[142] Kirchturm

Die Kirche hat wenig Kerzen,
Ist armer Leut' und kalt.
Matt brennen die gläsernen Herzen,
Die sind wohl schon zu alt.
Da steig ich lieber auf den Turm,
Schau übers Kirchendach,
Schau, wie durch Abendwiesen
Hinrauscht der Erlenbach,
Wie über die kleinen Gräber
Sich neigt der Apfelbaum,
So schön mit seinen Zweigen
Als wie ein Ding im Traum ...
Verliebte junge Tote,
Die fliegen auf bei Nacht
Und sitzen in den Zweigen,
Bis Morgenlicht erwacht.
Hoch über dem Apfelbaume
Im Turme sitzt man gut,
Wenn unten die Sichel im Rasen,
Der Teich im Bette ruht.
O säßen wir beide oben,
Wir beide Hand in Hand,
Verschlungene Finger, schweigend,
Still über dem leuchtenden Land,
So still, unsäglich selig,
Daß unsrer Lieb zulieb
Die Turmuhr uns zu Füßen
Stillstehn und stocken blieb'.
[143]
Da droben frei!
Wir zwei allein!
Mein Gott, warum
Wird das nie sein?
Nie wirklich sein?

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TextGrid Repository (2012). Hofmannsthal, Hugo von. Gedichte. Die Gedichte 1891-1898. Kirchturm. Kirchturm. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-783F-6