Hugo von Hofmannsthal
Der Dichter und diese Zeit

Ein Vortrag

[54] Man hat Ihnen angekündigt, daß ich zu Ihnen über den Dichter und diese Zeit sprechen will, über das Dasein des Dichters oder des dichterischen Elementes in dieser unserer Zeit, und manche Ankündigungen, höre ich, formulieren das Thema noch ernsthafter, indem sie von dem Problem des dichterischen Daseins in der Gegenwart sprechen. Diese Kunstworte streifen schon das Gebiet des Technisch-Philosophischen und zwingen mich im vorhinein, alle nach dieser Richtung orientierten Erwartungen zu zerstören, die ich sonst im Verlauf dieser Stunde grausam enttäuschen müßte. Es fehlen mir völlig die Mittel und ebensosehr die Absicht, in irgendwelcher Weise Philosophie der Kunst zu treiben. Ich werde es nicht unternehmen, den Schatz Ihrer Begriffe um einen, auch nur einen neuen Begriff zu bereichern. Und ebensowenig werde ich an einem der festen Begriffe, auf denen Ihre Anschauung dieser ästhetischen Dinge ruhen mag, woanders sie auf Begriffen ruht und nicht, wie ich heimlich und bestimmt hoffe, auf einem chaotischen Gemenge von verworrenen, komplexen und inkommensurablen inneren Erlebnissen, ... keineswegs, sagte ich, werde ich an einem dieser Begriffe Kritik zu üben versuchen. Diese Mauern irgend zu versetzen, ist nicht mein Ehrgeiz; mein Ehrgeiz ist nur, aus ihnen an so verschiedenartigen Punkten als möglich, und an möglichst unerwarteten, wieder hervorzutreten und Sie dadurch in einer nicht unangenehmen Weise zu befremden. Ich meine einfach: es würde mich freuen, wenn es mir gelänge, Ihnen fühlbar zu machen, daß dieses Thema nicht nur in dieser Stunde in der Atmosphäre dieser Versammlung, in diesem künstlichen Licht einen künstlichen und nach Minuten gemessenen Bestand hat, sondern daß es sich um ein Element Ihres geistigen Daseins handelt, das nicht als gewußtes, sondern als gefühltes, gelebtes, in Tausenden von Momenten Ihres Daseins da ist und Wirkung ausstrahlt.

Über den Begriff der Gegenwart sind wir jeder Verständigung enthoben: Sie wie ich sind Bürger dieser Zeit, ihre Myriaden sich kreuzender Schwingungen bilden die Atmosphäre, in der ich zu Ihnen spreche, Sie mich hören, und in die wir wiederum hinaustreten, wenn wir diesen Saal verlassen. Ja sie regiert noch unsere Träume und gibt ihnen die Mischung ihrer Farben und nur im tiefen todesähnlichen Schlaf meinen wir zu sein, wo sie nicht ist. Den Begriff des Dichters bringen Sie mir, das weiß ich, als einen sicher in Ihnen ruhenden und reich erfüllten entgegen. Es schwingt in ihm etwas von der Fassung, die die deutschen Dichter zu Anfang des letztvergangenen Jahrhunderts ihm gegeben haben (die man nicht immerfort mit einem so unzulänglichen und abstumpfenden Wort die »romantischen« nennen sollte); aber die Gewalt, die der ungeheure Gedanke »Goethe« über Ihre Seele besitzt, schnellt seine Grenzen hinaus ins kaum mehr Absehbare; und es ist etwas von der pathetischen Erscheinung Hölderlins unter den Elementen, die in Ihnen oszillierend dies Gedankending »Dichter« zusammensetzen, und etwas von der nicht zu vergessenden Allüre Byrons; etwas von dem verschwundenen namenlosen Finder eines alten deutschen Liedchens und etwas von Pindar. Sie denken »Shakespeare« und daneben ist für einen inneren Augenblick alles andere verloschen, aber der nächste Augenblick stellt das unendlich komplexe oszillierende Gedankending wieder her und Sie denken ohne zu trennen ein amalgamiertes Etwas aus Dante, Lenau und dem Verfasser einer rührenden Geschichte, die Sie mit vierzehn Jahren gelesen haben.

An dies Gewebe aus den Erinnerungsbildern der subtilsten Erlebnisse, an dies in Ihnen appelliere ich, an dies Unausgewickelte und an keinen geklärten Begriff, keine abgezogene Formel. Dies in Ihnen ist lebendig und dem Lebendigen möchte ich diese Stunde hindurch verbunden bleiben. Diesem lebendigen Begriff denke ich nichts hinzuzufügen und noch weniger meine ich ihn einzuschränken. Ich selber trage ihn in mir ebenso unausgewickelt, wie ich ihn bei Ihnen voraussetze. Am wenigsten wüßte ich ihn von vorneherein nach unten abzugrenzen, ja diese haarscharfe Absonderung des Dichters vom Nicht-Dichter erscheint mir gar nicht möglich. Ich würde mir sagen müssen, daß die Produkte von Menschen, die kaum Dichter zu nennen sind, manchmal nicht ganz des Dichterischen entbehren, und umgekehrt scheint mir zuweilen das, was sehr hohe und unzweifelhafte Dichter geschaffen haben, nicht frei von undichterischen Elementen. Es scheint mir in diesen Dingen eine illiberale Auffassung nicht möglich und immer ziemlich nah am Lächerlichen. Ich frage mich, ob Boileau dem Mann, der die Manon Lescaut schuf, wenn er ihn erlebt hätte, ja ich frage mich, ob Lessing, der sein Zeitgenosse war, diesem Manne den Namen eines Dichters konzediert hätte, und ich sehe, wie unbedeutend, wie unhaltbar diese Scheidungen sind, die der Zeitgeschmack oder der persönliche Hochmut der Produzierenden zwischen dem Dichter und dem bloßen Schriftsteller anstellt. Und doch ist es mir in anderen Augenblicken und in einem anderen Zusammenhang völlig klargeworden, daß jene strengste Goethesche Erkenntnis wahr ist und daß ein unvollkommenes Kunstwerk nichts ist; daß in einem höheren Sinn nur die vollkommenen Kunstwerke, diese seltenen Hervorbringungen des Genius existieren. Sie werden sich fragen, wie diese Erkenntnis und jene Duldung beieinanderwohnen können, aber doch können sie das; es gibt Anschauungen, die zwischen ihnen vermitteln, und es erfordert nur eine gewisse Reife, sie in sich zu vereinen – aber nur dieser Duldung, dieser Nichtabgrenzung werde ich mich in unserer Unterhaltung zu bedienen haben. Ich werde es hier nicht zu berühren brauchen, ob ich vielleicht einen einzigen Menschen in dieser Epoche für einen ganzen Dichter halte und die anderen nur für die Möglichkeiten von Dichtern, für dichterisch veranlagte Individuen, für dichterische Materie. Denn mir ist es nur um das Dasein des dichterischen Wesens in unserer Epoche zu tun.


Ich glaube, vielmehr ich weiß es, daß der Dichter, oder die dichterische Kraft, in einem weitherzigen Sinn genommen, in dieser Epoche da ist, wie sie in jeder anderen da war. Und ich weiß, daß Sie mit dieser Kraft und ihren Wirkungen unaufhörlich rechnen, vielleicht ohne es Wort zu haben. Es ist dies das Geheimnis, es ist eines von den Geheimnissen, aus denen sich die Form unserer Zeit zusammensetzt: daß in ihr alles zugleich da ist und nicht da ist. Sie ist voll von Dingen, die lebendig scheinen und tot sind, und voll von solchen, die für tot gelten und höchst lebendig sind. Von ihren Phänomenen scheinen mir fast immer die außer dem Spiele, welche nach der allgemeinen Annahme im Spiele wären, und die, welche verleugnet werden, höchst gegenwärtig und wirksam. Diese Zeit ist bis zur Krankheit voll unrealisierter Möglichkeiten und zugleich ist sie starrend voll von Dingen, die nur um ihres Lebensgehaltes willen zu bestehen scheinen und die doch nicht Leben in sich tragen. Es ist das Wesen dieser Zeit, daß nichts, was wirkliche Gewalt hat über die Menschen, sich metaphorisch nach außen ausspricht, sondern alles ins Innere genommen ist, während etwa die Zeit, die wir das Mittelalter nennen und deren Trümmer und Phantome in unsere hineinragen, alles, was sie in sich trug, zu einem ungeheuren Dom von Metaphern ausgebildet aus sich ins Freie emportrieb.

Waren sonst Priester, Berechtigte, Auserwählte die Hüter dieser Sitte, jener Kenntnis, so ruht dies alles jetzt potentiell in allen: wir könnten manches ins Leben werfen, wofern wir ganz zu uns selbst kämen ... wir könnten dies und jenes wissen ... wir könnten dies und jenes tun. Keine eleusinischen Weihen und keine sieben Sakramente helfen uns empor: in uns selber müssen wir uns in höheren Stand erheben, wo uns dies und jenes zu tun nicht mehr möglich, ja auch dies und jenes zu wissen nicht mehr möglich: dafür aber dies und jenes sichtbar, verknüpfbar, möglich, ja greifbar, was allen anderen verborgen. Dies alles geht lautlos vor sich und so wie zwischen den Dingen. Es fehlt in unserer Zeit den repräsentativen Dingen an Geist, und den geistigen an Relief.

Wofern das Wort Dichter, die Erscheinung des Dichters in der Atmosphäre unserer Zeit irgendein Relief nimmt, so ist es kein angenehmes. Man fühlt dann etwas Gequollenes, Aufgedunsenes, etwas, das mehr von Bildungsgefühlen getragen ist als von irgendwelcher Intuition. Man wünscht sich diesen Begriff ins Leben zurückzuholen, ihn zu »dephlegmatisieren«, zu »vivifizieren«, wie die beiden schönen Kunstworte des Novalis heißen. Welchen lebhaften und liebenswürdigen Gebrauch machte nicht eine frühere deutsche Epoche (ich denke an die jungen Männer und Frauen von 1770) von dem Worte Genie, mit dem sie das gleiche bezeichnen wollte: das dichterische Wesen. Denn sie dachten dabei keineswegs an das Genie der Tat und nie und nimmer hätten sie ihr Lieblingswort auf den angewandt, der vor allem würdig war, es zu tragen in seiner funkelndsten und unheimlichsten Bedeutung: auf Friedrich den Großen. Welchen lebensvollen und imponierenden Gebrauch macht der Engländer heute, und macht ihn seit sechs Generationen, von seinem »man of genius«. Er schränkt ihn nicht auf seine Dichter ein; und doch haftet allen denen, von denen er ihn braucht, etwas Dichterisches an, ihnen oder ihren Schicksalen. Er bedenkt sich nicht, ihn auch auf einen Mann anzuwenden, der nicht von der allerseltensten geistigen Universalität ist. Aber es muß eine Gestalt sein, aus der etwas Außerordentliches hervorblitzt, etwas Unvergleichliches von Kühnheit, von Glück, von Geisteskraft oder von Hingabe. Es ist etwas Grandioses um einen Begriff, unter dem der Sprachgeist Milton und Nelson zusammenzufassen gestattet, Lord Clive und Samuel Johnson, Byron und Warren Hastings, den jüngeren Pitt und Cecil Rhodes.

Es kommt so wenig auf die Worte an und so viel auf die Prägung, die der Sprachgeist eines Volkes ihnen aufdrückt. Wie kraftlos nimmt sich neben »man of genius« und dem Ton, den sie in das Wort zu legen wissen, dem männlichen, selbstsicheren, ich möchte sagen, dem soldatischen oder seemännisch stolzen Ton, wie kraftlos nimmt sich daneben unser »Genie« aus, wie gelehrtenhaft, wie engbrüstig-pathetisch, vorgebracht mit der heuchlerischen Exaltation der Schulstube. Es haftet dem Wort in unserem Sprachgebrauch etwas an, als vertrüge es die freie Luft nicht, und doch ist es das einzige Wort, unter dem wir Johann Sebastian Bach und Kant und Bismarck, Kleist, Beethoven und Friedrich den Zweiten zusammen begreifen können. Aber es bleibt empfindlichen Ohren ein fatales Wort. Es hat ganz und gar nicht mehr den jugendlichen Glanz von 1770 und es hat auch nicht den dunklen ehernen Glanz, vergleichbar dem finsteren Schimmer alter Waffen, den die Abnützung des großen Lebens den feierlichen und ehrwürdigen Worten großer Nationen zu geben vermag und der die einfachen Bezeichnungen der Ämter, die trockensten Überschriften und Inschriften Roms mit einer Größe umwittert, die uns das Herz klopfen macht. Dieses Wort »Genie«, wenn man es in unseren Zeitungen findet, in den Nekrologen oder Würdigungen von toten Dichtern oder Philosophen, wo es das höchste Lob bedeuten soll, so erscheint es mir – ich meine auch dort, wo es an seinem Platz ist – undefinierbar dünn, würdelos, kraftlos. Es ist ein höchst unsicheres Wort, und es ist, als würde es immer von Leuten mit schlechtem Gewissen gebraucht. Es ist nahe daran, ein prostituiertes Wort zu sein, dieses Wort, das die höchste geistige Erscheinung bezeichnen soll – ist dies nicht seltsam?

Wenn ich es gebraucht finde in seiner Distanzlosigkeit (und in »man of genius« liegt immer soviel Distanz zwischen einem großen Volk und einem großen einzelnen), so fällt mir immer zugleich um des Gegensatzes willen die schöne, jede Distanzlosigkeit ablehnende methodistische Maxime ein: »Vergiß nicht, mein Freund: ein Mann kann weder gelobt noch herabgesetzt werden«, »my friend, a man can neither be praised nor insulted«. Es scheint mir, wenn die Deutschen von ihren Dichtern sprechen, sowohl von denen, die unter ihnen leben, als von denen, die tot sind und ihr zweites strahlendes Leben unter uns führen, so sagen sie viel Schönes und zuweilen bricht aus breiten, etwas schlaffen Äußerungen ein Funken des glühendsten Verständnisses hervor; aber irgend etwas, ein Ton, der mehr wäre als alles gehäufte Lob und alle eindringende Subtilität, scheint mir zu fehlen: ein menschlicher Ton, ein männlicher Ton, ein Ton des Zutrauens und der freien ungekünstelten Ehrfurcht, eine Betonung dessen, was Männer an Männern am höchsten stellen müssen: Führerschaft. Selbst Goethe gegenüber, selbst ihm gegenüber sind es einzelne, die sich diese Haltung in sich selbst erobern, und diesen einzig möglichen, einzig würdigen Ton in sich ausbilden, welcher nicht der Ton von Schulmeistern ist, sondern der Ton von Gentlemen. Denn vor allem ist es unter der Würde toter wie lebendiger Dichter, ein anderes Lob anzunehmen als das reelle des Zutrauens lebendiger Menschen. Aber das Wesen unserer Epoche ist Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit. Sie kann nur auf Gleitendem ausruhen und ist sich bewußt, daß es Gleitendes ist, wo andere Generationen an das Feste glaubten. Ein leiser chronischer Schwindel vibriert in ihr. Es ist in ihr vieles da, was nur wenigen sich ankündigt, und vieles nicht da, wovon viele glauben, es wäre da. So möchten sich die Dichter zuweilen fragen, ob sie da sind, ob sie für ihre Epoche denn irgend wirklich da sind. Ob, bei so manchem hergebrachten, schematischen Lob, das für sie abfällt, das einzige reelle Lob, das anzunehmen nicht unter ihrer Würde ist, das Zutrauen der lebendigen Menschen, die Anerkennung irgend einer Führerschaft in ihnen, irgendwo für sie bereitliegt. Aber es könnte auch sein, und das wäre um so schöner, wäre einer Zeit, die jede Ostentation und jede Rhetorik von sich abgetan hat, um so würdiger, daß dieses einzige reelle Lob den Dichtern gerade in unserer Zeit unaufhörlich dargebracht würde, aber in einer so versteckten, so indirekten Weise, daß es erst einigen Nachdenkens, einiger Welterfahrung bedürfte, um dies versteckte Rechnen mit dem Dichter, dies versteckte Ersehnen des Dichters, dies versteckte Flüchten zu dem Dichter wahrzunehmen. Und es ist heute an dem, daß die Dinge so liegen, wenn ich nicht irre. Und hier zwingt mich meine Art, wie ich diese Dinge sehe, Sie zunächst sicherlich zu befremden durch die Behauptung, daß das Lesen, die maßlose Gewohnheit, die ungeheuere Krankheit, wenn Sie wollen, des Lesens, dieses Phänomen unserer Zeit, das man zu sehr der Statistik und Handelskunde überläßt und dessen subtilere Seiten man zu wenig betrachtet, nichts anderes ausdrückt als eine unstillbare Sehnsucht nach dem Genießen von Poesie. Dies muß Sie befremden und Sie sagen mir, daß in keiner früheren Zeit das Poetische eine so bescheidene Rolle gespielt hätte, als es in der Lektüre unserer Zeit spielt, wo es verschwindet unter der ungeheueren Masse dessen, was gelesen wird. Sie sagen mir, daß meine Behauptung vielleicht auf die Zuhörer der arabischen Märchenerzähler passe oder allenfalls auf die Zeitgenossen der »Prinzessin von Clèves « oder die Generation des Werther, doch sicherlich gerade am wenigsten auf unsere Zeit, die Zeit der wissenschaftlichen Handbücher, der Reallexika und der unzählbaren Zeitschriften, in denen für Poesie kein Raum ist. Sie erinnern mich, daß es die Kinder und die Frauen sind, die heute Dramen und Gedichte lesen. Aber ich habe um die Erlaubnis gebeten, von Dingen zu sprechen, die nicht ganz an der Oberfläche liegen, und ich möchte, daß wir für einen Augenblick daran denken, wie verschieden das Lesen unserer Zeit von dem ist, wie frühere Zeiten gelesen haben. Um so ruheloser, zielloser, unvernünftiger das Lesen unserer Zeit ist, um so merkwürdiger scheint es mir. Wir sind unendlich weit entfernt von dem ruhigen Liebhaber der schönen Literatur, von dem Amateur einer populären Wissenschaft, von dem Romanleser, dem Memoirenleser einer früheren, ruhigeren Zeit. Gerade durch sein Fieberhaftes, durch seine Wahllosigkeit, durch das rastlose Wieder-aus-der-Hand-Legen der Bücher, durch das Wühlende, Suchende scheint mir das Lesen in unserer Epoche eine Lebenshandlung, eine des Beachtens werte Haltung, eine Geste.

Ich sehe beinahe als die Geste unserer Zeit den Menschen mit dem Buch in der Hand, wie der kniende Mensch mit gefalteten Händen die Geste einer anderen Zeit war. Natürlich denke ich nicht an die, die aus bestimmten Büchern etwas Bestimmtes lernen wollen. Ich rede von denen, die je nach der verschiedenen Stufe ihrer Kenntnisse ganz verschiedene Bücher lesen, ohne bestimmten Plan, unaufhörlich wechselnd, selten in einem Buch lang ausruhend, getrieben von einer unausgesetzten, nie recht gestillten Sehnsucht. Aber die Sehnsucht dieser, möchte es scheinen, geht durchaus nicht auf den Dichter. Es ist der Mann der Wissenschaft, der diese Sehnsucht zu stillen vermag, oder für neunzig auf hundert unter ihnen der Journalist. Sie lesen noch lieber Zeitungen als Bücher, und obwohl sie nicht bestimmt wissen, was sie suchen, so ist es doch sicherlich keineswegs Poesie, sondern es sind seichte, für den Moment beruhigende Aufschlüsse, es sind die Zusammenstellungen realer Fakten, es sind faßliche und zum Schein neue »Wahrheiten«, es ist die rohe Materie des Daseins. Ich sage dies so, wie wir es geläufig sagen und leichthin glauben; aber ich glaube, nein ich weiß, daß dies nur der Schein ist. Denn sie suchen mehr, sie suchen etwas anderes, diese Hunderttausende, in den Tausenden von Büchern, die sich von Hand zu Hand weiter geben, bis sie beschmutzt und zerlesen auseinanderfallen: sie suchen etwas anderes als die einzelnen Dinge, die in der Luft hängenden kurzatmigen Theorien, die ihnen ein Buch nach dem anderen darbietet: sie suchen, aber es ist ihnen keine Dialektik gegeben, subtil genug, um sich zu fragen und zu sagen, was sie suchen; keine Übersicht, keine Kraft der Zusammenfassung: das einzige, wodurch sie ausdrücken können, was in ihnen vorgeht, ist die stumme beredte Gebärde, mit der sie das aufgeschlagene Buch aus der Hand legen und ein neues aufschlagen. Und dies muß so weitergehen: denn sie suchen ja von Buch zu Buch, was der Inhalt keines ihrer tausend Bücher ihnen geben kann: sie suchen etwas, was zwischen den Inhalten aller einzelnen Bücher schwebt, was diese Inhalte in eins zu verknüpfen vermöchte. Sie schlingen die realsten, die entseelteste aller Literaturen hinunter und suchen etwas höchst Seelenhaftes. Sie suchen immerfort etwas, was ihr Leben mit den Adern des großen Lebens verbände in einer zauberhaften Transfusion lebendigen Blutes. Sie suchen in den Büchern, was sie einst vor den rauchenden Altären suchten, einst in dämmernden von Sehnsucht nach oben gerissenen Kirchen. Sie suchen, was sie stärker als alles mit der Welt verknüpfe, und zugleich den Druck der Welt mit eins von ihnen nehme. Sie suchen ein Ich, an dessen Brust gelehnt ihr Ich sich beruhige. Sie suchen, mit einem Wort, die ganze Bezauberung der Poesie. Aber es ist nicht ihre Sache, sich dessen Rechenschaft zu geben, noch auch ist es ihre Sache, zu wissen, daß es der Dichter ist, den sie hinter dem Tagesschriftsteller, hinter dem Journalisten suchen. Denn wo sie suchen, dort finden sie auch, und der Romanschreiber, der sie bezaubert, der Journalist, der ihnen das eigene Leben schmackhaft macht und die grellen Lichter des großen Lebens über den Weg wirft, den sie täglich früh und abends gehen – ich habe wirklich nicht den Mut und nicht den Wunsch, ihn von dem Dichter zu sondern. Ich weiß keinen Zeilenschreiber, den elendsten seines Metiers, auf dessen Produkte nicht, so unwürdig er dieses Lichtes sein mag, für ein völlig unverwöhntes Auge, für eine in der Trockenheit des harten Lebens erstickende Phantasie etwas vom Glanz der Dichterschaft fiele, einfach dadurch, daß er sich, und wäre es in der stümperhaftesten Weise, des wundervollsten Instrumentes bedient: einer lebendigen Sprache. Freilich, er erniedrigt sie wieder, er nimmt ihr soviel von ihrer Hoheit, ihrem Glanz, ihrem Leben als er kann; aber er kann sie niemals so sehr erniedrigen, daß nicht die zerbrochenen Rhythmen, die Wortverbindungen, die seiner Feder, ihm zu Trotz, zur Verfügung stehen, die Bilder, die in seinem Geschreibe freilich das Prangerstehen lernen, noch da und dort in eine ganz junge, eine ganz rohe Seele wie Zauberstrahlen fallen könnten. (Und gibt es nicht ihrer mehr Jugendschicksale, die denen Kaspar Hausers gleichen, als man ahnen möchte, in den ungeheueren Einöden, die unsere menschenwimmelnden Städte sind?)

Da ich an das mächtige Geheimnis der Sprache erinnert habe, so habe ich mit einem Mal das enthüllt, worauf ich Sie führen wollte. Vermöge der Sprache ist es, daß der Dichter aus dem Verborgenen eine Welt regiert, deren einzelne Glieder ihn verleugnen mögen, seine Existenz mögen vergessen haben. Und doch ist er es, der ihre Gedanken zueinander und auseinander führt, ihre Phantasie beherrscht und gängelt; ja noch ihre Willkürlichkeiten, ihre grotesken Sprünge leben von seinen Gnaden. Diese stumme Magie wirkt unerbittlich wie alle wirklichen Gewalten. Alles, was in einer Sprache geschrieben wird, und, wagen wir das Wort, alles, was in ihr gedacht wird, deszendiert von den Produkten der wenigen, die jemals mit dieser Sprache schöpferisch geschaltet haben. Und alles, was man im breitesten und wahllosesten Sinn Literatur nennt, bis zum Operntextbuch der vierziger Jahre, bis hinunter zum Kolportageroman, alles deszendiert von den wenigen großen Büchern der Weltliteratur. Es ist eine erniedrigte, durch zuchtlose Mischungen bis zum Grotesken entstellte Deszendenz, aber es ist Deszendenz in direkter Linie. So sind es doch wirklich die Dichter, immer nur die Dichter, die Worte, die ihr Hirn für immer vermählt, für immer zu Antithesen auseinander gestellt hat, die Figuren, die Situationen, in denen sie das ewige Geschehen symbolisierten, so sind es immer nur die Dichter, mit denen es die Phantasie der Hunderttausende zu tun hat, und der Mann auf dem Omnibus, der die halbgelesene Zeitung in der Arbeiterbluse stecken hat, und der Ladenschwengel und das Nähmädchen, die einander den Kolportageroman leihen, und alle die unzähligen Leser der wertlosen Bücher, ist es nicht seltsam zu denken, daß sie doch irgendwie in diesen Stunden, wo ihr Auge über die schwarzen Zeilen fliegt, mit den Dichtern sich abgeben, die Gewalt der Dichter erleiden, der einsamen Seelen, von deren Existenz sie nichts ahnen, von deren wirklichen Produkten ein so tiefer Abgrund sie und ihresgleichen trennt! Und deren Seelenhaftes, deren Wärme, bindend die auseinanderfliegenden Atome, deren Magie doch das einzige ist, was auch noch diese Bücher zusammenhält, aus jedem von ihnen eine Welt für sich macht, eine Insel, auf der die Phantasie wohnen kann. Denn ohne diese Magie, die ihnen einen Schein von Form gibt, fielen sie auseinander, wären tote Materie und auch nicht die Hand des Rohesten griffe nach ihnen.


Aber nach den Büchern, in denen die Wissenschaft die Ernte ihrer arbeitsamen Tage und Nächte aufhäuft, greifen Tausende von Händen unaufhörlich; diese Bücher und ihre Deszendenz scheinen es vor allen zu sein, die aus den feineren, den zusammengesetzteren Köpfen ihre Adepten gemacht haben. Und gehe ich nicht zu weit, wenn ich hier abermals eine versteckte Sehnsucht nach dem Dichter wahrzunehmen behaupte, eine Sehnsucht, die, so widersinnig wie manche Regungen der Liebe, von dem Gegenstand ihres heimlichen Wünschens sich gerade abzukehren, ihm für immer den Rücken zu wenden vorgibt? Aber sind es denn nicht wirklich nur und allein die wenigen, welche in einer Wissenschaft arbeiten, die ihr wirkliches Wesen in ihr suchen, ihr strenges, abgeschlossenes, von einem Abgrund ewiger Kälte umflossenes Dasein – und wäre für die unerprobten suchenden Seelen der vielen diese Kälte nicht so fürchterlich, daß sie sich daran verbrennen würden, und für ewig diesen Ort meiden?

Daß es Menschen gibt, die zu leben vermögen in einer Luft, die von der Eiseskälte des unendlichen Raumes beleckt wird, ist ein Geheimnis des Geistes, ein Geheimnis, wie es andererseits die Existenz der Dichter ist und daß es Geister gibt, die unter dem ungeheueren Druck des ganzen angesammelten Daseins zu leben vermögen – wie ja die Dichter tun. Aber es ist nicht die Sache der vielen, es kann nicht ihre Sache sein. Denn sie stehen im Leben und aus der Wissenschaft, in ihrem reinen strengen Sinn genommen, führt kein Weg ins Leben zurück. Ihr wohnt ein Streben inne, wie den Künsten ein Streben innewohnt, reine Kunst zu werden, wofür man (aber es ist nur gleichnisweise zu verstehen) gesagt hat: sie streben danach, Musik zu werden. Dies Streben, sich zur Mathematik emporzuläutern, dies, wenn Sie wollen, ist das einzig noch Menschliche an den Wissenschaften, dies ist, wenn Sie wollen, ihre bleibende Durchseelung mit Menschlichkeit: denn so tragen sie das menschliche Messen ins Universum, und es bleibt, wie in dem alten Axiom, der Mensch das Maß aller Dinge. Aber hier auch schon schwingt sich der Weg ins Eisige und Einsame. Und nicht nach glühendem Frost der Ewigkeit treibt es die vielen, die nach diesen Büchern greifen und wiederum greifen; sie sind keine Adepten und auf ewig sind ihrem ruhelosen fragenden begierigen Gewimmel die Vorhöfe zugewiesen. Wonach ihre Sehnsucht geht, das sind die verknüpfenden Gefühle; die Weltgefühle, die Gedankengefühle sind es, gerade jene, welche auf ewig die wahre strenge Wissenschaft sich versagen muß, gerade jene, die allein der Dichter gibt. Sie, die nach den Büchern der Wissenschaft und der Halbwissenschaft greifen, so wie jene anderen nach den Romanen greifen, nach dem Zeitungsblatt, nach jedem bedruckten Fetzen, sie wollen nicht schaudernd dastehen in ihrer Blöße unter den Sternen. Sie ersehnen, was nur der Dichter ihnen geben kann, wenn er um ihre Blöße die Falten seines Gewandes schlägt. Denn Dichten, das Wort steht irgendwo in Hebbels Tagebüchern, Dichten heißt die Welt wie einen Mantel um sich schlagen und sich wärmen. Und an dieser Wärme wollen sie teilhaben und darum sind es die Trümmer des Dichterischen, nach denen sie haschen, wo sie der Wissenschaft zu huldigen meinen; nach fühlendem Denken, denkendem Fühlen steht ihr Sinn, nach Vermittlung dessen, was die Wissenschaft in grandioser Entsagung als unvermittelbar hinnimmt. Sie aber suchen den Dichter und nennen ihn nicht.


So ist der Dichter da, wo er nicht da zu sein scheint, und ist immer an einer anderen Stelle als er vermeint wird. Seltsam wohnt er im Haus der Zeit, unter der Stiege, wo alle an ihm vorüber müssen und keiner ihn achtet. Gleicht er nicht dem fürstlichen Pilger aus der alten Legende, dem auferlegt war, sein fürstliches Haus und Frau und Kinder zu lassen und nach dem Heiligen Lande zu ziehen; und er kehrte wieder, aber ehe er die Schwelle betrat, wurde ihm auferlegt, nun als ein unerkannter Bettler sein eigenes Haus zu betreten und zu wohnen, wo das Gesinde ihn wiese. Das Gesinde wies ihn unter die Treppe, wo nachts der Platz der Hunde ist. Dort haust er und hört und sieht seine Frau und seine Brüder und seine Kinder, wie sie die Treppe auf und nieder steigen, wie sie von ihm als einem Verschwundenen, wohl gar einem Toten sprechen und um ihn trauern. Aber ihm ist auferlegt, sich nicht zu erkennen zu geben, und so wohnt er unerkannt unter der Stiege seines eigenen Hauses.

Dies unerkannte Wohnen im eigenen Haus, unter der Stiege, im Dunkel, bei den Hunden; fremd und doch daheim: als ein Toter, als ein Phantom im Munde aller, ein Gebieter ihrer Tränen, gebettet in Liebe und Ehrfurcht; als ein Lebendiger gestoßen von der letzten Magd und gewiesen zu den Hunden; und ohne Amt in diesem Haus, ohne Dienst, ohne Recht, ohne Pflicht, als nur zu lungern und zu liegen und in sich dies alles auf einer unsichtbaren Waage abzuwiegen, dies alles immerfort bei Tag und Nacht abzuwiegen und ein ungeheueres Leiden, ungeheures Genießen zu durchleben, dies alles zu besitzen wie niemals ein Hausherr sein Haus besitzt – denn besitzt der die Finsternis, die nachts auf der Stiege liegt, besitzt er die Frechheit des Koches, den Hochmut des Stallmeisters, die Seufzer der niedrigsten Magd? Er aber, der gespenstisch im Dunkeln liegt, besitzt alles dies: denn jedes von diesen ist eine offene Wunde an seiner Seele und glüht einmal als ein Karfunkelstein an seinem himmlischen Gewand – dies unerkannte Wohnen, es ist nichts als ein Gleichnis, ein Gleichnis, das mir zugeflogen ist, weil ich vor nicht vielen Wochen diese Legende in dem alten Buch »Die Taten der Römer« gelesen habe, – aber ich glaube, es hat die Kraft, uns hinüberzuleiten, daß ich Ihnen von dem spreche, was nicht minder phantastisch ist und doch so ganz zu dem gehört, was wir Wirklichkeit, was wir Gegenwart zu nennen uns beruhigen: zu dem, wie ich den Dichter wohnen sehe im Haus dieser Zeit, wie ich ihn hausen und leben fühle in dieser Gegenwart, dieser Wirklichkeit, die zu bewohnen uns gegeben ist.

Er ist da, und es ist niemandes Sache, sich um seine Anwesenheit zu bekümmern. Er ist da und wechselt lautlos seine Stelle und ist nichts als Auge und Ohr und nimmt seine Farbe von den Dingen, auf denen er ruht. Er ist der Zuseher, nein, der versteckte Genosse, der lautlose Bruder aller Dinge, und das Wechseln seiner Farbe ist eine innige Qual: denn er leidet an allen Dingen, und indem er an ihnen leidet, genießt er sie. Dies Leidend-Genießen, dies ist der ganze Inhalt seines Lebens. Er leidet, sie so sehr zu fühlen. Und er leidet an dem einzelnen so sehr als an der Masse; er leidet ihre Einzelheit und leidet ihren Zusammenhang; das Hohe und das Wertlose, das Sublime und das Gemeine; er leidet ihre Zustände und ihre Gedanken; ja bloße Gedankendinge, Phantome, die wesenlosen Ausgeburten der Zeit leidet er, als wären sie Menschen. Denn ihm sind Menschen und Dinge und Gedanken und Träume völlig eins: er kennt nur Erscheinungen, die vor ihm auftauchen und an denen er leidet und leidend sich beglückt. Er sieht und fühlt; sein Erkennen hat die Betonung des Fühlens, sein Fühlen die Scharfsichtigkeit des Erkennens. Er kann nichts auslassen. Keinem Wesen, keinem Ding, keinem Phantom, keiner Spukgeburt eines menschlichen Hirns darf er seine Augen verschließen. Es ist als hätten seine Augen keine Lider. Keinen Gedanken, der sich an ihn drängt, darf er von sich scheuchen, als sei er aus einer anderen Ordnung der Dinge. Denn in seine Ordnung der Dinge muß jedes Ding hineinpassen. In ihm muß und will alles zusammenkommen. Er ist es, der in sich die Elemente der Zeit verknüpft. In ihm oder nirgends ist Gegenwart.

Aber die Gewebe sind durchsetzt mit noch feineren Fäden, und wenn kein Auge sie wahrnimmt, sein Auge darf sie nie verleugnen. Ihm ist die Gegenwart in einer unbeschreiblichen Weise durchwoben mit Vergangenheit: in den Poren seines Leibes spürt er das Herübergelebte von vergangenen Tagen, von fernen nie gekannten Vätern und Urvätern, verschwundenen Völkern, abgelebten Zeiten; sein Auge, wenn sonst keines, trifft noch – wie könnte er es wehren? – das lebendige Feuer von Sternen, die längst der eisige Raum hinweggezehrt hat. Denn dies ist das einzige Gesetz, unter dem er steht: keinem Ding den Eintritt in seine Seele zu wehren, und was ein Mensch ist, ein lebendiger, der die Hände gegen ihn reckt, das ist ihm, nichts Fremderes, der flimmernde Sternenstrahl, den vor dreitausend Jahren eine Welt entsandt und der heute das Auge ihm trifft, und im Gewebe seines Leibes das Nachzucken uralter, kaum mehr zu messender Regung. Wie der innerste Sinn aller Menschen Zeit und Raum und die Welt der Dinge um sie her schafft, so schafft er aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Tier und Mensch und Traum und Ding, aus Groß und Klein, aus Erhabenem und Nichtigem die Welt der Bezüge.

Er schafft. Dumpfe Schmerzen, eingeschränkte Schicksale können sich für lange auf seine Seele legen und sie mit Leid innig durchtränken und zu einer anderen Stunde wird er den gestirnten Himmel in seiner aufgeschlossenen Seele spiegeln. Er ist der Liebhaber der Leiden und der Liebhaber des Glücks. Er ist der Entzückte der großen Städte und der Entzückte der Einsamkeit. Er ist der leidenschaftliche Bewunderer der Dinge, die von ewig sind, und der Dinge, die von heute sind. London im Nebel mit gespenstigen Prozessionen von Arbeitslosen, die Tempeltrümmer von Luxor, das Plätschern einer einsamen Waldquelle, das Gebrüll ungeheuerer Maschinen: die Übergänge sind niemals schwer für ihn und er überläßt das vereinzelte Staunen denen, deren Phantasie schwerfälliger ist – denn er staunt immer, aber er ist nie überrascht, denn nichts tritt völlig unerwartet vor ihn, alles ist, als wäre es schon immer dagewesen, und alles ist auch da, alles ist zugleich da. Er kann kein Ding entbehren, aber eigentlich kann er auch nichts verlieren, nicht einmal durch den Tod. Die Toten stehen ihm auf, nicht wann er will, aber wann sie wollen, und immerhin, sie stehen ihm auf. Sein Hirn ist der einzige Ort, wo sie für ein Zeitatom nochmals leben dürfen und wo ihnen, die vielleicht in erstarrender Einsamkeit hausen, das grenzenlose Glück der Lebendigen zuteil wird: sich mit allem, was lebt, zu begegnen.

Die Toten leben in ihm, denn für seine Sucht, zu bewundern, zu bestaunen, zu begreifen, ist dies Fortsein keine Schranke. Er vermag nichts, wovon er einmal gehört, wovon ein Wort, ein Name, eine Andeutung, eine Anekdote, ein Bild, ein Schatten je in seine Seele gefallen, jemals völlig zu vergessen. Er vermag nichts in der Welt und zwischen den Welten als non avenu zu betrachten. Was ihn angehaucht hat und wäre es aus dem Grab, darum buhlt er im stillen. Es ist ihm natürlich, Mirabeau um seiner Beredsamkeit willen und Friedrich den Zweiten um seiner grandiosen Einsamkeit willen und Warren Hastings um seines Mutes willen und den Prinzen von Ligne um seiner Höflichkeit willen zu lieben, und Maria Antoinette um des Schafottes willen und den heiligen Sebastian um der Pfeile willen. Aber daneben läuft seine Phantasie noch jedem obskuren Abenteuerer, von dem das Zeitungsblatt meldet, um seiner Abenteuer willen nach, dem Reichen um seines Reichtums, dem Armen um seiner Armut willen. Jeder Stand wünscht seinen Pindar, aber er hat ihn auch. Der Dichter, wenn er an dem Haus des Töpfers vorüberkommt oder an dem Haus des Schusters und durchs Fenster hineinsieht, ist so verliebt ins Handwerk des Töpfers oder des Schusters, daß er nie von dem Fenster fortkäme, wäre es nicht, weil er dann wieder dem Jäger zusehen muß oder dem Fischer oder dem Fleischhauer.

Ich höre manchmal im Gespräch oder in einer Zeitung klagen, daß einzelnes, was des Schilderns wert wäre, von den Dichtern unserer Zeit nicht geschildert werde, zum Beispiel die Inhalte mancher Industrien oder dergleichen. Aber wofern in diesen Betrieben das Leben eine eigene Form annimmt, einen neuen Rhythmus durch ein besonderes Zusammensein oder ein besonderes Isoliertsein der Menschen, wofern in diesen Betrieben die einzelnen Menschen oder viele zugleich in ein besonderes Verhältnis zur Natur treten, besondere Lichter auf sie fallen, die unendliche Symbolhaftigkeit der Materie neue unerwartete Schatten und Scheine auf die Menschen gießt, so werden sich die Dichter auf dies neue Ding, auf dies neue Gewebe von Dingen stürzen, vermöge der tiefen Leidenschaft, die sie treibt, jedes neue Ding dem Ganzen, das sie in sich tragen, einzuordnen, vermöge ihrer unbezähmbaren Leidenschaft, alles was da ist in ein Verhältnis zu bringen. Denn sie sind solche Schattenbeschwörer ohne Maß, sie machen ihren Helden nicht mehr bloß aus Alexander und Cäsar, nicht mehr bloß aus der neuen Heloise und dem Werther, nein: das unscheinbarste Dasein, die dürftigste Situation wird ihren immer schärferen Sinnen seelenhaft; wo nur aus fast Wesenlosem die schwächste Flamme eines eigenen Daseins, eines besonderen Leidens schlägt, sind sie nahe und weben sich das Unbelebte und den Dunstkreis, der es umschwimmt, zu einer gespenstigen Wesenheit zusammen.

Da ich ein Kind war, ich denke es wie heute, brachte ich meine Einbildung oft stundenlang nicht los von der Qual von Tieren, von mißhandelten Pferden, eingesperrten Tieren, großen traurig blickenden Gefangenen, die immer herumgehen zwischen dem Gitter und der Wand. Und ich sann etwas aus, aber vergaß es später wieder völlig, von einem Tierbändiger, der seine Löwen tötet, ihnen vergiftetes Fleisch hinwirft. Es geschah in einer solchen Sphäre des kinderhaften dumpfen, starken Fühlens, dies Aussinnen, es war auch nicht so deutlich wie diese Worte es darstellen, es war nichts als ein dumpfer Schmerz und das mitleidige halb grausende Ausmalen einer Situation, in der etwas Quälendes und etwas Erlösendes sich mischten. Es kamen andere Jahre und ich vergaß dies völlig. Tausende von Kindern leiden mehr als sie jemals ahnen lassen unter der Qual von Tieren. Solche dumpfe Schmerzen liegen in der Zeit wie andere in anderen Zeiten. Aber ist es nicht seltsam, daß sie alle ihren Ausdruck finden, alle den Dichter, der sie erlöst, früher oder später? Dies dumpf Ausgesonnene des Kindes sollte ich auf einmal wiederfinden, ausgedrückt in einem Buch, die ganze unbeschreibliche Traurigkeit des Löwenbändigers, der seine Tiere tötet, seine Tiere, die er liebt. (Eines Abends wirft er ihnen vergiftetes Fleisch hin – aus irgendeinem Grunde ist er gezwungen dies zu tun und sie verenden langsam in dem menschenleeren Zirkus beim Schein einer Gasflamme.) Es ist das Buch eines dänischen Schriftstellers, und es hätte mir sehr leicht niemals in die Hand kommen können – aber es geschah nur das Selbstverständliche, daß ein Dichter sich weidete an einer unbeschreiblichen, unfaßlichen Traurigkeit, deren Wirkliches gegeben ist in dem Leben, das wir leben. Es sind noch andere ähnliche Dinge in dem gleichen Buch. Das Häßliche und Triste an der Existenz von Kellnern, das Entwürdigende darin, das Groteske – jeder Mensch denkt das irgendeinmal und es verwischt sich wieder in ihm. In diesem dänischen Buch ist auch daraus eine solche Erzählung gemacht. Diese Erzählungen sind wie seltsame, konzentrierte Destillate, gewonnen aus den Giften, die der Körper der Gesellschaft in sich absondert, seine Ermüdungsgifte, seine leisen chronischen Vergiftungen. Aber der Liebhaber aller Dinge, der Liebhaber aller Schmerzen muß diese Dinge pflücken wie Blumen, er kann nicht anders, es ist stärker als er. Das Sterben der vergifteten Tiere, der sonderbare gierige Hunger des Kellners, ihn locken sie, wie einen andern die Taten des Achilles gelockt haben und die Fahrten und Leiden des vielerfahrenen Odysseus. An welchem menschlichen Tun könnte der Dichter auf die Dauer stumpf und ungerührt vorübergehen, er, der unaufhörlich dem eigenen ewig unverkörperten Tun ein Gleichnis sucht. Mit einer Sicherheit, die seiner Begabung proportional ist, wird er das an der Betätigung weglassen, was Materie ist, aber an dem Eigentlichen, dem Seelenhaften, dem Schöpferischen, an dem Abenteuer, dem Heldentum, dem Leiden, dem Schicksal, das in jeder Arbeit liegt, an dem Abenteuer und dem eigentlichen magischen Erlebnis im Leben des Kaufmannes, des Chemikers, des Geldmenschen – wie könnte er an denen vorüber?

Er kann ja an keinem noch so unscheinbaren Ding vorüber: daß es etwas in der Welt gibt wie das Morphium, und daß es je etwas gegeben hat wie Athen und Rom und Karthago, daß es Märkte von Menschen gegeben hat und Märkte von Menschen gibt, das Dasein Asiens und das Dasein von Tahiti, die Existenz der ultravioletten Strahlen und die Skelette der vorweltlichen Tiere, diese Handvoll Tatsachen und die Myriaden solcher Tatsachen aus allen Ordnungen der Dinge sind für ihn immer irgendwie da, stehen irgendwo im Dunkel und warten auf ihn und er muß mit ihnen rechnen. Er lebt, und das unaufhörlich, unter einem Druck unmeßbarer Atmosphären, wie der Taucher in der Tiefe des Meeres, und es ist die seltsamste Organisation einer Seele, daß sie diesem Druck standhält. Er darf nichts von sich ablehnen. Er ist der Ort, an dem die Kräfte der Zeit einander auszugleichen verlangen. Er gleicht dem Seismographen, den jedes Beben, und wäre es auf Tausende von Meilen, in Vibrationen versetzt. Es ist nicht, daß er unaufhörlich an alle Dinge der Welt dächte. Aber sie denken an ihn. Sie sind in ihm, so beherrschen sie ihn. Seine dumpfen Stunden selbst, seine Depressionen, seine Verworrenheiten sind unpersönliche Zustände, sie gleichen den Zuckungen des Seismographen, und ein Blick, der tief genug wäre, könnte in ihnen Geheimnisvolleres lesen als in seinen Gedichten. Seine Schmerzen sind innere Konstellationen, Konfigurationen der Dinge in ihm, die er nicht die Kraft hat zu entziffern. Sein unaufhörliches Tun ist ein Suchen von Harmonien in sich, ein Harmonisieren der Welt, die er in sich trägt. In seinen höchsten Stunden braucht er nur zusammenzustellen, und was er nebeneinanderstellt wird harmonisch.


Aber Sie wollen diese Harmonie genießen, und die Dichter dieser Zeit, möchte es Ihnen manchmal scheinen, bleiben sie Ihnen schuldig. Die Dichter, hören Sie mich versichern, führen alle Dinge zusammen, sie reinigen die dumpfen Schmerzen der Zeit, unter ihnen wird alles zum Klang und alle Klänge verbinden sich: und doch- Sie haben allzu viele dieser Bücher gelesen, es waren dichterische Bücher, es war die Materie des Dichters in ihnen, aber nichts von dieser höchsten Magie. Den zersplitterten Zustand dieser Welt wollten Sie fliehen und fanden wieder Zersplittertes. Sie fanden alle Elemente des Daseins bloßgelegt: den Mechanismus des Geistes, körperliche Zustände, die zweideutigen Verhältnisse der Existenz, alles wüst daliegend wie den Materialhaufen zu einem Hausbau. Sie fanden in diesen Büchern die gleiche Atomisierung, Zersetzung des Menschlichen in seine Elemente, Disintegration dessen, was zusammen den hohen Menschen bildet, und Sie wollten doch in den Zauberspiegel sehen, aus dem Ihnen das Wüste als ein Gebautes, das Tote als ein Lebendiges, das Zerfallene als ein Ewigblühendes entgegenblicken sollte. Das Dichterische in allen diesen Versuchen fühlen Sie wohl, aber wie, fragen Sie sich, wäre damit schon Dichterschaft beglaubigt?

Geht nicht von diesen dichterischen Seelen noch größere fieberhaftere Unruhe aus, anstatt Beruhigung? sind sie nicht wie sensible Organe dieses großen Leibes, vermöge welcher die disparaten anstürmenden Forderungen noch wilder die Seele zerwühlen? schaffen sie nicht Phantome, wo sie hinblicken, und beseelen verwirrend und unheimlich auch die zerfallenden Teile der Gebilde? Dies fragen Sie sich immer lauter, während Sie das Geschriebene aufnehmen, und mit Ungeduld, und fühlen sich gewaltsam herausgefordert, »auf die dürftige Geburt der Zeit den Maßstab des Unbedingten anzuwenden« und von denen, die die Dichter ihrer Zeit sein möchten, die höchste, die einzig unerläßliche dichterische Leistung zu verlangen, die Synthese des Inhaltes der Zeit. Dem dichterischen Element, der dichterischen Essenz, womit, Sie gestehen es mir gerne zu, diese Epoche nicht minder durchsetzt sein mag als eine andere, wollen Sie nicht länger Ihr bloßes Vorhandensein zugute halten – und Sie verlangen Resultate.

Sie finden in dem Werke Schillers, Sie finden, wenn auch minder leicht zu dechiffrieren, in dem Werk Hebbels jeweils die Summe einer Epoche gezogen, Sie sind nahe dem Punkte, wo Sie dem geheimnisvollen Novalis das gleiche zugestehen werden – und Sie begreifen es durchaus, daß ich von Goethe in diesem Zusammenhang nur darum nicht spreche, sein Werk nicht zuerst hier genannt habe, weil es nicht bloß die Synthese einer begrenzten Epoche, sondern zweier zusammenstoßender Zeitalter vollzieht und in diesem Betracht uns heute noch unabsehbar ist. Aber ein Gleiches, wohin Sie sich wenden, bleiben die Dichter dieser Zeit Ihnen schuldig. Und es möchte Ihnen scheinen, als wäre diesem Schuldigbleiben noch ein eigentümlich leichter Trotz beigemengt, ein bewußter Egoismus der Haltung, ein Sich-Wegwenden von dem, was die lautesten Fragen der Zeit zu sein scheinen, ein Versteckenspiel. Sie sehen, und sehen mit Befremden, wie wenig sich die Dichter ihres Amtes zu erinnern scheinen; wie sie es, mit einem Hochmut, an dem etwas wie Verachtung haftet, anderen Personen überlassen, für Augenblicke den Anwalt und den Rhetor der Zeit zu spielen. Es ist, als läge ein Abgrund zwischen ihrer Haltung und der Haltung Schillers, der so sehr der beredte, der bewußte Herold seiner Epoche war, zwischen ihrer Haltung und der Hebbels, der, schlaflosen Auges im Dunkel stehend, stets die Waage der Werte in seiner Hand auf und nieder gehen fühlte. Es ist, als seien sie sich in einer seltsamen Begrenztheit nur des unerschöpflichen Erlebnisses ihrer Dichterschaft bewußt und nie und nimmer des Amtes, das auf sie gelegt ist. Als sei ihnen, wenn sie ihre Werke schaffen, nur und einzig um die allergeheimnisvollste persönlichste Lust zu tun, um ein hastiges Baden im Leben, ein Ansichreißen und Wiederfahrenlassen der funkelnden Welle des Lebens. Als suchten sie in ihrem Schaffen – wenn wir die abgewandte, geheimnisvoll beleuchtete Seite dieser Dinge betrachten wollen – nur ein Ausruhen, ein krankhaftes Sich-in-irgendein-Bett-Werfen, nach endlosem Umhergewirbeltwerden; wie der Satan Karamasows sich sehnte, im Leib einer dicken dritthalb Zentner schweren Kaufmannsfrau sich zu verkörpern und an alles zu glauben, woran sie glaubt.

Diese Art, dies zu sehen, diese mehr gefühlte als gedankenhafte Abneigung – mir ist manchmal, als fühlte ich sie schweben, diese leise Spannung der Ungeduld, dies unausgesprochene Urteil einer Zeit über ihre Dichter, die da sind und die doch nicht für sie da zu sein scheinen. Die unaufhörlich in den Elementen der Zeit untertauchen und sich niemals über die Elemente zu erheben scheinen. Deren ewige Hingabe an den Stoff (und es macht so wenig Unterschied, ob es sich um den Stoff der äußeren Welt oder der inneren handelt) etwas ausdrückt wie ein Verzichten auf Synthese, ein Sich-Entziehen, eine unwürdige und unbegreifliche Resignation.

Mir ist manchmal, als ruhte das Auge der Zeit, ein strenger, fragender, schwer zu ertragender Blick, auf dem Dasein der vielen Dichter wie auf einer seltsamen unheimlichen Vision. Und als fühlten die Dichter diesen Blick auf sich, fühlten ihre Vielzahl, ihre Gemeinsamkeit, ihre Schicksalsverkettung und die Unbegreiflichkeit und doch die dumpfe Notwendigkeit ihres Tuns. Und diesem Tun ist keine Formel zu finden, aber es steht unter dem Befehl der Notwendigkeit, und es ist, als bauten sie alle an einer Pyramide, dem ungeheueren Wohnhaus eines toten Königs oder eines ungeborenen Gottes.

Denn sie sind nun einmal da. Sind da und sind auf eine Sache in der Welt gestellt: die Unendlichkeit der Erscheinungen leidend zu genießen und aus leidendem Genießen heraus die Vision zu schaffen; zu schaffen in jeder Sekunde, mit jedem Pulsschlag, unter einem Druck, als liege der Ozean über ihnen, zu schaffen, von keinem Licht angeleuchtet, auch von keinem Grubenlämpchen, zu schaffen, umtost von höhnenden, verwirrenden Stimmen; zu schaffen aus keinem anderen Antrieb heraus als aus dem Grundtrieb ihres Wesens, zu schaffen den Zusammenhang des Erlebten, den erträglichen Einklang der Erscheinungen, zu schaffen wie die Ameisen, wieder verstört, wieder schaffend, zu schaffen wie die Spinne, aus dem eigenen Leib den Faden hervorspinnend, der über den Abgrund des Daseins sie trägt.

Aber dies ist, was jeder für sich zu geben hat – doch ihrer sind viele und sie fühlen einander (wie könnten sie einander nicht fühlen, da sie jeden Druck der Luft fühlen, da sie das Wehen des Atems von einem fühlen, der seit tausend Jahren tot ist?), sie fühlen einander leben, fühlen ihrer aller Hände gemeinsam an einem Gewebe, ihrer tausend Hände nebeneinander im Dunkeln, ziehend an einem endlosen Seil. Und diesem Tun ist keine Formel zu finden, aber es steht unter dem Befehl der Notwendigkeit. Und auf diesem ganzen lautlosen Tun und Treiben ruht, möchte es uns scheinen, der strenge fragende Blick der Zeit ... Wie aber, wenn niemand diesen Blick zu erwidern hätte, niemand nicht heute und nicht späterhin dieser Frage eine Antwort schuldig wäre?

Wachen wir nicht manchmal aus dem Schlaf auf, meinen aufzuwachen, hören alles, sehen alles, und sind doch im Tiefsten betäubt, von den geheimen heilsamen Giften des Schlafes erfüllt, und liegen eine kurze Weile und unser zum Schein so waches Denken starrt in irgend eine Tiefe unseres Daseins mit einem furchtbaren eisernen qualvollen Blick? Nichts hält diesem Blicke stand. Wie trag ich das? fragt eine Stimme gräßlich in uns. Wie leb ich und trage das und mache nicht ein Ende mit mir? Denn es gibt keine erträgliche Antwort. Der Tag wird kommen, mit Morgenglocken und Vogelstimmen, das Licht wird lebendig werden, doch dies wird nicht anders sein. Aber ein einziges Wiedereinschlafen und dies ist fort, weggetilgt mit süßem Balsam des Lebens. So ist es mir, als schlüge aus einem Schlaf, im Innersten von geheimnisvoll wirksamen Giften betäubt, nur dann und wann die Zeit die Augen auf und heftete diesen furchtbaren fragenden Blick auf dies alles. Aber es ist der bohrende Blick eines Schlafenden und niemand, weder heute noch späterhin, wird ihm Antwort schuldig sein.

Niemals wieder wird eine erwachte Zeit von den Dichtern, weder von einem einzelnen, noch von ihnen allen zusammen, ihren erschöpfenden rhetorischen Ausdruck, ihre in begrifflichen Formeln gezogene Summe verlangen. Dazu hat das Jahrhundert, dem wir uns entwinden, uns die Phänomene zu stark gemacht; zu gewaltig angefacht den Larventanz der stummen Erscheinungen; zu mächtig hat sich das wortlose Geheimnis der Natur und der stille Schatten der Vergangenheit gegen uns hereinbewegt. Eine erwachte Zeit wird von den Dichtern mehr und Geheimnisvolleres verlangen. Ein ungeheuerer Prozeß hat das Erlebnis des Dichters neu geprägt und damit zugleich das Erlebnis jenes, um dessen Willen der Dichter da ist: des einzelnen. Der Dichter und der, für den Gedichtetes da ist, sie gleichen beide nicht mehr denselben Figuren aus irgendwelcher vergangenen Epoche. Ich will nicht sagen, wieweit sie mehr dem Priester und dem Gläubigen zu gleichen scheinen oder dem Geliebten und dem Liebenden nach dem Sinne Platons oder dem Zauberer und dem Bezauberten. Denn diese Vergleiche verdecken soviel als sie enthüllen von einem unfaßlichen Verhältnis, in dem die so verschiedenen Magien aller dieser Verhältnisse sich mischen mit noch anderen namenlosen Elementen, die dem heutigen Tag allein gehören.

Aber dies unfaßliche Verhältnis ist da. Das Buch ist da, voll seiner Gewalt über die Seele, über die Sinne. Das Buch ist da und flüstert, wo Lust aus dem Leben zu gewinnen ist und wie Lust zerrinnt, wie Herrschaft über die Menschen gewonnen wird und wie die Stunde des Todes soll ertragen werden. Das Buch ist da und in ihm der Inbegriff der Weisheit und der Inbegriff der Verführung. Es liegt da und schweigt und redet und ist um soviel zweideutiger, gefährlicher, geheimnisvoller, als alles zweideutiger, machtvoller und geheimnisvoller ist in dieser über alle Maßen unfaßlichen, dieser im höchsten Sinne poetischen Zeit. Es hat keinen Sinn, eine wohlfeile Antithese zu machen und den Büchern das Leben entgegenzustellen. Denn wären die Bücher nicht ein Element des Lebens, ein höchst zweideutiges, entschlüpfendes, gefährliches, magisches Element des Lebens, so wären sie gar nichts und es wäre nicht des Atems wert, über sie zu reden. Aber sie sind in der Hand eines jeden etwas anderes, und sie leben erst, wenn sie mit einer lebendigen Seele zusammenkommen. Sie reden nicht, sondern sie antworten, dies macht Dämonen aus ihnen. Die Zeit kommt um ihre Synthese, aber in tausend dunklen Stunden versagen sich dem einzelnen nicht die tiefentsprungenen Quellen, – und ich weiß es schon nicht mehr, wenn ich diese Dinge in ihrem geheimen, schöneren Zusammenhang betrachte, ob ich noch von dürftigen Geburten sprechen darf, wo immerhin nach öden Zeiten aus der Seele Geborenes wiederum auf die Seele wirkt. Nie haben vor diesen Tagen Fordernde so ihr ganzes Ich herangetragen an Gedichtetes; so wie auf den Dichtern selbst liegt auch auf ihnen der Zwang, nichts draußen zu lassen. Es ist ein Ringen, ein Chaos, das sich gebären will in denen, die sich gierigen Auges auf die Bücher niederbeugen, wie in denen, die die Bücher hervorgebracht haben. In den Lesenden, von denen ich rede (den Einzelnen, Seltenen und doch nicht so Seltenen, wie man denken möchte), auch in ihnen will, als wäre es in einem Lebensbade, alles Dunkle sich erlösen, alle Zwiespältige sich vergessen, will alles zusammenkommen. Auch ihnen erlöst sich, wie dem Schaffenden, die Seele vom Stofflichen, nicht indem sie es verschmäht, sondern indem sie es mit solcher Intensität erfaßt, daß sie hindurchdringt. Auch ihnen ist in ihren höchsten Augenblicken nichts fern, nichts nah, kein Stand der Seele unerreichbar, kein Niedriges niedrig. Auch ihnen widerfährts wie dem Dichter und ihr Atmen in solchen Augenblicken ist schöpferische Gewalt. Auch sie lesen in diesen seltenen Stunden, die ein Erlebnis sind, und die nicht gewollt werden können, nichts, woran sie nicht glauben, wie die Dichter es nicht ertragen, zu gestalten, woran sie nicht glauben. Ich sage »glauben« und ich sage es in einem tieferen Sinn, als in dem es, fürchte ich, in der Hast dieser ihrem Ende zustrebenden Rede zu Ihnen hinklingt. Ich meine es nicht als das Sich-Verlieren in der phantastischen Bezauberung des Gedichteten, als ein Vergessen des eigenen Daseins über dem Buche, eine kurze und schale Faszination. Es ist das Gegenteil, was ich zu sagen meinte: ich dachte das Wort in der ganzen Tiefe seines Sinnes zu nehmen. In seiner vollen religiösen Bedeutung meine ich es: als ein Fürwahrhalten über allen Schein der Wirklichkeit, ein Eingreifen und Ergriffensein in tiefster Seele, ein Ausruhen im Wirbel des Daseins. So glauben die Dichter das was sie gestalten, und gestalten das was sie glauben. Das All stürzt dahin, aber ihre Visionen sind die Punkte, die ihnen das Weltgebäude tragen. Dies Wort Visionen aber hinzunehmen, wie ich es gebe, es an keinen vorgefaßten Begriff zu binden, die wahre Durchdringung der engsten Materie ebenso unter diesen Begriff zu fassen wie das ungeheuere zusammenfassende Schauen des kosmischen Geschehens – dies muß ich Ihnen anvertrauen: denn Sie sitzen vor mir, viele Menschen, und ich weiß nicht, zu wem ich rede: aber ich rede nur für die, die mit mir gehen wollen, und nicht für den, der sich sein Wort gegeben hat, dies alles von sich abzulehnen. Ich kann nur für die reden, für die Gedichtetes da ist. Die, durch deren Dasein die Dichter erst ein Leben bekommen. Denn sie sind ewige Antwortende und ohne die Fragenden ist der Antwortende ein Schatten. Freilich, es handelt sich vor allem um das Leben und um die Lebendigen, um die Männer und Frauen dieser Zeit handelt es sich, die einzigen, die für uns wirklich sind; um deren willen allein die Vergangenheit und Zukunft da zu sein scheint; um deren willen Sonnen verglüht sind und Sonnen sich gebildet haben; um deren willen Urzeiten waren und ungeheuere Wälder und Tiere ohne Maß; um deren willen Rom hingestürzt ist und Karthago, damit sie heute leben sollten und atmen wie sie leben und atmen, und gehüllt sein in dies lebendige Fleisch und das Feuchte ihrer Augen glänzend an ihnen und ihr Haar um ihre Stirn in solcher Weise gelegt, wie es nun gelegt ist. Um diese handelt es sich und ihre Schmerzen und ihre Lust, ihre Verschlingungen und ihre Einsamkeiten. Aber es ist eine sinnlose Antithese, diesen, die leben, das Gedichtete gegenüberzustellen als ein Fremdes, da doch das Gedichtete nichts ist als eine Funktion der Lebendigen. Denn es lebt nicht: es wird gelebt. Für die aber, die jemals hundert Seiten von Dostojewski gelebt haben oder gelebt die Gestalt der Ottilie in den »Wahlverwandtschaften« oder gelebt ein Gedicht von Goethe oder ein Gedicht von Stefan George, für die sage ich nichts Befremdliches, wenn ich ihnen von diesem Erlebnis spreche als von dem religiösen Erlebnis, dem einzigen religiösen Erlebnis vielleicht, das ihnen je bewußt geworden ist. Aber dies Erlebnis ist unzerlegbar und unbeschreiblich. Man kann daran erinnern, aber nicht es dem Unberührten nahebringen. Wer zu lesen versteht, liest gläubig. Denn er ruht mit ganzer Seele in der Vision. Er läßt nichts von sich draußen. Für einen bezauberten Augenblick ist ihm alles gleich nah, alles gleich fern: denn er fühlt zu allem einen Bezug. Er hat nichts an die Vergangenheit verloren, nichts hat ihm die Zukunft zu bringen. Er ist für einen bezauberten Augenblick der Überwinder der Zeit. Wo er ist, ist alles bei ihm und alles von jedem Zwiespalt erlöst. Das einzelne ist ihm für vieles: denn er sieht es symbolhaft, ja das eine ist ihm für alles, und er ist glücklich ohne den Stachel der Hoffnung. Er vergißt sich nicht, er hat sich ganz, diesen einzigen Augenblick: er ist sich selber gleich.

Ich höre des öfteren, man nennt irgendwelche Bücher naturalistische und irgendwelche psychologische und andere symbolistische, und noch andere ebenso nichtssagende Namen. Ich glaube nicht, daß irgend eine dieser Bezeichnungen den leisesten Sinn hat für einen, der zu lesen versteht. Ich glaube auch nicht, daß ein anderer Streit, mit dem die Luft erschüttert wird, irgend eine Bedeutung für das innere Leben der lebendigen Menschen hat, ich meine den Streit über die Größe und die Kleinheit der einzelnen Dichter, über die Abstufungen unter ihnen, und darüber, ob die lebendigen Dichter um so viel geringer sind als die toten. Denn ich glaube, für den einzelnen, für den, der das Erlebnis des Lesenden kennt, für ihn wandeln tote Dichter mitten unter den Lebendigen und führen ihr zweites Leben. Für ihn gibt es ein Zeichen, das dem dichterischen Gebilde aufgeprägt ist: daß es geboren ist aus der Vision. Sonst kümmern ihn keine Unterscheidungen. Er wartet nicht auf den großen Dichter. Für ihn ist immer der Dichter groß, der seine Seele mit dem Unmeßbaren beschenkt. Die einzige Unterscheidung, die er fällt, ist die zwischen dichterischen Büchern und den unzähligen anderen Büchern, den sonderbaren Geburten der Nachahmung und der Verworrenheit. Aber auch in ihnen noch ehrt er die Spur des dichterischen Geistes und die Möglichkeit, daß aus ihnen in ganz junge, ganz rohe Seelen ein Strahl sich senke. Er wartet nicht, daß die Zeit in einem beredten Dichter, einem Beantworter aller Fragen, einem Herold und einem Anwalt, ihre für immer gültige Synthese finde. Denn in ihm und seinesgleichen, an tausend verborgenen Punkten vollzieht sich diese Synthese: und da er sich bewußt ist, die Zeit in sich zu tragen, einer zu sein wie alle, einer für alle, ein Mensch, ein einzelner und ein Symbol zugleich, so dünkt ihm, daß, wo er trinkt, auch das Dürsten der Zeit sich stillen muß. Ja, indem er der Vision sich hingibt und zu glauben vermag an das, was ein Dichter ihn schauen läßt – sei es menschliche Gestalt, dumpfe Materie des Lebens, innig durchdrungen, oder ungeheuere Erscheinung orphischen Gesichtes –, indem er symbolhaft zu erleben vermag die geheimnisvollste Ausgeburt der Zeit, das Entstandene unter dem Druck der ganzen Welt, das, worauf der Schatten der Vergangenheit liegt und was zuckt unter dem Geheimnis der drängenden Gegenwart, indem er es erlebt, das Gedicht, das seismographische Gebilde, das heimliche Werk dessen, der ein Sklave ist aller lebendigen Dinge und ein Spiel von jedem Druck der Luft: indem er an solchem innersten Gebilde der Zeit die Beglückung erlebt, sein Ich sich selber gleich zu fühlen und sicher zu schweben im Sturz des Daseins, entschwindet ihm der Begriff der Zeit und Zukunft geht ihm wie Vergangenheit in einzige Gegenwart herüber.

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TextGrid Repository (2012). Hofmannsthal, Hugo von. Essays, Reden, Vorträge. Der Dichter und diese Zeit. Der Dichter und diese Zeit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-7814-4