spaßhaft vorkommen, aber ich kann es dir sagen, daß ich mich mit dem wahnsinnigen Gedanken trug, irgendein Fort, das der Feind, wie ich wußte, mit starken Pulvervorraten versehen, anzuzünden und in die Luft zu sprengen.« – Der Freund mußte unwillkürlich ein wenig lächeln über den wilden Heroismus des friedfertigen Anselmus, der konnte das aber nicht bemerken, da es finster war, und fuhr, nachdem er einige Augenblicke geschwiegen, in folgender Art fort: »Ihr habt es ja alle oft gesagt, daß ein eigner Stern, der über mir waltet, mir in wichtigen Momenten fabelhaftes Zeug dazwischen schiebt, woran niemand glaubt, und das mir selbst oft wie aus meinem eignen innern Wesen hervorgegangen erscheint, unerachtet es sich dann auch wieder außer mir als mystisches Symbol des Wunderbaren, das uns im Leben überall [449] entgegentritt, gestaltet. – So ging es mir heute vor zwei Jahren in Dresden. – Der ganze Tag verstrich in dumpfer ahnungsvoller Stille, vor den Toren blieb alles ruhig, kein Schuß fiel. Spät abends, es mochte beinahe zehn Uhr sein, schlich ich nach einem Kaffeehause auf dem Altmarkt, wo in einem entlegenen Hinterstübchen, das keiner der verhaßten Fremden betreten durfte, gleichgesinnte Freunde sich einander in Trost und Hoffnung ermutigten. Dort war es, wo, allen Lügen zum Trotz, die wahren Berichte der Schlachten an der Katzbach, bei Kulm etc. mitgeteilt wurden, wo unser R. schon zwei Tage nachher den Triumph bei Leipzig verkündete, den er, Gott weiß auf welche geheimnisvolle Art, erfahren. Mein Weg führte mich bei dem Brühlschen Palast, in welchem der Marschall wohnte, vorüber, und es fiel mir die ganz besonders helle Beleuchtung der Säle, sowie das rege Getümmel im Flur des Hauses auf. Eben sagte ich dies den Freunden mit der Bemerkung, daß gewiß etwas bei dem Feinde im Werke sein müsse, als R. ganz erhitzt und außer Atem schnell eintrat. ›Hört das Neueste‹, fing er sogleich an, ›soeben hielt man bei dem Marschall großen Kriegsrat. Der General Mouton (Graf von der Lobau) will sich mit zwölftausend Mann und vierundzwanzig Kanonen nach Meißen hin durchschlagen. Morgen früh geschieht der Ausfall.‹ Vieles wurde nun hin und her geredet, und man pflichtete endlich R.s Meinung bei, daß dieser Anschlag, der bei der regen Wachsamkeit unserer Freunde draußen sehr leicht dem Feinde verderblich werden könnte, vielleicht früher den Marschall zur Kapitulation zwingen und unser Elend enden würde. ›Wie kann R. in demselben Augenblick des Beschlusses erfahren haben, was beschlossen, worden‹, dachte ich, als ich um Mitternacht zurückkehren wollte in mein Haus, aber bald vernahm ich, wie es durch die Grabesstille der Nacht dumpf zu rasseln begann. Geschütz und Pulverwagen, reichlich mit Fourage bepackt, zogen langsam bei mir vorüber nach der Elbbrücke zu.

[450] ›R. hat doch recht‹, so mußt' ich mir selbst sagen. Ich folgte dem Zuge und kam bis auf die Mitte der Brücke an den damals gesprengten Bogen, der durch hölzerne Gerüste ersetzt war. Von beiden Seiten des Gerüsts, hüben und drüben, befand sich auf der Brücke eine starke Verschanzung von hohen Palisaden und Erdwällen. Hier vor der Verschanzung drückte ich mich dicht an das Geländer der Brücke, um nicht bemerkt zu werden. Da war es mir, als finge eine der hohen Palisaden an, sich hin und her zu bewegen und sich herabzubeugen zu mir, dumpfe unverständliche Worte murmelnd. Die dicke Finsternis der neblichten Nacht ließ mich nichts deutlich erkennen, aber als nun das Geschütz vorüber und es totenstill auf der Brücke worden, als ich tiefe schwere Atemzüge, ein leises, ahnungsvolles Gewimmer dicht neben mir vernahm, als sich der dunkle Holzblock höher und höher aufrichtete, da überlief mich eiskaltes Grauen und, wie vom schweren Traum geängstet, vermochte ich, in Bleiangeln festgefußt, mich nicht zu regen. Der Nachtwind erhob sich und trieb den Nebel über die Berge, der Mond warf bleiche Strahlen durch die zerrissenen Wolken. Da gewahrte ich unfern von mir die Gestalt eines hohen Greises mit silberweißem Haupthaar und langem Bart. Er hatte den knapp über die Hüften reichenden Mantel in vielen dicken Falten um Brust und Schultern geworfen, einen weißen langen Stab hielt er, den nackten Arm weit vorgestreckt, über den Strom hinaus. Er war es, der so wimmerte und murmelte. In dem Augenblick sah ich von der Stadt her Gewehre blinken und hörte Tritte. Ein französisches Bataillon marschierte in tiefem Schweigen über die Brücke. Da kauerte der Alte nieder und fing an mit kläglicher Stimme zu jammern, indem er den Vorüberziehenden eine Mütze hinhielt, wie um Almosen bettelnd. Ein Offizier rief lachend: ›Voila St. Pierre, qui veut pêcher!‹ der ihm folgte, blieb stehen und sprach sehr ernst, indem er dem Alten Geld in die Mütze warf: ›Eh bien, moi pécheur, je lui aiderai à pêcher.‹[451] – Mehrere Offiziere und Soldaten, aus den Gliedern heraustretend, warfen nun still und nur manchmal leise aufseufzend, wie in banger Todeserwartung, dem Alten Geld hin, der dann jedesmal mit dem Kopf seltsam hin und her nickte und dabei ein dumpfes Geheul ausstieß. Endlich sprengte ein Offizier (ich erkannte den General Mouton) so dicht heran an den Alten, daß mir bangte, das schäumende Roß werde ihn zertreten, und fragte, indem er, mit schneller Wendung nach dem Adjutanten hin sich den schwankenden Hut auf dem Kopfe festschlug, stark und wild: ›Qui est cet homme?‹ – Die Reiter, die ihm folgten, blieben alle still, aber ein alter bärtiger Sappeur, der außer Glied und Reihe mit der Axt auf der Schulter so nebenher schlenderte, sprach ruhig und ernst: ›C'est un pauvre maniaque bien connu ici. On l'appelle St. Pierre pêcheur.‹ Damit wogte der Zug, nicht wie sonst wohl in faselndem Scherz und frechem Jubel, nein, in trüber Unlust die Brücke entlang vorüber. Sowie der letzte Ton verhallte, sowie der letzte Schein der Waffen in fernem Dunkel verblinkte, hob sich der Alte langsam in die Höhe und stand, das Haupt aufgerichtet, den Stab emporgestreckt, in grauenvoller Majestät da, als wolle er, ein wundertätiger Heiliger, den stürmenden Wellen gebieten. Mächtiger und mächtiger rauschten, wie aus tiefstem Grunde bewegt, die Wogen des Stroms. Es war mir, als vernähm' ich mitten im Rauschen eine dumpfe Stimme. ›Michael Popowicz – Michael Popowicz – siehst du noch nicht den Feuermann?‹ – So tönte es von unten herauf in russischer Sprache. – Der Alte murmelte in sich hinein, er schien zu beten. Doch plötzlich schrie er laut auf: ›Agafia!‹ und in demselben Augenblick erglänzte sein Antlitz wie in blutrotem Feuer, das aus der Elbe herauf ihn anstrahlte. Auf den Meißner Bergen loderten mächtige flackernde Flammen hoch in die Lüfte, ihr Widerschein strahlte in der Elbe, in dem Antlitz des Greises. Nun fing es an ganz nahe bei mir am Gerüst der Brücke zu plätschern und zu plätschern, immer [452] stärker und stärker, und ich gewahrte, wie eine dunkle Gestalt mühsam heraufkletterte und sich mit wunderbarer Gewandtheit über das Geländer hinüberschwang. – ›Agafia!‹ schrie der Alte noch einmal. – ›Mädchen, um des Himmels willen! – Dorothee, wie‹ – so fing ich an, aber, in dem Augenblick fühlte ich mich umfaßt und mit Gewalt fortgezogen. ›O um Jesus! – Sei doch nur stille, lieber Anselmus, du bist ja sonst des Todes!‹ lispelte die Kleine, die nun vor mir stand, zitternd und bebend vor Frost. Die langen schwarzen Haare hingen triefend herab, die ganz durchnäßten Kleider schlossen eng an den schlanken Leib. Sie sank nieder vor Mattigkeit und klagte leise: ›Ach, es ist drunten so kalt – sprich nur nichts mehr, lieber Anselmus, sonst müssen wir ja sterben!‹ – Der Feuerschein glühte in ihrem Gesicht, ja es war Dorothee, das hübsche Bauermädchen, die sich, da ihr Dorf geplündert, ihr Vater erschlagen, zu meinem Hauswirt geflüchtet, der sie in seine Dienste genommen. ›Das Unglück hat sie ganz stupid gemacht, sonst wäre sie ein gutes Ding‹, pflegte mein Hauswirt zu sagen, und er hatte recht, denn außerdem, daß sie beinahe gar nicht und nur konfuses Zeug sprach, entstellte auch ein nichtssagendes unheimliches Lächeln das sonst wunderschöne Antlitz. Sie brachte mir jeden Morgen den Kaffee aufs Zimmer, und da bemerkte ich denn freilich, daß ihr Wuchs, ihre Farbe, ihre Haut durchaus sich nicht zur Bäuerin reimen wollten. ›Ei‹, pflegte mein Wirt dann weiter zu sagen, ›ei, Herr Anselmus, sie ist ja auch eines Pächters Tochter und noch dazu aus Sachsen.‹ – Als nun die Kleine triefend, bebend, halbentseelt vor mir mehr lag als kniete, da riß ich schnell meinen Mantel herab und hüllte sie ein, indem ich leise lispelte: ›Erwärme dich doch nur, ach, erwärme dich doch nur, liebe Dorothee! Du mußt ja sonst umkommen. – Aber was machst du auch im kalten Strom!‹ – ›Still doch nur‹, erwiderte die Kleine, indem sie den Kragen des Mantels, der ihr übers Gesicht gefallen, wegschlug und mit [453] den Fingerchen die triefenden Haare zurückkämmte, ›still doch nur! – Komm auf jene steinerne Bank! – Vater spricht jetzt mit dem heiligen Andreas und hört uns nicht.‹ – Wir schlichen leise hin. Ganz erfaßt von den wunderbarsten Gefühlen, ganz übermannt von Graus und Entzücken, schloß ich die Kleine in meine Arme, sie setzte sich ohne Umstände auf meinen Schoß, sie schlang ihren Arm um meinen Hals, ich fühlte, wie das Wasser eiskalt aus ihren Haaren über meinen Nacken hinabrann, aber wie Tropfen, in flammendes Feuer hineingespritzt, die Glut nur vermehren, siedete stärker in mir Liebe und Verlangen. ›Anselmus‹, lispelte die Kleine, ›Anselmus, du bist doch wohl ein guter Mensch, du singst, daß es mir recht zu Herzen geht, und bist auch sonst manierlich. Du wirst mich nicht verraten. Wer sollte dir denn auch wohl Kaffee kochen? – Und höre! wenn ihr bald alle hungern werdet, wenn kein Mensch dich speisen wird, dann komm' ich zu dir nachts ganz allein, daß es niemand weiß, und backe dir im Ofen recht schöne Piroggen – ich habe Mehl, feines Mehl versteckt in meinem Kämmerlein; – dann wollen wir Hochzeitskuchen essen, so weiß und schön!‹ – Die Kleine lachte, aber dann fing sie an zu schluchzen: ›Ach, wie in Moskau! – O mein Alexei, mein Alexei, du schöner Delphin – schwimme – schwimme auf den Fluten, harrt denn deiner nicht die treue Braut?‹ – Sie neigte das Köpfchen, und leiser und leiser schluchzend und auf und nieder atmend wie in sehnsuchtsvollen Seufzern, schien sie einzuschlummern. Ich blickte nach dem Alten, der stand mit weit ausgespreizten Armen und sprach in tiefem hohlen Ton: ›Er winkt euch! – Er winkt euch, seht, wie mächtig er seines Flammenbarts feurige Locken schüttelt, wie er ungeduldig die Feuersäulen, auf denen er das Land durchwandelt, in den Boden stampft – hört ihr nicht seine stöhnenden Tritte, fühlt ihr nicht den belebenden Atem, der wie ein funkensprühender Heerrauch euch voraufzieht? – heran! – heran – ihr tüchtigen Brüder!‹ – Des Alten Worte [454] waren anzuhören wie das dumpfe Brausen der heranziehenden Windsbraut, und indem er sprach, flackerte immer lebendiger und höher das Feuer auf den Meißner Bergen. ›Hilf, heiliger Andreas, hilf!‹ stöhnte die Kleine im Schlaf, dann fuhr sie auf, wie plötzlich schreckhaft berührt, und indem sie mich fester mit dem linken Arm umschlang, raunte sie mir ins Ohr: ›Anselmus, ich will dich doch lieber ermorden!‹ Ich sah in ihrer Rechten ein Messer blinken. – Entsetzt stieß ich sie zurück, indem ich laut aufschrie: ›Rasende, was beginnst du?‹ – Da kreischte sie auf: ›Ach, ich kann es ja doch nicht tun – aber jetzt bist du verloren.‹ – In demselben Augenblick schrie der Alte: ›Agafia! mit wem sprichst du?‹ und ehe ich mich besinnen konnte, stand er dicht vor mir und führte mit hochgeschwungenem Stabe einen entsetzlichen Schlag, der mein Haupt zerschmettert haben würde, hätte mich Agafia nicht von hinten erfaßt und schnell fortgerissen. Der Stab zersplitterte auf dem Steinpflaster in tausend Stücke, der Alte sank in die Knie! – ›Allons! – Allons!‹ erscholl es von allen Seiten; ich mußte mich aufraffen und schnell auf die Seite springen, um nicht von aufs neue heranziehenden Kanonen und Pulverwagen gerädert zu werden. Andern Morgens trieben die Russen den übermütigen Heerführer mit Schmach herab von den Bergen und hinein in die Schanzen. – ›Es ist eigen‹, sagte man, ›daß die Freunde draußen von dem Vorhaben des Feindes wußten, denn das Signalfeuer auf den Meißner Bergen zog die Truppen zusammen, um mit voller Kraft da widerstehen und siegen zu können, wo der Feind den unerwarteten Hauptstreich auszuführen gedachte.‹ – Dorothee brachte mir mehrere Tage hintereinander nicht den Kaffee. Ganz erblaßt vor Schrecken, erzählte mir der Hauswirt, daß er Dorotheen und den wahnsinnigen Bettler von der Elbbrücke mit starker Wache aus dem Hause des Marschalls nach der Neustadt führen gesehen!« – »O Herr des Himmels! – sie wurden erkannt und hingerichtet!« rief hier [455] der Freund aus; aber Anselmus lächelte seltsam und sprach: »Agafia wurde gerettet, aus ihren Händen empfing ich, als die Kapitulation geschlossen, ein schönes weißes Hochzeitsbrot, das sie selbst gebacken!« –

Mehr war aus dem störrischen Anselmus von dieser wunderlichen Begebenheit nicht herauszubringen.


»Du hast,« sprach Lothar, als Cyprian geendet, »du hast uns auf den Anlaß deiner Dichtung verwiesen, der anziehender sein soll als diese, eben diesen Anlaß halte ich daher für einen integrierenden Teil der Dichtung selbst, ohne den sie nicht bestehen kann. Füge also dein Warum und Weswegen nur gleich als tüchtige Note hinzu.«

»Findet ihr,« nahm Cyprian das Wort, »findet ihr es denn nicht ebenso seltsam als merkwürdig, daß alles, was ich euch vorlas, bis auf den kleinen phantastischen Zusatz buchstäblich wahr ist, und daß selbst dieser auch seinen, Keim in der Wirklichkeit findet?«

»Wie, was sagst du?« riefen die Freunde durcheinander.

»Fürs erste«, sprach Cyprian weiter, »wißt ihr alle, daß mich wirklich das Schicksal traf, das ich den fabelhaften Anselmus als das seinige erzählen ließ. Eine Verspätung von zehn Minuten entschied mein Schicksal, ich wurde eingesperrt in das bald von allen Seiten hart belagerte Dresden. Wahr ist's, daß nach der Leipziger Schlacht, als mit jedem Tage unser Schicksal beängstigender, drückender wurde, Freunde oder vielmehr Bekannte, die ein gleiches Los, gleicher Sinn einander näher gebracht hatte, sich wie die Jünger zu Emmaus am späten Abend in dem Hinterstübchen eines Kaffeehauses versammelten. Der Wirt hieß Eichelkraut, war ein fester gerader Mann, verhehlte ganz und gar nicht seinen entschiedenen Franzosenhaß und wußte die fremden Gäste, die ihn besuchten, in Respekt, ja, was noch mehr sagen will, sich ganz vom Leibe zu halten. In jenes Stübchen durfte nun vollends gar kein Franzmann eindringen, und gelang es zufällig [456] einem, hineinzuschlüpfen, so bekam er, er mochte bitten, fluchen, wie er wollte, durchaus nichts an Speise und Trank. Und dabei herrschte eine tiefe Totenstille, und alle bliesen mit angestrengter Kraft dicke Tabakswolken aus den Pfeifen, so daß bald ein erstickenden Dampf das kleine Zimmer erfüllte, und der Franzose im eigentlichsten Sinn des Worts weggeräuchert wurde, wie eine Wespe, wirklich auch wie diese brummend und summend durch die Türe abfahrend. – Dann wurde der Qualm durch die Fenster gelassen, und man kam wieder in Ruhe und Behaglichkeit. Ein sehr gemütlicher, liebenswürdiger Dichter, der sonst mit seinem Kapitelchen die Lesewelt fütterte, wie mit würzhaften Bonbons, war die Seele dieses heimlichen und heimischen Klubs, und mit Vergnügen erinnere ich mich noch der Augenblicke, wenn wir, auf den obersten Boden des Hauses gestiegen, durch das kleine Dachfenster hinausschauten in die Nacht und ringsumher die Wachtfeuer der Belagerer aufleuchten sahen; wenn wir dann uns selbst noch allerlei Wunderliches vorfabelten, das in dem rätselhaften Schimmer des Mondes und jener Feuer uns aufgehen wollte und dann den unten harrenden Freunden all die Wunderdinge erzählten, die wir geschaut. – Wahr ist's, daß in einer Nacht einer von uns (ein Advokat), der, mag der Himmel wissen, aus welchen Quellen, immer die schnellsten und gewissesten Nachrichten hatte, zu uns hineintrat und uns von dem eben im Kriegsrat beschlossenen Ausfall des Grafen von der Lobau gerade so erzählte, wie ich es euch vorlas. Wahr ist es, daß ich dann, als ich, mitternachts nach Hause zurückkehrend, auf der Straße mit Furage bepacktem Geschütz begegnete, als die französischen Bataillone im dumpfen Schweigen sich sammelten (es wurde kein Generalmarsch geschlagen), als sie über die Brücke zu marschieren begannen, nicht länger an der Richtigkeit jener Nachricht zweifeln konnte. Wahr ist es endlich, daß auf der Brücke ein greiser Bettler lag, den ich mich nicht erinnern konnte [457] vorher in Dresden gesehen zu haben, und die vorüberziehenden Franzosen anbettelte. – Wahr ist es endlich und zu gleich das Allerwunderbarste, daß, als ich, mit aufgeregtem Gemüt in meiner Wohnung angekommen, auf den obersten Boden kletterte und hinausschaute, ich auf den Meißner Bergen ein Feuer gewahrte, das ebensowenig ein brennendes Gebäude als ein Wachtfeuer sein konnte. Hoch auf loderte pyramidalisch eine Flamme, die nicht abnahm, nicht zunahm, und ein Bekannter, der in demselben Hause wohnte und mit mir heraufgestiegen war, versicherte, die Flamme müsse ein Signalfeuer sein. Der Erfolg lehrte, daß die Russen durchaus von dem Ausfall, der am andern Morgen stattfinden sollte, schon in der Nacht unterrichtet sein mußten, denn gerade auf den Meißner Bergen hatten sie zum Teil sehr entfernt liegende Bataillone herangezogen, ihre Kraft auf diese Weise konzentriert, und es war vorzüglich russische Landwehr, die nach kurzem Kampf die französischen Bataillone von den Meißner Bergen hinabjagte, als wenn der Sturm über ein Stoppelfeld braust. Als der Überrest der Korps die Schanzen erreicht, zagen sich die Russen ruhig in ihre Stellung zurück. Also in demselben Augenblick, als der Kriegsrat bei Gouvion St. Cyr gehalten wurde, erfuhren oder noch wahrscheinlicher, hörten den Beschluß selbst an Leute, die keinesweges dazu berufen. Merkwürdig genug wußte der Advokat jedes Detail der gepflegten Beratung, sowie vorzüglich, daß Gouvion anfangs gegen den Ausfall gewesen und nur nachgegeben, um nicht einer Mutlosigkeit beschuldigt zu werden, da, wo es einen kühnen Entschluß galt. Der Graf von der Lobau hatte sich übrigens durchschlagen und zur Armee des Kaisers stoßen wollen. – Wie erfuhren aber die belagernden Truppen so schnell – in dem Zeitraum einer Stunde – den Anschlag? – Außerdem daß, da die eng verschanzte Brücke unbemerkt zu passieren unmöglich, der Strom durchschwommen, daß die Schanzen und Wälle durchschlichen werden [458] mußten, war ganz Dresden in beträchtlicher Ausdehnung dicht verpalisadiert und mit Wachen umstellt. Wie war es irgendeinem Menschen möglich, in ganz kurzer Zeit alle diese Hindernisse zu überwinden und ins Freie zu kommen? – Man möchte an telegraphische Zeichen denken, die von irgendeinem hohen Hause oder von einem Turm in Dresden mittelst angezündeter Lichter gegeben wurden. Aber wie schwierig ist auch dies und gefährlich obenein, da diese Zeichen so leicht bemerkt werden konnten. – Genug! – es bleibt unbegreiflich, wie sich das begeben konnte, was sich wirklich begab, und das ist genug, um eine lebhafte Einbildungskraft zu allerlei geheimnisvollen und genugsam abenteuerlichen Hypothesen zu entzünden.«

»Ich beuge,« sprach Lothar lächelnd, »ich beuge in tiefer Ehrfurcht meine Kniee vor dem heiligen Serapion und vor dem vortrefflichsten seiner Jünger und bin überzeugt, daß eine serapiontische Erzählung der gewaltigen Kriegsbegebenheiten, die derselbe geschaut hat nach seiner Weise, ungemein anziehend, dabei aber sehr lehrreich für phantastische Militärs sein müßte. – Ich wette, die Sache mit dem Ausfall, könnte man ihr auf den Grund kommen, begab sich ganz einfach und natürlich. Doch deines Wirts Hausmädchen, die hübsche Dorothee, mußte in den Strom als verfänglicher Nix?« –

»Spotte nicht,« erwiderte Cyprian sehr feierlich, »spotte nicht, Lothar, noch steht mir das holde Mädchen – das lieblich furchtbare Geheimnis, ja anders kann ich nicht sagen, was sie war, vor Augen! – Ich war es, der den Hochzeitskuchen empfing! – Strahlend im Schmuck blitzfunkelnder Diamanten – im reichen Zobelpelz –«

»Hört, hört,« rief Vinzenz, »da haben wir's! – Sächsisches Hausmädchen – russische Prinzessin – Moskau – Dresden! – hat Cyprian nicht immer von einer gewissen Zeit, die er unmittelbar nach dem ersten französischen Feldzuge verlebt, in gar geheimnisvollen Worten und [459] Andeutungen gesprochen? – Nun kommt's heraus – rede – laß ausströmen dein volles Herz, mein Cyprianischer Serapion und serapiontischer Cyprian! – rede, sprich – du mußt reden, du mußt durchaus reden!«

»Und wenn,« erwiderte Cyprian plötzlich verdüstert und in sich gekehrt, »und wenn ich nun schwiege? – und wenn ich nun schweigen müßte? – und ich werde schweigen!« –

Die letzten Worte sprach Cyprian mit seltsam erhobenem Ton, indem er nach seiner gewohnten Art, wenn er tief bewegt war, sich zurücklehnte in den Stuhl und die Decke anstarrte.

Die Freunde sahen sich schweigend an mit bedenklichen Mienen.

»Es ist,« begann Lothar endlich, »es ist nun heute einmal mit unserm Serapionsklub ein verzwicktes Wesen und alles Bestreben, zu irgendeiner gemütlichen Freudigkeit zu gelangen, umsonst. – Musik wollen wir machen – erschrecklich singen irgend was Tolles!« –

»Recht,« rief Theodor, indem er das Pianoforte öffnete, »laßt uns singen, und wenn es auch kein Kanon ist, der, wie Junker Tobias vorschlägt, einem Leinweber drei Seelen aus dem Leibe haspeln kann, so soll es doch toll genug sein, um dem Signor Capuzzi und seinen Kumpanen Ehre zu machen. – Laßt uns aus dem Stegreif ein italienisches Terzetto buffo aufführen. Ich nehme die Partie der Liebhaberin und fange an, Ottmar singt den Liebhaber, und dann mag Lothar als komischer Alter dreinfahren und in kurzen Noten toben und schmälen.«

»Aber die Worte, die Worte,« sprach Ottmar. – »Singt, was ihr wollt,« erwiderte Theodor, »Oh dio! addio – lasciami mia vita –«

»Nein, nein,« rief Vinzenz, »soll ich nicht mitsingen, unerachtet ich ein göttliches Talent in mir verspüre, dem bloß das Organ der Catalani fehlt, um sich mit drastischer Wirkung kundzutun, so laßt mich wenigstens euer [460] Versifex, euer Hofpoet sein und empfangt hier das Opernbuch aus meinen Händen!« –

Vinzenz hatte auf Theodors Schreibtisch den Indice de' teatrali spettacoli von 1791 gefunden, den er Theodorn überreichte.

Dieser Indice, sowie alle übrigen, die jahraus jahrein in Italien erscheinen, enthielt nichts als die Namenverzeichnisse der gegebenen Opern, der Komponisten, Dekorateurs, Sänger und Sängerinnen. Man schlug das Theater von Mailand auf und kam darin überein, daß die Geliebte die Namen der Sänger mit untermischten Oh dio's und ah cielo's, der Liebhaber die Namen der Sängerinnen auf dieselbe Weise absingen, der komische Alte aber sehr erzürnt mit den Titeln der gegebenen Opern und Scheltworten dazwischen losbrechen sollte.

Theodor spielte ein Ritornell nach Zuschnitt, Form und Wesen, wie sie sich zu hunderten in der Opera buffa der Italiener befinden, und begann dann in ungemein süßer, zärtlicher Melodie: »Lorenzo Coleoni, Gaspare Rossari – oh dio – Giuseppo Marelli – Francesco Sedini etc.« Darauf: Ottmar: »Giuditta Paracca, Teresa Ravini – Giovanna Velati – oh dio etc.« Darauf aber Lothar in lauter Achtelnoten hintereinander weggestoßen: »Le Gare generose del Maestro Paesiello – che vedo – la Donna di spirito del Maestro Mariello – briconaccio – Pirro Re di Epiro – maledetti – del Maestro Zingarelli etc.«

Der Gesang, den Lothar und Ottmar mit gehöriger Gestikulation begleiteten, während Vinzenz der Rolle Theodors die allerpossierlichsten Gesten hinzufügte, die man nur sehen konnte, erhitzte die Freunde immer mehr. In einer Art von komischer Wut der Begeisterung faßte einer des andern Sinn und Gedanken; alle Gänge, Imitationen u.s.w., wie sie in derlei Kompositionen vorzukommen pflegen, wurden auf das genaueste ausgeführt, so daß jemand, den der Zufall herbeigeführt, wohl nicht leicht hätte ahnen können, er höre Musik aus dem Stegreife, [461] mußte ihm auch das tolle Durcheinander der Namen gar befremdlich vorkommen.

Immer stärker und ausgelassener tobte alle italienische Rabbia, bis, wie man denken kann, das Ganze sich mit einem unmäßigen Gelächter schloß, in das auch Cyprian einstimmte.

Die Freunde schieden diesmal, mehr gewaltsam aufgeregt zu toller Lust, als im Innern wahrhaft gemütlich froh, wie es sonst wohl geschehen.

[462]

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TextGrid Repository (2012). Hoffmann, E. T. A.. Erzählungen, Märchen und Schriften. Die Serapionsbrüder. Vierter Band. Siebenter Abschnitt. Erscheinungen. Erscheinungen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6A95-F