Hugo von Hofmannsthal
Shakespeare und wir

Zum 23. April 1916

[107] Es sind nun hundertunddrei Jahre her, daß Goethe seinen Aufsatz »Shakespeare und kein Ende« veröffentlichte. Darin stellt er seine Ansicht von Shakespeare »als Dichter überhaupt« und Shakespeare »als Theaterdichter«, welche beide er scharf auseinanderhält, dem enthusiastischen Betreiben der von Tieck geführten Romantiker gegenüber, Shakespeares Werke unverkürzt auf die Bühne zu bringen. Er lobt mit Nachdruck die Schauspielerbearbeitungen von der Art der Schröderschen, »welche sich ganz allein ans Wirksame halten und alles übrige wegwerfen«, und nennt es ein Vorurteil, das sich in Deutschland eingeschlichen habe, »daß man Shakespeare auf der deutschen Bühne Wort für Wort aufführen müsse, und wenn Schauspieler und Zuhörer daran erwürgen sollten«. Zum Schluß weist er darauf hin, nach welchen Grundsätzen man »Romeo und Julia« für das Weimarsche Theater redigiert habe, ein Stück, dessen tragischer Gehalt beinahe ganz zerstört wird durch die zwei komischen Figuren Mercutio und die Amme. »Betrachtet man«, fährt er fort, »das Stück recht genau, so bemerkt man, daß diese beiden Figuren, und was an sie grenzt, nur als possenhafte Intermezzisten auftreten, die uns bei unserer folgerechte Übereinstimmung liebenden Denkart auf der Bühne unerträglich sein müssen.« Es bedarf keiner Weisheit, auszusprechen, daß dem größten Mann hier von dem Geschmack der Nation widersprochen wird, der von Generation zu Generation immer deutlicher bis auf den heutigen Tag für die entgegengesetzte Richtung manifestiert hat. Aber, was Goethe zu wahren strebte: das Gehobene und Unvermischte auf dem Theater, auch diesem ist in anderer Weise eine Tendenz des Publikums treu geblieben und hat die hohe Geltung und Popularität der großen oder tragischen Oper herbeigeführt, welcher Goethe selber, als Schöpfer und Urteilender, nicht weniger geneigt war, der, von den vielen Singspielen und Halbopern zu [107] schweigen, die gelegentlich aus seiner Feder kamen, an drei Epochen der großen dramatischen Musik als Dichter teilnahm, wenn er für Gluck die herrliche, Fragment gebliebene »Proserpina« dichtete, durch die Fortsetzung der »Zauberflöte« sich post mortem Mozart als Textdichter darbot und für seinen zweiten Teil des »Faust« einen Mann wie Spontini oder Meyerbeer als unerläßliche Gesellschafter – sofern das Werk aufs Theater sollte – herbeizuziehen sich vorsetzte. Dies aber beiseite, so ist auf der rezitierenden Bühne das Gemischte, wie es eben in Shakespeare grandios uns entgegentritt, zur unbestrittenen Herrschaft gekommen. Die Träger dieser erobernden Vorwärtsbewegung waren von Generation zu Generation ganz unzweifelhaft die großen Schauspieler, von jenen älteren, Schröder und Anschütz, herab bis auf die, welche unter uns, indem sie sich in Lear oder Falstaff verwandeln, etwas ihnen selbst Verborgenes ihrer Natur zu enthüllen und darzubringen verstehen. Von den beiden, die Goethe mit bestimmter Absicht antithetisch behandelte, dem »Dichter überhaupt« und dem »Theaterdichter«, ist der letztere oder, um es anders zu sagen, von dem einmaligen Naturphänomen des größten Dichterschauspielers Shakespeare ist das schauspielerische Element zu einer unvergleichlich großen um sich greifenden Macht innerhalb des deutschen geistigen Lebens gekommen, und wenn wir heute ein deutsches Theater in einem höheren Sinne besitzen, welches als eine Art Verwirklichung der von den großen Geistern des achtzehnten Jahrhunderts geträumten »deutschen Nationalbühne« gelten kann, so ist Shakespeare in zweifacher Weise für den Urheber dieses unseres Theaters anzusehen: einmal, wie es oft und einläßlich in bedeutenden Darstellungen ausgeführt worden ist, als einer jener wahrhaftigen Schöpfergeister, die sich »keineswegs nach vollbrachtem Tageswerk zur Ruhe begeben, sondern fortwährend wirksam sind in höheren Naturen, um geringere zu sich heranzuziehen«; so hat sein Geist, in immer neuen Formen gleichsam indirekter Zeugung, uns vom »Götz« und der »Emilia Galotti« angefangen bis zu dem dramatischen Zaubermärchen Ferdinand Raimunds so ziemlich das meiste dessen hervorgerufen, [108] was als höheres Repertorium den Bestand dieses deutschen Theaters ausmacht; zum zweiten aber, indem er von Individuum zu Individuum und von Geschlecht zu Geschlecht immer das Höchste der schauspielerischen Begabung auf sich gezogen und dem deutschen schauspielerischen Dasein mit einer unauflöslichen Aufgabe zugleich ein geistiges Zentrum geschenkt hat. Der französische Schauspieler lebt, eine Generation auf die andere, das gesellschaftliche Leben seines Volkes mit. Nicht so der deutsche, denn die Nation hat selber kein ausgeprägtes, und die wertvolleren dichterischen Produkte entstammen nicht dieser Sphäre. Aber an Shakespeare hat sich das deutsche schauspielerische Dasein unter stets aufs neue problematischen Verhältnissen immer wieder emporgehoben, hier besteht im allseits Abgebrochenen, stets Traditionslosen sogar eine Art von Kontinuität. Der Schauspieler ist es, der die Herrschaft Shakespeares auf dem deutschen Theater unablässig ausgebreitet und vertieft hat, und ein Mann wie Reinhardt, der Schauspieler-Direktor, handelt ebenso unter geschichtlicher Konsequenz wie aus eigener Leidenschaft, wenn er, was Generationen von Schauspielern, zuerst im Wetteifer mit Garrick und Kemble, dann mit Salvini und Rossi, dem deutschen Theater einverleibt haben, zu seiner hohen Blüte und damit zu einem zeitweisen Abschluß treibt.

Der Schauspieler ist es, der nach und nach dem Publikum eben jenes Gemischte annehmbar gemacht hat, sowohl innerhalb jedes Stückes, wie innerhalb der Figuren; zunächst das Komische hart neben dem Tragischen, dann aber auch das Tragische im Komischen, eine Figur wie den Narren in »Lear« etwa, oder das Melancholische im »Falstaff«. Und nur wenn diese Mischung, anstatt zu befremden, als Genuß empfunden wird, kann ein Stück wie »Was ihr wollt« auf der Bühne bestehen, das in der Tat vor hundert Jahren, als die Romantiker es zuerst aufs Theater brachten, vom Publikum fallen gelassen wurde, jetzt aber in Wien, wie vor ein paar Jahren in Berlin, für eine Weile die erste Stelle im Repertoire einnimmt. Denn sein ganzer Reiz ruht auf einer solchen Mischung von derb-komischen, grotesken und ganz zarten [109] Figuren, die zu einer Gruppe verbunden sind; eine ähnliche Gruppe ist Prospero und Miranda, Ariel und Caliban.

Das deutsche Theater, indem es sich Shakespeare ergab und ihm diente, hat auch wieder zu eigenem höchstem Nutzen gehandelt; die Möglichkeiten, die für den Schauspieler hier liegen, sind kaum auszuschöpfen und führen immer tiefer und höher. Hand in Hand mit der theatralischen Unternehmung ging die dramaturgische und sonstige gelehrte Betrachtung; die einzelnen Stücke, das, was man, mit einem Körnchen Salz, die Idee jedes einzelnen nennen kann, die Figuren in sich selber betrachtet und die Bezüge zwischen den Figuren, Hamlet mit Horatio, Brutus mit Cassius, Antonio mit Bassanio, die Landschaften, welche freilich Landschaften der Seele sind, und das, was man die Hintergründe und Ausblicke nennen könnte, alles dies ist an den Tag gebracht, analysiert, gesammelt und in Sammlung über Sammlung wieder gesichtet, verglichen, registriert usf. in infinitum. Einst trat diese Zauberwelt plötzlich an einzelne heran, und der Eindruck war überwältigend. So ist das Erlebnis Goethes. »Die erste Seite, die ich von Shakespeare las, machte mich auf zeitlebens ihm eigen, und wie ich mit dem ersten Stück von ihm fertig war, stand ich wie ein Blindgeborener, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblick schenkt. Ich erkannte, ich fühlte meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert.« Noch Ferdinand Raimund bekommt erst als reifer Mann den Shakespeare in die Hand, der ihn umwirft, und datiert von da an Epoche in seinem Leben. Das Glück, diese Welt dämonisch im schicksalsvollen Augenblick ins eigene Dasein hereinbrechen zu fühlen, müssen die darauffolgenden Generationen mehr und mehr entbehren.

Für sie ist Shakespeare immer schon da. Tausendfach ausgedeutet, wenn auch im Tiefsten unausdeutbar, liegen diese Gebilde zutage, die inneren Spannungen und die Strahlungen, die von ihnen ausgehen, sind aufgezeichnet und tabelliert. Alle Hilfsmittel zu einer beständigen Schwelgerei sind dem Heranwachsenden vorgerichtet, und heilig muß seine Scheu sein, wenn er zu einem höheren als schwelgerischen Verhältnis sich erhebt. Das Theater ruft ihn zu Shakespeare, [110] sich schwelgerisch in Natur aufzulösen, wie der Schauspieler selbst sich auflöst; so ruft ihn leider auch der stets offene Musiksaal zu Beethoven. Der Reichtum unendlicher Bezüge, Hamlet und Ophelia, Macbeth und seine Frau, Coriolan und der Pöbel, Prospero und die Geister, Brutus und Cäsar, alles dies liegt am Tage, ist dem geistigen Sammelbesitz der Nation einverleibt. Höchst problematisch aber wird der Begriff des Besitzes, wo es sich um Geistiges handelt, ja es kann das Geistige seiner Natur nach in das alltägliche Dasein nicht einbezogen werden: denn es will und sollja dieses Dasein aufheben. So kann ein zweideutiges Verhältnis entstehen, ein schlaffes und trübes Haben und Nichthaben. In der Jugend aber, von Geschlecht zu Geschlecht, ist ein heiliger Drang nach dem Unentweihten. Hier fällt den Generationen wahrhaftig ein verschiedenes Los. Die Jugend von 1770 wollte nichts als zu sich selber kommen, und in Shakespeare fand sie sich selber, die glühende Welt des Herzens und der Einbildung. Aus diesem beglückenden Verhältnis heraus sind Goethes obige Worte ausgesprochen. Eine andere Zeit wollte sich in die Welt auflösen, und ihr waren Shakespeares Werke das allermächtigste Lösungsmittel. Dieser Generation, der romantischen, danken wir Schlegels Übersetzung, in der das fremde ungeheure Werk für uns nochmals aus der eigenen Sprache wiedergeboren ist.

Die heutige Zeit kennt keinen tieferen Drang, als über sich selber hinauszukommen. Der Lebende fühlt sich überwältigt durch die Gewalt der Umstände; das schweifende, schwelgende Genießen, das fühlt er, ist kein Ausweg, der Genuß zieht ihn nur tiefer in die Sklaverei hinein, und der Besitz unterjocht. Nach oben hin ist die Idee der Freiheit in den Äther entschwunden, nach innen zu die Idee der Tugend leer und wesenlos geworden. Begriffe, Namen verdüstern die Pfade des Lebens mehr, als sie sie erleuchten, die Handlung hat sich zur Begebenheit erniedrigt. Wo ist eine Offenbarung des Höchsten? Ebendort, wo Wirklichkeit ist, antwortet die innere Stimme, die untrüglich ist.

Menschen, zu allen Zeiten, suchen Wirklichkeit begierig, überall. Bei den Geistern und Gespenstern noch, unter deren [111] Anhauch sich eine neue Seite ihres Selbst ihnen offenbart, im Krater der Wollust, ja am Spieltische, wie im Gebet und im Gedicht. Kaum geahnt wird die Wirklichkeit der Mitlebenden, ja noch geliebter naher Wesen, dem trägen Blick bleibt sie auch im Leiden noch verschleiert, bis sie uns plötzlich anweht: Ahnung, daß das Einmalige alles sei, nichts wiederkomme, nichts sich gleiche, alles im Augenblicke unendlich, ungeheuer, begrifflos, vor Gott ewig. In der Leidenschaft wird diese Sprache begriffen, so liegt in der Leidenschaft, nicht in der niedrigen, sondern der hohen, die eigentliche Weihe des individuellen Daseins. Nur in der geistigen Spannung der Leidenschaft wird das Individuelle, das Einmalige wesenhaft: es ist das, wessen sonst der ruhig Hinlebende kaum gewahr wird. Dieses Einmaligen ist die Welt Shakespeares voll, nirgend sind die inneren Spannungen so wie in »Hamlet«, »Macbeth«, »Othello«.

In jeder seiner Figuren ist ein unsagbarer Bezug auf sich selbst, eine schauerliche und erhabene Konzentration. Die Einsamkeit dieser Leidenschaftlichen, jeder in seine Welt hineingebannt, dies und nicht mehr die wunderbare Vielfalt des glühenden Geschehens, nicht die romantische Uferlosigkeit des Widerspieles, bannt die Blicke einer neuen Jugend, der die Zusammenfassung und Erhöhung ihres Selbst über alles gehen muß. Und wenn Goethes Shakespeare der Geist ist, der die Welt durchdringt und keines ihrer Geheimnisse bewahrt, dem alles von den Lippen fließt, was bei einer großen Weltbegebenheit heimlich durch die Lüfte säuselt, was in Momenten ungeheurer Ereignisse sich in den Herzen der Menschen verbirgt, was ein Gemüt ängstlich versteckt, so wird einem anderen Geschlechte ein stummer Shakespeare entgegentreten, und er wird abermals wahr sein, so wahr als jener, »der die Geheimnisse des Weltgeistes verschwätzt«. Denn wo jedes Wort im ungeheuersten Bezug auf sich selber steht, alle Worte zusammen zu der Rune sich verbinden, die das Individuelle als das Einmalige ausspricht, nichts vom Individuum hinaus in die Welt weist, in die Geselligkeit der Begriffe, dort waltet etwas wie Stummheit, und mit dieser bannt sein unerforschlicher Geist ein neues Geschlecht, wie ein früheres mit der Magie schrankenloser Beredtheit.

[112] Wie komme ich aber, indem ich in Gedanken Shakespeare und eine neue Generation zueinander halten will, dazu, das, was gemeinhin dunkel und trübe erscheint: Leidenschaft, und die reinen Gebilde der Kunst zusammenzustellen? In der Leidenschaft wie in der Kunst ist das Schöpferische wirksam: das vom höchsten, ersten Schöpfer Entsprungene, Hergeleitete, in den Geschöpfen, womit sie gegen das Chaos sich zur Wehr setzen.

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TextGrid Repository (2012). Hofmannsthal, Hugo von. Essays, Reden, Vorträge. Shakespeare und wir. Shakespeare und wir. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-789D-0