Arno Holz / Johannes Schlaf
Papa Hamlet

[7] Vorwort
[zum Band »Neue Gleise«]

Die nachfolgenden Studien entstanden im Winter 1887 bis 1888 in Nieder-Schönhausen und waren die ersten Ergebnisse unseres Zusammenarbeitens.

In seinem späteren Buche Die Kunst hat der Jüngere von uns das kleine Idyll, das wir damals lebten, nachträglich geschildert:

»Unsere kleine Bude«, heißt es daselbst, »hing luftig wie ein Vogelbauerchen mitten über einer wunderbaren Winterlandschaft; von unseren Schreibtischen aus, vor denen wir dasaßen bis an die Nasen eingemummelt in große, rote Wolldecken, konnten wir fern über ein verschneites Stück Heide weg, das von Krähen wimmelte, allabendlich die märchenfarbensten Sonnenuntergänge studieren, aber die Winde bliesen uns durch die schlechtverkitteten kleinen Fenster von allen Seiten an, und die Finger waren uns trotz der vierzig dicken Preßkohlen, die wir allmorgendlich in den Ofen schoben, oft so frostverklammt, daß wir gezwungen waren, unsere Arbeiten schon aus diesem Grunde zeitweise einzustellen. Denn mitunter mußten wir sie auch noch aus ganz anderen Gründen quittieren. So z.B., wenn wir aus Berlin, wohin wir immer zu Mittag essen gingen – eine ganze Stunde lang, mit ten durch Eis und Schnee, weil es dort ›billiger‹ war – wieder gar zu hungrig in unser Vogelbauerchen zurückgekrochen waren, wenn uns ab und zu um die Dämmerzeit, während draußen die Farben starben und in all der Stille rings die Einsamkeit, in der wir lebten, plötzlich hörbar wurde, hörbar und fühlbar, die Melancholie überfiel oder wenn, was freilich stets das allerbedenklichste war, uns [7] einmal der ›Tobak‹ ausging. Das war dann ein Herzeleid – gar nicht zu beschreiben! Von Cuba waren wir so, allmählig, auf ›Caraballa‹ gesunken, von Caraballa auf ›Paetum optimum‹. Ja, als die Not am größten war, entsinne ich mich, rauchten wir sogar das letzte Stück einer alten Girlande auf. Honni soit qui mal y pense! Unseren schönsten, runden Tisch mit bunter Veloursdecke, der eigentlich hätte vor dem Sofa stehen sollen – dem ›Perserdivan‹, wie es offiziell hieß – hatten wir eigens zwischen unsere beiden Schreibtische gerückt, als würdige Unterlage für die lange Stricknadel, mit der wir unsere langen Pfeifen putzten; eine leere Liebigbüchse diente als Aschbecher. Schließlich, als dann endlich durch unsere Scheiben wieder blau der Frühlingshimmel brach, hatten wir die Genugtuung, konstatieren zu können, daß unser schöner, schneeweißer Hermeskopf, der so lange quer über einem großen, rotgebundenen Don Quixote mitten unter einem Spiegelchen gestanden, aussah wie ein Niggerschädel.

Veröffentlicht von uns, als das erste sichtbare Resultat dieser Kampagne, wurde dann ein Jahr später im Verlage von Carl Reissner in Leipzig: Bjarne P. Holmsen: Papa Hamlet.«

Über die intimere Entstehungsgeschichte dieses Buches sowie über die Bedeutung, die sein Erscheinen damals für unsere junge Bewegung gehabt, gibt das Vorwort zu dem zweiten Teil dieser Schriften genügende Auskunft.

Abermals ein Jahr später erschien dann Die Familie Selicke. Mit ihr hatte unser Zusammenarbeiten seinen natürlichen Abschluß gefunden. Es war von Anfang an nie etwas anderes als ein einziges großes Experiment gewesen, und dieses Experiment war geglückt!

[8] Kein Homunculus war unserer Retorte entschlüpft, kein schwindsüchtiges, bejammernswertes Etwas, dessen Lebenslicht man nicht erst auszublasen brauchte, weil es von selbst ausging, sondern eine neue Kunstform hatten wir uns erkämpft, eine neue Technik dem deutschen Drama, unseren Gegnern zum Trotz, die sich triebsicherer senkt in das Leben um uns, keimtiefer als die bisherige, uns überliefert gewesene, und wohin wir zur Zeit blicken in unserer jungen Literatur, überall bereits begegnen wir ihren Spuren ...

Und so mag es denn heute, wo jeder von uns schon längst wieder anderen, weiteren Zielen zugewandt steht, nicht verwundern, wenn wir den Wunsch gehegt, uns nun endlich, und zwar auch äußerlich, mit unserer einstigen sogenannten »Firma«, wie man sie ja wohl nannte, abzufinden. Und das konnten wir nur mit der Herausgabe dieses Buches.

Möge sein Einband seinem Papier leicht werden!


Berlin, August 1891.

Arno Holz Johannes Schlaf

[9] [11]Vorwort
[zum Wiederabdruck]

Den besten Aufschluß über die Entstehungsgeschichte des Papa Hamlet gab seiner Zeit das Vorwort zur ersten Auflage der Familie Selicke. Da dieses aber inzwischen, gelegentlich der dritten Auflage, durch ein neues ersetzt wurde, so ist es vielleicht nicht unerwünscht, wenn wir es jetzt, gelegentlich der dieser Sammelausgabe unserer Schriften, wieder zum Abdruck bringen.

Es lautete:

Im Januar 1889, also jetzt gerade vor einem Jahre, brachte der Verlag von Carl Reissner in Leipzig einePapa Hamlet betitelte Novität auf den Büchermarkt, als deren Verfasser ein bis dahin noch gänzlich unbekannt gewesener Norweger Bjarne P. Holmsen angegeben war, während sein Übersetzer sich Dr. Bruno Franzius nannte. Dieses Buch war eine Mystifikation, und die Unterzeichneten waren ihre Urheber.

Was sie dazu veranlaßt hatte? Die alte, bereits so oft gehörte Klage, daß heute nur die Ausländer bei uns Anerkennung fänden und daß man namentlich, um ungestraft gewisse Wagnisse zu unternehmen, zum mindesten schon ein Franzose, ein Russe oder ein Norweger sein müsse. Als Deutscher wäre man schon von vornherein zur alten Schablone verdammt, nur jene dürften scrupellos die alten Vorurteile über Bord werfen, nur jene sogenannten »neuen Zielen« zustreben! Mit anderen Worten: Quod licet Jovi, non licet bovi!

Wir waren der Meinung, daß diese Klage nur auf einer falschen Deutung der Tatsachen beruhe. Wir glaubten, daß die bekannte, ablehnende Haltung, die unsere landläufige [11] Kritik uns Jüngeren gegenüber nun einmal einnimmt, mit unserem Deutschtum absolut nichts zu schaffen habe; daß dieses ihr vielmehr völlig gleichgültig sei, daß es ihr einzig auf unsere »Richtung« als solche ankäme! Wir waren überzeugt, daß man uns mit den üblichen Komplimenten überhäufen würde, auch wenn wir beispielsweise als Norweger zeichneten! Es unterlag uns gar keinem Zweifel, daß der Kampf heute nicht mehr zwischen Inlandstum und Auslandstum tobe, sondern nur noch – man verzeihe uns hier diese dehnbaren Worte – zwischen Idealismus und Realismus, zwischen Konvention und Naturwollen! Und in der Tat hat denn auch unser Experiment unsere Hypothese bestätigt ...

Diese Mystifikation als solche glückte glänzend. So durchaus durchsichtig sie auch gehalten war und so leicht es jetzt natürlich auch manchem geworden sein mag, nachträglich zu behaupten, er hätte sie gleich durchschaut: man glaubte an die Existenz Bjarne P. Holmsens sieben volle Monate lang und kam erst hinter seine Nichtexistenz, nachdem bereits die Verfasser selber kein Hehl mehr aus ihr machten.

Eine der ersten »Enthüllungen« brachte die erste Novembernummer des Magazins für die Litteratur des In- und Auslands in einem Kaberlin unterzeichneten Artikel.

Der Anfang desselben lautete:

»Der Verfasser des Dramas Vor Sonnenaufgang, Gerhart Hauptmann, hat auf der ersten Seite seines Buches einen gewissen Bjarne P. Holmsen freudig anerkannt. Es war dessen Novellenzyklus Papa Hamlet, erschienen bei C. Reissner in Leipzig, der, wie es in der Widmung heißt, die entscheidende Anregung gegeben hatte. Wieder einmal, so dachte ich – das Buch in die Hand nehmend, [12] ist die Befruchtung aus dem Ausland gekommen; es scheint also, daß der deutsche Realismus zur Selbständigkeit immer noch nicht reif – vielmehr noch gezwungen ist, die französische Knechtschaft mit der des Nordens zu wechseln.

Als ich jedoch die erste der drei Novellen durchgelesen hatte, erschien mir bereits die Echtheit der norwegischen Ortsfärbung sehr zweifelhaft. Denn nur zu bald bricht jenes urwüchsige, warme Element eines Humors durch die Schilderung, der nur den Germanen der Mittelzonen zu eigen ist. Und eine Nachforschung bestätigte meinen Verdacht: es stellte sich heraus, daß sich hinter dem Namen Holmsen ein jungdeutscher Dichter versteckt hält, der als Pfadfinder in dem bisher noch ziemlich dunkeln Gebiet des deutschen Realismus schon bekannt ist: Arno Holz, der Dichter desBuchs der Zeit.

Zu diesem Absatze veröffentlichte dann die übernächste Nummer desselben Blattes folgenden Brief. Wir bringen ihn hiermit abermals zum Abdruck, um auch in Zukunft etwaigen ähnlichen Deutungen unseres Zusammenarbeitens ein für allemal aus dem Wege zu gehen.


Sehr geehrter Herr!

Gestatten Sie mir zu dem in No. 45 Ihres Blattes erschienenen Aufsatze »Neurealistische Novellen. Besprochen von Kaberlin« freundlichst folgende Berichtigung:

Nachdem mich der Herr Verfasser des betreffenden Artikels – nebenbei bemerkt des weitaus eingehendsten und gediegensten, der, wenigstens in der deutschen Presse, bisher über Papa Hamlet erschienen ist – als Autor dieses Buches namhaft gemacht, setzt er in Form einer kleinen Fußnote hinzu:

[13] »Johannes Schlaf soll ebenfalls, aber nur im zweiten Grad, an der Arbeit beteiligt sein.«

Nun! Er soll es nicht nur, sondern er ist es auch! Und soweit wenigstens unsere, d.h. seine und meine Kenntnis der Sachlage reicht, ist es überdies durchaus ungerechtfertigt, einem von uns beiden, und zwar ganz gleichgültig welchem, eine Beteiligung »ersten« oder »zweiten« Grades zuzumessen. Im Gegenteil! Nicht allein, daß wir unsere Arbeit zu gleichen Hälften geleistet zu haben glauben, wir haben sie tatsächlich so geleistet!

Eine langjährige Freundschaft, verstärkt durch ein fast ebenso langes, nahestes Zusammenleben, und gewiß auch nicht in letzter Linie beeinflußt durch gewisse ähnliche Naturanlagen, hat unsere Individualitäten, wenigstens in rein künstlerischen Beziehungen, nach und nach geradezu kongruent werden lassen! Wir kennen nach dieser Richtung hin kaum eine Frage, und sei sie auch scheinbar noch so minimaler Natur, in der wir auseinandergingen. Unsere Methoden im Erfassen und Wiedergeben des Erfaßten sind mit der Zeit die vollständig gleichen geworden. Es gibt Stellen, ja ganze Seiten im Papa Hamlet, von denen wir uns absolut keine Rechenschaft mehr abzulegen vermöchten, ob die ursprüngliche Idee zu ihnen dem einen, die nachträgliche Form aber dem anderen angehört oder umgekehrt. Oft flossen uns dieselben Worte desselben Satzes gleichzeitig in die Feder, oft vollendete der eine den eben angefangenen Satz des anderen. Wir könnten so vielleicht sagen, wir hätten uns das Buch gegenseitig »erzählt«; wir haben es uns einander ausgemalt, immer deutlicher, bis es endlich auf dem Papier stand. Uns nun nachträglich sagen zu wollen, das gehört dir und das dem anderen, liegt uns ebenso fern, als es in den weitaus [14] meisten Fällen auch tatsächlich kaum mehr zu ermitteln wäre. Wir haben nicht das mindeste Interesse daran! Unsere Freude war, daß es dastand, und die Arbeit selbst gilt uns auch heute noch mehr als die Arbeiter. Ein weiteres, größeres Opus haben wir bereits wieder unter der Feder, und es wird sich ja zeigen, ob es die von uns angenommene »Einheit unserer beiden Naturen« bestätigen wird oder nicht.

Mit der Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung


Berlin, 1. November 1889.

Ihr ergebenster Arno Holz.

Das angedeutete Werk ist dieses Drama. –

Zum Schlusse noch eins! Wir haben uns nicht versagen können, aus den uns vorliegenden Kritiken über unser Buch, das übrigens – der Kuriosität wegen sei es erwähnt! – zur Zeit von Herrn Harald Hansen in Christiania ins Norwegische übersetzt wird, eine kleine Blütenlese zusammenzustellen. Möge ihre seltene Farbenpracht die Leser ähnlich erfreuen, wie sie uns erfreut hat! ...


Glaubt der Verfasser ein Realist zu sein, ... danntäuscht er sich.

C. Alberti in der »Gesellschaft«

Als Norweger ist Bjarne P. Holmsen natürlich Realist und ein radikalerer als alle seine Landsleute.
»Hamburger Nachr.«

Papa Hamlet ... une suite des scènes détachées d'un réalisme violent.
»Le Temps«

Ein Trost für das patriotische Gefühl – wenn auch ein sehr kleinlicher – ist es beinahe, daß nach diesen jämmerlichen deutschen »Werken« der vorliegende Ausländer gleichfalls nichts Rühmliches bietet.

»Bl. f. litt. Unterh.«

[15] Ein norwegischer Dichter, welcher sich bald, und mit Recht, auch bei uns in Gunst setzen wird!
»Leipz. Tagebl.«

... Ein Machwerk traurigster Sorte! C. Alberti in der »Gesellschaft«
... Ein Beleg mehr für die literarische Kraft des Nordens!
»Kieler Zeitung«

Es sind drei Sittenbilder aus dem norwegischen Leben, in welchen die Roheit des Inhalts mit der Roheit der Darstellung einen tadellosen Zusammenklang bildet.

»Die Post«


Som hos den nye Kunsts Begyndere er adskilligt uklart, og mangen en Farveklat forbliver paa hvilken som helst Afstand en Klat, men de tre Studier efterlader dog alle det tilsigte de Indtryk. (Obgleich, wie bei allen Anfängern der neuen Kunst, hin und wieder etwas unklar ist, mancher Farbenklecks auch auf jede Distanz ein Klecks bleibt, so hinterlassen doch die Studien alle den beabsichtigten Eindruck.)

Harald Hansen im »Morgenbladet« (Kopenhagen)


»Papa Hamlet« (die erste) ist ein Bild trüber gesellschaftlicher Verhältnisse, ein trübes Motiv in jenem düstren Kolorit, über welches die Norweger, die Leute aus dem Lande der Mitternachtssonne, so einzig verfügen. Die Hauptfigur dieses Bildes ist Niels Thienwiebel, der herabgekommene Schauspieler, der in seinen kleinlichen häuslichen Verhältnissen den Hamlet spielt, anfangs aus Eitelkeit und dann, um seinen Untugenden und Fehlern einen Mantel umzuhängen. Wenn es ihm gelegen kommt, greift er sogar zur Methode des Wahnsinns und läßt so lange »Nordnordwest wehen«, bis er auf kurze Zeit wieder aus der Klemme oder anderen unbehaglichen Zuständen befreit ist. Das Mitzehren bei einem Freunde, dem es ebenfalls nicht besonders geht, versteht er wie keiner.Das Bild ist überraschend einfach gehalten, aber man merkt recht, daß in dieser Einfachheit eine Kunst liegt.

»Kieler Zeitung«


(Die zweite) wird ... nicht nur diejenigen, die die stofflichen Mißgriffe der Jüngstdeutschen noch nicht überwinden können, mit der neueren Richtung im Grunde versöhnen, sondern überhaupt mit einigen Jahren alle Herzen erobern und ohne Zweifel eine Perle der humoristischen Literatur werden. Denn,von der Reuterschen Muse abgesehen, wüßte ich nichts, was nur im entferntesten mit dem »Ersten Schultag« verglichen werden könnte ...

»Magazin«


[16] Den tredje Studie »Et Drodsfald« giver to Brodres Nattevangen over en tredje Broder, som er bleven saaret i Duel og dor ud paa Formiddagen. Jeg folte under Läsningen baade den lange, kolde Nat, den gryende Morgen, hvor Livet i Byen lidt efterlidt vaagner, og den fulde Dag, da alle styrter ud og ind for at bringe den doende Hjälp. Det varudmärket, skjont jeg läste i mit Ansigts Sved! (Die dritte Studie: »Ein Tod« schildert uns die Nachtwache zweier Kameraden bei einem dritten, der im Duell gefallen ist und am Morgen stirbt. Ich fühlte während des Lesens die lange, kalte Nacht, den grauenden Morgen, wo das Leben in der Stadt allmählich erwacht, und den vollen Tag, wo alles ein- und ausstürzt, um dem Sterbenden Hilfe zu bringen. Das war ausgezeichnet, obgleich ich es las im Schweiße meines Angesichts!)

Harald Hansen im »Morgenbladet« (Kopenhagen)


Da geht uns denn doch schließlich die Galle über, sowohl an dem Ekel, den diese Verirrung erregen möchte, als an dem Ärger, den der Mißbrauch guter Mittel hervorruft!

»Frankf. Ztg.«


Es sind keine fröhlichen Bilder, die Bjarne P. Holmsen zeigt. Sie erfreuen nicht, sie ergreifen. Wir dürfen über die Wahl seines Sujets nicht mit ihm rechten, denn er allein kann wissen, was ein Gott ihm zu sagen gegeben. Wir müssen zufrieden sein, daß in unseren Tagen ein Talent erstanden ist, welches kleine Züge so sorgsam zu beachten und festzuhalten versteht wie einst Jean Paul und welches zugleich eine Phantasie besitzt, wie Theodor Amadeus Hoffmann sie besessen.

»Berl. Börsencourir«


... Novellen, welche ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren zusammengeschrieben hat, nachdem er eingesehen, daß die ihm von seinen Eltern vorgeschriebene Tätigkeit in einem Bankgeschäft seinem literarischen Ehrgeize nicht genügte.

»Die Post«


Der Herr Verleger hat geglaubt, den Eindruck dieser Novellen, in denen entsetzlich viel geflucht und geschimpft wird, durch höchste Eleganz der Ausstattung einigermaßen abzuschwächen. Schade um das schöne Papier und den tadellosen Druck.

»Die Post«


»Papa Hamlet«. Sous ce titre a paru récement en Norvège une nouvelle qui fait assez grand bruit. Elle a été traduite en allemand, elle va l'être en anglais, peut-être le sera-t-elle en français.

»Le Temps«


Der Einband zeigt in der äußersten Ecke das Bild des Verfassers. Nicht [17] umsonst hat sich der hübsche, junge Mann mit solcher Bescheidenheit in den Winkel gestellter wird wohl darin stehen bleiben.

»Blätter für litterar. Unterh.«


Zulk een schrijver moet gelezen worden; jammer, dat hij aan eene oogziekte lijdende is, zoodat hij slechts met groote moeite zijn sociaalroman »Fremud« persklaar kan maken. Holmsen is wel een Noor van geboorte, maar zijn scherpe blik, zijn heldere geest, zijn onverbeterlijke humor maken hem internationaal.

»De Leeswijzer«

Wo der Übersetzer den »grandiosen Humor« findet, bleibt unergründlich.
»Allgem. Kunstchronik«

Franzius läßt uns die Bekanntschaft mit einem jungen norwegischen Humoristen machen, der in der Tat eine nicht gewöhnliche Begabung besitzt und dessen Humor Franzius grandios zu nennen ein Recht hat.

»Vossische Zeitung«


Der Übersetzer ist so naiv, in seiner Einleitung einzugestehen, daß die Schöpfungen des von ihm entdeckten schriftstellerischen Genies »in ihrer norwegischen Heimat noch lange nicht nach Gebühr gewürdigt« sind, was uns mit Hochachtung vor dem literarischen Geschmack der Norweger erfüllt und uns von neuem in der Meinung bestärkt, daß auch Ibsen zu den Propheten gehört, die in ihrem Vaterlande nichts gelten.

»Die Post«


Deze nieuwe Noordsche schrijver is onlangs (19. Dec.) eerst 28 jaar geworden, een leeftijd, waarop nog niet ieder auteur buiten de grenzen van zijn vaderland bekend is geworden. Toch is den jongen auteur reeds die eer te beurt gevallen!

»De Leeswijzer«


Der Übersetzer hat sich sichtlich große Mühe gegeben, das norwegische Original deutschen Lesern mundgerecht zu machen; aber er hat, nach unserer Meinung, seine Arbeit keinem würdigen Objekt zugewandt.

»Berner Bund«


Bogen fortjener de Lovord, den dog har faaet af enkelte. Jeg kjender saa overmaade lidt tysk Literatur, at jeg slet ikke kan tale med om den, men det skulde alligevel ikke andre mig, om dette var nyt i Tyskland! (Das Buch verdient die erhaltenen Lobreden. Ich kenne die deutsche Literatur nur sehr oberflächlich und kann also nicht recht mitreden, aber es sollte mich doch wundern, wenn dies in Deutschland nicht neu wäre!)

Harald Hansen im »Morgenbladet« (Kopenhagen)


[18] Erheben sich die übrigen Erzählungen nicht über den Durchschnitt, die erste ist vortrefflich und rechtfertigt die Arbeit des Übersetzers durchaus.

»Voss. Ztg.«


Von den drei Stücken des vorliegenden Buches istdas erste, »Papa Hamlet«, fast lediglich eine Studie des Häßlichen und Unvernünftigen; dagegen hat die kleine Skizze »Der erste Schultag« und noch mehr das düstere Augenblicksbild »Ein Tod« eine eigene poetische Bedeutung. Namentlich in dem letzteren redet die Wirklichkeit unmittelbar zu dem Leser.

»Hamburger Nachrichten«


Die in dem Buche noch enthaltenen Erzählungen »Der erste Schultag« und »Ein Tod« geben der erstgenannten an Unwahrheit nichts nach.

»Allgem. Kunstchronik«

Logische und psychologische Entwicklung ist bei diesem Holmsen ein überwundener Standpunkt.
»Frankfurter Ztg.«

Wie Papa Hamlets Stolz, der geschminkt und geliehen ist, wie sein Selbstbewußtsein, welches sich mit den goldenen Fetzen seiner Lieblingsrolle ausstaffiert, sich einer immer öderen Wirklichkeit anbequemt, wie in dem wirtschaftlichen Bankbruch allmählich nackter und nackter die ganz gewöhnliche, ganz gemeine Bestie hervortritt, das ist mit einer Meisterschaft skizziert, welches an keiner Stelle verlegen ist, den charakteristischen Zug und für diesen das charakteristische Wort zu finden.

»Berl. Börsencourir«

... Im übrigen hat der Verfasser nur für den Schmutz einen klaren Blick.
»Allg. Kunstchr.«

... und als sicherste Bürgen dichterischen Berufes einen freien Humor und in glücklichen Momenten jene Prägnanz und Keuschheit der Gestaltung und Darstellung, die mit wenigen Strichen oft ein ganzes, großes Gemälde andeutet ...

»Hamb. Nachr.«


Der Übersetzer gibt sich in seiner Einleitung Mühe, seinen Autor dem Leser nahe zu bringen; er sucht die allgemeine Teilnahme für den »originellen« Norweger zu erwecken.

»Allgem. Kunstchr.«


Het behoeft ons geenszins te verwonderen, dat Dr. Franzius zieh genoopt gevoelde dit werk te vertolken,want reeds bij de eerste regels vaet het op, dat Holmsen een origineel is.

»De Leeswijzer«


[19] Der junge Autor, der uns hier vorgestellt wird, ... stellt in der krassesten Weise die Auswüchse einer Schule dar, der man schon an sich nicht ohne starke Vorbehalte und Bedenken entgegentreten kann. Er gehört ... zu jenen ... Ibseniden und Björnsterneiden, die in der Überbietung der Manieren der Meister die beste Art der Nachahmung zu suchen scheinen.

»Frankfurter Zeitung«


Forfatternes »Oversätter« hävder i Forordet, at dette ikke er Efterligneres Värk, og det foles a aadan. (Die »Dichter-Übersetzer« erwähnen im Vorwort, daß ihr Buch kein Werk der Nachahmung sei, und das fühlt man auch durch.)

Harald Hansen im »Morgenbladet« (Kopenhagen)


Il a passé deux ans en France ... et ce séjour paraît avoir exercé une certaine influence sur sa vocation littéraire. Ses procédés relèvent d'ailleurs plutôt de l'école russe contemporaine.

»Le Temps«

... Anhänger des Naturalismus, Schüler Zolas!
»Allgem. Kunstchr.«

Dem Verfasser schwebt vielleicht dasselbe Kunstziel vor, welches Hogarth mit seinen grotesken Zeichnungen sich setzte. Aber es liegt in der Verschiedenheit der Kunstmittel – bei Hogarth das Nebeneinander der Figuren, bei Holmsen das Nacheinander der Worte –, daß der Schriftsteller die Deutlichkeit des Malers nur selten zu erreichen vermag.

»Berner Bund«


... Was den impressionistisch-pessimistischen Effekt anbetrifft, so darf man dem Autor zu seinem Können gratulieren.

G.M. Conrad in der »Gesellschaft«

... ungenügende Art der Darstellung!
»Berner Bund«

... erstaunliche Lebendigkeit der Darstellung!
»Voss. Ztg.«

... rücksichtslose, aber wahre Darstellung!
»Kieler Ztg.«

Ausdrucksvoll herausgebildete Darstellung!
»Hamb. Nachr.«

Das lesen wir nicht, wir sehen es vor Augen, während das Herz zusammenkrampft, die Faust sich ballt!

»Berl. Börsencourir«

Holmsen malt mit einem dicken Borstenpinsel.
»Züricher Post«

[20] ... Das sind die Geschehnisse, welche uns der Dichter erzählt. Die unvergleichliche Kleinmalerei, mit welcher er es erzählt, möge nun jeder selbst genießen.

»Leipziger Tagebl.«


Holmsen besitzt Begabung, aber noch eine weit größere müßte zugrunde gehen, wenn sie alle Kraft verschwendete, Schatten auf Schatten zu legen. Mit Schwarz allein läßt sich weder malen noch dichten. Nur der Wechsel von Licht, Halblicht und Dunkel gibt den Schein der Körperlichkeit, in Kunst und Leben.

Otto v. Leixner in der »Deutschen Romanztg.«

Ein äußerst wirksames und feines Kolorit ist dieser Darstellung eigen.
»Kieler Ztg.«

Unter solchen Händen muß auch der beste Stoff zuschanden werden; die Kunst wird geradezu entweiht und dies gar noch, ohne daß sich dafür ein ethischer oder sozialer Vorwand entdecken ließe!

»Frankf. Ztg.«


Die Dichter sind die einzigen Rächer der gemordeten Schwachheit. Auch Holmsen ist ein Rächer. Jede Mutter, die ihr Kind lieb hat, lese: »Der erste Schultag«.

»Züricher Post«

Eine pessimistische Grundansicht von allem Menschlichen zum Verrücktwerden!
G.M. Conrad in der »Gesellschaft«

Man ist verletzt durch die scheußlichen Bilder, die der Verfasser vor unsere Phantasie gebracht hat. Er behandelt die denkbar widerwärtigsten Themata mit Vorliebe.

»Berner Bund«


Was man vor hundert Jahren an Empfindsamkeit gesündigt hat, das wird hier zehnfach durch Brutalität wettgemacht; uns wird auch nicht das Äußerste von Schmutz erspart.

»Frankf. Ztg.«

Quellfrischer Humor!
»Magazin«

Scharfes Auge, milder, versöhnlicher Sinn!
»Voss. Ztg.«

Det »realistiske« i hele Bogen er saa uskyldigt, at an an ker til Lands näppe vilde have gjort Ophävelser over det. Realisme er nemlig, i alt Fald i Norge, bleve enstydig med Skildringer af kjonslige Udskejelser, og af det findes der intet i »Papa Hamlet«. Fraregnet den forste Studie er [21] Bogen ikke engang »häslig«. (Das speziell »Realistische« des ganzen Buches ist so unschuldiger Natur, daß man hierzulande kaum davon Aufhebens gemacht haben würde. Realismus ist nämlich, wenigstens in Norwegen, gleichbedeutend geworden mit der Schilderung gewisser Zweideutigkeiten, und davon findet sich nichts in »Papa Hamlet«. Abgesehen von der ersten Studie, ist das Buch nicht einmal »häßlich«!)

Harald Hansen im »Morgenbladet« (Kopenhagen)


Nichts als Schmutz, Elend, Verkommenheitkörperlich wie geistig. Ich hasse jenen schönfärbenden falschen Idealismus, welcher alles in erborgten Schimmer kleidet. Er ist eine Lüge und – der Tummelplatz der kunstfertigen Kunstspieler. Aber ebenso ist ein Todfeind echter Poesie jene sogenannte Wahrheit, welche alle Krankheiten, seien sie des Leibes oder der Seele, auf die Gestalten häuft und die Augen schließt, um nichts Lichtes sehn zu müssen. Auch das ist Lüge.

Otto v. Leixner in der »Deutschen Romanztg.«


Het is of Holmsen het leven à la Zola bestudeert heeft, maar niet diens pessimistischen bril heeft opgezetzelfs in het laatste stuck, – het boek heeft er drie – waarin hij den dood van een Student zoo aangrijpend sehetst, komt vaak de humor om den hoek gluren en gaat er en lach op, die u als een snijdend sarkasme op dit leven in de ooren klinkt.

»De Leeswijzer«


Alles erscheint verzerrt, wie in den teergefüllten Glaskugeln, die man früher in Gärten hatte, aber diese Vergröberung des Groben ist weder Porträt noch Kunstwerk, sondern einfach Versündigung an Kunst und Natur zugleich.

»Frankf. Ztg.«


»Bjarne P. Holmsen« ist also nicht nur derjenige Dichter, welcher dem Realismus neue Bahnen erschlossen, sondern er ist auch bis jetzt noch der einzige, der mit voller Sicherheit bis an die vorläufig erreichbare Grenze in Stoff und Form vorgehen kann. Als Künstler eine große Individualität, fordert er gänzliche Unterwerfung, ehe sich die Feinheiten seiner Kunst dem Genusse erschließen. Lernt der Dichter erst noch seinen Reichtum ganz beherrschen, wird er bald unter den deutschen Realisten eine einsame und noch lange verkannte Erscheinung sein. Dem wirklich eigenen Künstler bleibt das nicht erspart; Gottfried Keller ist es ja auch so ergangen.

»Magazin«


Wandelt der noch jugendliche Autor auf der aufsteigenden Bahn weiter, die durch die Reihenfolge der drei Studien des vorliegenden Buches [22] angedeutet ist, so mag er sich in nicht ferner Zeit einen ausgezeichneten Platz unter den Dichtern seines Volkes gewinnen.

»Hamburger Nachr.«


Für den Stil kann nur der Übersetzer verantwortlich gemacht werden, und letzterer scheint der Ansicht zu sein, man müsse das Abscheuliche auch abscheulich schreiben. Man wird nicht bald eine solche Fülle abgehackter Sätze und unschöner Worte in einem Werke beisammen finden. Eine wahre Distellese von Geschmacklosigkeiten.

»Allgem. Kunstchronik«


Men jeg kjender när sagt ikke det tyske Sprog igjen. Hvor er de lange Sätninger, hvor de lange Ord, hvor de släbende haben-werden-sein! Det er et helt nyt Sprog! (Ich erkenne kaum die deutsche Sprache wieder! Wo sind die langen Sätze geblieben, wo die langen Wörter, wo die schleppenden haben-werden-sein? Es ist eine gänzlich neue Sprache!)

Harald Hansen im »Morgenbladet« (Kopenhagen)

... eine sehr geschickte Übersetzung ...
»Hamburger Nachrichten«

... eine sehr gute Übersetzung ...
»Gesellsch.«

... eene goode Duitsche vertaling ...
»De Leeswijzer«

... die Übersetzung ... eine wundervoll vollendete!
»Berliner Börsencourier«

Der Übersetzer nennt Holmsen einen »Anatomen« von der Art der großen modernen Schriftsteller; das ist er aber in keiner Weise, denn sein Seziermesser ist kein Instrument, welches bloßlegt, erklärt, verdeutlicht, wie es der Realismus zu tun pflegt, sondern es schabt nur allerhand Fleischfetzen und Knöchelchen auf einen Haufen zusammen, aus denen der arme Leser dann die Glieder heraussuchen mag. Gewiß kann man dem Realismus als Prinzip von allerhand Standpunkten aus Vorwürfe machen, aber der schwerste Vorwurf wäre der der Verundeutlichung statt der Verdeutlichung – denn er will ja im Prinzip nichts als die Deutlichkeit der Dinge, sei es selbst die gemeine Deutlichkeit auf Kosten der Verklärung.

»Bl. f. litt. Unt.«


Die Technik der Darstellung ist in hohem Grade originell. Es sind fast lauter Farbenspritzer, jäh, grell, unvermittelt, die sich in der Phantasie des kunstgeübten Lesers sofort zum brennendsten Lebensgemälde zusammensetzen. [23] Nur Bilder, keine Gedanken. Dieseerschreckliche Virtuosität der Wirklichkeitsnachbildung in winzigen Ausschnitten, nur am Tragisch-Banalen geübt, macht den Leser auf die Dauer ganz nervös.

G.M. Conrad in der »Gesellsch.«


... Abgesehen, sagen wir, von dem Krassen solcher Motive, ist auch die stilistische Methode, durch welche Holmsen seine Effekte zu erreichen bemüht ist, eine höchst widerliche ... Man ist oft viele Sätze hindurch ganz im unklaren über den Ort der Handlung, über Personen und ihre Verhältnisse. Die Lektüre des Buches läßt daher einen sehr unbehaglichen Eindruck zurück!

»Berner Bund«


Aber für das Beste, für eine Errungenschaft, aus der sich noch ein Kardinalgrundsatz des epischen Verismus entwickeln kann, halte ich die Art der Darstellungsweise selbst! »Holmsen« beschreibt nämlich die Dinge von innen nach außen, d.h., er konzentriert sie so in die Lebensäußerungen, daß sie sich dem Leser durch dichterische Schlüsse von selbst erzählen ... Ich werde mich wohl hüten, eine solche Darstellungsweise im Prinzip neu zu nennen, denn sie wird bereits von vielen Realisten, hie und da angewandt, aber»Holmsen« ist der erste, der sie konsequent durchgeführt, und in diesem Sinne der Einheitlichkeit ist sein Stil, den die glücklichste Wirkung rechtfertigt, mit ganzem Recht relativ neu zu nennen. Es ist wohl möglich, daß durch die dichte Folge der die Situation fortrückenden Momente hie und da die Darstellung hüpft und dadurch Unklarheiten entstehen, aber dafür reizt dieser Stil, ja zwingt die Phantasie geradezu die entstehenden Lücken durch Mitdichten auszufüllen,wodurch der Leser in die angenehmste Spannung gerät!

»Magazin«


Holmsen valt om zoo te zeggen – met de deur in het huis, en hij laat zijne personen, alsof het reeds oude bekenden waren, zelfs zoo vlug, d.i. zonder nadere aanwijzing, met elkander spreken, dat het vaak moeilijk is, hem te volgen. En toch trekt die vreemde behandeling van zijne stof aan, vooral daar zij ook komisch is.

»De Leeswijzer«


Die Natürlichkeit wird hier zur Affektion und – unabweisliche Folge – überschlägt sich in Inhalt und Form derart, daß an die Stelle des auch nur mäßigsten Kunstgenusses eine mit Ekel gemischte Betäubung tritt!

»Frankf. Ztg.«


Es würde nichts nützen, den Gang der Erzählungen hier in Hauptumrissen wiederzugeben. Das würde auch leicht genug sein, denn nicht um [24] sonderbare Verknotungen und fremdartige, unerwartete Geschicke handelt es sich, sondern um alltägliches Menschenelend, aber mit Dichteraugen geschaut und im Dichterherzen nachgefühlt.

»Leipziger Tageblatt«


Grade wir ... grade wir haben im höchsten Grade die Pflicht, uns gegen unreife Knaben zu wenden, welche den Realismus diskreditieren, indem sie seinen Namen benutzen, um ihre ganz gewöhnliche Unfähigkeit zu bemänteln, die sich hinter Grotesksprüngen à la Hanswurst versteckt. Der Realismus ist eine ernste, heilige Sache, aber keine Löwenhaut, hinter der sich Esel verstecken dürfen ... – Wir müssen auch Herrn Holmsen von unseren Rockschößen abschütteln!

C. Alberti in der »Gesellsch.«


Es hat schon mehr als einmal eine Zeit des Realismus gegeben, und immer war sie eine Übergangszeit. Sie geht der Blüte der Literatur vorauf oder sie folgt ihr, und es kann uns nicht irre machen, daß dem Realismus eine wüste Schar von Unfähigkeiten lärmend sich aufdrängt. Dieser Haufe zerstiebt verdientermaßen wie Spreu, und wenn er sich für eine Schule hält, weil er sich schülerhaft gebärdet, so wird sein Lärmen doch mit dem Tage vergessen. Aus Sturm und Drang ist Großes hervorgegangen, nicht weil Sturm und Drang groß waren, sondern weil unter den Stürmern und Drängern sich Große befanden. Auch jetzt stehen wir mitten in solchem Sturm und Drang, aber zum ersten Mal sehen wir in dem Gewimmel, das bisher nur die Laufgräben der Literaturfestung mit schlechter Makulatur füllte, ein starkes Talent, und dieses Talent hat mit diesem Gewimmel nichts gemein. Bjarne P. Holmsen wird wohl von den Realisten als einer der Ihren reklamiert, doch er weiß von ihnen so wenig wie die Nachtigall von einer Gesangsschule.

»Berl. Börsencourir«


Eine merkwürdige Künstlerindividualität, wenn auch kein Realist in unserem Sinne, ist Holmsen unter allen Umständen.

G.M. Conrad, ebenfalls in der »Gesellschaft«

Allen, die sich die Menschheit und die Poesie verekeln wollen, sei dieses Buch bestens empfohlen!
Otto v. Leixner in der »Deutschen Romanztg.«

... es gehört zu jener schlechten Gattung von literarischen Neuigkeiten, welche durch einen originellen Titel Erwartungen zu erregen suchen, welche der Inhalt nicht befriedigt!

»Die Post«


[25] ... In der Tat ein seltsames Buch, welches sehr verschiedene Aufnahme finden wird ... Wann kommen Bücher wie »Papa Hamlet« dahin, wohin sie gehören: ins Volk?

»Züricher Post«

Und unsere eigene Meinung?
»Der eine betracht's,
Der andere beacht's,
Der dritte verlacht's –
Was macht's?«
Berlin, 24. Dezember 1889.
Arno Holz
Johannes Schlaf

[26] Einleitung des Übersetzers

Bei dem in jüngster Zeit namentlich auch durch die Erfolge Ibsens noch so gesteigerten Interesse, das man seit ungefähr einem Jahrzehnt der jungen, kräftig aufstrebenden norwegischen Literatur in fast allen Kulturländern entgegenbringt, habe ich es für eine nicht undankbare Aufgabe gehalten, meinen deutschen Landsleuten endlich auch einen Autor zugänglich zu machen, dessen Schöpfungen, obwohl zur Zeit auch in ihrer norwegischen Heimat noch lange nicht nach Gebühr gewürdigt, doch sicher danach angetan sind, in naher Zukunft die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken.

Dieser Autor ist Bjarne Peter Holmsen.

Am 19. Dezember 1860 als der dritte Sohn eines streng orthodoxen Landpfarrers in Hedemarken geboren, verlebte er seine Kindheit in der alten Handelsstadt Bergen. Ein Onkel von ihm, ein Bruder seiner Mutter, der dort als Rechtsanwalt tätig war, hatte ihn, um seinen Eltern, deren Nachwuchs sich unterdes noch vergrößert hatte, eine Last abzunehmen, zu sich genommen.

Aber die Fortschritte des kleinen Bjarne auf der Lateinschule waren sehr mittelmäßige. Der Onkel erlebte nur wenig Freude an ihm. Es schien keine Aussicht vorhanden, daß er jemals sein Nachfolger werden würde. Er ist es auch in der Tat nicht geworden. Ob nun nur seiner geringen Begabung für die Humaniora zu Folge, mag freilich dahingestellt bleiben. Tatsache jedenfalls ist es, daß der zukünftige Autor des Papa Hamlet, an dessen grandiosem Humor sich die Leser dieses Buches sicher erquicken werden, in Christiania bereits durch sein erstes [27] Examen hoffnungslos durchfiel. Ein Band Gedichte, der für die damalige Stimmung des jungen Poeten bezeichnend genug Eintagsfliegen betitelt war, mochte wohl die meiste Schuld daran getragen haben. Als psychologisch bedeutsam darf uns jedenfalls auch der Umstand gelten, daß der junge Lyriker die weitaus größte Mehrzahl dieser »Eintagsfliegen«, denen allzugroße Originalität allerdings nicht nachgerühmt werden kann, in den Seziersälen der Anatomie verfaßt hatte. Seine spätere Vorliebe für die nackte Realität der Dinge war also damals noch eine ziemlich geteilte. Erst die Erfahrung, daß seine »Eintagsfliegen« das in Wirklichkeit gewesen waren, wofür er sie prophetischen Gemüts ausgegeben hatte, nämlich Eintagsfliegen, deren kläglicher Existenz die Lumpenstampe bald ein jähes Ende bereitet hatte, mochte den Ausschlag gegeben haben.

Mit seinem Studium schien es nichts Rechtes werden zu wollen. Ein erneuter Versuch des Onkels, ihn der Wissenschaft dadurch zu retten, daß er ihn dazu beredete, sich wenigstens auf ein Semester in die theologische Fakultät einschreiben zu lassen, scheiterte. Damit hatte Bjarne Peter Holmsens akademische Laufbahn ihren Abschluß erreicht. Er war verloren für immer ...

Nur schwer wollte jetzt sein Vater, dessen Hoffnungen sich arg enttäuscht sahen, seine Einwilligung dazu geben, daß sein Sohn Kaufmann wurde. Erst als der Onkel, der, selber kinderlos, trotz der vielen Sorgen, die ihm sein Neffe bereitete, doch eine innige Neigung zu ihm gefaßt hatte, sich bereit erklärte, ihn zu diesem Zwecke ins Ausland zu schicken, konnte er sich dazu verstehen, seine Bedenken zu überwinden.

Das große Leben draußen, die neuen Eindrücke, die [28] täglich geregelte Arbeit und wohl auch nicht in letzter Linie das mehrjährige Fernsein von der Heimat: auf alles das baute man. Und in der Tat, man hatte sich diesmal nicht verrechnet. Als der junge Bjarne nach dreijähriger angestrengter Tätigkeit in einem Londoner Bankhause, der sich dann noch ein weiterer zweijähriger Aufenthalt in Brest angeschlossen hatte, wieder nach Bergen zurückgekehrt war, durften die Seinen mit ihm zufrieden sein.

Diese Zufriedenheit bekam erst wieder einen Stoß, als man schließlich dahinter kam, daß der junge Bankier nebenbei auch noch wieder schriftstellerte. Wie die meisten seiner Landsleute, die ihre Entwicklung dem Auslande verdanken, hatte auch er eben Ideen und Anschauungen von dort mitgebracht, die zu den kleinen Verhältnissen seiner Heimat nicht mehr recht passen wollten. Was natürlicher, als daß jetzt der alte Poet in ihm wieder lebendig geworden war; zumal auch die großen, neuen Literaturtaten seines Volkes, für deren Bedeutsamkeit ihm erst jetzt das rechte Verständnis aufgegangen war, nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben sein konnten.

Freilich läßt sich konstatieren, daß dieser Einfluß kein unbeschränkter war.

Bereits aus den vorliegenden Stücken, zu deren Sammlung mich namentlich auch grade ihre unbestreitbare Originalität ermutigte, wird sich der Leser darüber orientieren können, wie schnell es unsrem Dichter gelang, sich zu einer eignen Individualität emporzuringen. Die vor keiner Konsequenz zurückschreckende Energie seiner Darstellungsweise, für die man sich selbst in seiner heimischen norwegischen Literatur vergeblich nach Vorbildern umsieht, scheint mir sogar Keime in sich zu enthalten, die bei vollerer Entfaltung weit über die Grenzen des Hergebrachten[29] hinauswachsen werden. Man ahnt, wie sie das lebendige Produkt einer Zeit ist, von der das Wort geht, daß ihre Anatomen Dichter und ihre Dichter Anatomen sind. –

Die Übersetzung war, wie sich aus dem Vorstehenden wohl bereits von selbst ergibt eine ausnehmend schwierige. Die speziell norwegischen Wendungen, von denen das Original begreiflicherweise nur so wimmelt, mußten in der deutschen Wiedergabe sorgfältig vermieden werden. Doch glaube ich, daß dies mir in den meisten Fällen gelungen ist. Ich habe keine Arbeit gescheut, sie durch heimische zu ersetzen, wo ich nur konnte.

Über meinen Autor hier eine Kritik zu fällen, steht mir nicht zu. Doch bekenne ich gerne, daß das Studium, das ich auf ihn verwandte, ihn mir um so lieber machte, je eingehender ich mich mit ihm beschäftigte. Es würde mir eine Genugtuung sein, wenn es den Lesern dieses Buches ebenso erginge.

Daß das Grundkolorit fast aller seiner Schöpfungen, die der jugendliche Dichter freilich samt und sonders, bezeichnend genug, nicht etwa bereits als abgerundete Kunstwerke, sondern nur als »Studien« zu solchen aufgefaßt wissen will 1, ein düstres ist, wird niemand wundernehmen. Es ist eben die Mitternachtssonne seiner nordischen Heimat, die ihren trüben Schein auch über sie ausgießt. Zum Teil freilich mögen es auch Umstände rein persönlicher Natur sein, die hier mitwirken. Ein hartnäckiges Augenübel zwang den kaum Fünfundzwanzigjährigen, seiner praktischen Tätigkeit zu entsagen. Und es ist nur anzunehmen, daß sich jetzt auch der Schriftsteller durch dieses Leiden beeinträchtigt fühlt.

[30] Sein großartig angelegter Sozialroman Fremud, dessen Buchausgabe er soeben vorbereitet, wird erkennen lassen, ob dieses Leiden drohend genug ist, um ernstere Befürchtungen für diese Kraft aufkommen zu lassen.

Jedenfalls darf uns auch dieses schon ein Beweggrund mehr sein, für den Dichter einzutreten. Es soll ihm nicht gehen wie seinem großen Landsmanne Björnson, dessen beste Novelle im Original bereits in mehr als 70 000 Exemplaren verbreitet war, ehe sie volle 20 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen endlich ins Deutsche übertragen wurde.

Dr. Bruno Franzius

Fußnote

Note:

1 Vgl. die Einl. zu Ein Städtchen am Fjord. Christiania 1887.

[33] Papa Hamlet
I

Was? Das war Niels Thienwiebel? Niels Thienwiebel, der große, unübertroffene Hamlet aus Trondhjem? Ich esse Luft und werde mit Versprechungen gestopft? Man kann Kapaunen nicht besser mästen? ...

»He! Horatio!«

»Gleich! Gleich, Nielchen! Wo brennt's denn? Soll ich auch die Skatkarten mitbringen?«

»N ... nein! Das heißt ...«

– – »Donnerwetter noch mal! Das, das ist ja eine, eine – Badewanne!«

Der arme kleine Ole Nissen wäre in einem Haar über sie gestolpert. Er hatte eben die Küche passiert und suchte jetzt auf allen vieren nach seinem blauen Pincenez herum, das ihm wieder in der Eile von der Nase gefallen war.

»Hä? Was? Was sagste nu?!«

»Was denn, Nielchen? Was denn?«

»Schafskopp!«

»Aber Thiiienwiebel!«

»Amalie?! Ich ...«

»Ai! Kieke da! Also döss!«

»Hä?! Was?! Famoser Schlingel! Mein Schlingel! Mein Schlingel. Amalie! Hä! Was?«

Amalie lächelte. Etwas abgespannt.

»Ein Prachtkerl!«

»Ein Teufelsbraten! Mein Teufelsbraten! Mein Teufelsbraten! Hä! Was, Amalie? Mein Teufelsbraten!«

Amalie nickte. Etwas müde.

[33] »Ja doch, Herr Thienwiebel! Ja doch!«

Aber Frau Wachtel mühte sich vergeblich ab. Herr Thienwiebel, der große, unübertroffene Hamlet aus Trondhjem, wollte seinen Teufelsbraten nicht wieder loslassen.

»Hä, oller Junge? Hä?«

»In der Tat, Nielchen! In der Tat, ein ... ein ... Prachtinstitut! Ein Prachtinstitut!«

»Hoo, hoo, hoo, hopp!! Hoo, hoo, hoo, hopp!! Bumm!!!«

Der große Thienwiebel schwelgte vor Wonne. Er hatte sich jetzt sogar auf ein Bein gestellt. Hinten aus seinem karierten Schlafrock klunkerten die Wattenstückchen.

»Aber Thiiienwiebel!« –

II

»Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage:
Ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden, oder ...

oder? ... Scheußlich!«

Der große Thienwiebel hielt wieder inne.

»Nicht zum Aushalten das! Nicht zum Aushalten!!«

Die fünf kleinen, gelben Lappen hinter dem Ofen, die dort an einer Waschleine zum Trocknen aufgehängt waren, hatten ihn wieder total aus dem Konzept gebracht.

»Ekelhaft!«

Er hatte sich jetzt, die Hände in seinen Schlafrocktaschen vergraben, erbittert vor das Fenster aufgepflanzt.

Der Himmel drüben über den Dächern war tiefblau; in den nassen Dachrinnen, von denen noch gerade der letzte [34] Schnee tropfte, zankten sich bereits die Spatzen; es war ein prachtvolles Wetter zum Ausgehn.

»Armer Yorick!«

Noch um eine Nuance verdüsterter hatte sich jetzt der große Thienwiebel wieder rücklings über das kleine, niedrige, mit blauem Kattun überspannte Sofa geworfen und starrte nun über die Spitzen seiner grünen, ausgetretenen Pantoffeln weg melancholisch zu Amalien hinüber.

Ihre dünnen, lehmfarbenen Haare waren noch nicht gemacht, ihre Nachtjacke schien heute noch schmutziger als sonst und stand vorn natürlich wieder offen; der kleine, kirschrote Spießbürger, den sie, auf ihr Fußbänkchen gekauert, nachlässig aus einem Gummischlauch säugte, sah auf einmal häßlich aus wie ein kleiner Frosch.

»Armer Yorick!«

Herr Thienwiebel hatte sich wieder seufzend erhoben und setzte jetzt seine Wanderung von vorhin wieder fort.


... oder? oder ...
Sich waffnend gegen eine See von Plagen
Durch Widerstand sie enden. – Sterben – schlafen –
Nichts weiter! –«

Vor dem Fenster konnte er sich jetzt wieder nicht versagen, eine kleine Pause zu machen.

Die Sonne draußen ging gerade unter. Die Dächer sahen fuchsrot aus. Aber ein Blick auf seinen alten, abgenutzten Schlafrock unten ließ ihn sich wieder zusammennehmen und seinen Monolog von neuem beginnen.


»Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage:
Ob's edler im Gemüt ...

[35] Ae, Quatsch!!«

Mit einem Ruck war jetzt der Shakespeare, den er sich eben aus seiner Schlafrocktasche gerissen, auf den Tisch geflogen, wo er die Gesellschaft einer Spirituskochmaschine, eines braunirdenen Milchtopfs ohne Henkel, eines alten, berußten Handtuchs, einer Glaslampe und einer Photographie des großen Thienwiebel in Morarahmen vorfand.

»He! Horatio! Horatio!! ... Nicht zu Hause! Nicht zu Hause ...«

Total vernichtet hatte er sich jetzt wieder auf das Sofa zurückgeschleudert und vertiefte sich nun in den tragischen Anblick eines schmutzigen Kinderhemdchens, das neben einer geplatzten Schachtel schwedischer Zündhölzchen vor ihm unten auf dem Fußboden lag.

»Verwünscht! Wenn man wenigstens mal ausgehn könnte, Amalie! Aber ich fürchte ... ich fürchte ... die Welt ist nicht vorurteilsfrei genug, um einen Niels Thienwiebel in Schlafrock und Zylinder unbehelligt seines Weges dahingehn zu lassen!«

Aber Amalie antwortete nicht einmal. Der kleine Krebsrote nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Sein Lutschen zog jetzt den ganzen Schlauch zusammen.

»Ja! Es ist so! Es ist so, Amalie! Aber sie schreiben mir noch immer nicht! Sie haben da Leute, Leute – Leute? Pah! Stümp'rr! O Schmach, die Unwert schweigendem Verdienst erweist!«

Jetzt hatte Amalie, die dies Thema bereits kannte, etwas aufgesehn.

»Ja ... es wäre am Ende doch gut, wenn du einmal ...«

Ihre Stimme klang heiser, belegt.

[36] »Ja, so wird es kommen! Vielleicht ... bei meiner Schwachheit und Melancholie ...«

Der kleine Krebsrote schmatzte! Seine Flasche war jetzt so gut wie leer.

»Ich werde selbst hingehn müssen und fürliebnehmen mit dem, was man mir anzubieten wagt! Das Leben ist brutal, Amalie! Verflucht! Wenn man wenigstens einen Rock zum Ausgehen hätte!«

Sein Tenor war jetzt übergeschnappt, er hatte sich wieder lang über das Sofa zurückgeeselt.

Große Pause ...

Die Dächer draußen hatten sich allmählich braun gefärbt.

Die Sonne an dem großen, runden Schornstein drüben war verblichen.

Frau Thienwiebel fing jetzt hinten in ihrer Ecke zu husten an.

»Herr Gott, Niels! Ich muß ja inhalieren! Da, nimm doch mal das Kind!«

»Natürlich! Auch noch Kinderfrau! Oh, ich reiße Possen wie kein anderer! Was kann ein Mensch auch andres tun als lustig sein? Still, Krabbe!!«

Der kleine Krebsrote schwieg wieder. Er war noch nie so verblüfft gewesen.

»Da! Nimm's! Kau's! Friß! Verschluck's!«

Der große Thienwiebel hatte es jetzt sogar über sich gewonnen, seinem ungeratnen Sprößling auch den Schnuller in den Mund zu stopfen. Mehr war unmöglich zu verlangen!

Amalie hatte unterdessen die Ofenröhre aufgemacht und entnahm ihr jetzt einen kleinen, grünglasierten Kochtopf. Ein nach Salbei duftender Brodem entstieg ihm. Nachdem sie dann noch das kleine Geschirr neben den Ofen [37] auf einen Stuhl und sich selbst auf die Fußbank davor gesetzt hatte, machte sie jetzt ihren Mund auf und atmete das heiße Zeug langsam ein.

Der große Thienwiebel, der sich unterdeß mit seinem impertinenten kleinen Krebsroten auf die Tischkante plaziert hatte, sah ihr nachdenklich zu.

»Hm! Weißt du, Amalie?«

»Hm??«

»Weißt du? Wir haben eigentlich eine ganz falsche Methode, das Kind zu nähren, Amalie!«

»Ach was!«

»Ich sage, eine Methode! Eine verkehrte Methode, Amalie!« »Aber ...«

»Verlaß dich drauf! Eine unnatürliche, Amalie!«

»Ja, du lieber Gott ...«

»Eine unnatürliche ... Wir sollten das Kind nicht mit der Flasche tränken!«

»Nich? Na, womit denn sonst?«

»Du selbst solltest es eben tränken!«

»Ich?«

»Gewiß, Amalie!«

»Ach, lieber Gott! Ich! Selbst!«

»Nun! Warum nicht?«

»Ich?? Bei meiner schwachen, kranken Brust jetzt?«

»Ach was! Das bildest du dir ja nur ein, Amalie! Ich sage dir, du bist völlig gesund. Du bist völlig gesund, sage ich! ... Übrigens: ein Kind kann ein für allemal nur dann gedeihen, wenn es die Mutter selbst säugt.«

Herr Thienwiebel war jetzt ganz eifrig geworden. Seine Langeweile von vorhin schien er völlig vergessen zu haben. Er schien es sogar nicht bemerkt zu haben, daß [38] dem kleinen zappelnden Wurm auf seinen Knien der Schnuller wieder heruntergekullert war.

»Verlaß dich drauf, Amalie! Ich sage, die natürlichste Methode ist immer die beste! Denk' doch mal: was sollten denn sonst die Negerweiber anfangen! Sie haben keine Flaschen! Sie nähren eben ihre Kinder selbst, siehst du ... und, und – nun ja! Und sie gedeihen dabei! Gedeihen! Na?«

»Ja, Niels, aber ich bin doch kein Negerweib!«

Der große Thienwiebel lächelte überlegen.

»Ja nun, du mußt ... hehe! Du mußt mich eben verstehn, Amalie! He!«

Amalie hatte sich wieder tief über ihren Salbeitopf gebückt.

»Ich wollte dir damit eben nur durch ein ... ein ... nun! sagen wir durch ein Beispiel, andeuten, daß das Natürlichste immer das Vernünftigste ist. Ich sehe eben durchaus nicht ein, warum die Negerweiber etwas vor uns voraushaben sollten!« »Aber sie sind gesund!«

»Ach was! Das bildest du dir ja nur ein, Amalie, daß du krank bist!«

»Ich?«

»Allerdings, Amalie! Ich behaupte ...«

Amalie war jetzt ein wenig ungeduldig geworden.

»Ach was! Laß lieber das Kind nicht so schrein!«

»Auch das ist wieder nur so ein Vorurteil von dir, Amalie! Was schadet das! Ich habe gelesen, es ist nichts gesünder! Die Lungen weiten sich dabei! Aber – e ... wie gesagt! Du solltest das Kind selbst tränken! Die heutige Kultur freilich, die Kultur der europäischen Welt ...«

Die Kultur überging Amalie. Sie hielt sich nur an die [39] Ermahnungen, die sie nun schon so oft zu hören bekommen hatte.

»So! So! Jawoll doch! Gewiß! Bei unserm Leben! Den ganzen Tag lebt man von Kaffee und Butterbrot! Ich möchte wissen, wie das arme Wurm dabei gedeihen sollte!«

»Ha! Zu leben im Schweiß und Brodem eines eklen Betts, gebrüht in Fäulnis, buhlend und sich paarend über dem garst'gen Nest! Nicht wahr? Du willst damit sagen, daß ich an unsrer Lage schuld bin, Amalie!«

»Na! Etwa ich?«

»Weib!!?«

»Moi'n!«

Die Tür, an der es schon eine ganze Weile vergeblich geklopft hatte, wurde in diesem Augenblick weit aufgestoßen, und herein, in seinem ewigen Havelock, der vor Zeiten wahrscheinlich einmal hechtgrau gewesen war, den ungeheuren schwarzen Schlapphut tief in das kleine fidele, blasse Gesichtchen gedrückt, tänzelte jetzt der kleine Ole Nissen.

»Moi'n! Also laßt euch nicht stören, Kinder! Bitte, bitte! Keine Umstände, Nielchen! Keine Umstände! Weiß schon! Probiert 'ne neue Szene ein! Also, wie gesagt ... Donnerwetter! Ist das Biest hart!«

Er hatte sich eben mitten auf das kleine Kattun'ne plumpsen lassen und dabei wieder in einem Haar seine Ägypter verloren, die er schief zwischen die Zähne geklemmt hielt.

»Also, wie gesagt! Laufe da eben ganz trübselig den Hafendamm runter. Hä? Und wer begegnet mir da? Der Kanalinspektor! Na, wer denn sonst? Der Kanalinspektor natürlich! Nobel verheiratet, Villa in Bratsberg, no! [40] etc. pp. Könnt euch ja denken! Schleift mich also natürlich sofort zu Hiddersen und läßt vorfahren ... Na, oller Junge? Wie geht's? ... Faul! sag ich also natürlich. Faul! ... Hm! Weißte was? Könntest eigentlich meine Alte porträtieren! ... Hm! Mit Jenuß, Kind! Mit Jenuß! Aber – e ... Farben, siehst du – he, Leinwand, Rahmen also ... Hä! Was? Nobles Putthuhn!!«

Ole Nissen ließ jetzt die schönen noblen Kronen in seinen Taschen nur so klimpern.

»Frau Wach-tel! Frau Wachtell!! Frau Wachtelll!!!«

Das Haus Thienwiebel schwamm wieder in Wonne. Sein Krach war wieder auf eine Weile verschoben.

»Hä! Und dies? Ist das Butter? Und dies? Hä? Ist das Schinken? Hä? Und dies? Hä? Platz für das Silberzeug! Silentium!!«

Der kleine Ole war heute wieder ganz aus dem Häuschen ...

Nachdem das »Silberzeug« dann endlich abgeräumt und die Punschbowle zu zwei Dritteln bereits geleert war, mußte Frau Wachtel sogar noch die Skatkarten »ranschleifen«. Es war einfach herrlich! Der große Thienwiebel hatte seinen türkischen Fez auf, Ole Nissen bot seine Ägypter sogar galant der alten Madame Wachtel an, die sich aber empört vor ihnen wieder in ihre Küche zurückflüchtete, Amalie rauchte tapfer mit. Ihre alten Opheliajahre waren wieder lebendig in ihr geworden. »Ach, Thienwiebel! Niels!! Geliebter!!!«

Der große Thienwiebel stand da und weinte.

»Bin ich 'ne Memm'? – Ha! Rauft mir den Bart und werft ihn mir ins Antlitz! Nein, reizende Ophelia! Nein! Weine nicht! Mein Schicksal ruft und macht die kleinste Ader meines Leibes so fest als Sehnen des Nemeerlöwen! ... [41] Was, alter Jephta? ... Nein, glaube nicht, daß ich dir schmeichle! Was für Befördrung hoff' ich wohl von dir, der keine Rent' als seinen muntren Geist, um sich zu nähren und zu kleiden hat!«

Seine Stimme brach ab, die Hand, die er ihm auf die Schulter gelegt hatte, zitterte. –

Zuletzt, als die alte Glaslampe nur noch wie eine kleine Ölfunzel brannte und die prachtvollen Ägypter um ihre grüne Glocke einen schönen silbergrauen, fingerdicken Nebelring gelegt hatten, wurde auch der kleine Ole Nissen gerührt.

Er hatte sich nach und nach zu der reizenden Ophelia auf das kleine, blaue Kattunüberzogene gedrängt und titulierte sie nur noch »Miezchen«. Jetzt hatte er endlich auch ihre Hände zu fassen bekommen und bedeckte sie nun mit seinen Küssen.

Der große Thienwiebel erhob keine Einsprache. Er hatte segnend seine Hände über sie gebreitet und konnte sein Herz nur noch stammelnd ausschütten.

»Der Kreis hier weiß, ihr hörtet's auch gewiß, wie ich mit schwerem Trübsinn bin geplagt!«

Der kleine Krebsrote hinten in seiner Ecke hatte unterdessen seine Not mit sich gehabt. Schon verschiedene liebe Male hatte er sich in den Schlaf geweint. Jetzt aber war er wieder aufgewacht und konnte absolut nicht mehr seinen Gummipfropfen finden. Die reizende Ophelia hörte ihn nicht. Sie war längst in ihrer Sofaecke eingeschlafen. Er schrie jetzt, als ob er am Spieße stak.

Der große Thienwiebel hatte natürlich erst recht keine Zeit für den Schurken. Er hatte den kleinen Ole Nissen, der jetzt kaum noch seine kleinen, wasserblauen Augen [42] aufhalten konnte, vorn an seinem Rockkragen zu packen bekommen und deklamierte nur wieder:

»Er ist eine Elster, Horatio! Eine Elster! Aber, wie ich dir sagte, mit weitläufigen Besitzungen von – Kot gesegnet!«

III

Es war nicht anders! Aber er hegte Taubenmut, der große Thienwiebel, ihm fehlte es an Galle ...

Er hatte seit kurzem – er wußte nicht wodurch? – all seine Munterkeit eingebüßt, seine gewohnten Übungen aufgegeben, und es stand in der Tat so übel um seine Gemütslage, daß die Erde, dieser treffliche Bau, ihm nur ein kahles Vorgebirge schien. Dieser herrliche Baldachin, die Luft, dieses majestätische Dach mit goldnem Feuer ausgelegt: kam es ihm doch nicht anders vor als ein fauler, verpesteter Haufe von Dünsten. Welch ein Meisterwerk war der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig im Handeln, wie ähnlich einem Engel; im Begreifen, wie ähnlich einem Gotte; die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch: was war ihm diese Quintessenz vom Staube? Er hatte keine Lust am Manne – und am Weibe auch nicht. Die Zeit war aus den Fugen! War es zu glauben? Aber – e – man hatte ihm noch immer nicht geschrieben. Man war undankbar in Christiania. Armer Yorick!

Sterben, schlafen ... vielleicht auch träumen? ...

Einstweilen jedoch hatte es allen Anschein, als ob gewisse Rücksichten das Elend des armen Yorick noch zu hohen Jahren kommen lassen wollten. Jedenfalls wenigstens [43] durften jetzt die naseweisen Aktschüler unten in der Akademie den großen, unübertrefflichen Hamlet aus Trondhjem schon seit vollen vierzehn Tagen in den schönen, langen Vormittagstunden als sterbenden Krieger kopieren. Das war freilich eine Entwürdigung, aber sie brachte Geld ein. Nur genügte es leider noch nicht.

Wenn der »arme Yorick« jetzt mittags nach Hause kam und sich mit einem Appetit, als hätte er eben vierundzwanzig Stunden lang ohne aufzusehn Eichenkloben zerkleinert, über die große Schüssel herstürzte, die ihm die reizende Ophelia schon vorsorglich verdeckt, der Photographie des großen Thienwiebel grade gegenüber, auf den Tisch gestellt hatte, fand sich meist nur eine etwas grün angelaufene, dünne Kartoffelsuppe drin vor, in der höchstens hie und da noch ein paar kleine, kohlschwarze Speckstückchen schwammen. Armer Yorick! ...

Amalie schien schon seit undenklichen Zeiten ihre Nachtjacke nicht mehr in die Waschwanne gesteckt zu haben. Wozu auch große Toilette machen? Man war ja zu Hause.

»Nicht wahr, Thienwiebel?«

Der große Thienwiebel hielt es für unter seiner Würde zu antworten. Er hatte sich eben wieder in seinen alten, bequemen Schlafrock geworfen, aus dem die Watte freilich, ihrer nur noch geringen Quantität halber, nicht mehr recht klunkern konnte.

Seinen William aufgeklappt, hatte er sich jetzt wieder tiefsinnig rücklings über das kleine Blaukattunene geworfen.


»Oh, schmölze doch dies allzu feste Fleisch,
Zerging' und löst' in einen Tau sich auf!
Oder hätte nicht der Ew'ge sein Gebot
[44]
Gerichtet gegen Selbstmord! O Gott! o Gott!
Wie ekel, schal und flach und unersprießlich
Scheint mir das ganze Treiben dieser Welt!
Pfui! Pfui darüber!«

Amalie, die sich wieder auf ihre kleine, mollige Fußbank neben den Ofen gesetzt und eben ihre Schmalzstulle in den Kaffee gestippt hatte, sah jetzt etwas verwundert in die Höhe. Als aber der »arme Yorick« dann nicht mehr weiterlas und, seinen William zugeklappt, sich jetzt sogar, ganz wider seine sonstige Gewohnheit, mit dem Kopfe gegen die Wand gedreht hatte, wurde ihr denn doch ein wenig unbehaglich zumut.

Eine Weile noch überlegte sie; dann aber, endlich, hatte sie sich entschieden. Ihre Stimme klang noch kläglicher als sonst.

»Ich will nähen gehn, Niels.«

»Nein, Amalie! Niemals! Niemals! Das werde ich nie dulden! Das wäre eine unverzeihliche Vernachlässigung deiner heiligsten Mutterpflichten!«

Er war wieder empört aufgesprungen.

»Nein, Amalie! Nie! Niemals! ... So lang Gedächtnis haust in dem ... zerstörten Ball hier!«

Er hatte sich melodramatisch vor die Stirn gestoßen.

Amalie fühlte sich wieder beruhigt und biß jetzt herzhaft in ihre Schmalzstulle ...

»Herein?«

Es war Frau Wachtel. Sie brachte wieder die Milch für den Kleinen.

Der große Thienwiebel hatte es sich nicht versagen können, ihn auf den Namen Fortinbras taufen zu lassen.

»Na, Dickerchen? Langweilste dich? Oh, mein Mäuseken! Oh!«

[45] Sie fand nämlich, daß Amalie ihren heiligsten Mutterpflichten etwas nachlässig oblag, und gestattete sich öfters eine kleine Kontrolle.

Frau Rosine Wachtel war nämlich im Besitze eines guten Herzens. Und das mußte wahr sein, denn sie sagte es selbst und vergoß jedesmal Tränen dabei. In dessen war ihr dieser Besitz noch nicht allzu gefährlich geworden. Denn es war ihr noch niemand durchgebrannt, und sie war noch immer zu ihrem Geld gekommen; und das war oft ein Stück Arbeit gewesen. Frau Rosine Wachtel konnte das jeden versichern ... »Ach, du Würmeken! Ach, mein Putteken! Hab'n se dir so in'n Korb jestochen!«

Die gute Frau Wachtel war ganz gerührt. Aber plötzlich, aus irgendeinem Grunde, wahrscheinlich, weil draußen auf dem Flur eben jemand die Treppe heraufzukommen schien, hielt sie es jetzt doch für besser, sich schnell noch mal nach ihrer Küche umzusehn ...

Der große Thienwiebel, der etwas ungeduldig gewartet hatte, bis ihr runder, trivialer Rücken endlich hinter der Tür verschwunden war, weil er wieder etwas wie einen Monolog in sich verspürte, war jetzt tragisch auf das kleine, runde Spiegelchen über der Kommode zugetreten, aus dem ihm nun sein schöner, edelgeformter Apollokopf melancholisch zunickte.

»Armer Freund! Wie ist dein Gesicht betroddelt, seit ich dich zuletzt sah!«

Amalie bekümmerte sich nicht mehr um ihn. Sie kannte ihren großen Gatten.

»Armer Freund!«

War das sein Haar? Sein schönes, berühmtes, blauschwarzes Haar? Eine grausame Natur der Dinge hatte [46] ihm nun schon seit Wochen verwehrt, es sich brennen zu lassen. In die Stirn, in diese erhabene Wölbung majestätischer Gedanken, fiel es ihm nun in Strähnen, dick und feist, wie sie selber, diese schale, engbrüstige Zeit.

»Armer Freund!«

Nachdem er sich so zu der erhabenen Mission, die ihm vorschwebte, genügend präpariert zu haben glaubte, drehte er sich jetzt gemessen nach dem kleinen, gelben Korb um, der dicht neben dem Bett quer über zwei Stühle gestellt war.

»Armes kleines Menschenkind! Welch böser Stern verdammte dich in dieses Elend!«

Das arme kleine Menschenkind zappelte ihn an und lachte.

»Aber still! Still! Ich will alles einsetzen! Ich will meine ganze Kraft einsetzen! Ich werde arbeiten, Freund! Ich werde arbeiten! Ich werde dem Schicksal die Stirn bieten; ich werde ihm abtrotzen, daß du in dieser herben Welt dereinst jene Stellung einnimmst, die deinen Talenten gebührt ... Ja! So macht Gewissen Feige aus uns allen. Der angebornen Farbe der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt; und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck, durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt, verlieren so der Handlung Namen!«

Seine Stimme bebte, seine Schlafrocktroddeln hinter ihm, die er sich zuzubinden vergessen hatte, zitterten.

Amalie hatte jetzt ihr Schmalzbrot wieder beiseite gelegt.

»Niels, ich will doch lieber nähen gehn!«

»Nie! Nie! Sprich nicht davon, Amalia! Bei meinem Zorn! Sprich nicht davon!«

Amalie war wieder beruhigter denn je.

[47] Ihr schönes Schmalzbrot war, Gottseidank, noch nicht ganz alle. Der große Thienwiebel, der einigermaßen aus seinem Konzept gekommen war, hatte jetzt einige Mühe, wieder hineinzukommen. Den Shakespeare, den er wieder von der Erde aufgelesen hatte, hinten in seinen Wattenklunkern, die Finger krampfhaft um seinen roten Saffianrücken, nickte er jetzt wieder schmerzlich auf das kleine, verwunderte Bündelchen hinab. Es hatte die ganze Zeit über kaum zu mucksen gewagt.

»Ich weiß ... ich werde sterben, Freund! Ich werde sterben! – Das starke Gift bewältigt meinen Geist. Ich kann von England nicht die Zeitung hören; doch prophezei' ich, die Erwählung fällt auf Fortinbras ... Du lebst; erkläre mich und meine Sache den Unbefriedigten!«

Der kleine Fortinbras war jetzt ganz ernsthaft geworden. Er hatte seinen großen Papa noch nie so menschlich mit ihm reden hören.

»Den Unbefriedigten ...«

Der Regen draußen, der die braunen Dächer drüben schon seit frühmorgens wie mit Glanzlack überzogen hatte, plätscherte, aus dem Fensterblech, unter das die reizende Ophelia natürlich wieder den Wasserkasten zu hängen vergessen hatte, war er jetzt allmählich sogar die graue Tapete hinab bis mitten unter das kleine Blaukattunene gekrochen. Auf seinem kleinen Teich drunter konnten die beiden angebrannten Schwefelhölzchen bereits in aller Gemächlichkeit rundherum Gondel fahren. Plötzlich schien den großen Thienwiebel wieder mal irgend etwas unversehens gestochen zu haben.

»Amalie! Amalie!!«

»Was denn schon wieder, Thienwiebel!«

Sie hatte sich nicht einmal umgesehn.

[48] »Amalie! Es ist nicht zu leugnen: Das Kind hat ganz außergewöhnliche Fähigkeiten! Es hat mich soeben angelacht. Es unterhält sich ordentlich mit mir!«

Amalie grunzte nur verdrießlich.

»Ich wette, man kann ihm schon die Anfangsgründe des Sprechens beibringen, Amalie!«

»Hm? du! Sag mal: a! Na?! a-a-a ...«

Der kleine gute Fortinbras wußte sich jetzt vor lauter Verdutztheit gar nicht mehr zu lassen. Er hatte seine beiden dicken Händchen rechts und links in den Korbrand gekrallt und ähte nun, seinen Kopf nach hinten zurückgelegt, seinen großen Papa ganz vergnügt an.

»Nicht ä, mein Junge! Sag a! A sollst du sagen! Also? Na? Aaaa! ...«

»Ach, laß doch! Das kann er ja noch nich!«

Amalie hatte es endlich doch für angezeigt gehalten, sich ins Mittel zu legen.

»Was?! Das kann er nicht?! Sage das nicht, Amalie! Sage das nicht! Dafür ist er mein Junge! Hä? Bist du mein Junge? Hä?«

»Aber er ist ja erst kaum ein Vierteljahr alt!«

»So? So? Nun, hm ... Ich will nicht mit dir rechten, Amalie! Allein du wirst doch vorhin bemerkt haben, daß er durchaus verstand, was ich meinte!«

Amalie gähnte. Sie gab es auf. Es hatte ja keinen Zweck! Es war ja alles egal! So oder so!

Der große Thienwiebel aber war damit noch nicht zufrieden. Er konnte seine Idee noch nicht so leicht wieder fallenlassen.

»Nein, gewiß, Amalie! Der Junge berechtigt zu den besten Hoffnungen!«

»Ach ...«

[49] »Nun! Was ist denn da so Ungewöhnliches dabei, Amalie? Du weißt: es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als unsere Schulweisheit sich träumt, Amalie«!

Amalie gähnte nur wieder.


» ... und nun, ihr Lieben,
Wofern ihr Freunde seid, Mitschüler, Krieger,
Gewährt ein Kleines mir!«

Sie gewährten es ihm.

Es war wirklich zu schön von dem großen Thienwiebel!

Aber er hatte sich jetzt tief über seinen kleinen, süßen Fortinbras, der zu so großen Hoffnungen berechtigte, gebeugt und wollte ihn nun – oh, zum ersten Mal, zum ersten Mal, seit langer, langer Zeit, Horatio! – wieder auf die kleine bleiche Stirn küssen.

Aber es sollte nicht dazu kommen. Er war bereits wieder

zurückgetaumelt, noch ehe er seine schöne Tat zum Austrag gebracht hatte.

»Ha!«

Seine Augen rollten, seine Fäuste hatten sich geballt, die beiden roten Troddeln hinten an seinem Schlafrock schlotterten vor Entrüstung.

»Ha!«

Das Rätsel von der alten, lieben, guten, geschäftigen Frau Wachtel von vorhin hatte sich glänzend gelöst.

Sei's Farbe der Natur, sei's Fleck des Zufalls, kurz und gut, aber der kleine Prinz von Norwegen lag wie der seelenvergnügt mitten in seinen weitläufigen Besitzungen da.

[50] IV

Seit die schöne Frau Kanalinspektor, sorgsam in Sackleinwand genäht, endlich abgegangen war und weitere Promenaden am Hafendamm sich nicht wieder ergiebig erwiesen hatten, war jetzt auch nebenan bei dem kleinen Ole Nissen nichts mehr zu holen. Erneute Bohrversuche bei dem famosen, noblen Putthuhn hatten auch nichts gefruchtet. Seine »Alte« schien ihm nicht sonderlich imponiert zu haben. Wenigstens hatte ihr kleiner »Tintoretto« sie bei seiner letzten offiziellen Visite draußen vergeblich an den neuen, schöntapezierten Wänden gesucht. Übrigens waren die Herrschaften leider gerade ausgegangen. Man schien eben nicht bloß in Christiania allein undankbar zu sein.

Keine Hummern bei Hiddersen mehr, keine Ägypter mehr, keine »Mieze« mehr! Das letzte schmerzte den armen kleinen Ole natürlich am meisten. Aber man konnte es der Kleinen wirklich unmöglich verdenken. Von aufgeweichten Brotkrusten ließ sich nicht satt werden.

Der alten, lieben, guten Frau Wachtel aber war damit ein sehr großer Stein vom Herzen gefallen. Sie hatte nämlich die niedliche kleine Mieze einmal dabei ertappt, als sie dem abscheulichen Ole grade Modell stand, und da sie hierfür wirklich auch nicht das mindeste Verständnis besaß, ein gewisses, kleines Vorurteil gegen sie gefaßt.

Ihr gutes Herz zu betätigen hatte sie in letzter Zeit leider nur wenig Gelegenheit gehabt. Am unzufriedensten aber war sie jedenfalls mit den dummen Thienwiebels. Was bei der alten Schlamperei dort schließlich rauskommen mußte, konnte man sich ja an den Fingern abzählen.

[51] Der alte, alberne Kerl flözte sich den ganzen Tag auf dem Sofa rum und trieb Faxen, das faule, schwindsüchtige Frauenzimmer hatte nicht einmal Zeit, seinem Schreisack das bißchen blaue Milch zu geben, zu fressen hatten sie alle drei nichts, und die Miete – ach, du lieber Gott! Wenn man nicht wenigstens noch die paar Sparkreeten gehabt hätte ...

– – Ja! Es war Wermut! Sein Verstand war krank! Es fehlte ihm an Beförderung! Im Schoße des Glückes? Oh, sehr wahr! Sie ist eine Metze! Was gibt es Neues? Als Roscius noch ein Schauspieler zu Rom war ... Geharnischt, sagt Ihr? Sehr glaublich! Sehr glaublich! – Ein Mann, der Stöß' und Gaben mit gleichem Dank genommen, der zur Pfeife nicht Fortunen diente, den Ton zu spielen, den ihr Finger griff, ein Bettler, wie er ... Nichts mehr davon!! Sprich weiter, komm auf Hekuba!

In der Tat, es ließ sich nicht mehr leugnen: er war jetzt wirklich zu bedauern, der große Thienwiebel!

Oh, welch ein Schurk' und niedrer Sklav' er war!! War's nicht erstaunlich? War's zu glauben? War's möglich? War's nur durch Angewohnheit, die den Schein gefäll'ger Sitten überrostet, war's Übermaß in seines Blutes Mischung: kurz und gut, aber er kam jetzt immer wieder auf sie zurück: auf nichts, auf Hekuba!

Wozu sollten Gesellen wie er zwischen Himmel und Erde herumkriechen? Dem Staub gepaart, dem er verwandt, so rings umstrickt mit Bübereien ... nicht doch, mein Fürst!! Die Mausefalle? Und wie das? Metaphorisch! Ich bitte, spotte meiner nicht, mein Schulfreund; du kamst gewiß zu meiner Mutter Hochzeit!

Armer Yorick! Denn wenn die Sonne Maden aus einem [52] toten Hunde ausbrütet, eine Gottheit, die Aas küßt ... Armer Yorick!

Sein Wahnsinn war des armen Hamlet Feind. –

Amalie, die endlich ihre Drohung wahrgemacht und in der Tat seit einiger Zeit etwas zu tun angefangen hatte, was sie Trikottaillen nähen nannte, ließ alles getrost über sich ergehen. Es hatte ja keinen Zweck! Es war ja alles egal! So oder so.

Der gute kleine Ole Nissen war unendlich zarter besaitet. Da Frau Wachtel so freundlich gewesen war und ihm nach so vielen andern geliebten Gegenständen kürzlich auch noch seine schönen leberwurstfarbenen Pantalons ins Leihhaus getragen hatte, war er jetzt dazu verdammt, die ganzen Tage über in seinem Bett zu liegen und durch die dünnen Bretterwände durch die ganze Wirtschaft mit anzuhören.

»Ha! Büberei! Auf, laßt die Türen schließen! Verrat! Sucht, wo er steckt! Du betest schlecht! Ich bitt' dich! Laß die Hand von meiner Gurgel! Kennst du diese Mücke?!«

Armer kleiner Ole! War es Angst oder nur Langeweile? Aber der Schweiß brach ihm oft tropfenweis durch die Stirn.

Der große Thienwiebel schien es ordentlich auf ihn abgesehn zu haben! Alle Nachmittag Punkt 5 Uhr versäumte er es jetzt nie, sogar seine »Bude« zu inspizieren. Diese war freilich noch erbärmlicher als seine eigene, aber sie besaß dafür den Vorzug, daß man aus ihrem Fenster bequem unten auf das breite, platte, geteerte Nachbardach klettern konnte, von dem man dann eine erfreuliche Aussicht auf die verschwiegenen Brandmauern mehrerer Hinterhäuser genoß. Ein kleines, anspruchsloses Pflaumenbäumchen, [53] dessen verkrüppelte Ästchen von Raupen und Spatzen nur so wimmelten, vervollständigte das Idyll. Der arme kleine Ole spürte die verhängnisvolle Zeit schon immer eine ganze Weile vorher in seinen Knochen. Der große Thienwiebel beliebte es dann nämlich immer, gewisse Unterhaltungen mit ihm anzuknüpfen, die so geistvoll, ideentief und farbenreich waren, daß dem armen kleinen Ole, den seine ewigen Brotkrusten schon ohnehin arg mitgenommen hatten, nur so der Kopf danach brummte.

»Ich will hier im Saale auf und ab gehn, wenn es Seiner Majestät gefällt; es ist jetzt bei mir die Stunde, frische Luft zu schöpfen. Laßt die Rapiere bringen!«

Die »Rapiere« waren zwei Leiterstücken, die man zusammenlegen und von draußen her in das Fensterkreuz einhaken konnte.

Wenn sie »gebracht« worden waren, endete die Geschichte natürlich stets damit, daß man sie auch richtig einhakte und an ihnen hinabkletterte.

»Hic et ubique! Ändern wir die Stelle!«

Dann war man in »Helsingör« und promenierte auf der »Terrasse«. Der große Thienwiebel in Fez und Schlafrock, der kleine Ole in Havelock und Unterpantalons.

»Ich will die Lieb' Euch lohnen, lebt denn wohl, Horatio! Auf der Terrasse zwischen elf und zwölf besuch' ich Euch ... Nicht wahr? Ihr – e ... seid ein – Fischhändler?!«

Scham, wo war dein Erröten!

Der arme kleine Ole wußte zuletzt selbst nicht mehr: war eigentlich er verrückt oder Nielchen.

Aber er hätte sich nicht so zu härmen brauchen. Der große Thienwiebel wußte nur zu gut, was er tat. Er war [54] nur »toll aus Methode«. Er war nur toll bei Nordnordwest; wenn der Wind südlich war, konnte er sehr wohl einen Kirchturm von einem Leuchtenpfahl unterscheiden.

Die ewige Aktsteherei unten in der alten, dummen Akademie war ihm eben nachgerade langweilig geworden, und da er der alten, lieben, guten Frau Wachtel doch unmöglich zutrauen durfte, daß sie ihn noch länger gratis beherbergte, wenn er sich jetzt diese »Quelle köstlicher Dukaten« so sans façon wieder zustopfte, war er eben eines schönen Tages auf die großartige Idee verfallen, sich hier in dieser herben Welt voll Müh' nach und nach für wirklich übergeschnappt auszugeben.

»Ha! Heisa Junge! Komm, Vögelchen! Komm! Ich muß nach England; wißt Ihr's? Himmel und Erde! Es ist nur eine Torheit, aber es ist eine Art von schlimmer Vorbedeutung, die vielleicht ein Weib ängstigen würde. Was? Eine Ratte? Die Spitze auch vergiftet? Nein! Nein, schöne Dame! Nicht nur mein düstrer Mantel, gute Mutter, noch die gewöhnte Tracht von ernstem Schwarz, noch stürmisches Geseufz beklemmten Odems: nein: auch die Schmeichelsalb'! Ich hab's geschworen! Weglöschen von der Tafel der Erinnerung will ich all jene törichten Geschichten! Nie beuge sich dieses Knies gelenke Angel, wo Kriecherei Gewinn bringt! Ich trotze allen Vorbedeutungen: es waltet eine besondere Vorsehung über dem Fall eines Sperlings. In Bereitschaft sein ist alles. Wetter! Denkt ihr, daß ich leichter zu spielen bin als eine Flöte? Nennt mich, was für ein Instrument ihr wollt! Ihr könnt mich zwar verstimmen, aber nicht auf mir spielen ...

»Ha! Was? Ein königliches Bubenstück!

[55] Dem kleinen Fortinbras schien dieses königliche Bubenstück am wenigsten zu imponieren. Ja, aus gewissen Anzeichen glaubte sein großer Papa manchmal sogar schließen zu dürfen, daß er noch nicht einmal recht Notiz von ihm genommen hatte.

Am auffälligsten zeigte sich dies aber regelmäßig dann, wenn es sich um die »ersten Elemente der Gesangskunst« handelte. Denn der »arme Yorick« war durchaus nicht gewillt, seinem schrecklichen Wahnsinn zu Liebe auch die seltnen Talente seines zu so großen Hoffnungen berechtigenden Söhnchens verkümmern zu lassen.

Es war ausgemacht! Es war ausgemacht, o reizende Ophelia! Ja! Sagen wir Ophelia! Teufel! Warum sollten wir nicht Ophelia sagen? Kurz und gut: es war ausgemacht. Es sollte ihn und seine Sache den Unbefriedigten erklären ... Den Unbefriedigten! ...

Sobald er daher nur irgendwie merkte, daß der kleine Ole nebenan wieder einmal eingeschlafen und die gute Frau Wachtel wieder mal ausgegangen war und so »die beiden, denen er wie Nattern traute«, eine Zeitlang wieder »unschädlich« gemacht waren, ging der Tanz los.

Seines Kummers »Kleid und Zier« war dann plötzlich wie abgefallen von dem großen Thienwiebel.

Seine »Einbildungen, schwarz wie Schmiedezeug Vulkans«, hatten den armen Yorick verlassen, er war wieder »zahm, Herr!«

»Hört doch! Ich bin wieder zahm, Herr! Sprecht! Ich bin wieder zahm!«

Aber der kleine, verstockte Fortinbras wollte nicht. Er hatte sich wieder nur in Ermangelung seines Gummipfropfens, den ihm die reizende Ophelia verbummelt hatte, seinen großen Zeh in den Mund gestopft und sog [56] nun, daß es ihm aus den kleinen, mattrosa Mundwinkelchen nur so tropfte. Die ersten Elemente der Gesangskunst ließen ihn heute augenscheinlich noch kälter als sonst.

Empört hatte sich jetzt der große Thienwiebel wieder in die Höhe gerückt. Die beiden roten Troddeln hinten an seinem Schlafrock zuzubinden hatte er natürlich wieder vergessen.

»Amalie! Ich bemerke soeben zu meinem größten Erstaunen, Fortinbras ist störrisch!«

Amalie, die jetzt ihre kleine, mollige Fußbank der Trikottaillen wegen zu ihrem großen Leidwesen vom Ofen ans Fenster hatte verlegen müssen, war grade dabei, sich ihre erste Nadel für heute einzufädeln. Sie hatte wieder so lange inhalieren müssen ...

»Störrisch?«

»Wie ich dir sage, Amalie! Störrisch!«

»Ach, nich doch!«

»Amalie? Ich sage dir noch einmal – störrisch! Fortinbras ist störrisch! Stör-risch!!«

»Ach, red doch nich! Wo soll er denn störrisch sein!« »Amalie?!«

Amalie sah sich nicht einmal um. Sie zuckte kaum mit den Achseln.

»So! So! Also, du glaubst mir nicht mehr, wenn ich dir etwas sage! Du mißtraust mir! In der Tat! In der Tat! Ich hätte mir das denken können! Sag's doch lieber gleich! Wozu die Umstände! Du bedauerst, daß ich mich nicht noch schneller aufreibe!«

Amalie nieste. Sie wollte ihren Schnupfen gar nicht mehr loswerden. Mitten im Sommer.

»Natürlich! Wie sollte man auch nicht! Man vertreibt [57] sich die Zeit mit – Niesen! Man trinkt Kaffee und vertreibt sich die Zeit mit – Niesen! In der Tat! In der Tat! Andre Leute mögen unterdes zusehn, wie sie fertig werden! ... Aber, ich werde es dir beweisen, Amalie! Hörst du? Ich werde es dir beweisen, daß Fortinbras störrisch ist! – – Du! Sag a ... a ... Nun? Wird's bald? ... Na? ... A! ... Du Schlingel! A! ... A!! ... Ha! Siehst du?! Wie ich dir sagte, wie ich dir sagte, Amalie! Der Lümmel brüllt, als wenn ihm der Kopf abgeschnitten wird! Er ist störrisch! Habe ich recht gehabt?! – Willst du still sein, du Zebra?! Gleich bist du still!«

Jetzt endlich war Amalie an ihrem Fenster plötzlich etwas aufmerksamer geworden.

»Du willst ihn doch nicht etwa – schlagen?«

»Gewiß will ich das, Amalie! Ein Kind darf nicht eigenwillig sein! Ein Kind bedarf der Erziehung, Amalie! Eine leichte Züchtigung ...«

»Niels!?«

»Ach was! Aus dem Weg! Aus dem Weg, sage ich! ... Da, du infamer Schlingel! Da, du in ... Amaaalie!«

»Gewiß, du alter Esel! Du glaubst wohl, du kannst hier am Ende tun, was du Lust hast? Du gehörst ja in die Verrücktenanstalt! Wie kann man denn 'n Kind von 'nem halben Jahr so malträtieren?! Wie kann man es schlagen!«

»Amaaalie!!«

War's möglich?! War es zu glauben?! War das seine Backe?! »Amaaalie!!! ...«

[58]

V

»Wirtschaft, Horatio! Wirtschaft! Das Gebackne vom Leichenschmaus gab kalte Hochzeitsschüsseln. E – doch, um auf der ebenen Heerstraße der Freundschaft zu bleiben: was macht Ihr auf Helsingör?«

Der große Thienwiebel hatte wieder gut auf der ebenen Heerstraße der Freundschaft zu bleiben; was sollte der kleine Ole groß machen auf Helsingör? Was er nun schon seit Wochen machte: Firmenschilder pinseln! Das rentierte sich nämlich famos, weißt du!

Abel Gröndal: Materialwarenhandlung, auch Heringe – Lars Brodersen: Canariensieen und Hanfsamen – Jacob Lorrensen: Alle Sorten Rauch-, Schnupf-und Kautabak – etc. pp. Hä?! Was?! Noble Putthühner!!

Die schönen Leberwurstfarbenen waren wieder zu Ehren gekommen, die prachtvollen Ägypter wurden wieder nur so pfundweis verpafft, die verteufelte kleine Mieze ließ die arme, liebe, alte, gute Frau Wachtel kaum mehr vom Schlüsselloch wegkommen.

Es war aber auch wirklich schrecklich, was es jetzt alles dort drinnen zu sehn gab. Die vielen weißen Salbentöpfe, in die die Farben nur so wie Butter eingequetscht waren, die merkwürdig großen Maurerpinsel, die der geschäftige kleine Ole kaum zu dirigieren vermochte, die schönen, dicken, mannslangen Bretter, auf denen man jetzt die wunderbarsten Sachen zu lesen bekam, und vor allen Dingen auch jener große, geheimnisvolle, grüne Wandschirm dicht neben dem Ofen, hinter dem sich immer die schändliche, kleine Mieze versteckt hielt, das alles interessierte die alte, liebe, gute Frau Wachtel auf das lebhafteste. Noch nie hatte sie sich mit ihrer Stellung als Zimmervermieterin [59] so zufrieden gefühlt. Die drückendsten alten Rückstände waren wieder ausgeglichen, für die dösigen Thienwiebels brauchte ihr jetzt auch nicht mehr so bange zu sein, ja, ja! Der liebe Herrgott!

Die reizende Ophelia war wieder in ihren alten Stumpfsinn zurückverfallen. Sie bereute ihre Untat aufs tiefste. Das einzige, was ihr so schließlich noch vom Leben übriggeblieben war, war ihr Salbeitopf.

Ihr großer Gatte verachtete sie nur noch ... Geschrieben – e ... hatte man ihm zwar unterdessen bereits, aber – e ... wie kam's, daß sie umherstreiften? Ein fester Aufenthalt war vorteilhafter für ihren Ruf als ihre Einnahme! Kurz und gut, es war eben nur eine umherziehende Truppe gewesen, und der große Thienwiebel hatte sich zu degradieren gefürchtet. So lange noch der kleine Ole da nebenan da war ... kurz und gut: er tat, was ihm Beruf und Neigung hieß! Denn ... e ... jeder Mensch hat Neigung und Beruf!

Am schlimmsten erging es jedoch entschieden dem kleinen Fortinbras. Seine Zähnchen hatten ihm seinen schönen Gummipfropfen ganz verleidet. Er hatte an nichts mehr Freude; nicht einmal am Schreien mehr.

Er war ein vollendeter Pessimist geworden. An seinem künftigen Beruf, seinen großen Vater den Unbefriedigten zu erklären, schien ihm nur noch wenig zu liegen. Sein kleines Züngchen war dick belegt, seine Händchen sahen weiß wie Kuchenteig aus, er schlief jetzt oft ganze Tage lang.

Nur heute abend war er auffallend munter.

Die beiden hellen Lampen auf dem Tische, die vielen Leute, der Skandal, der merkwürdig große Zuckerkringel, den man ihm so unerwartet in die Hand gesteckt [60] hatte: er begriff das alles nicht. Nu bloß noch'n bißchen Streupulver!

Die Damen hatten auf dem Sofa Platz genommen, die kleine Mieze, die sich zu den Mannsleuten rechnete, saß dem kleinen Ole vis-à-vis, der große Thienwiebel präsidierte. Die großartige Gans mitten auf dem Tisch, in deren knusprigen Prachtrücken er eben energisch seine blitzende Bratengabel gestoßen hatte, roch durch das ganze kleine Zimmer. Die beiden Lampen rechts und links brannten durch ihren Dampf wie durch einen Nebel. Frau Wachtel, die sich in ihrer Sofaecke wie auf einem Präsentierteller vorkam, atmete schwer. Sie hatte heute ihr »Seidnes« an.

»Willkommen, all ihr Herrn! Wir wollen frisch daran, wie französische Falkoniere, auf alles losfliegen, was uns vorkommt! Beim Himmel! Den mach' ich zum Gespenst, der mich zurückhält! ... Ha! Seid Ihr tugendhaft, schöne Dame?«

»Thienwiebelchen?«

Der kleine Ole, der sich eben über seinen pompösen Flügel hergemacht hatte, blinzelte vor Entzücken. Die kleine Mieze war heute mal wieder ordentlich zum Anknabbern!

»Thienwiebelchen?!«

Das reizende Grübchen in ihrem rosa Fingerchen kam jetzt so recht zur Geltung.

»Thienwiebelchen? Es gibt was!«

Aber der große Thienwiebel, der sich jetzt auch die Serviette unter sein blaues Doppelkinn gestopft hatte, fühlte sich wieder durchaus auf der Höhe der Situation.

»Meint Ihr, ich hätte erbauliche Dinge im Sinn? Ein schöner Gedanke, zwischen den ...«

[61] »Nielchen!!«

Der kleine Ole hat es für die höchste Zeit gehalten.

Er hatte sich jetzt auch seinen prachtvollen Porter eingeschenkt und schwenkte ihn nun fidel gegen die neue Lampe.

»Putthuhn Nro. 25!«

Sein schönes Jubiläum sollte nicht so ohne weiteres zu Wasser werden.

»Putthuhn Nro. 25!«

Die kleine Mieze war jetzt ganz rot vor Vergnügen. Die beiden kleinen, silbernen Ringe in ihren Ohrläppchen blitzten, ihr Stumpfnäschen sah wie aus Marzipan aus.

»Bravo, Dickchen! Es soll leben! Putthuhn Nro. 25!«

Sie hatte ausgelassen mit ihm angestoßen.

Frau Wachtel räusperte sich jetzt. Ihr Seidnes hatte sich eben etwas eingeklemmt.

»Etwas – etwas Soße gefällig, Frau Thienwiebel?«

Amalie nickte. Ihr Teller schwamm zwar schon, aber: es war ja alles egal. So oder so.

Ihr großer Gatte drüben suchte eben wieder einzulenken.

»Nun, nun, schöne Dame! Denn – e – wenn die Sonne Maden aus einem toten Hunde ausbrütet, eine Gottheit, die ... Ha! Wilde Hölle! Wer ist, des Gram so voll Emphase tönt?!«

Es war der kleine Fortinbras. Sein Zuckerkringel war ihm eben über den Korbrand weg auf die Stuhlkante gefallen, dort entzweigeschlagen und lag nun in kleine Stücke zerbröckelt unten auf den schmutzigen Dielen.

»Ha, mördrischer, blutschändrischer, verruchter Däne! Trink diesen Trank aus! Ich will den Wanst ins nächste Zimmer schleppen!«

[62]

Aber die besorgte kleine Mieze hatte ihre Gabel schon schnell wieder auf ihren Teller klappen lassen.

»Ach! Nicht doch, Thienwiebelchen! Nicht doch!«

Sie war aufgesprungen und bückte sich jetzt zierlich über den plumpen Korbrand.

»O mein Zuckerpüppchen! Mein Schatz! So ein niedliches kleines Kerlchen! Nicht wahr, du willst auch was haben? Ach, mein Liebchen!!«

Sie hatte sich jetzt den kleinen Fortinbras auf den Schoß gesetzt und küßte ihn nur so.

»Auch was haben, Dickerchen?« Kuß! – »Auch was haben, Dickerchen?« Kuß! Kuß, Kuß, Kuß, Kuß!!

Der kleine Fortinbras juchzte. Er hatte noch nie so etwas erlebt. Er zappelte jetzt, daß es nur so eine Art hatte. Er lachte aus vollem Halse!

»Grrr ... grrr ... grrr ... äh! Grrr ... äh!«

Der große Thienwiebel saß da. Die Weste unten aufgeknöpft, die Augenbrauen tragisch in die Höhe gezogen.

»Wie keck der – e – Bursch ist! ... Wahrhaftig, Horatio! Ich habe seit diesen drei Jahren darauf geachtet. Das Zeitalter wird so spitzfindig, daß der Bauer dem Hofmann auf die Fersen tritt!«

Aber der kleine Ole beachtete ihn kaum. Die kleine Mieze war ihm jetzt weit interessanter. Sie sah jetzt ordentlich wie eine kleine Hausmutter aus.

»Na, Dickerchen?«

Auch Frau Wachtel machte jetzt große Augen. Amalie pappte.

»Ja, mein Junge! Sie essen alle, und mein Dickerchen soll gar nichts haben! Wie? – Aber das läßt er sich nicht gefallen! Wie? – Ach, bitte, Frau Thienwiebel! Reichen [63] Sie mir doch das bißchen Biskuit da von der Kommode her. Auch die Milch, bitte!«

Frau Thienwiebel erhob sich schwerfällig und brachte das Verlangte.

Die kleine Mieze hatte den Biskuit jetzt aufgeweicht und fing nun an, den kleinen Fortinbras damit zu füttern. Von ihrem Teller, auf dem neben den drei gebratenen Äpfeln nur noch ein paar kleine fetttriefende Hautstückchen lagen, naschte sie kaum.

Der kleine Fortinbras stöhnte vor Behagen.

»He? Willst du noch mehr, Dickerchen? Noch mehr?«

Der kleine Ole hatte sich jetzt neugierig über den Tischrand gebogen. Sein Schnurrbärtchen duftete nach chinesischer Tusche.

»Nein! Nein! Nu sieh doch bloß, Dickerchen! Wie es dem Balg schmeckt! – Was?! – Noch mehr?! – No! No! Nur nicht gleich schreien! – So!«

Frau Wachtel war jetzt ordentlich bis zu Tränen gerührt. Und wenn sie bis zu Tränen gerührt war, vergaß sie es auch nie von ihrer verstorbenen Pflegetochter zu erzählen. Und das kam ziemlich oft vor.

»Ja, sehn Sie! Sie war ein Engel, Frau Thienwiebel! Ein Engel!«

Frau Thienwiebel kaute.

Frau Wachtel beschrieb jetzt ausführlich die Krankheit des Engels und wie er dann gestorben war. Er hatte Malchen geheißen und war dabei so himmlisch geduldig gewesen.

»Ja, sehn Sie, Herr Nissen! Sie war mein Einz'ges! Sie tröstete mich noch, als schon der Tod kam. Sie war ein Engel!«

Sie hatte sich jetzt auch auf ihr Taschentuch besonnen und drückte es sich nun abwechselnd in die Augen.

[64] »Ach, wein doch nicht, Mutterchen! Wein doch nicht! Nun komm ich ja zum lieben Gott!«

Sie weinte jetzt, daß ihr die Tränen nur so auf ihr Seidnes kullerten!

Der kleine Ole war bereits eine ganze Zeit lang verlegen auf seinem Stuhl hin und her gerutscht. Er hatte es unten auf das kleine, niedliche Füßchen unterm Tisch abgesehn gehabt und war dabei eben auf die alten, phlegmatischen Filzpantoffeln der reizenden Ophelia gestoßen.

Er war ordentlich rot darüber geworden.

»Ja! Sehn Sie! Sie war mein Einziges!«

Der kleine Fortinbras plantschte vor Wonne.

»Grrr ... grrr ... grrr ...«

Dieses freundliche, frische Gesicht mit den hellen Augen und den blonden Löckchen über ihm – er kam gar nicht mehr raus aus dem Lachen! Sogar sein Streupulver hatte er vergessen!

»Grrr ... grrr ... grrr ... Aeh!«

Seine Händchen hatten jetzt in die Höhe gegrapscht, die kleine Mieze ließ von ihm ihre Stirnlöckchen zausen.

»Nein, Dickchen! Nu sieh doch bloß! Nu sieh doch bloß!«

Der kleine Ole schneuzte sich. Er war wie mit Blut übergossen.

»Ja! Das glaub' ich! Das hast du wohl noch nicht so gut gehabt, Dickerchen! Wie?«

Jetzt hatte sich endlich auch Frau Wachtel über ihn gebückt. Ihr Taschentuch lag wieder sauber ausgefältelt auf ihrem Schoß, sie kitzelte ihn wohlwollend unterm Kinn.

»Ach, mein Putteken! Ach, mein Mäuseken! Hab'n se dir so lange hungern lassen!«

[65] Ihre Stimme zitterte, sie sah noch ganz verweint aus.

Amalie tunkte grade ihre Soße auf.

Der große Thienwiebel aber hatte sich nunmehr rücklings in seinen Stuhl zurückgelehnt und starrte jetzt, die Hände in den Hosentaschen, erhaben oben in die beiden gelben Lichtkleckse, die die Lampen zitternd an die Decke malten.

Denn, was ein armer Mann wie Hamlet ist ... Nichts mehr davon!

Der Rest war Schweigen ...

Endlich war alles wieder abgeräumt. Frau Wachtel, die nicht Skat spielte, hatte sich mit ihrem Seidnen, ihrem Taschentuch und ihrer zweiten Lampe wieder hinten in ihre Küche zurückgerettet, Amalie kauerte wieder auf ihrem Fußbänkchen neben dem Ofen. Sie hatte sich noch nachträglich eine kleine Bratenschmalzstulle geschmiert.

Es war ziemlich kalt im Zimmer. Das Feuer war ausgegangen, und man hatte nichts mehr nachzulegen. Der große Thienwiebel, dessen Schlafrock mit der Zeit aufgehört hatte, skatfähig zu sein, hatte sich statt dessen in die rote Bettdecke eingewickelt.

»Die Luft geht scharf; es ist entsetzlich kalt! Tourner, Horatio!«

»Passez, Nielchen!«

»Dito, Tienchen!«

»Was denn, Schäfchen?«

»Na, wird's bald?«

»Ah so! – Da, Schäfchen!«

»Na, endlich!«

Sie hatte die Zigarette, die ihr der kleine, eifrige Ole gereicht hatte, mit spitzen Fingern angefaßt und zog jetzt [66] ein Gesicht, als ob ihr der Rauch lästig wäre. Sie wußte, daß ihr das ließ! Es hatte auch sofort den Erfolg, daß ihr Dickchen einen Kuß mauste.

»Nein doch! So eine Unverschämtheit!«

Sie hatte ihn unterm Tisch mit dem Knie gestoßen.

»Pique As! Nicht wahr, Wiebelchen?«

»Sehr wohl, schöne Dame! Sehr wohl! Vortrefflich, meiner Treu! Was wäre da zu fürchten? Ich – e – selbst bin – e – hm! – leidlich tugendhaft ...«

Der kleine Fortinbras war jetzt vollständig vergessen.

»Voll Speis' und Trank in seiner Sünden Maienblüte« lag er jetzt wieder »sicher beigepackt« hinten in seiner dunklen Korbecke und starrte nun trübselig drüben in den Zigarrenqualm, der in dicken Schichten um die grüne Glocke wogte. Seit seiner Geburt war er nicht übermäßig oft aus seinem Winkel hervorgeholt worden. Das unerwartete Glück heute hatte ihn ganz sehnsüchtig nach dem Lichte dort gemacht. Der Schoß, der Zuckerkringel, die Löckchen ... er hatte wieder zu quäken angefangen.

Amalie rührte sich nicht. Der Bengel wollte bloß immer genommen sein. Sie hatte schon an einmal genug.

»Coeur Trumpf, Nielchen!«

»Ihr sagtet?«

»Ich sagte: Coeur Trumpf, Nielchen! Coeur Trumpf!«

»Ha, blut'ger kupplerischer Bube! Unmöglich, bei diesem verwünschten Geschrei ein Wort zu verstehn! Wenn du nicht gleich still bist, du infames Balg, dann schlag' ich dich blitzblau wie eine Heidelbeere!«

»Nicht doch! Das kneift ja, Ole! Au!«

»Ach was, Schäfchen! Laß doch!«

Das Sofa hatte in diesem Augenblick genug mit sich selbst zu tun.

[67] Amalie, die auf ihrer kleinen Fußbank schon wieder halb eingenickt war, blinzelte kaum. Der große Thienwiebel war vor einer zweiten Ohrfeige sicher.

Er hatte sich jetzt in seiner roten Bettdecke ergrimmt vor den Korb gestellt und brüllte nun wütend auf das arme, kleine Bündelchen ein.

»Willst du still sein, du – Lausbub!?«

Aber der »Lausbub« war's nicht. Er wollte auch mal va banque spielen. Er schrie jetzt, als wenn er seine kleinen Lungen auseinandersprengen wollte.

»Aber ... Das ist doch wirklich unerhört! ... Na, warte! Du ... Du – Lindwurm, du! Warte!«

Er prügelte ihn jetzt, daß es nur so klitschte. Als aber auch das nichts half, riß er das Kopfkissen unter ihm vor und preßte es ihm auf das Gesicht.

Der kleine Fortinbras war jetzt auf einen Augenblick vollständig verstummt. Sein Geschrei war wie abgeschnitten.

Aber der große Thienwiebel hatte noch nicht genug. »Nichtsnutziger Patron!«

Er hatte ihm jetzt das Kissen noch fester aufgedrückt.

Der kleine Ole hatte die kleine Mieze, die noch ganz rot vor Ärger war, wieder losgelassen. Er war jetzt ordentlich ängstlich geworden.

»Um Gottes willen, Nielchen! Er erstickt ja!«

»Ach, Unsinn! So schnell geht das nicht!«

Nein! So schnell ging das auch nicht! Denn als der große Thienwiebel nach einiger Zeit das Kissen fortnahm, schnappte zwar der kleine Fortinbras ein paar Augenblicke verzweifelt nach Luft, fing dann aber sofort wieder von neuem an.

»Ole!«

[68] Empört war die kleine Mieze jetzt aufgesprungen. Das schreckliche Kopfkissen hatte den Kleinen von neuem zugedeckt.

»Ole! Das leidst du?«

»Ach was! Er weiß es ganz gut, der Lümmel! Er soll nicht schreien! Es ist die reine Bosheit! Man bekommt das wirklich satt!«

»Pfui! Ole, komm! Laß den alten – Pavian!«

»Pa ... Pa ... Pa ...«

Der kleine Ole hatte jetzt verlegen nach seiner Uhr gesehn.

» ... Pavian?!!!«

Endlich war der große Thienwiebel wieder zu sich gekommen!

»Hinaus, sag' ich!! Hinaus!!«

Aber sie waren es bereits. Einen Augenblick lang noch hörte er sie draußen durch die Küche tappen; dann, endlich, war nebenan bei ihnen die Tür zugefallen.

Er stand da! Um seine Schultern die rote Bettdecke, in seiner Rechten das kleine, blaugewürfelte Kopfkissen. Drüben, in der Ofenecke, die reizende Ophelia.

»Da! Nymphe!!«

Er hatte ihr das Kissen ins Gesicht geschleudert. –

VI

Seit ihr zweiter, unliebenswürdiger Gatte ihr vor ungefähr fünf Jahren auf der »Dicken Selma« treulos nach Kanada ausgerückt war, hatte die liebe, gute, alte Frau Wachtel keinen solchen Ärger mehr auszustehn gehabt.

[69] Nicht bloß, daß seine Stiefelabsätze noch überall auf dem Sofa deutlich zu sehn waren, nicht bloß, daß das Fensterkreuz von den dämlichen Leiterstücken, die jetzt natürlich zerbrochen unten auf dem Pappdach lagen, total ruiniert war, bewahre: auch die ganze Tapete war von oben bis unten mit Ölfarben bekleckst! Der vermaledeite knirpsige Schmierpeter schien sich die ganze Zeit dran seine schwein'schen Pinsel ausgequetscht zu haben. Pfui Deibel ja!

Aber, das war ihr ganz recht! Warum hatte sie das ganze Pack nicht schon längst an die Luft gesetzt! Wenn's wenigstens noch die verrückten Thienwiebels gewesen wären. Aber die holte ja der Satan nicht! Die hakten fest wie Kletten an ihr!

Die alte, liebe, gute Frau Wachtel war ganz außer sich. Aber sie hatte wirklich Pech mit ihren Mannsleuten. Der kleine Ole hatte sich in der Tat nicht entblödet, ihr mit Hinterlassung einiger alter »Schinken«, deren Darstellungsobjekte es unmöglich zuließen, daß man sie sich übers Sofa hing, auszukneifen.

»Solch eine Tat, die alle Huld der Sittsamkeit entstellt, die Tugend Heuchler schilt, die Rosen wegnimmt von unschuldvoller Liebe schöner Stirn und Beulen hinsetzt ... Ha!«

Aber der große Thienwiebel suchte sich jetzt vergeblich beliebt zu machen. Seine »Schmeichelsalb'« zog nicht mehr. Frau Rosine Wachtel verlangte jetzt energisch ihre Miete.

Heut war der Siebente: wenn ihr bis zum Vierzehnten nicht alles bezahlt war: – raus!!

Ja! ... Sterben – schlafen – nichts weiter! Und zu wissen, daß ein Schlaf das Herzweh und die tausend Stöße endet, [70] die unsres Fleisches Erbteil – 's ist ein Ziel aufs innigste zu wünschen! ... Ja! dies war ehe dem paradox! Paradox! ... Doch nun – bestätigte es die Zeit! Armer Yorick! ...

Der große Thienwiebel fühlte, daß es jetzt zu Ende war mit seiner Kraft. Er wollte nun arbeiten, Freund! Arbeiten! Er wollte seine ganze Kraft aufbieten. Er – er ... er wollte ihn »suchen« gehn! »Laßt mich! Er ist ermordet, Amalie! Er ist ermordet!« ...

Er hatte sich jetzt wieder seinen alten, olivengrünen Leibrock zurechtgeflickt und trieb sich nun ganze Tage lang im Hafenviertel umher. – »Ha! Tot?! Für 'nen Dukaten, tot?!« ... Er hatte wieder eine prachtvolle Ausrede. Ein Bubenstück! Er brauchte jetzt kaum mehr die Nächte nach Hause zu kommen. Er schnurrte sich herum, so gut es ging. Da gab es noch – e: Kollegen! Leute! Leute? Pah, Stümp'rr! Aber – e ... sie – e ... Nun ja! Sie sorgten für die Bewirtung der Schauspieler! Wetter! Es lag darin etwas Übernatürliches! Wenn die Philosophie es nur hätte ausfindig machen können! ...

Aber die Philosophie machte es nicht ausfindig. Der große Thienwiebel kam nie dahinter.

Er hatte sich jetzt nach und nach bis unten in die Hafenspelunken verirrt. Mehrere Sackträger waren bereits seine Duzbrüder geworden. Bevor nicht »der Hahn, der als Trompete dient dem Morgen«, bereits mehrere Male nachdrücklich gekräht hatte, kam er jetzt selten mehr die Treppen in die Höhe gestolpert.

Amalie nähte noch immer die Trikottaillen. Der Stumpfsinn hatte sie nach und nach zur reinen Maschine gemacht. Die reizende Ophelia in ihr war jetzt endgültig begraben. Für alle Zeiten! ... Ihre Brust war noch schwächer geworden ...

[71] Dem kleinen Fortinbras ging es noch jämmerlicher. Sein ganzes Gesichtchen war jetzt dicht mit roten Pusteln betupft. Ein Schächtelchen Zinksalbe, zu dem sich die Familie im Anfang denn doch noch aufgeschwungen hatte, lag jetzt zusammengequetscht, verstaubt hinterm Ofen. Es war nicht mehr erneuert worden.

Der große Thienwiebel hatte nicht so ganz unrecht: Die ganze Wirtschaft bei ihm zu Hause war der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters.

VII

Zwölf! ...

Erschöpft hatte sie sich wieder auf ihrem Fußbänkchen zurücksinken lassen. Der Ofen hinter ihr war eiskalt. Durch ihre Nachtjacke durch fühlte sie deutlich seine Kacheln. Sie fröstelte!

Die letzten Töne draußen brummten und zitterten noch, das kleine Talglicht, das in eine leere, grüne Bierflasche gesteckt dicht vor ihr auf dem umgekippten Kistchen mitten zwischen dem Nähzeug stand, knitterte in der Kälte.

Frau Wachtel nebenan schnarchte, der kleine Fortinbras hatte sich drüben in seinem Korb wieder unruhig auf die andere Seite gewälzt. Sein Atem ging rasselnd, stoßweis, als ob etwas in ihm zerbrochen war.

Draußen auf das Fensterblech war eben wieder ein Eiszapfen geprasselt. Dicht davor, unterm Bett, jetzt deutlich das scharfe Nagen einer Maus.

Zwölf!

Sie hatte ihr Nähzeug wieder fallen lassen. Ihre Finger waren krumm zusammengezogen, sie konnte sie kaum [72] noch aufkriegen. Um die Nägel herum waren sie blau angelaufen. Sie hauchte jetzt in sie hinein. Ihr Atem brodelte sich staubgrau um das kleine, zitternde Flämmchen. Eine verspätete Fliege, die dicht neben dem schwarzen Docht in den kleinen, runden Talgkessel drunter gefallen war, verkohlte langsam. Ab und zu knisterte es

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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»Halt ihn! Halt ihn! Hilfe!! Hilfe!!«

Erschreckt war sie zusammengefahren.

Sie sah jetzt auf. Ihr schlaffes, weißes Gesicht war noch stupider geworden.

»Hierher! Hierher! Hilfe!!«

Der gelbe Lichtklecks vor ihr ließ jetzt das Zimmer dahinter noch dunkler erscheinen. Nur vom Fenster her durch das eckige Loch in der Bettdecke, von draußen, das matte Schneelicht. »Hilfe! Hilfe!!«

Sie war aufgesprungen und ans Fenster gestürzt. Das kleine Talglicht hinter ihr war erloschen. Es war umgekippt und lag jetzt unter dem Nähzeug.

»Wächter!! Wächter!! Halt ihn!! Jonas! Jonas!!«

An allen Gliedern bebend hatte sie jetzt die alte Bettdecke in die Höhe gerafft und suchte nun durch die wirbelnden Schneeflocken draußen unten auf die Straße zu sehn. Ihre Zähne klapperten vor Frost, die Schere, die sie noch fest in der Hand hielt, klirrte im Takt gegen die Scheibe.

Ein paar Dachgiebel hoben sich blaugrau drüben aus der Dunkelheit ab. Irgendwo in einem Fenster flimmerte noch ein Licht.

»Hurra! Papa Svendsen! Moi'n, oller Junge! Prost Neujahr!!«

[73] Sie atmete auf. Es hatte laut gelacht. Jetzt: eine barsche Stimme, ein Stock, der schnell noch eine Jalousie herunterrasselte, die ganze Gesellschaft war wieder um die Ecke.

Eine kleine Weile noch horchte sie.

Ab und zu von den Dächern, polternd, der Schnee, in der Ferne, leise, ein Schlittenglöckchen.

Sie hatte die Decke wieder fallen lassen. –

Einen Augenblick lang stand sie da! Das ganze Zimmer war jetzt schwarz. Nur hinter ihr, matt durch die Decke, das Schneelicht.

Sie tappte sich auf den Tisch zu.

Gegen die Kante stieß sie. Ein Fläschchen war umgeklirrt, es roch nach Spiritus. Das Zündholzschächtelchen hatte jetzt geraschelt, es flackerte auf! Sie leuchtete über den Tisch hin. Der schmale Goldrand um die kleine Photographie glitzerte. Die Nachtlampe stand auf dem alten, aufgeklappten Buch mitten zwischen dem Geschirr.

Jetzt ein leises Sprühn und Knistern, der Docht hatte gefangen. Über ihr, groß an der Decke, ihr Schatten.

Frau Wachtel nebenan schnarchte, der kleine Fortinbras stöhnte.

Sie hatte sich jetzt auf den Bettrand gesetzt. Die beiden Zipfel des Kopfkissens, das sie um ihre Schultern gepackt hatte, drückte sie vorn mit ihrem Kinn fest gegen ihre Brust zusammen. Ihre Arme hatten sich gegen ihren Leib gekrampft, ihre hochgezogenen Knie waren eng aneinandergepreßt. Sie zitterte über den ganzen Körper! Ihr Gesicht hatte sich verzerrt, stumpf stierte sie vor sich hin. Die Schere, die ihr vorhin vom Tisch runtergekippt war, lag unten vor ihr auf den grauen Dielen. Sie flinkerte.

[74] Das Lämpchen auf dem Tisch hatte jetzt leise zu zittern angefangen, die hellen, langgezogenen Kringel, die sein Wasser oben quer über die Decke und ein Stück Tapete weg gelegt hatte, schaukelten. Das Geschirr um das Glas hob sich schwarz aus ihnen ab. Die Kaffeekanne reichte bis über die Decke.

»Brrr ... Ae!«

Ihre Pantoffeln waren jetzt unter den Tisch geflogen, sie hatte sich hastig unter das Deckbett gekuschelt.

Die weißen Lichtringe fluteten und fluteten, das Öl auf dem Tisch knatterte leise, ein kleines Fünkchen war eben von seinem Docht abgespritzt und schwamm nun schwarz in der dicken, goldgelben Masse.

Unter dem Deckbett drüben lag es jetzt wie ein Klumpen. An einer Stelle sah noch ihr Unterrock vor . . . . . . . . . . . .

»Still, Hund! ... Ae!!«

Er hatte sich jetzt seinen alten Zylinder, auf dem noch der dicke Schnee lag, vom Kopf gerissen und feuerte ihn nun wütend drüben in die dunkle, schreiende Ecke, wo der Korb stand. Die Tür hinter ihm war dröhnend ins Schloß gekracht.

»Niels!!«

Das Deckbett, das jetzt quer auf den Dielen lag, hatte zur Hälfte den Stuhl mitgerissen. Sie kniete aufrecht mitten im Bett. Ihre Nachtjacke vorn hatte sich ihr bis oben unter die Arme verschoben, ihr Haar hing in Strähnen um ihr Gesicht.

»Halt's Maul! Fang nicht auch noch an!«

Er hatte sich jetzt auch seinen alten, abgeschabten Rock runtergezerrt. Das kleine Spiegelchen über der Kommode, gegen das er ihn geschleudert hatte, war runtergeschurrt [75] und lag nun zersplittert auf dem blinkernden Wachstum.

»Na, wird's bald?!«

Der kleine Fortinbras jappte nur noch.

»Na?! ... Dein Glück, Kanaille! ...«

Seine Stiefeln waren jetzt dumpf gegen die kleine Kiste neben dem Ofen gebullert. Der aufgeschlammte Schnee dran war naß gegen die Kacheln geplatscht. Er suchte jetzt nach den Pantoffeln.

»Ach was! Halt dein Maul, sag ich! ... Die Ohren vollplärren ... Könnte mir noch grade passen! ... Sind die Sachen gepackt?!«

Das Schnarchen nebenan hatte aufgehört. Es schubberte jetzt deutlich gegen die Tür.

»Ob du gepackt hast?!«

»Nein, Niels ... ich ...«

Sie stotterte!

»Natürlich! Man hat ja mal wieder zur Abwechslung die Schwindsucht! ... Bitte genieren Sie sich nicht, Frau Wachtel! Treten Sie näher! Heute geht's ja woll noch!«

Sein Schatten, der bis dahin kreuz und quer über die weiße Decke geschossen war, war jetzt ver schwunden. Er hatte sich unter den Tisch gebückt.

Vom Bett her hatte es eben laut zu husten angefangen.

»Ach, du mein lieber Gott! ... Ach Gott! Ach Gott! Die arme Frau!«

Sie hatte jetzt ihr Gesicht in das Kissen gepreßt und weinte.

»Nu ja! Nu ja! Nu heul doch noch'n bißchen! Das ist ja deine Force! Weiter kannste ja woll nischt!«

Er war eben in die Pantoffeln gefahren und suchte nun [76] auf dem Tisch herum. Ein Messer klapperte gegen die Kochmaschine, eine Tasse war umgekippt.

»Natürlich! Keen Fippschen mehr! Für deine Schwindsucht hast du ja noch'n janz juten Appetit! ... Herrlich! Das tut immer, als ob es Poten saugt und frißt ein'm die Haare vom Kopp runter!«

Er hatte sich seine Fäuste in die Hosentaschen gestopft und schnaubte nun im Zimmer auf und ab.

»So'ne Zucht! So eine – Zucht!!«

Er hatte mit dem Fuß in die kleine, hohle Kiste mit dem Nähzeug gestoßen. Die Flasche war auf den Boden geschlagen, das Licht bis unters Bett gekullert.

»Lächerlich!«

Er hatte jetzt auch noch die Flasche druntergestoßen. »Lächerlich!! ... Wirst du still sein?!!«

Der kleine Fortinbras hatte wieder laut zu schreien angefangen. »Bestie!«

Mit einem Satz war er auf den Korb zu.

»Bestie!!«

Das Geschrei war wieder wie abgeschnitten.

»Alberne Komödie!«

Er hatte sich jetzt wieder nach dem Bett zu gedreht. Seine Fäuste waren geballt. Unter den Kissen hervor hatte es deutlich geschluchzt.

»Alte Heulsuse!«

Die beiden dicken Falten um seine Nase waren jetzt noch tiefer geworden, zwischen seinen verzerrten Lippen blitzten seine breiten Zähne auf.

»Ae!!«

Über seinen Rücken war ein Frösteln gelaufen.

»So'ne Kälte!«

[77] Er rückte sich jetzt geräuschvoll den Stuhl zurecht.

»So'ne Kälte!! Nich mal'n paar lump'je Kohlen hat das!

So'ne Wirtschaft!«

Seine Socken hatte er jetzt runtergestreift, der eine war mitten auf den Tisch unter das Geschirr geflogen.

»Na?! Willste so gut sein?!«

Sie drückte sich noch weiter gegen die Wand.

»Na! Endlich!«

Er war jetzt zu ihr unter die Decke gekrochen, die Unterhosen hatte er anbehalten.

»Nich mal Platz genug zum Schlafen hat man!«

Er reckte und dehnte sich.

»So'n Hundeleben! Nich mal schlafen kann man!«

Er hatte sich wieder auf die andre Seite gewälzt. Die Decke von ihrer Schulter hatte er mit sich gedreht, sie lag jetzt fast bloß da . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Das Nachtlämpchen auf dem Tisch hatte jetzt zu zittern aufgehört.

Die beschlagene, blaue Karaffe davor war von unzähligen

Lichtpünktchen wie übersät. Eine Seite aus dem Buch hatte sich schräg gegen das Glas aufgeblättert. Mitten auf dem vergilbten Papier hob sich deutlich die fette Schrift ab: »Ein Sommernachtstraum«. Hinten auf die Wand, übers Sofa weg, warf die kleine, glitzernde Photographie ihren schwarzen, rechteckigen Schatten.

Der kleine Fortinbras röchelte, nebenan hatte es wieder zu schnarchen angefangen.

»So'n Leben! So'n Leben!«

Er hatte sich wieder zu ihr gedreht. Seine Stimme klang jetzt weich, weinerlich.

[78] »Du sagst ja gar nichts!«

Sie schluchzte nur wieder.

»Ach Gott, ja! So'n ... Ae!! ...«

Er hatte sich jetzt noch mehr auf die Kante zu gerückt.

»Is ja noch Platz da! Was drückste dich denn so an die Wand! Hast du ja gar nich nötig!«

Sie schüttelte sich. Ein fader Schnapsgeruch hatte sich allmählich über das ganze Bett hin verbreitet.

»So ein Leben! Man hat's wirklich weit gebracht! ... Nu sich noch von so'ner alten Hexe rausschmeißen lassen! Reizend!! Na, was macht man nu? Liegt man morgen auf der Straße! ... Nu sag doch?«

Sie hatte sich jetzt noch fester gegen die Wand gedrückt. Ihr Schluchzen hatte aufgehört, sie drehte ihm den Rücken zu.

»Ich weiß ja! Du bist ja am Ende auch nicht schuld dran! Nu sag doch!«

Er war jetzt wieder auf sie zugerückt.

»Nu sag doch! ... Man kann doch nicht so – verhungern?!«

Er lag jetzt dicht hinter ihr.

»Ich kann ja auch nicht dafür! ... Ich bin ja gar nicht so!

Is auch wahr! Man wird ganz zum Vieh bei solchem Leben! ... Du schläfst doch nicht schon?«

Sie hustete.

»Ach Gott, ja! Und nu bist du auch noch so krank! Und das Kind! Dies viele Nähen ... Aber du schonst dich ja auch gar nicht ... ich sag's ja!«

Sie hatte wieder zu schluchzen angefangen.

»Du – hättest – doch lieber, – Niels ...«

»Ja ... ja! Ich seh's ja jetzt ein! Ich hätt's annehmen sollen! Ich hätt' ja später immer noch ... ich seh's ja ein! [79] Es war unüberlegt! Ich hätte zugreifen sollen! Aber – nu sag doch!!«

»Hast du ihn – denn nicht ... denn nicht – wenigstens zu – Haus getroffen?«

»Ach Gott, ja, aber ... aber du weißt ja! Er hat ja auch nichts! Was macht man nu bloß? Man kann sich doch nicht das Leben nehmen?!«

Er hatte jetzt ebenfalls zu weinen angefangen.

»Ach Gott! Ach Gott!!«

Sein Gesicht lag jetzt mitten auf ihrer Brust. Sie zuckte!

»Ach Gott! Ach Gott!!«

Der dunkle Rand des Glases oben quer über der Decke hatte wieder unruhig zu zittern begonnen, die Schatten, die das Geschirr warf, schwankten, dazwischen glitzerten die Wasserstreifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

»Ach, nich doch, Niels! Nich doch! Das Kind – ist ja schon wieder auf! Das – Kind schreit ja! Das – Kind, Niels ... Geh doch mal hin! Um Gottes willen!!« Ihre Ellbogen hinten hatte sie jetzt fest in die Kissen gestemmt, ihre Nachtjacke vorn stand weit auf.

Durch das dumpfe Gegurgel drüben war es jetzt wie ein dünnes, heisres Gebell gebrochen. Aus den Lappen her wühlte es, der ganze Korb war in ein Knacken geraten.

»Sieh doch mal nach!!«

»Natürlich! Das hat auch grade noch gefehlt! Wenn das Balg doch der Deuwel holte! ...«

Er war jetzt wieder in die Pantoffeln gefahren.

»Nicht mal die Nacht mehr hat man Ruhe! Nicht mal die Nacht mehr!!«

Das Geschirr auf dem Tisch hatte wieder zu klirren begonnen, die Schatten oben über die Wand hin schaukelten. –

[80] »Na? Du!! Was gibt's denn nu schon wieder? Na? ...

Wo is er denn? ... Ae, Schweinerei!«

Er hatte den Lutschpfropfen gefunden und wischte ihn sich nun an den Unterhosen ab.

»So'ne Kälte! Na? Wird's nu bald? Na? Nimm's doch, Kamel! Nimm's doch! Na?!«

Der kleine Fortinbras jappte!

Sein Köpfchen hatte sich ihm hinten ins Genick gekrampft, er bohrte es jetzt verzweifelt nach allen Seiten.

»Na? Willst du nu, oder nich?! – – Bestie!!«

»Aber – Niels! Um Gottes willen! Er hat ja wieder den – Anfall!«

»Ach was! Anfall! – – Da! Friß!!«

»Herrgott, Niels ...«

»Friß!!!«

»Niels!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

»Na? Bist du – nu still? Na? – Bist du – nu still? Na?!

Na?!«

»Ach Gott! Ach Gott, Niels, was, was – machst du denn bloß?! Er, er – schreit ja gar nicht mehr! Er ... Niels!!«

Sie war unwillkürlich zurückgeprallt. Seine ganze Gestalt war vornüber geduckt, seine knackenden Finger hatten sich krumm in den Korbrand gekrallt. Er stierte sie an. Sein Gesicht war aschfahl.

»Die ... L – ampe! Die ... L – ampe! Die ... L – ampe!«

»Niels!!!«

Sie war rücklings vor ihm gegen die Wand getaumelt.

»Still! Still!! K – lopft da nicht wer?«

Ihre beiden Hände hinten hatten sich platt über die Tapete gespreizt, ihre Knie schlotterten.

[81] »K – lopft da nicht wer?«

Er hatte sich jetzt noch tiefer geduckt. Sein Schatten über ihm pendelte, seine Augen sahen jetzt plötzlich weiß aus.

Eine Diele knackte, das Öl knisterte, draußen auf die Dachrinne tropfte das Tauwetter.

Tipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipp . . . . . . . . . . . . . Tipp . . . . . . . . . . . . Acht Tage später balancierte der kleine, buckelige Bäckerjunge Tille Topperholt seinen Semmelkorb pfeifend durch das dunkle, dickverschneite Severingäßchen nach dem Hafen runter. Die Witterung hatte wieder umgeschlagen, seine kleine Stupsnase sah zum Erbarmen blau aus.

»Heil dir, Svea! Mutter für uns alle!«

Es hatte gerade fünf geschlagen. Vor dem neuen, großen Schnapsladen an der Ecke der Petrikirche stolperte er. Jesus! Seine Semmeln waren ihm in den Rinnstein geflogen, er war mitten in den Schnee geschlagen. Aber er nahm sich nicht einmal die Zeit, sie wieder aufzulesen. Er kam erst wieder zur Besinnung, als er sich bereits drüben am Jakobiplatz mit beiden Händen an die große, dick beeiste Glocke gehängt hatte, die denn auch sofort oben die ganze Polizeiwache alarmierte. Jesus! Jesus!!

Als der dicke Sieversen dann endlich angestapft kam, konstatierte er, daß der Mann erfroren war. »Erfroren durch Suff!« Seinen zerbeulten Zylinder hatte ihm der kleine, buckelige Tille vorhin grade gegen die Laterne gequetscht. Aus seinen zerlumpten, apfelgrünen Frackschößen sah noch die Flasche.

[82] Wohlan, eine pathetische Rede!

Es war der große Thienwiebel.

Und seine Seele? Seine Seele, die ein unsterblich Ding war?

Lirum, Larum! Das Leben ist brutal, Amalie! Verlaß dich drauf! Aber – es war ja alles egal! So oder so!

[83][85]

Der erste Schultag
I

Der Herr Rektor Borchert saß auf seinem Katheder und ging die eingelaufenen Briefe durch. Es waren wieder drei Stück. Der erste war auf grobem, grauem Armeleutspapier geschrieben und kaum zu entziffern.

Er lautete:


»Herr Borchert

Ich mus ser bedauern das ich Ihnen mit meine wenigkeit belästigen mus da sie mein 6 Jähries Mendchen so gebrigelhaben das nach drei Tage noch braun un blau aus sa da ich mich genöthich finde andre wege zu suchn denn das kann mol ein jeder drum bezale ich mein Schulgelt nich das is nu zu zweiten mal das das Kind zu Hause komt one ein Knopff an das kleid zu habn das andre Kindr ihr die sticken nachbringen

Frau Gorges.«


Herr Borchert hatte das Schreiben wieder sorgfältig zusammengefaltet und steckte es vorsichtig in sein Kuvert zurück.

No. 167!

Mit Blaustift! Das hob sich so besser ab und war übersichtlicher ...

An der Sieben besserte er noch ein klein wenig nach. Der Haken hinten schien ihm noch nicht schwungvoll genug.

So!

[85] Der gehörte in die Schublade rechts. Die Schublade links war für die »Knubbels« reserviert –

Neben ihm stand eine Tasse Kaffee. Er nahm jetzt einen kleinen, behaglichen Schluck draus und ritzte dann auch den zweiten Brief auf.

Dieser war womöglich noch undeutlicher geschrieben und nicht einmal frankiert gewesen. Aber das tat nichts.

Diese reizende kleine Sammlung war ja seine einzige Freude ...

Er las:


»Herr Lehrer.

Ich bitte mein Sohn Emil zu enschulligen weil er die Schule versäumt er hatt so schlimme Augen da bitte ich schon in Bischen Rücksicht zu nehmen und mächte si zuchleich bitten den Kindern nicht so ausverschämt zu hauhen des sie abgeschunden zu hause kommen

Herzlichen Gruß Frau Munk.«


No. 203 a!

Herr Borchert hatte seine kleinen, pechschwarzen Ferkeläugelchen prüfend dem interessanten Dokument genähert.

Gelbes Konzeptpapier und die Linien drauf mit dem stumpfen Ende einer Schere gezogen!

No. 203 a!

Das Blau drauf nahm sich sehr schön aus. Nur den Fettfleck! Den Fettfleck hier links neben der Unterschrift hätte sich die gute Frau Munk sparen können!

Er hatte sich jetzt hinten sein großes, rotbaumwollnes Taschentuch aus der Rocktasche gezogen und schneuzte sich. Dagegen! Dieses dritte Ding! Ordentlich manierlich!

[86] Die Linien auf dem blaßrosa Kuvert waren augenscheinlich zuerst mit Bleistift gezogen und dann sorgfältig nachradiert. Außerdem wies auch die Rückseite noch ein Siegel auf, zu dessen Petschaft ein Zwölfschillingsstück gedient hatte. Es sah gradezu wohlhabend aus!

Das zierliche Briefchen lautete:


»Sehr geehrter Herr Borchert!

Ich frage gehorsamst an warum Sie mein Kind am 31. dieses Monatts das Gesicht blau geschlagen haben, oder ob Sie überhaupt das Recht dazu haben, ein Kind so zu schlagen daß es im Gesicht blau ist, denn wenn das Kind würde am Gehör davon leiden, was leicht möglich sein kann, würden und könnten Sie Ihn die Gesundheit wieder schaffen? Geehrter Herr Sie wissen vielleicht nicht wie sauer einem die Kinder werden, Ich habe mein Gott gedanckt daß ich gesunde Kinder habe und nun bin ich nich willens; daß ich, Meine Kinder von Ihn ungesund schlagen lasse, also ich bitte Sie daß nich noch einmal zu riskiren sonst konnte es etwas darauff folgen.

Hochachtungsvoll Frau Kuhlmann,

Georgenstraße 19.«


Herr Borchert lächelte.

Nummero zweihundertundvier!

Wenn er sich nicht irrte, war diese liebenswürdige Frau Kuhlmann schon seit zirka einem Vierteljahr Witwe. Herr Kuhlmann mußte ihr so eine Art Seifenladen hinterlassen haben. Hm ...

Was nun?

Er gähnte. Ein Riß oben, mitten in der weißen Decke, interessierte ihn lebhaft.

Eine kleine Weile verging.

[87] Sssss ... ssss ... sss ...

Ein dicker, blauer Brummer stieß mit seinem Schädel fortwährend gegen das Fenster und summte.

Ah! Richtig! ... Die Noten! Er wollte ja heute noch Notenlinien ziehen.

Bon!

Er entkorkte das Tintfaß. Die dicke, dumme musca domestica hatte aufgehört, gegen die Scheibe zu stoßen, seine Feder pflügte regelmäßig über das Papier ...


In der Klasse war es ganz still. Die Vormittagssonne, die durch alle drei Fenster zugleich schien, füllte den ganzen Raum. Er war viereckig und mit einer sehr häßlichen, blauen Wasserfarbe angemalt.

Kein Kind rührte sich!

Sie hatten alle ihre kleinen, dicken Händchen fest zusammengefaltet und nun vollauf damit zu tun, ihren Atem möglichst regelmäßig durch ihre kleinen, kreisrunden Naslöcherchen zu blasen. Sie brauchten dabei zugleich nicht so den fremden, aus Lack und Schulstaub gemischten Geruch in sich einzuziehen, der in dem ganzen Zimmer die einzige Luft war.

Ihre kleinen, kirschroten Mäulerchen dabei aufzusperren, trauten sie sich nicht. Der Herr Rektor Borchert, der vorn vor der großen, schwarzen Tafel hinter dem grauenhaften, gelben Holzgestell wie ein alter, hungriger Rabe dasaß, der auf ein Stück Fleisch lauerte, beobachtete sie zu scharf. Es war wirklich schrecklich! Namentlich wenn man so dumm war und vorn auf der ersten Bank saß ...

Die Fliegen, die ihnen über die Nasen liefen, hatten gut beißen. Die kleinen »Knubbels« zwinkerten nicht einmal [88] mit den Augen. Der Herr Rektor Borchert hatte es ihnen streng verboten. Sie sollten sie nur alle still in die Tintfässer vor sich stecken und ihn nicht so anglupen. Sonst gab's was mit seinem Fuchsschwanz! Oh!!

Natürlich taten die kleinen Würmerchen das auch und sahen alle sehr ernsthaft aus. Nur schrecklich rot waren sie dabei.

Ja! Es war ganz still in der Klasse ...


Draußen, hinter dem großen, runden Kastanienbaum, der mit seinen schönen, bunten Blüten in einem fort gegen das dritte Fenster schlug, funkelte eine Turmspitze in den Himmel.

Sonst sah man weiter nichts.

Nur drüben, hoch, auf der anderen Seite des Marktes, die alte Rathausuhr, die auf ihrem schrägen, lichtblauen Schieferdach wie ein runder, weißer Klecks lag.

Die kleine, schwarze Luke drunter war heute mit dem großen, goldnen Spicker drüben, der sich aber auf der Wetterseite bereits dick mit Grünspan überzogen hatte, durch ein Seil verbunden. Dieses Seil war dick mit Kreide beschmiert und zerschnitt den Himmel in zwei große, dunkelblaue Hälften. Denn es war heute Jahrmarkt im Städtchen.

Ari-ben-Aribell, der größte Seilkünstler beider Welten, wollte dort unter hohem Permiß eines gestrengen Herrn Bürgermeisters einem geneigten Publico mit seinen halsbrecherischen Produktionen aufwarten. Auf dem großen, zeisiggrünen Plakat, das der dicke Metzelthien schon am vergangenen Sonnabend unten an die Rathaustür geklebt hatte, war das alles aufs schönste abgemalt gewesen.

Die »Knubbels« wußten das.

[89] Ihre kleinen, verstockten Herzen schlugen, wenn sie daran dachten.

Jeden Augenblick konnte jetzt dieser schreckliche Ari-ben-Aribell seinen Kopf, der ganz rot und weiß war und grade wie bei einem Teufel aussah, drüben aus dem Rathausdach stecken und dann mit seinen merkwürdigen, großen, kirschroten Strümpfen, die ihm hinten bis an den Popo gingen, mitten durch den Himmel bis hoch oben grade auf die Kirchturmspitze klettern! Dort sollte er sich dann mitten auf die große, goldne Kugel stellen und einen wirklichen, schneeweißen Vogel in die Luft werfen! Eine Taube oder einen Lämmergeier! Diese Taube oder dieser Lämmergeier flog dann dreimal rund um die ganze Stadt rum und setzte sich dann zuletzt wieder auf seine goldpapierne Mütze zurück!

Kotel Thiel, der aber ganz und gar bucklig war und dabei mit seinem Finger in das Plakat noch ein großes, rundes Loch gebohrt hatte, Kotel Thiel hatte sogar erzählt, daß er zuletzt auch noch aus einem großen, unsichtbaren Sack allerlei Raritäten – Zuckerkringel, Knackmandeln und Apfelsinen! – unten unter die Pudels werfen würde!

Die »Pudels« waren die Straßenjungens.

Ja! Die! Die!!

Zuckerkringel, Knackmandeln und Apfelsinen! Und nun mußte man hier still in der Schule sitzen und seine Augen immerzu in die dummen, langweiligen, schwarzen Tintfässer stecken.

Es war wirklich zu schrecklich!


Die Sonne, die bis jetzt nur über die Wand und die vielen kleinen, grünen Mützen dran gestrichen war, hatte sich unterdessen endlich auch an das Katheder herangewagt [90] und fing nun an, dem Herrn Rektor Borchert die Fäden an seinem schwarzen Rockärmel nachzuzählen.

Seine Notenfeder hatte er wieder weggelegt. Er pulte sich jetzt mit seinem Federmesserchen die Nägel aus.

Vor ihm stand ein großes, viereckiges Ding, in dem lauter rote, kupferne Drähte aufgespannt waren, auf die man wieder sehr, sehr viele bunte Kugeln gespickt hatte.

Das war die Rechenmaschine.

Wenn der Herr Rektor Borchert wollte, konnte er sie stellen, wie er Lust hatte. Aber er hatte heute keine. Er pulte sich nur die Nägel aus ...


Plötzlich sah der Herr Rektor Borchert auf. Hinten, dicht neben der Tür, hatte eben eine Bank geknarrt. Die »Knubbels« hatten sich alle unwillkürlich tiefer geduckt. Seine kleinen, zugekniffenen Ferkeläugelchen sahen jetzt grün aus. Der kleine Jonathan, der ihn die ganze Zeit über angeschult hatte, steckte seine großen, blauen Jungensaugen wieder schnell in sein Tintfaß.

Ari-ben-Aribell hätte jetzt getrost aus seiner Dachluke klettern können. Nicht um alle Zuckerbrezeln der Welt hätte der kleine Jonathan nach ihm hinschmustern mögen.

Aber er hätte es ruhig tun können! Der Herr Rektor Borchert hatte sich schon längst wieder beruhigt. Die Sache war eben, daß das »Schweinzeug« vor ihm Respekt hatte. Und das »Schweinzeug« hatte Respekt vor ihm.

Den Teufel auch!

Das »Schweinzeug« war seine Klasse. Sie anders zu titulieren war ihm noch nie eingefallen. Die einzelnen Individuen hießen »Knubbels«.

Ja! Es war alles wieder ganz still. Nur die Fliege, die [91] wieder summte, und dahinter das dunkle, dumpfe Gebrande, das unten vom Markt her an die hohen, festen Doppelfenster schlug. Dazwischen ab und zu eine Knubbelnase, die schnurchelte ...


Der kleine Jonathan saß da wie tot.

Seit heute morgen hatte er vor dem Herrn Rektor Borchert einen furchtbaren Respekt bekommen. Kotel Thiel war nicht halb so schlimm! Schon sein Gesicht war so gräßlich! Er sah es überall!

Draußen auf dem großen, runden Kastanienbaum, der mit seinen Blüten wie ein Weihnachtsbaum aussah, mußte es jetzt grade oben auf der Spitze umhertanzen.

Wipp-wapp-wipp-wapp-wipp-wapp – immerzu, immerzu!

Auch jetzt, aus dem häßlichen, schwarzen Tintfaß schwamm es in die Höhe!

Der kleine Jonathan sah es ganz genau.

Es war weiß und dick, wie aus Mehlkleister gemacht, und hatte als Augen zwei kleine, funkelnde Rosinen drin. Dabei hatten sich seine Haare wie solche Schweinsborsten in die Höhe gesträubt und waren knallrot. Außerdem hatten ihm auch die Sommersprossen die ganze dicke Nase noch mit gelben Pickeln betupft. Sicher, er sah noch scheußlicher aus als der Schornsteinfeger Killkant!

Der kleine Jonathan war trostlos.

Nein! Lieber machte er seine Augen schon fest zu. –


Oh! Heute morgen!

Er hatte sich so gefreut! So zum ersten Male in die Schule gehn zu dürfen und dort so klug zu werden, daß man [92] zuletzt ein Geographiebuch hatte und Afrika draus lernte, gewiß, das war zu schön! Zu schön!

Seine neue, rotlinierte Schiefertafel war so hübsch rein abgewischt gewesen, seine Fibel in solch einen dicken, blauen Umschlag gehängt und sein Federkasten, der ganz mit Abziehbildern beklebt war, voll lauter Steingriffel.

Kaffee hatte er schon gar nicht mehr getrunken. Er hatte nur immer am Fenster gestanden und an dem schönen, bunten Blumenstrauß gerochen, den er dem Herrn Rektor auf das große Klassenbuch legen sollte.

Gewiß! Er wollte nur noch immer in die Schule gehn! Nur noch immer in die Schule und dort so klug wie Papa werden!

Ach! Daß das so schwer war, hatte er nie gedacht!

So drei ganze, ausgeschlagene Stunden auf ein und derselben dummen Bank sitzen und dabei immer in ein und dasselbe dumme Tintfaß sehn müssen war keine Kleinigkeit. Ja! Es war sogar eine Gemeinheit! Eine richtige Gemeinheit! Man durfte nicht einmal husten!

Und dann – der schöne, schöne bunte Strauß! Das alte Pferd hatte ihn genommen und zum Fenster rausgeworfen!

Dummheit! hatte es gesagt, Dummheit! Blumen stinken! Pfui!

Und dabei hatte doch Mama sie gepflückt, und das blaue Band drum hatte Mama auch gebunden und Mama hatte sich so gefreut und Mama war so gut und ... Nein! Es war zu gemein! Zu gemein!

Der kleine Jonathan war in Tränen ausgebrochen. – –


Der kleine Bäckermeister Trimpeter, der dicht neben ihm saß und schon seit einer halben Stunde wirklich gar zu [93] gerne mal »rausgegangen« wäre, nahm die Gelegenheit wahr und weinte gleich mit.

Hinter ihm saß der kleine Lewin.

Ihm war eben eine Fliege ins Genick gekrochen und dann so lange auf ihm rumgetappelt, bis sie ihm jetzt richtig mitten vorn auf dem Bauch saß.

Er hätte es natürlich am liebsten ebenso gemacht wie der dicke, dumme Apothekerjunge. Aber der schauderhaft dicke Fuchsschwanz, den der Herr Rektor Borchert vorn unter seinen Rock geknöpft trug, hatte ihm einen zu gewaltigen Respekt eingejagt. Er begnügte sich damit, die grauenhaftesten Gesichter zu schneiden.

Der kleine Konditor Knorr, der kleine Steuereinnehmer Zippe und der kleine Schiffszimmermeister Bohl waren nicht halb so standhaft. Es war, als ob sie alle nur gewartet hätten, daß einer damit anfing. Sie weinten jetzt, daß ihnen die Tränen nur so von den Backen runtertropften. Es war die reine Meuterei!


»Schweinzeug!«

Mit einem Ruck war jetzt der Herr Rektor Borchert aufgesprungen und hatte seinen Fuchsschwanz gezückt. Die Rechenmaschine war quer über die schwarze Kathederplatte geschlagen, das kleine Federmesserchen lag unten neben dem eisernen Spucknapf auf der sandigen Diele.

»Schweinzeug!«

Er schnaubte!

Das »Schweinzeug« war wieder ganz muckchenstill geworden. Nur der Kastanienbaum draußen, der seine scharfgeränderten Zacken über die Bänke zittern ließ, und die Sonne, die dazwischen glitzerte.

[94] Der gräuliche Fuchsschwanz, mit dem der schreckliche Mensch dort oben eben auf seinen gelben Tisch geschlagen, hatte alle Tränen, die das Schweinzeug noch vergießen wollte, mausetot gemacht. Die kleinen Sträflinge saßen jetzt wieder alle da wie schlecht angemalte Holzpuppen. Bloß ihre Gesichter waren noch röter geworden und ihre Augen, statt in die Tintfässer, alle auf den fürchterlichen Fuchsschwanz gerichtet!


Ari-ben-Aribell, der größte Seilkünstler beider Welten, der drüben unter seinem Rathausdache auf diesen Moment nur gewartet zu haben schien, war hinterlistig genug, grade jetzt seinen gräßlichen Hampelmannskopf aus seiner Luke zu stecken.

Seine große, goldpapierne Mütze reichte mit ihrer Spitze bis grade oben ins Zifferblatt. Er hatte sich seine Backen mit Mehl eingerieben und seine Nase mit Zinnober bepinselt. Um seinen Leib hatte er eine dicke Badehose aus Sammet an, die ganz kohlschwarz war und außerdem noch mit kleinen, silbernen Flinkern bestickt.

Nachdem er sich vor dem vor Erwartung lautlosen Publico unten dreimal verbeugt und zwischendurch seine lange, goldgelbe Balancierstange ebenso viele Male hoch in die Luft über sich gewirbelt hatte, setzte er jetzt seinen linken, zierlichen Schuh vorsichtig auf das straffe, weiße Seil und war bereits bis auf die Mitte desselben getänzelt, noch ehe die verblüfften Bauern unten Zeit gefunden hatten, ihre Mäuler aufzusperren.

Kein Knubbel ahnte etwas!

Die Katastrophe draußen hatte sich vollzogen, ohne daß sie auch nur an sie gedacht hatten.

Die wirklichen, schneeweißen Tauben und Lämmergeier [95] waren jetzt alle vergessen. Nur der Fuchsschwanz existierte noch. Nur der Fuchsschwanz! Ihre großen, erschreckten Augen hatten sie alle sperrangelweit aufgerissen.

Nur der kleine Lewin nicht! Er hatte eben mit Schrecken gemerkt, wie die schändliche Fliege ihm grade den Bauch rauf in die Höhe kroch und an seinem Nabel haltmachte.

Uaaah!

Er brach jetzt, um nicht wie die andern vorhin zu weinen und so den Herrn Rektor Borchert noch mehr zu erzürnen, in ein gräßliches Lachen aus.

Der kleine Jonathan wurde weiß wie Kreide.

Gewiß! Jetzt schlug er ihn tot!!

Er mochte gar nicht hinsehen.

Aber er hätte ruhig hinsehen können!

Der Herr Rektor Borchert schlug den frechen Judenlümmel nicht tot. Dem Herrn Rektor Borchert fiel das gar nicht ein. Der Herr Rektor Borchert betrieb sein Handwerk weit gründlicher. Er hatte sein System. Und von diesem System wich er nie ab. Der Fuchsschwanz war nur sein Schreckmittel. Sein Züchtigungsmittel, sein eigentliches Züchtigungsmittel, war sein Siegelring.

Entschieden! Man mußte Grundsätze haben. Man mußte sich z.B. hüten, das Schweinzeug zu schlagen. Man war überhaupt gegen alles Schlagen ... Nein! Knuffen mußte man das Schweinzeug! Knuffen! Die Handvoll Haare, die man ihm dann noch gelegentlich ausriß, zählte nicht ...


Der kleine Lewin lachte noch immer. Aber schon so krampfhaft, daß die Augen ihm aus den Höhlen traten und die Zähne ihm zu klappern anfingen.

[96] Der kleine Bäckermeister Trimpeter, der jetzt an seinen schwindelnden Hoffnungen, mal rausgehn zu dürfen, vollständig verzweifelte, hatte wieder zu weinen angefangen. »Ah!«

Der Herr Rektor hatte seine dünnen Lippen noch fester zugekniffen. Er knöpfte sich jetzt seinen Fuchsschwanz wieder vorn in die Rocktasche.

» ... B ... Blut, kalt Blut, Borchert!«

Er hatte sich wieder schwer auf seinen Rohrstuhl gesetzt. Die Sache eilte ja nicht. Die Sache ...

Er spielte mit seinem Siegelring. Einem sehr schönen, wertvollen Exemplar mit einem sehr schönen, wertvollen Stein drin. Glaube, Liebe, Hoffnung war in seine grüne Fläche geritzt.

Seine kleinen, zugedrückten Ferkelaugen schillerten jetzt in allen Farben. Seine Hände zitterten.

Es war sonst muckchenstill in der Klasse! Nur dieser einzige, aufrührerische, bodenlos freche Judenlümmel und dies Bäckerbalg, das ihn akkompagnierte!

Er hatte sich seinen Siegelring wieder an den Finger gesteckt und klopfte jetzt langsam mit ihm an die Seitenwand seines Katheders.

»Knubbel! Herkommen!«


Der kleine Lewin war mechanisch aufgestanden. Seine dünnen, wachsgelben Fingerchen hatten sich fest um die schwarze Bank vor ihm gekrampft, seine Schultern zuckten. Er bebte an allen Gliedern.

»Herkommen, Knubbel!!«

Die ganze Klasse hatte wieder laut zu weinen angefangen. Dies gräßliche Lachen, das er noch immer ausstieß, ging [97] allen durch Mark und Bein. Ari-ben-Aribell, der jetzt grade draußen auf dem Kirchturmknauf mitten in dem wunderschönen Grünspanklecks saß und dort mit großem Appetit ein lebendiges Huhn verschlang, nachdem er sich eben erst einen blitzblanken, ellenlangen Degen in den Leib gestoßen hatte, hatte jetzt aufgehört, für sie zu existieren. Kotel Thiel hätte jetzt lügen können wie gedruckt. Sie hätten nicht einmal hingehört. Nein! Nur dies Lachen! Nur dies gräßliche Lachen!


Der Herr Rektor Borchert hatte sich jetzt aufrecht mitten auf sein Podium gestellt. Seine Lippen waren weiß geworden. Seine kleinen, spitzen Zähne knurrschten, als ob er an etwas kaute.

»Herkommen, Knubbel?!«

Aber der kleine Lewin hörte nichts mehr. Er lachte nur immer und lachte und lachte ...

Jetzt endlich war der Geduldsfaden des Herrn Rektor Borchert mitten entzweigerissen! Mit einem Satz war er auf den wahnsinnigen Judenhund zugesprungen, hatte ihn an seinem schmierigen Jackenkragen zu packen gekriegt und schleifte ihn nun wutschnaubend auf sein Katheder.

»So ein Hund!! So ein Hund!!!«

Die »Knubbels«, die wieder ganz muckchenstill geworden waren, hatten alle unwillkürlich ihre Augen fest zugemacht. Die ganze große, rote Stube schwamm jetzt in Blut. In Blut. Oh! ... Da!!

Plötzlich, mitten durch all das grausenhafte Schnauben und Gurgeln vorn, hatte draußen vom Flur her deutlich ein feines, schrilles Glöckchen angeschlagen.

[98] Kein »Knubbel«, der nicht jetzt seine kleinen, rosa Öhrchen spitzte!

Das reine Christglöckchen! Es klingelte jetzt, daß es nur so eine Art hatte.

Ja! Ja! Das war der Herr Spaarmann, der liebe, gute Herr Spaarmann! Der Herr Spaarmann! Jetzt brauchten sie nicht mehr zu sterben. Jetzt war die schreckliche, schreckliche Stunde aus. Jetzt ... Oh! Der Herr Spaarmann! Der Herr Spaarmann!

Der kleine Bäckermeister Trimpeter, dem die vielen dicken Tränen schon unten bis unter den Hals gelaufen waren, atmete erleichtert auf. Jetzt durfte er endlich, endlich mal rausgehn ...


Der Herr Rektor Borchert hatte jetzt sein neues, schönes, rotgelb lackiertes Lineal zu packen gekriegt und es mitten unter die »Knubbels« geschleudert.

»Raus! Raus!! Raus!!!«
Er kannte sich selbst nicht mehr!
Das infame, rotznasige Judentier war schon längst neben das Katheder in den Spucknapf geflogen.
Er hatte jetzt auch die große, stählerne Rechenmaschine zu packen gekriegt.
»Raus! Raus!! Raus!!!«
Ah! Diese Knubbels! Diese verfluchten, vermaledeiten Knubbels!!

Aber diese »Knubbels«, diese verfluchten, vermaledeiten »Knubbels« waren schon längst alle die Treppe hinuntergepoltert.

Hals über Kopf! Wie es grade gekommen war!

Der kleine Konditor Knorr, der kleine Steuereinnehmer [99] Zippe, der kleine Schiffszimmermeister Bohl, der kleine Jonathan Grule und wie sie alle hießen!

Allen voran aber natürlich wieder der kleine, dicke Bäckermeister Trimpeter!

Es war wirklich die höchste, allerhöchste Zeit gewesen ...

Oh! Der Hof! Der Hof!!

Wie die warme, weiche Luft dort ihnen wohltat! Wie die Sonne dort oben hoch auf den Dächern lag! Auf den Dächern!! Die roten Schornsteine drauf rauchten, die Spatzen zwitscherten und die Sonne schien!

Oh!! Der Hof!! Der Hof!!


Ari-ben-Aribell, der größte Seilkünstler beider Welten, hatte soeben seine halsbrecherischen Produktionen beendet und verbeugte sich nun submissest vor seinem geneigten Publico.

Seine große, goldpapierne Mütze war ihm vorn über die fuchsrote, dreieckige Frisur weg bis unten tief in die breite, niedrige Stirn gerutscht, sein ganzes grauenhaftes Teufelsgesicht drunter bestand nur noch aus Mehl, Schweiß und Zinnober. Seine dicken, kohlschwarzen Badehosen mußten jetzt klitschnaß sein.

Die »Pudels«, die sich so lange wie große, anständige Leute betragen hatten, fingen jetzt laut zu brüllen an. Ihre dicken, grauen, zerknitterten Tuchmützen waren alle hoch in die Luft geflogen.

Kotel Thiel, der heute selbstverständlich schwänzte, war natürlich wieder mitten drunter. Sein dünner, runder, orangeroter Quintanerdeckel war entschieden der allerforscheste. Er wirbelte immer wieder und wieder in die Höhe. Immer wieder und wieder!

[100] »Ari-ben-Aribell, Ari-ben-Aribell!«

Der größte Seilkünstler beider Welten verbeugte sich wieder.

Er war nur noch Schweiß, Mehl und Zinnober! Nur noch Schweiß, Mehl und Zinnober!

Die Sonne auf seiner langen, goldgelben Balancierstange glitzerte ...


Oben in das stille, geleerte Schulzimmer, in das jetzt der große, runde Kastanienbaum draußen seinen ganzen scharfgezackten Schatten warf, war der stürmische Applaus der enthusiasmierten Jahrmarktsmenge wie ein lauter, lang anhaltender Wutschrei gebrochen.

Der dicke, blaue Brummer hinten in der letzten Scheibe war entsetzt auf das breite, gelbgestrichene Fensterbrett zurückgetaumelt. Er lag jetzt mitten in der tiefen, ausgetrockneten Regenrinne und hampelte dort verzweifelt mit seinen sechs dickbehaarten schwarzen Beinen umher.

Ab und zu versuchte er, sich auch mit seinen kleinen, graudurchäderten, glasharten Flügelchen aufzuhelfen. Schon mehr als einmal war ihm das auch mit Hilfe seines dicken, kohlschwarzen Rüssels fast gelungen; aber regelmäßig kullerte er wieder zurück.

Noch eine kleine Weile, und er mußte rechts durch das große, runde Loch mitten unten in den schrecklichen, stockdunklen Wasserkasten stürzen!

Sein zorniges, abgerissenes Brummen mischte sich abwechselnd in das scheußliche, ohrenzerreißende Gelächter, das noch immer durch das ganze große Zimmer gellte.

[101] Der Herr Rektor Borchert stand da wie gelähmt. Er war mit seinem dicken, krummen Rücken schwer gegen das große, gelbe Gerüst neben die offene Tür getaumelt.

Seine schwarzen, abgeschabten Rockärmel schlotterten ihm wie um zwei lange, dünne Knochen. Seine kleinen, unheimlichen Ferkeläugelchen stierten entstetzt in die große, grellbeleuchtete Ecke neben dem Katheder.

Dort, dicht neben dem kleinen, eisernen Spucknapf, der jetzt umgestülpt war, wand sich etwas, das mit seinen dünnen, krummen Beinchen fortwährend zappelte und mit seinen kleinen, geballten Fäustchen wie wild um sich schlug. Das alte, schmierige Judenkaftanchen war ihm hinten mitten durchgerissen, aus seinen dicken, blauaufgeworfenen Lippen floß es wie Geifer.

Es war der kleine Lewin, der den Lachkrampf bekommen hatte. –

II

»Hier, meine Herrschaften, das Paradies des Sultans von Marokko! Treten Sie ein, meine Herrschaften, treten Sie ein! Man muß so etwas gesehen haben, meine Herrschaften! Man muß so etwas gesehn haben! Die weltberühmte Miß Pepita! Geboren drei Tage hinter dem Mond in der Wüste Sahara! Wo die Bäume ohne Wurzeln wachsen! Speit 40 Fuß in die Höhe und fängt es mit ihrem Rachen wieder auf! Man muß so etwas gesehn haben! Treten Sie ein! Die Vorstellung wird sogleich beginnen! Soldaten und Kinder zahlen nur die Hälfte! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein!«

Tschullu Wabuhu, der Mohr aus Pernambuco, konnte kaum noch jappen. Er hatte sich heute sein dickes, rundes [102] Kartoffelgesicht mit Ruß eingerieben und seinen spitzen, speckigen Bierbauch in ein dünnes, weißbaumwollenes Trikot gezwängt. Durch die weiten, groben Maschen schimmerte deutlich seine rosa Haut durch.

»Das Paradies des Sultans von Marokko! Treten Sie ein, meine Herrschaften! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein!«

Seine Stimme überschlug sich, seine runden, weißen Froschaugen waren ihm dick aus den dunklen Höhlen gequollen.

Das Publikum, das die Bude dicht umdrängte, sperrte Nasen und Mäuler auf. Dieser Mohr aus Pernambuco imponierte ihm!

Mit einem einzigen, furchtbaren Faustschlag, der allen durch Mark und Bein fröstelte, hatte er sich eben seine hohe, spitze Filzmütze, die fingerdick mit Kreide bestrichen war, bis unten, hinten in das rote, wulstige Genick runtergeschlagen und begann nun den bisher noch unübertroffenen, noch nie dagewesenen Kriegstanz des Königs Murri-Tschidschi-Wauwau. »Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau!«

Seine dicken, runden Fäuste, die rot mit Ochsenblut beschmiert waren, hieben wie wütend auf die große, himmelblaue Pauke ein, die ihm an einem langen, gelben Ledergurt vorn von den Schultern herab bis unten grade mitten vor den Bauch baumelte, die dünnen Bretter unter ihm krachten.

»Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau!«

Noch fünf Minuten, und er mußte in die gräßlichsten Zuckungen verfallen sein!

[103] Die »Pudel« wagten kaum zu atmen. Um besser sehn zu können, hatten sie sich alle auf Spitzzehen gestellt. Pole Lackner war sogar auf eine Wagendeichsel geklettert! Etwas weiter nach rechts, auf der anderen Seite des Podiums, stand steif wie aus Holz geschnitzt Eliza Barberini, der Stern aus Paramaribo. Er war wie eine Balletttänzerin kostümiert und schlug die Triangel.

Dazwischen hinter den dünnen, kirschroten Portièren, grade über der kleinen, hölzernen Treppe, auf der großen, umgekippten Zuckerkiste, die heute aber dick mit Goldbronze bepinselt war, saß Mardochai. Die schönen, langen, schneeweißen Troddeln an seinen Ohren hingen ihm unten bis auf die große, kohlschwarze Kasse aus Ebenholz herab, die er bewachte.

»Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau!«

Da! Jetzt! Pffff ... bauz, rin in die Pauke!

Das Publikum, aus dessen Mitte der Stein geschleudert worden war, hatte sich unwillkürlich etwas geduckt.

Nanu? Donnerwetter! Alle Hälse waren jetzt wieder in die Höhe gereckt. Der große, ziegelrote Kanten war der armen Pauke grade oben durch das runde, weiße Fell mitten in den himmelblauen Bauch geplautscht.

»Aah!! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Ptschau, ptschau, ptschau!!«

Tschullu Wabuhu, der Mohr aus Pernambuco, hatte plötzlich seinen bisher noch unübertroffenen, noch nie dagewesenen Kriegstanz des Königs Murri- Tschidschi-Wauwau mitten entzweischnappen lassen.

Sakra!! Er hatte es ganz deutlich gesehn! Die Bestie war so ein kleiner, verschrumpelter Rotzjung' gewesen, der einen runden, orangeroten Lateinschülerdeckel aufgehabt hatte.

[104] »Na wacht! Wacht!«

Er hatte seine infame Pauke hinter sich auf das dünne, bretterne Gerüst gebullert und bohrte sich nun mit seinem dicken, runden Niggerschädel mitten durch die verblüfften Bauern. Seine spitze, weiße Mütze war ihm hinten unter die kleine, hölzerne Treppe gerollt, er hob sie nicht einmal auf!

»Wenn ick di kreeg, Kreet, wenn ick di kreeg! Wenn ick di kreeg, wenn ick di kreeg!«

Das Publikum, welches sich von seinem Schreck wieder erholt hatte, johlte.

»Griep em, Tschullu! Griep em! Griep em!«

Tschullu schäumte!

Links aus dem Cagliostrotheater setzte eben die Blechmusik ein.


M-ta, m-ta, m-tata,
M-ta, m-ta, m-tata,
Bum, bum, bum!

Mardochai saß oben auf seiner Zuckerkiste und heulte. Der ganze Jahrmarkt war jetzt wie verrückt geworden! Die Meerkatzen drüben aus der Menagerie zeterten, die Löwen brüllten, die Kakadus schrien, die Schmalzkuchen dufteten, die Schusterbuden stanken.

»Griep em, Tschullu! Griep em, griep em!«

Nur der Stern aus Paramaribo hatte sich nicht gerührt. Er stand noch immer wie aus Holz geschnitzt auf der andren Seite und schlug die Triangel. Seine langen, dünnen Beine, die noch immer in den zerplatzten, gräßlich grünen Trikots staken, standen noch genauso steif da wie vorhin.

[105] Seine spärlichen, straffen Haare hingen ihm wie ein Gewirr von langen, schwarzen Bindfäden über die gelben, knochigen Schultern.

»Griep em, Tschullu! Griep em! Griep em!«

Der Stern aus Paramaribo rührte sich nicht. Er stand nur ruhig da und schlug seine Triangel. Es ging nun schon in das siebenundvierzigste Jahr, daß er taub war ...

»Wenn ick di kreeg, Kreet, wenn ick di kreeg! Wenn ick di kreeg, wenn ick di kreeg!«

Aber Kotel Thiel war längst über alle Berge! Tschullu Wabuhu, der Mohr aus Pernambuco, konnte ihm jetzt den Buckel langrutschen!


Draußen auf der sogenannten Bauernvorstadt, zwischen den letzten kleinen, verkrumpelten Häuserchen, die zu beiden Seiten der Chaussee mit ihren alten, gelben, geflickten Strohdächern bis unten in die vielen kleinen, kreisrunden Pfützen tauchten, in denen Holzscheite, Papierkähne, Enten und Strohwische schwammen, hatten die Jahrmarktsleute ihr Barackenlager aufgeschlagen.

Dicht vor seinem Eingange, neben einer alten, umgekippten Tonne, aus der sich ein langer, dünner Teerfaden bis unten mitten in den gelben Sand gebohrt hatte, war Kotel Thiel endlich stehngeblieben.

»Puh, die Hitze!«

Das Diarium, das ihm von seinem schnellen Humpeln bis unten auf den Bauch gerutscht war, hatte er sich wieder fest unter seine Weste geknöpft.

Die ganze Bauernvorstadt war heute wie auf den Kopf gestellt.

Hier, neben einem kleinen, dreieckigen Vorgärtchen, über dessen graue, schiefgenagelte Bretter sich nur eine [106] einzige große, gelbe Sonnenblume bog, stand ein großer, roter, abgeschirrter Wagen, aus dessen beiden Blechschornsteinen es dick rauchte; dort, zwischen zwei braunen, wackligen Lehmmauern hatte eine keifende Bajazzofamilie ihr buntes, niedriges, zerrissenes Zelt aufgeschlagen. Auf einem langen, gelben Leiterwagen, an dem drei kleine, dürre, kohlschwarze Klepper angehalftert waren, hockte ein altes, weißhaariges Zigeunerweib und lutschte aus einer dicken, verstaubten Weinflasche kalten Kaffee. Ihre roten Triefaugen hatte sie stier aufgerissen, die gelben Münzen an ihrem blauen Kopfputz klackerten.

Dazwischen überall kleine, ungezogene Bälge, die sich die Gesichter mit Ziegelrot beschmiert hatten, Kobolz schossen und dabei die vielen großen, angeketteten Hunde ärgerten. Die meisten barfuß und im Hemde. Alle aber braungebrannt und flachshaarig.

Auf einem umgekippten, kupfernen Kessel saß ein Clown und nähte sich Schellen an seine Kappe. Dahinter, halbnackt zwischen zwei ausgespannten Wolltüchern kauernd, vor einem kleinen, runden Taschenspiegelchen, ein junges, rothaariges Weib. Ein kleines, splitternacktes Kind steckte sich neben ihm grade seine kleinen, rosa Zehchen in den Mund und lachte. Nicht weit davon, in dem ausgetrockneten, staubigen Chausseegraben, zwischen den Wurzeln einer riesigen, dunkelgrünen Pappel, ein Brett mit der Aufschrift: »Heute abend bei Eintritt der Dunkelheit feenhafte Beleuchtung.« –

»Quatsch!«


Kotel Thiel hatte seine Hände großspurig in die Hosentaschen gesteckt und spuckte nun verächtlich aus.

Die kleinen, flachsköpfigen Bälge zwischen den Tümpeln [107] hatten eben dicht hinter der Mauer unter Steinen und Brennesseln einen alten, zerbrochenen Kochtopf gefunden und tuteten nun die Nationalhymne auf ihm. Um den ersten kleinen, blauen Tümpel herum veranstalteten sie einen Gänsemarsch. Der Lehm unter ihren kleinen Füßen platschte, ihre Hemden flatterten. Ulle Lüders, der einen Dreispitz aus Strohpapier aufhatte, allen voran.

Kotel Thiel überlegte noch.

Die beiden großen, weißen Störche oben auf Linkerholts Scheune waren jetzt von dem plötzlichen Lärm unten scheu geworden und schwammen mit großen, weitausgebreiteten Flügeln, die langen, dünnen Beine wie zwei riesige, rote Streichhölzer zurückgeklappt, nach dem fernen, grünen Stadtwalde zu. Dort lag die Eselswiese, auf der es still war und Frösche gab. Ihr großes, rundes, schwarzes Nest starrte leer hinter ihnen auf dem spitzen, weißgemauerten Giebel in den dunkelblauen Himmel.


Nee! Hier war nischt los! Partutemang nischt!

Kotel Thiel hatte wieder verächtlich in die dämliche Tonne gespuckt.

Partutemang nischt!

Er wollte jetzt durch das Tor wieder in die Stadt zurück.

Aber noch ehe er die kleine, hölzerne Brücke passiert hatte, war er schon wieder stehngeblieben.

»Donnerwetter! Das ... nee! – Du! Jung! Rotzvieh! Du schwänzt doch nich etwa? Ich denke, du Aff, du ochst jetzt?!«

Der kleine Jonathan war puterrot geworden. Er war eben hinten durch das kleine, gelbe Häuschen an der Mauer dem Herrn Rektor Borchert, der den armen, kleinen [108] Judenjungen totgeschlagen hatte, ausgerückt und wollte sich nun hinten um die Bauernvorstadt rum zu dem alten Vater Lorenz oben in den Wald schleichen. Nach Hause wollte er nie mehr zurück. Aber er hatte seine dicke, blanke Doppelkrone genommen, die ihm sein Papa heute in den Kittel gesteckt, und fest drum die Hand zugemacht.

»Na, du Kuhjung'? Wird's bald?«

Kotel Thiel hatte ihm eins forsch auf die Schulter geschlagen. »Na?«

Er kramte eifrig in seinen Taschen rum.

»Na? Oder willst du Backzähne schlucken, Jungchen?!«

Der kleine Jonathan zitterte an seinem ganzen Leibe.

Kotel Thiel fing sich immer Frösche!

»Na? Eins – zwei – Himmel – und? Und? Na?«

Kotel Thiel hatte sich jetzt dicht vor ihn hingestellt und fuchtelte ihm nun mit seinem gräßlichen, blanken Federmesser in einem fort vorm Gesicht rum.

»Ach, du! Ach, du! Ach, Kotel! Ach, lieber, lieber Kotel!«

Der kleine Jonathan hatte jetzt laut zu weinen angefangen. Kotel Thiel schlitzte ihnen damit immer den Bauch auf!

»Nich? Na, denn nich, du Schafskopp!«

Kotel Thiel hatte sein greuliches Groschenmesser großmütig wieder zuschnappen lassen.

»Glaubst du, daß ich nich weiß, daß dein Vater Pillendreher is? Glaubst du, daß ich mir an dir die Finger schmutzig machen wer'?«

Kotel Thiel wußte sich auf einmal kaum zu lassen vor [109] Ekel. Er hatte eben das dicke, blanke, runde Ding in seiner Hand gesehn und war sich sofort darüber klar geworden, was das sein mußte. Er steckte sein Messer wieder ruhig in die Tasche. Sein Plan war gefaßt.

»Glaubt der Aff', daß ich ihm den Bauch aufschlitzen wer'! Nee Duchen! Weißt du, was du bist? 'n Aff' bist du!«

Der kleine Jonathan trocknete sich noch immer mit seinen beiden Fäusten die Tränen aus den Augen. Kotel Thiel spielte immer Indianerchen! Er schluchzte nur so.

Kotel Thiel hatte sich jetzt nach allen Seiten hin vorsichtig umgesehn.

Es war niemand in der Nähe. Nur die kleinen, halbnackten Flachsköpfe, die mit ihren kleinen, schmuddligen Füßchen in den vielen runden Tümpeln ringsum rumpatschten, und die paar kleinen Mädchen, die sich hinten an den kurzen, zerrissenen Hemdchen gepackt hielten, damit sie nicht mitten zu den Papierkähnen unter die Enten purzelten. Eine alte Frau, die auf einer Steinschwelle hockte, war über ihrem blauen Strickstrumpf eingeschlafen. Ihre Hornbrille war ihr über ihre kleine, eingefallne Stubsnase auf ihr spitzes, behaartes Kinn gerutscht.

Es war alles sicher.

Die bunten Gräser oben auf der Stadtmauer nickten, ihre langen, blauen Schatten fielen unten auf die rosa Rücken zweier kleinen, dicken Ferkelchen, die sich mit ihren spitzen Schnauzen in den gelben Sand gewühlt hatten und nur noch mit den Ohren zuckelten, wenn eine Fliege über sie wegkroch. Weiter hinten bei den Bajazzos wurde grade ein kleiner Bengel durchgeprügelt. Sein jämmerliches [110] Geschrei zeterte über die ganze Bauernvorstadt hin. Hinten, ganz fern auf der Chaussee, ein großer weißer Mehlwagen ...

Kotel Thiel war jetzt gradezu manierlich geworden.

»Weißt du, Mensch? Soll ich dir mal was sagen?«

Der kleine Jonathan sah auf. Wenn Kotel Thiel zu einem »Mensch« sagte, brauchte man keine Angst vor ihm zu haben.

»Ich mein' ...«

Er war jetzt auf einmal puterrot geworden. Er hustete.

»Ich mein' ... also ... kurz und gut, du Aff', du sollst mir was pumpen!«

Er hatte sich wieder die Hände mitten in die Hosentaschen gesteckt und sah nun den kleinen Jonathan drohend an.

Der kleine Jonathan hatte seine Augen vor Schrecken groß aufgerissen. Er war kreidebleich geworden.

»Natürlich brauchst du Knubbeljung' nich gleich zu denken, daß ich dir dein koddriges Geld nich wieder zurückgeb'! Glaubst du, ich bin ein Jud'? Du gibst mir einfach von deinem Alten noch was Lakritzensaft zu, und dann geb' ich dir Maikäfer für. Na? Zu, du Aff'! Glaubst du, ich hab' hier so lange Zeit, zu stehn un nich in die Schul' zu gehn? Glaubst du, wir haben heute keine Schul', du Aff? Du bist ausgekniffen, du Aff'! Du schwänzt! Na? Willst du nu oder nich? Eine ganze Schachtel voll! Eine ganze dicke, große Schachtel! Lauter Müller und Schornsteinfeger! Na?«

Kotel Thiel hatte seine ganze Beredsamkeit aufgeboten. Er stand jetzt breitbeinig vor ihm da.

»Na?«

Die beiden kleinen, rosa Ferkelchen, denen eben zu [111] gleicher Zeit zwei dicke, blaue Brummer über die Schnauzen gekrochen waren, hatten sich jetzt beide auf ihre runden Rücken rumgesühlt und grunzten. Ihre acht kleinen, dicken Beine stakerten in die Luft.

Der kleine Jonathan schwankte noch.

»Maikäfer?«

»Zum Donnerwetter, ja doch! Maikäfer, du Aff'! Verstehst du denn nich? Maikäfer!«

Kotel Thiel fing jetzt endlich wirklich an, die Geduld zu verlieren. Er mußte heute noch absolut seinen Aufsatz einschreiben: »Der seltene Edelmut des Horatius Cocles!« Er fing an: »Schon die alten Phönizier.«

»Also, willst du nu oder nicht? Eine ganze Schachtel voll!«

»Auf Ehre?«

Der kleine Jonathan hatte gehört, wenn Kotel Thiel zu einem »auf Ehre!« sagte, dann war alles wirklich und auf Ernst.

»Auf Ehre?«

Kotel Thiel war wieder rot geworden.

»Natürlich, du Aff'! Auf was denn sonst? Ich bin doch kein Jud'? Wenn du nochmal sagst, du Aff', daß ich ein Jud' bin, dann knuff' ich dir das Fell voll, aber wer' dir keine Maikäfer schenken! Glaubst du, ich bin ein Jud'? Wenn du nich gleich sagst, daß ich kein Juditzig bin ...«

»Da!«

Der kleine Jonathan hatte seine dicke, weiße Patschhand groß aufgemacht. Er hatte sie so lange hinter seinem Rücken gehalten. Die schöne, harte, blanke Doppelkrone lag mitten drin.

»Also eine ganze große, dicke Schachtel voll! Müller, Bäcker und ...«

[112]

»Au Knaatsch! Au Knaatsch!! Au Knaatsch!!!«

Der kleine Jonathan stand da!

Kotel Thiel war mit seiner schönen, harten, blanken Doppelkrone die lange, dunkle Torstraße in die Höhe gelaufen und stand jetzt breitbeinig über dem Rinnstein. Das schöne, silberne Ding schwenkte er immer nur so rund um seine Mütze rum.

»Au Knaatsch! Au Knaatsch!! Au Knaatsch!!!«

Der kleine Jonathan dachte nicht einmal dran, seinen Mund aufzumachen.

Die bunten Gräser oben auf der Stadtmauer zitterten, unten in dem Teerstreifen spiegelte sich die Sonne.

Plötzlich war der kleine Jonathan wieder zusammengefahren. Aus dem nächsten Bauernhaus mitten unter die kleinen, halbnackten Flachsköpfe hatte sich eben ein altes, triefäugiges Weib gestürzt und bearbeitete sie nun mit einem großen, strubbligen Besen, der auf einen roten Birkenpfahl gespießt war.

»Will'n ji rin un stoppen Strümp?!«

Die kleinen Bälge liefen was sie konnten. Mutter Kerstens hinterdrein.

»Will'n ji rin un stoppen Strümp?«

Die beiden kleinen, rosa Ferkelchen hatten sich erschreckt unter die alte Stadtmauer geflüchtet, mitten zwischen die dicken Nesseln!

Der große, weiße Mehlwagen war die lange, staubige Chaussee runtergekommen und ratterte schwerfällig über die Brücke.

»Au Knaatsch! Au Knaatsch!! Au Knaatsch!!!«

Der kleine Jonathan stand da wie tot. Er sah nur noch die Sonne, die sich unten in dem schwarzen Teerstreifen spiegelte.

[113] III

Endlich, am Abend, als die Sonne schon rot hinter den stillen, schwarzen Tannen stand, wagte sich der kleine Jonathan wieder aus seinem Versteck. Sein ganzes schönes, neues Kittelchen war mit Moos beklebt, seine kleinen, kurzen Stulpstiefelchen staken voll Erde. Er war furchtbar hungrig!

Wenn er sich jetzt nicht zu dem alten Lorenz traute und um ein Stückchen Brot bettelte, mußte er sterben. Dann zerrissen ihn die Wölfe, und die Krähen hackten ihm die Augen aus. Dann war er so tot wie der kleine Lewin.

Er war wieder stehngeblieben.

Ein großer, roter Strauch hatte ihm hinten in sein zerrissenes Kittelchen einen Dorn eingehakt. Die dicken, blauen Beeren dran waren gewiß giftig.

Oh, er konnte nicht einmal mehr weinen!

Die Farren standen hier noch so hoch, daß sie ihm bis über den Bauch reichten. Ein Bündel Glockenblumen schwamm wie eine kleine, blaue Insel drin. Die großen, bunten Schmetterlinge drüber waren alle schon schlafen gegangen. Über einer kleinen, runden Lichtung spielte nur noch ein dicker, dunkler Schwarm Mücken in der goldnen Luft. Jetzt, irgendwo in der Ferne, sang ein Vogel Bülow. Der ganze Wald roch nach Pilzen.

Der kleine Jonathan seufzte. Er konnte sich kaum noch weiterschleppen.

Seine Händchen waren ihm dick geschwollen, seine langen, braunen Locken hingen ihm wirr über die kleine, weiße Stirn und über die großen, blauen Augen drunter, die ihm wehtaten. Bei jedem Schritt über die dicken, braunen Wurzeln unten stolperte er.

[114] Der alte Lorenz war dem kleinen Jonathan sein bester Freund. Er kam immer unten in die Apotheke und verkaufte Kräuterchen.

Sein kleines, rotes Häuschen stand draußen dicht am Waldrand. Aus seinen beiden niedrigen Fensterchen, hinter denen das ganze Jahr durch immer Goldlack, Fuchsien und Verbenen blühten, konnte man grade unten auf die vielen alten, spitzen, grauen Dächer sehn.

Oben auf seinem kleinen, kohlschwarzen Schornsteinchen saßen heute zwei Tauben, die sich schnäbelten. Die dicken, dunklen Tannen drüber, die jetzt im Abendwinde leise ihre spitzen, vergoldeten Kronen schaukelten, duckten ihre starren, untersten, grünen Äste bis grade dicht auf ihr weiches, weißes Gefieder. Der alte, dicke, faule Plumpsack Pluto unten lag quer vor der Tür und schnarchte. Die kleinen, breiten Fensterchen zu beiden Seiten blitzten, der ganze, weiche Waldboden davor war mit Stroh bestreut.

Dazwischen die zwölf kleinen, kohlschwarzen Hühnerchen, die nach Regenwürmern pickten und dabei in einem fort gackerten.

Der kleine Jonathan atmete tief auf. Er hatte sich eben hinten durch das kleine, grüne Petersiliengärtchen verstohlen über die graue, ausgetretne Steinschwelle geschlichen und stand nun mitten in dem langen, schmalen, dunklen Flur.

Die Sonne, die von vorn her schräg durch die runde, rissige Tür schien, deren untere, viereckige Hälfte offenstand, lag noch auf einem Teil des Fußbodens. Er war rot geziegelt. Der kleine Jonathan hatte sich jetzt mit seinem kleinen, runden Kopf schwer gegen die dicke, weiße Wand gelehnt. Sie war eiskalt! Er fühlte, wie ihm sein [115] kleines Herz klopfte. Seine Augen hatte er fest zugemacht ...

Rechts hinter der dünnen, braunen Tür, die in die große, blaue Wohnstube führte, hörte er deutlich, wie in das Ticken der alten Kuckucksuhr etwas schnurrte.

Schnurr ... schnurr ...schnurr ...

Das war das kleine, rote Eichkaterchen drin, das sein Bauerchen drehte.

Dazwischen über ein morsches Holz tippelte etwas mit seinen Pfoten.

Tipp-tapp ... tipp-tapp ... tipp-tapp ...

Immer hin und her! Immer hin und her!

Das war der alte Rabe Jakob, der wieder spazierenging.

Der kleine Jonathan hörte es ganz deutlich! Ab und zu blieb er stehn und schimpfte.

»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«

Dann blieb das kleine, rote Eichkaterchen jedesmal ganz erschreckt sitzen, und alles war wieder eine Zeitlang ganz still.

Ganz still ...

Der kleine Jonathan hatte jetzt seine Augen wieder groß aufgemacht.

Die zwölf kleinen, kohlschwarzen Hühnerchen draußen, ab und zu, gackerten, der alte, dicke Pluto, der mit seinem grauen Hinterteil noch grade vorn in das rote, warme Sonnenviertel reichte, schnarchte, die Tauben oben über dem Dache gurrten, die Tannen drüber rauschten.

Der kleine Jonathan horchte.

Das war grade wie ein Märchen! Das war wie das Haus von der alten Hexe ...

Nur der alte Papa Lorenz ließ sich nicht hören! Der saß [116] jetzt wahrscheinlich wieder in dem großen, ledernen Lehnstuhl neben dem Fenster und schlief. Bloß, er schnarchte heute nicht!

Der kleine Jonathan schwankte noch. Endlich aber faßte er sich ein Herz.

Er stellte sich auf Spitzzehen und klinkte den runden, eisernen Drücker auf.

»Schnurr ... schnurr ... schnurr ... Dummkopf!«

Er stand jetzt mitten in der Stube!


Die Sonne, die schräg durch das breite, niedrige Fensterchen fiel, schien dem alten Vater Lorenz grade mitten in den alten, runzligen Mund. Er stand groß auf und hatte keine Zähne mehr. Vorn auf seiner dicken, blauen Zunge saß eine kleine Fliege. Sie putzte sich eben ihre schwarzen Hinterbeinchen.

Ganz erschreckt war der kleine Jonathan stehngeblieben.

Noch nie hatte er gewußt, daß ein Mensch so die Augen aufhatte, wenn er schlief!

Der alte Papa Lorenz hatte sie starr oben auf den großen, weißen Balken an der Decke gerichtet, von dem an dem roten, zerrissenen Schnupftuch noch vom vergangenen Winter her das alte, leere, hölzerne Vogelbauerchen baumelte.

Seine runde, blaue Brille, die in der Mitte dick mit Werg umwickelt war, saß ihm grade vorn auf der dünnen, schneeweißen Nasenspitze. Rechts und links auf den blanken, ledernen Lehnen seine beiden Hände. Die Finger dran alle weit auseinandergespreizt, die dicken, blauen Adern drum schwarz geschwollen.

Seine schöne, neue, lange Pfeife war ihm eben ausgegangen. [117] Sie stak mitten zwischen seinen alten, dünnen Beinen, die heute dick mit weißen Lappen umwickelt waren.

»Dummkopf!«

Der kleine Jonathan war unwillkürlich zurückgeprallt.

So zornig hatte er den alten Raben Jakob noch nie gesehn.

Die dünnen, schwarzen Federn auf seinem Rücken hatten sich gesträubt, seine Augen funkelten.

»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«

Er hackte jetzt mit seinem großen, schwarzen Schnabel wie wütend auf das breite, morsche Fensterbrett ein.

Die vielen kleinen, bunten Blumentöpfe drauf wackelten, von den mittelsten Fuchsien plumpten jetzt nacheinander drei dicke, rosa Blüten runter.

Der kleine Jonathan sah alles ganz genau! Er hatte sich nach und nach bis hinten hinter das grüne, wacklige Küchentischchen geflüchtet.

Die erste lag unten mitten in dem kleinen, weißen Zuckerschälchen, die zweite hing der großen, himmelblauen Kaffeetasse dicht daneben noch grade schief über den dünnen abgeschabten Goldrand, die dritte war gleich dahinter mitten in die tiefe, runde, grünbraune Schnupftabaksdose gefallen. Quer davor aus dem alten, rotgefütterten Lederfutteral stak das Rasiermesser von dem alten Vater Lorenz!

»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«

Seine beiden alten, welken Hände waren kraftlos rechts und links über die Lehnen runtergeschlottert, seine Pfeife lag jetzt unten mitten zwischen dem blauen Blumenschatten. Das dicke, schwarze Vieh hatte sich ihm eben mitten auf den Bauch plumpen lassen.

[118] Der kleine Jonathan zitterte an allen Gliedern.

Der alte Papa Lorenz schlief noch immer!

Seinen dicken, schwarzen Schnabel hatte der alte Rabe Jakob mitten in die alte, blaßrote Flanelljacke gehakt. Um nicht unten in die dicke Pfeifenasche zu fallen, schlug er dabei wütend mit den Flügeln. Sie waren kurz und an ihren Enden abgehackt. Jetzt hatte er endlich auch den ersten großen, runden Hornknopf zu packen gekriegt. Er biß sich dran fest! Die Nähte drumrum krachten, er kletterte langsam in die Höhe. Er konnte jetzt vor lauter Wut nicht einmal mehr schreien. Er krächzte nur noch.

»Kraah ... kraah ... kraah ...«

Der kleine Jonathan hatte sich jetzt bis ganz hinten hinter den großen, grünen Kachelofen verkrochen. Eine entsetzliche Angst hatte ihn gepackt. Er wollte schreien! Großvater!! Aber er konnte nicht! Seine kleine Kehle war ihm wie zugeschnürt ...

Der alte Vater Lorenz saß noch immer da. Die kleine, schwarze Fliege aus seinem Munde war aufgesurrt und stieß jetzt mit ihren kleinen, blauen, glasharten Flügelchen fortwährend gegen den dicken, weißen Balken oben.

»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«

Das kleine, rote Eichkaterchen in seinem Bauerchen hatte sich mit seinen krummen Pfoten vorn in die Drahtsprossen gehakt und sah neugierig nach dem Raben rüber. Der war das rotgestreifte Kissen in die Höhe bis oben auf den Lehnstuhl geklettert und saß nun dem alten Vater Lorenz grade mitten über dem Kopfe. »Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«

Seine spitze, abgelederte Brust hatte sich ihm dick aufgebläht, seine schwarzen Flügel schlugen.

[119] Der kleine Jonathan hätte am liebsten zu weinen angefangen.

Wenn der alte Papa Lorenz jetzt nicht endlich aufwachte, hackte er ihm den Kopf ab!

»Großvater! Großvater!«

Ah! Jetzt hatte das alte, schwarze Vieh ihn gesehn. Seine Schwanzfedern hatten sich gesträubt, seine Augen funkelten. Fast wäre es mit seinem dicken, schwarzen Schnabel vornübergewippt. Aber er hielt sich noch!

»Kraah! Kraah!! Kraah!!!«

Mit einem Ruck war es jetzt dem alten Lorenz mit seinen scharfen, spitzen Krallen auf den alten, nackten Kopf gesprungen.

»Kraah!!!«

Dem kleinen Jonathan war es eiskalt über den Rücken gelaufen.

Der alte Papa Lorenz hatte nicht einmal Muck gemacht! Sein Kopf war lautlos vornübergewippt, die Kinnlade unten auf die rote, eingefallne Brust gestoßen, der Mund gräßlich zugeklappt und die kleine, schwarze Fliege drin, die sich eben wieder auf seine Zunge gewagt hatte, begraben. Der alte Rabe Jakob aber war bis unten auf die gelben, schrunzligen Dielen mitten in die dicke, graue Pfeifenasche gekullert.

»Kraah! Kraah!!«

Er hatte sich wieder aufgerappelt und kam sehr zornig auf den kleinen Jonathan zugehumpelt.

»Kraah! Kraah!«

Über die Pfeife stolperte er.

»Kraah!«

Das kleine, rote Eichkaterchen drehte wieder wie toll sein Bauerchen.

[120] Schnurr ... schnurr ... schnurr ...

Der kleine Jonathan hatte die Tür hinter sich zugeschlagen. Er wußte von nichts mehr!

Nur noch die Mama, die Mama!

Als er sich dann aber draußen über den alten, dicken Pluto weg mitten unter die kleinen, kohlschwarzen Hühnerchen stürzte, schlugen von unten aus der Stadt her grade die Glocken an. Feierabend!

Das war dem kleinen Jonathan sein erster Schultag.

[121][123]

Ein Tod

Endlich, nachdem jetzt der alte Svendsen unten seine eintönige Patrouille eingestellt hatte, konnte sich auch Olaf nicht mehr länger aufrecht erhalten.

Die lange Nachtwache, der scharfe Karboldunst, der das ganze enge, schwüle Zimmer füllte, das feine Ticken der Taschenuhr drüben vom Sofatische her, das leise, unermüdliche Brühen und Blaffen, mit dem sich das Öl in der kleinen, tiefheruntergeschraubten Lampe verzehrte, sein eigenes Blut, das ihm in den Ohren summte und zwischendurch wie fernes, dünnes Glockengeläute klang: das alles betäubte ihn!

Er hatte sich jetzt in den alten, großen, kattunenen Lehnstuhl dicht neben dem Bett noch tiefer zurücksinkenlassen. Die glitzernde Flüssigkeit in dem halbvollen Glase neben ihm, die er vergeblich zu fixieren suchte, war jetzt in einen orangefarbnen Lichtklecks verschwommen, der allmählich ins Bläuliche überging, Schließlich war's nur noch ein braunroter Funke, der übrigblieb, zuletzt war auch der verloschen. Alles schien jetzt schwarz! Das Glas, das Bett, die Lampe, das ganze Zimmer ...

Sein Kinn war ihm auf die Brust gefallen, er war eingeschlafen.


... Gott sei Dank! Er war wieder wach geworden. Es mußte eine Maus gewesen sein!

Sein Schatten, der jetzt lang und wunderlich geknickt drüben über die weiße, niedrige Tür weg, das kleine, blaue Stück Tapete drüber und die alte, verräucherte Zimmerdecke hinfiel, brachte ihn wieder zu sich.

[123] Er sah nach der Uhr.

Drei!

Der Kranke lag noch immer da wie tot.

Er hatte sich jetzt über ihn gebeugt.

Das trübe, grellrote Lampenlicht zeichnete die Augenhöhle neben der spitz vorspringenden Nase wie ein tiefes, scharf umrändertes Loch in den Schädel.

»Armer Kerl!«

Das große, feuchte Handtuch über seiner Stirn war jetzt wieder behutsam zurechtgerückt, er war jetzt abermals in seinen Lehnstuhl zurückgefallen.

»Armer Kerl!«

Und nun wieder nur das leise, unermüdliche Brühen der Lampe, das Ticken der Uhr und Jens, der sich jetzt auf dem alten, wackligen Sofa drüben im Schlaf auf die andere Seite gedreht hatte ...

Olaf seufzte.

Der schmutzige, gelbe Lichtfleck oben an der alten, rissigen Decke zitterte und zitterte, die Uhr tickte, das Blut summte, er war abermals eingeschlafen.


»O ... Oolaf!!«

Unten, irgendwo auf dem totenstillen Hofe hatten eben ohrenzerreißend ein paar Katzen aufgekreischt; jetzt war auch Jens in die Höhe gefahren.

»Um Gottes willen! Was ...«

»Halt's Maul! ... Diese verfluchten Biester!«

Er war jetzt wieder total munter.

Jens gähnte.

»Ha ... hach! Ich ... ich glaub', ich – hab 'n bißchen geschlafen!«

Er hatte den Kneifer, der ihm auf das Sofa gerutscht war, [124] aufgeknipst und drückte ihn jetzt wieder auf seine Stumpfnase. »Hm!«

»Geht's besser?«

»Nein! Er schläft immer noch!«

»Hm!«

Eine Weile war alles wieder still. Sogar die Katzen draußen hatten sich auf einen Augenblick beruhigt. Jetzt sah auch Jens nach seiner Uhr. Sie war stehngeblieben.

»Drei! Nicht wahr?«

»Ja! Erst!!«

»Schön! ... Ist noch Bier da?«

»Ja! Ich glaube.«

Jens ging nachsehn. Seine dicken Filzsocken machten seine Schritte unhörbar. Vor dem Bette blieb er einen Augenblick stehn.

»Du! Vielleicht wird's doch besser!«

Olaf zuckte nur die Achseln.

Eins ... zwei ... drei ... fünf Stück noch.

»Dir auch eine?«

»Nein! Danke!«

»Aah! das tut wohl! – Übrigens ... scheußlicher Muff hier!«

»Ja! Zum Zerschneiden!«

»Schauderhaft! Schauderhaft!«

Er hatte sich jetzt, beide Hände in den Hosentaschen, dicht vor das Fenster gestellt.

»Dieses verdammte Viehzeug!«

Olaf, der schon eine ganze Zeit auf dem kleinen, rotgeheizten Bücherregal über der Kommode gekramt hatte, sah auf.

»Ja! Weiß Gott! Schon die ganze Nacht!«

[125] Jens sah jetzt auf den Hof hinaus. Er hatte die Gardinen beiseite genommen.

Drüben auf die dunkle Wand des Hinterhauses hatten die beiden Fenster ihre zwei trüben Lichtvierecke gelegt, oben auf einem Schornstein zeichneten sich die schwarzen Schattenrisse zweier Katzen deutlich gegen den blauen Nachthimmel ab. Zwei, drei Sternchen flinkerten müde über den mit einem leisen, grauen Lichte überzogenen Dächern.

»Tegnér? Hm! Na! Ist ja schließlich egal!«

Plötzlich hatten sich beide wieder unruhig umgedreht.

Ein scharfes Knacken war deutlich durch das totenstille Zimmer gegangen.

»Nein! ... Nein! ... Es war wieder nur der dämliche Schrank!«

»Ich dachte schon ... hm! Wenn's nur nicht wiederkommt!«

Jens hatte unwillkürlich tief aufgeatmet.

Seiner ganzen Länge nach hatte er sich jetzt wieder über das Sofa geworfen.

Olaf hatte sich den Tegnér dicht unter die kleine, altmodische Lampe gerückt, um deren Glocke ein großer, gelber Zeitungsbogen gesteckt war, dessen Zipfel bis auf den Tisch herunterreichte.

Die Blätter knitterten unter seinen Händen. Den Ellbogen aufgestützt, las er jetzt halblaut vor sich hin.


»Wie schön die Sonne lacht! Wie freundlich
Von Zweig zu Zweigen ...«

Wieder knitterten die Blätter. Die Furche zwischen seinen dichten, buschigen Augenbrauen hatte sich noch tiefer gegraben.

[126] Jens, der jetzt auf dem Bauch liegend über das Seitenkissen des Sofas weg zwischen den Arabesken der Gardinen hindurch den kleinen, grünen Stern drüben über dem Schornstein beobachtete, langweilte sich scheußlich.

»Willst du nicht lieber 'n bißchen schlafen?«

»Nein!«

»Aber Kind! ... Warum nicht? Ich löse dich ab!«

»Laß nur! ... Kann nicht schlafen!«

»Ae! Eigentlich! Ich auch nicht mehr!«

Ein langes Schweigen war eingetreten. Stumpf und müde starrten die beiden vor sich hin.

»Du!«

»Ja?«

»Nichts!«

»Was denn?«

»Still! Hörst du nichts?!«

Unten im Flur krackelte jetzt etwas an der Haustür herum. »Aha!«

Schläfrig blinzelte jetzt Jens wieder nach seinem Stern hinüber. »Hm!«

Olaf blätterte wieder weiter.

Unten hatte es unterdessen das Schlüsselloch gefunden und drehte nun mühsam auf. Es torkelte herein.

»Du! Hör mal den!«

»Na? Ei, du Donnerwetter!«

Schwer kam es jetzt die Treppe in die Höhe gestapft. Am Geländer hielt es sich. Manchmal polterte es wieder ein paar Stufen zurück. Es schnaufte und prustete. Eine tiefe, heisere Baßstimme brummte. Jetzt, endlich kam es schwerfällig über den Flur. Ein dicker Körper war dumpf [127] gegen eine Tür geschlagen. Ein abgebrochener Fluch, dann half es sich wieder weiter.

»Heiliger Bimbam!«

Jens lachte leise.

Jetzt hatte es sich sogar gegen die Wand gestemmt und schurrte sich daran entlang. Ein paar Kalkstücke waren abgebröckelt und prasselten unten auf die Dielen.

»Was?! Famose Kröte!«

»Still mal!!«

Es kam ... ja! ... es kam sogar ... auf die Tür zu?

Jetzt ... Schwer war es dagegen gekracht! Der dumpfe Schlag war durch das ganze Zimmer gegangen.

»Herrgott! Was ist denn das für ein Knote?!!«

Olaf war steil in die Höhe gefahren.

Auch Jens war die Sache etwas bunt geworden ...

Sie standen jetzt beide mitten im Zimmer, die Augen aufmerksam auf die Tür gerichtet.

Es tastete nach der Klinke.

»Das heißt ...«

Schnell, auf den Zehen, war jetzt Olaf auf die Tür zugegangen.

Aber in demselben Augenblicke war sie auch bereits aufgeprallt und ein unförmiger, schwarzer Klumpen über die Schwelle weg prustend ins Zimmer gekugelt.

Der kühle Luftzug hatte die kleine Lampe neben dem Bett hoch aufflackern lassen.

Jens war sofort zugesprungen.

Mit Olafs Hilfe gelang es ihm endlich, den Betrunkenen aufzurichten.

In dem matten Schein der Lampe jetzt ein blaurotes, gedunsenes Gesicht, das mit seinen kleinen, verschwommenen Augen blöde im Zimmer umherglotzte. Unter [128] dem eingedrückten Hut vor dünne, flachsblonde Haare in die rote, fette, schweißtriefende Stirn.

»Mein Herr! Bitte!«

Ein Schlucken und Schnieben war die einzige Antwort.

»Sie sind fehlgegangen!«

»Wa ... hbf ... wa ... waas? Hbf! ...«

»Sie sind fehlgegangen!«

»Ah! ... En ... en ... hbf! ... schul ... jen ... i ... hbf! ...

ich ...«

»Bitte!«

»Hb! Hbf! ...«

Hinterrücks war jetzt der Dicke mit seiner Verbeugung auf den Flur zurückgetaumelt. Olaf drückte die Tür fest an und drehte den Schlüssel um ...

»Nette Wirtschaft hier!«


Endlich hatten sie sich wieder beruhigt.

Olaf blätterte wieder zerstreut in seinem Tegnér herum, Jens hatte sich auf das Sofa zurückgeworfen und blinzelte wieder schläfrig vor sich hin durch die Gardine.

Am Kopfende des Bettes, in irgendeinem Winkel, summte verschlafen ein durch das Licht aufgestörter Brummer.

Die Taschenuhr tickte, vom Schrank her ein paar Holzwürmchen. Jetzt, oben in der dritten Etage, klappte endlich auch die Tür zu.

Durch die dünne Decke durch hörte man deutlich, wie es plump auf ein Bett fiel ...

Das matte, fahle Licht oben auf den Dächern war jetzt ein wenig heller geworden ...

Olaf schüttelte sich. Ihn fröstelte. Den Lampendocht schraubte er etwas höher. Das scharfe, totblasse Gesicht [129] des Kranken, in dessen feuchte Stirn unter dem Handtuch vor wirr die schwarzen, nassen Haare quollen, zeichnete sich jetzt noch schärfer.

»Ach Gott, ja!«

Müde hatte Olaf den Kopf auf seine beiden Arme gelegt, die er gegen die Tischkante gestützt hatte.


Plötzlich waren sie beide erschrocken zusammengefahren!

Das Bett hatte diesmal ganz deutlich geknarrt.

Ein unruhiges Rauschen. Ein Stöhnen. Bleischwer hatte es auf das bauschige Deckbett geklappt.

Atemlos starrten die beiden hin ...

»Ah! ... aaah!! ...«

Schnell hatte sich jetzt Olaf über den Kranken gebeugt.

»Jens! Jens!«

»Hier!«

Der Kranke war jetzt noch unruhiger geworden. Sein Kopf drehte sich nach allen Seiten. Seine tiefliegenden, dunklen Augen waren weit aufgerissen. Seine Nägel kratzten scharf über den Bettbezug. Seine blassen, bläulichen Lippen bewegten sich. »Du! Komm her!«

»Ja!«

Aber wieder lag er jetzt regungslos. Nur seine langen, abgemagerten Hände, die unruhig an dem Deckbett zupften. Ein paar Sekunden lang war alles still ...

Jetzt, kaum hörbar:

»Wasser ...«

»Schnell! Schnell!«

»Da!«

Olaf hatte sich mit dem Glase wieder über das Bett[130] gebeugt. Vorsichtig, leise schob er dem Kranken seinen langen, sehnigen Arm unter den Kopf. Behutsam rückte er ihn ein wenig in die Höhe und drückte ihm das Glas an den Mund ...

Gierig hatte der Kranke getrunken! Seine irren Blicke waren jetzt starr auf den schmutziggelben, bebenden Kreis oben über den weißgestrichenen, niedrigen Querbalken der Decke gerichtet ...

Das leise, zitternde Klappen des leeren Glases, das Jens auf den Tisch zurückstellte, und die Taschenuhr drüben.

»H ... h ... Los! Los denn doch!!«

»Du! Du!«

»Ja!«

»Auf die Mensur! Fertig! Los!!! ... Ah! ... Hier! Hier!

In die Seite! ... Ah! Aaah! ... Es schmerzt! Es schmerzt, Olaf! Olaf! ... Hu! Das Blut! Das Blut! ... Das ganze Gras ... aaah! ... Das ganze – Gras ... Das ganze Gras ...«

Jens schüttelte sich. Es überlief ihn.

Olaf hatte sich jetzt noch tiefer über das Bett gebückt.

»Martin! Martin! Alter Junge!«

Seine Stimme zitterte etwas.

»Jens! 'n frisches Tuch!« ...

»Hier!«

»Ah ... das Gras ist ... feucht! ... kühl ... so kühl ...

Wir müssen fort, Olaf ... Die Droschke ... unten ... Ruhig, Kind! Ruhig! Der Kerl soll dran glauben!! – Wart mal! Wart mal! Der Briefträger? Flinsberg, alter Junge! Keinen Schilling mehr, aufs Wort! ... Geld! Geld! Mutterchen hat doch geschickt ... Mutterchen! ... Aber es wird ihr schwer, Olaf! ... Sie sagen's nur nicht ... [131] sagen's nur nicht! Hier, Herr Doktor! ... Bitte! ... Wunderschön! ... das Getreide ... Die Vögel ... Ach, Herr Doktor! ... Laßt doch! ... ihr braucht mich doch nicht zu halten ... ich kann ja allein ... nicht doch! ... Laßt doch!!«

Er wand sich. Olaf hatte jetzt beide Arme um ihn geschlungen.

»Nein! Nicht doch! Laß doch, Jens! ... Mach keinen Unsinn! Gib meine Mappe her! ... Ich muß ins Kolleg! ... Sauf's! Sauf's! ... Rest weg! ... Donnerwetter! So 'ne wüste Zecherei! ... Aber ... aber ... nicht, nicht doch! ... Laß doch – los!! ... Ach – laß doch nur! Laß!! ... Silentium! Wir wollen eins singen!«

Mit seinen abgemagerten Armen schlug er jetzt wild in der Luft herum. Seine langen, schmalen Hände schlenkerten in den dürren Gelenken.

Olaf stöhnte.

»Wir singen eins! ... Das erste Lied! ... Seite ... Nein doch! ... Laß! ... Laß!! Laß doch – loos!!!«

»Jens! ... Faß ... mit – zu!«

»Los! Los!! – Loos!!! ... Laßt mich doch! Laßt mich doch!! ... Aah! Aaahh!!«

»Fest! – Fest!! ... Er – will – raus!!!«

Ein Brett, das sich unten aus der alten Bettlade gelöst hatte, war jetzt auf die Dielen gekracht. Sie wurden hin und her geschleudert ...

Endlich hatten sie Martin in das zerwühlte Bett wieder niedergezwängt. Er lag jetzt erschöpft da. Er schwatzte nur noch halblaut vor sich hin. Das runtergezerrte Deckbett hatte Jens wieder sorgsam über ihm zurechtgerückt. Beide atmeten schwer ...

[132] Draußen in der Nachbarschaft krähte jetzt ein Hahn.

»Ah! Es schmerzt! Es schmerzt ja so!! Aah!! Aaaah!!! ...

Olaf! Olaf!!«

»Ja? Mein Junge? ... Ich bin's ja! Und Jens! ... Wird dir besser?«

Er hatte sich wieder zu ihm niedergebeugt. Seine Brust keuchte noch. Er konnte kaum sprechen.

»Ja! – Ja ... Die Sonne scheint so wunderschön ... Draußen ... Heut abend bei Bergenhuus ... am Strand ... Nicht wahr, Nora? ... Ach, schon Morgen ... Bloß ein Frosch! ... Nicht doch ... bloß ein Frosch ... Hier! Hier! Das Gras ist so schön ... Oh, nicht wahr? Wir werden uns nie vergessen? ... Nie ... nie ... Oh, nicht wahr? ... Noch ein Kuß? ... Hm? ... Gute Nacht ... Der Mond ... so schön ... dort ... über der See ... so rot ... so groß ... so groooß ...«

Er lag jetzt da, mit halbgeschlossenen Augen. Er lächelte.

»Er wird ruhig!«

»Ja ...«

Olaf hatte sich jetzt wieder aufgerichtet. Einen Augenblick hatte er seinen Arm gerieben. Jens wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.

»So kühl ... so schön ... so ...«

Olaf hatte Martin wieder das feuchte Handtuch festgerückt. Jens war zur Lampe getreten.

»Vier ... vier erst ... h! ...«

Er stand jetzt wieder am Fenster.

»Wenn's doch erst Tag wär'!!«


Der fahle Lichtschein draußen auf den Dächern war jetzt heller geworden. Das erste Morgendämmern legte ein [133] mattgoldiges Gelb auf die moosigen, schwarzroten Dachziegel und auf den viereckigen Schornstein drüben. Der enge Hof unten lag in einem silbergrauen Dämmerlicht. Langsam schlich sich der anbrechende Morgen an der Fensternische entlang in das dumpfige Zimmer. Das Glanzleder des Sofas hatte leise zu schimmern angefangen, der unruhige Lichtfleck oben an der Decke wurde immer blasser. Der Docht der Lampe, von welcher Olaf den Zeitungsbogen genommen hatte, war nur noch ein rötlich kohlender, stinkender Ring.

Draußen krähte wieder der Hahn. Ein leiser Windstoß strich am Fenster vorbei. In der Nachbarschaft kräuselte sich aus einem Schornstein ein feiner, weißer Rauch in das mattblaue, eckige Stück Himmel über den Hinterhäusern.

»Wann können sie denn da sein?«

»In zwei Stunden, denk' ich!«

Jens hatte sich wieder umgedreht.

»Du! Komm! – Schnell!«


»Nein! Nein! ... Die Bummelei hat keinen Zweck! Wir wollen jetzt arbeiten! Arbeiten!!«

»Du!«

»Herrgott! Herrgott!«

Leise schwatzte er jetzt wieder vor sich hin.

Plötzlich hatte er sich blitzschnell, mit einem jähen Ruck, steil aufgerichtet.

»Jens! ... Schnell! ... Schnell! ... Nie-der! Nie-der!

Der Ver-band!«

»Wir wollen eins singen!! ... Wir wollen eins singen!!«

Martin sang ...

[134] Seine Stimme gellte heiser durch das Zimmer.

»Fest! Halt – fest!!«

»Fttt!! Das war ein inkommentmäßiger Hieb! ... Bitte den Herrn Unparteiischen zu konstatieren ... h!! ...h!!

Hierher ... Aaaahh!! ...«

Martin war sich mit beiden Händen nach seinem Leib gefahren.

»Faß fest zu! Um – Gottes willen! ... Er – reißt sich ... den – Verband los!!«

Martin raste.

»Halt ... was ... du – kannst!«

Jens war mit dem Kopf gegen den Bettpfosten geflogen.

»Die verfluchte Kugel! ... Es wird mir dunkel ... so dunkel ... Jens ... ich sterbe! ... Ich – sterbe ja!! ... Ida! Mutterchen! ... Sie waren so stolz auf mich ... Ah! Herr Doktor? ... Gratuliere, mein lieber Junge! ... Gratuliere! ... Aber, ich ... ich will ja! ... Nein, Nora! nur ein Frosch, Kind! ... Sieh doch! ... das Meer ... es wird ... ganz schwarz ... schwarz ... Mutterchen! ... Mutterchen ... Es wird ja alles noch gut ... gut ... Ah! Aaah!! ... Gute Nacht ... h! – h! – Gute Nacht, Herr ... H ... Herr – Doktor ...«

»Laß 'n bißchen los! – Er wird ruhig!«

Jens richtete sich auf. Sein Atem ging schwer, mühsam.

Er besah sein Handgelenk. Es war blau. Ein paar blutige Streifen zogen sich drüber hin.

»Lösch ... die ... Lampe aus! Sie kohlt!«

Erschöpft war Olaf wieder in seinen Lehnstuhl zurückgesunken.

[135] Im Zimmer wurde es jetzt hell. Die Messingtüren an dem weißen Kachelofen neben der Tür funkelten leise. Draußen fingen die Spatzen an zu zwitschern. Vom Hafen her tutete es.

Unten hatte die Hoftür geklappt. Jemand schlurfte über den Hof. Ein Eimer wurde an die Pumpe gehakt. Jetzt quietschte der Pumpenschwengel. Stoßweise rauschte das Wasser in den Eimer. Langsam kam es über den Hof zurück. Die Tür wurde wieder zugeklappt.

Sie sahen zu dem hellen Fenster hin. Unwillkürlich hatten sie beide tief aufgeatmet.


»Du! Olaf! Sieh mal!«

Olaf antwortete nicht. Er hatte nur den Kopf ein wenig zum Bett hingedreht.

»Er liegt wie tot!«

»Ich glaube ... Hm!«

Er sah nach der Uhr.

»Wir müssen 'n neu'n Verband anlegen! Gib doch mal den Eisbeutel!«

Jens reichte ihm den frischen Eisbeutel vom Tisch herüber. Behutsam legten sie Martin den neuen Verband an.

Olaf brummelte etwas Unverständliches in seinen langen, strohgelben Schnauzbart.

»Ich glaube, die Wunde ist – nicht sorgfältig genug gereinigt! Es sind sicher noch Stoffäserchen von der Hose dringeblieben! ... Sieh mal!«

Sie hatten sich beide auf die Schußwunde niedergebückt, die Martin seitwärts im Unterleibe hatte.

»Du! Sieh doch nur! ... Er verändert sich ordentlich!«

»Hm!«

[136] »Er liegt so still!«

»Ja! Wir müssen den Arzt holen lassen!«

»Ich will klingeln?«

»Ja!«

Hastig war Jens zur Tür gegangen. Grell tönte die Klingel unten durch das noch stille Haus ...


Der erste Sonnenstrahl blitzte jetzt goldig über die Dächer weg in das Zimmer. Er lebte einen hellen Schein auf die dunkelblaue Tapete über dem Bett und zeichnete die Fensterkreuze schief gegen die Wand. Die Bücherrücken auf dem Regal funkelten, die Gläser und Flaschen auf dem Tisch fingen an zu flinkern. Die Arabesken des blanken Bronzerahmens um die kleine Photographie auf dem Tisch mitten zwischen dem weißen, auseinandergezerrten Verbandzeug und dem Geschirre glitzerten. Auf den Dächern draußen lärmten wie toll die Spatzen. Unten auf dem Hofe unterhielten sich ganz laut ein paar Frauen.

»Donnerwetter! Ist das eine wüste Wirtschaft hier!«

Jens, der zum Sofa ging, war über ein paar Stiefeln gestolpert, die mitten im Zimmer auf dem verschobenen, staubigen Teppich lagen.

»Mir ist ganz öd im Schädel!«

Schwer hatte er sich wieder auf das knackende Sofa sinken lassen. Olaf hatte nicht geantwortet.

Jens reckte sich.

»Übrigens ... Es war eine schneidige Mensur!«

»Ja! Sehr korrekt!«

»Ja! Sehr ehrenhaft! – Für beide!«

»Eversen ist ins Ausland, nicht wahr?«

»Wahrscheinlich!«

[137] Jens betrachtete nachdenklich die beiden blitzenden Pistolenläufe über dem Sofa. –

»Wenn sie nun kommen?«

»Hm!«

»Ae!«

Jens gähnte nervös.

»Wo bleibt denn dieser alte – Ohrwurm?!«

»Wann können sie denn hier sein?«

Olaf hatte sich vom Bett in die Höhe gerichtet.

»Ich denke, nach sechs?«

»Hm!«


... »Na endlich!«

Jens war aufgesprungen. Hastig schloß er die Tür auf.

»Guten Morgen, meine Herren!«

»Guten Morgen, Frau Brömme!«

Die kleine, dürre Frau Brömme stand mit ihrem vorgestreckten, ängstlichen, verrunzelten Gesicht in der Tür. Ihre kleinen, grauen Augen hatte sie halb fragend, halb verstimmt gleich auf das Bett gerichtet. Mit ihren dürren Fingern zupfte sie an ihrem Schürzenband.

»Wie steht es, Herr Doktor?« »Schlecht! Wollen Sie schleunigst zum Arzt schicken!«

Olaf hatte nicht vom Bette aufgesehn.

»Ach, du lieber Gott! ... Es wird doch ...«

»Und ... bringen Sie bitte etwas frisches Wasser!«

»Ja! Sofort! Sofort! O du lieber Gott! Du lieber Gott!«

Die letzten Worte waren schon draußen vom Flur gekommen.

Im Zimmer nebenan wurde es jetzt lebendig. Ein Fenster wurde geöffnet. Jemand stimmte eine Geige.

»Der Philologe! Er steht jeden Morgen um sechs auf und [138] spielt! Könnten wir nicht das Fenster ein bißchen aufmachen? Es ist zum Umkommen!«

»Ja! Etwas!«

Jens öffnete. Tief aufatmend sog er die frische Morgenluft ein.


Weich und klagend klangen die Töne der Geige, auf der der Philologe jetzt nebenan eine alte Volksballade spielte, auf den sonnigen Hof hinaus in das Zwitschern der Spatzen und das Gurren und Flügeklatschen der Tauben. Von fern, durch die klare Morgenluft, deutlich die hellen, zitternden Schläge einer Turmuhr.

Sie lauschten beide. Ihre bleichen, überwachten Gesichter waren tiefernst ... Vor der Tür hatte es jetzt geklirrt. Jens öffnete. Frau Brömme kam mit dem Wassereimer und Kaffee. Vorsichtig trippelte sie auf den Tisch zu. Sie ließ kein Auge vom Bett.

»Hier ... hier, Herr Doktor! Etwas Kaffee, meine Herren! Du lieber Gott, ja!«

Olaf tauchte ein Handtuch in den Eimer und wrang es aus. Es plätscherte. Frau Brömme nickte.

Jens schlürfte von dem Kaffee.

»Wie der arme junge Mann aussieht! Du mein Gott! Ach wissen Sie, es ist eine rechte Sünde, das Duellieren!«

»Eh! Der Arzt kommt doch bald?«

»Sofort! Sofort, Herr Doktor! Sofort! Ach Gott! So ein junger Mann, an den seine Mutter alles gewendet hat! Entschuldigen Sie! Aber sagen Sie selbst, meine Herren! Und schließlich, um eine Kleinigkeit, um nichts, wenn man's so nimmt' Das ist doch wahr, meine Herren!« Olaf und Jens hatten eine sehr reservierte Miene angenommen.

[139] »Ach ja! Man kann was erleben, wenn man zwanzig Jahre an Studenten vermietet hat!«

Olaf war müde in seinen Stuhl zurückgesunken.

»Ach, Sie müssen auch schön müde sein, Herr Doktor! ... Ja, ein richtiges Buch könnte man schreiben! Glauben Sie? Nebenan wohnte mal ein Herr Eriksen, der kriegte ganz und gar das Delirium! Hier! In meinem Hause! O Gott, wenn ich noch ...«

»Hm! ... Wollen Sie – gleich noch etwas Eis heraufbringen!«

»Eis! Eis! Jawohl, jawohl, Herr Doktor! Sofort! O du lieber Gott!«

Sie trippelte hinaus.


»Alte Hexe!«

Olaf hatte das zwischen den Zähnen vorgezischelt. Jens schüttelte sich. Es fröstelte ihn.

»Unheimlich!«

Nebenan klang noch immer die Ballade durch die dünne Holzwand. Im Zimmer fingen die Fliegen an zu summen ...

»Du!«

»Was denn?!«

»Er liegt so auffallend still?«

»Ja! ... Und ... Herrgott! Sieh mal!! Seine Nase ist – so spitz? Und ... die – Augen ...«

Olaf hatte sich schnell über Martin gebückt.

Um seinen Mund lag jetzt ein krampfiges Lächeln. Die Arme lagen lang über das zerwühlte Bett hin. Das scharfe, spitzige Gesicht, auf welches jetzt schräg die Sonne fiel, war wachsbleich.

»Man ... man spürt – den Puls gar nicht – mehr ...«

[140] »Was??«

»Ach ... Er ... er ist ja – tot??!«

»W ...??«

»Tot!!«

»Tot?? ... Du meinst ... tot???«

Die Worte blieben Jens in der Kehle stecken. Er zitterte.

»Tot?«

Es war, als ob er an dem Worte kaute.

»Es ... es ... ich will ... die Wirtin ...«

»Laß!!«

Olaf hatte sich tief über die Leiche gebeugt. Er drückte ihr die Augen zu ...

Eine Minute war vergangen. Sie hatten nicht gewagt, sich anzusehn.


Draußen kamen jetzt leichte Schritte die Treppe herauf.

Die Wirtin sprach mit jemand.

Sie sahen sich an.

»Es kommt wer!«

»Ach ... wahrscheinlich – der Arzt!«

Jens zupfte an dem untersten Knopf seines Jacketts herum. Sein Atem keuchte leise. Unverwandt sahen sie zur Tür hin.

Jetzt ...

»H ... herein ...«


»Bitte, meine Damen! O du lieber Gott! ... Bitte!«

Scheu waren sie jetzt vom Bett zurückgetreten. Sie wagten kaum aufzusehn.

In der offenen Tür stand eine schmächtige, ältliche Dame in einem einfachen, schwarzen Tunikakleidchen. Noch [141] halb auf dem Flur draußen ein frisches, hübsches Gesichtchen, das ängstlich suchend, schüchtern über ihre Schulter sah.

Leise, mit einem halben Lächeln, war sie jetzt in das dumpfe, unfreundliche Zimmer getreten. Ihre leise zitternde Hand, durch deren lila Zwirnhandschuh ein schmaler Goldreif glitzerte, hatte sie halb wie fragend erhoben ...

Jetzt hatte sie sich über die Leiche gebeugt ...

Draußen zwitscherten die Spatzen, die Tauben gurrten in der blendenden Morgensonne. Vom Fenster bis zum Bett zog sich ein lichter Balken wimmelnder Sonnenstäubchen. Nebenan noch immer die weichen Töne der Geige.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

»Mama!!!«


Notes
Erstdruck unter dem Pseudonym Bjarne P. Holmsen, Leipzig (Verlag Carl Reissner) 1889. Der Text folgt der Ausgabe: Neue Gleise. Gemeinsames von Arno Holz und Johannes Schlaf, Berlin (F. Fontane) 1892, aus der auch die beiden Vorworte stammen.
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TextGrid Repository (2012). Holz, Arno. Papa Hamlet. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8284-8