6. Die Tugend
1.
Die Tugend pflastert uns die rechte Freudenbahn,
Sie kan den Nesselstrauch zu Lilgenblättern machen,
Sie lehrt uns auf dem Eiß und in dem Feuer lachen,
Sie zeiget, wie man auch in Banden herrschen kan,
Sie heisset unsern Geist in Sturme ruhig stehen,
Und wenn die Erde weicht, uns im Gewichte gehen.
2.
Es giebt uns die Natur Gesundheit, Krafft und Muth;
Doch wo die Tugend nicht wil unser Ruder führen,
Da wird man Klippen, Sand und endlich Schiffbruch spüren,
Die Tugend bleibet doch der Menschen höchstes Gutt,
Wer ohne Tugend sich zu leben hat vermessen,
Ist einem Schiffer gleich, so den Compaß vergessen.
3.
Gesetze müssen ja der Menschen Richtschnur seyn.
Wer diesen Pharus ihm nicht zeitlich will erwehlen,
Der wird, wie klug er ist, des Hafens leicht verfehlen:
Und läuffet in den Schlund von vielen Jammer ein,
Wem Lust und Uppigkeit ist Führerin gewesen,
Der hat für Leitstern ihm ein Irrlicht auserlesen.
[86] 4.
Diß, was man Wollust heißt, verführt und liebt uns nicht,
Die Küsse, so sie giebt, die triffen von Verderben,
Sie läst uns durch den Strang der zärtsten Seide sterben,
Man fühlet, wie Zibeth das matte Hertze bricht,
Vergifter Hypocras will uns die Lippen rühren,
Und ein ambrirte Lust zu Schimpf und Grabe führen.
5.
Die Tugend drückt uns doch, als Mutter, an die Brust,
Ihr Gold und edler Schmuck hält Farb und auch Gewichte,
Es leitet ihre Hand uns zu dem grossen Lichte;
Wo sich die Ewigkeit vermählet mit der Lust.
Sie reicht uns eine Kost, so nach den Himmel schmecket,
Und giebt uns einen Rock, den nicht die Welt beflecket.
6.
Die Wollust aber ist, als wie ein Unschlichtlicht,
So helle Flammen giebt, doch mit Gestanck vergehet,
Wer bey dem Epicur und seinem Hauffen stehet,
Der lernt, wie diese Waar, als dünnes Glas zerbricht;
Es kan die Drachen-Milch uns nicht Artzney gewehren,
Noch gelbes Schlangengift in Labsal sich verkehren.