[208] An Madame Hensel 1
Die Muse, die zu blut'gen Leichen
Den Geist des Sophokles geführt;
Um ihre Stirn das Laub von Eichen,
Von Cedern, die der Blitz gerührt;
Sie zeigte Dir den nahen Ruhm
Mit ewig dauerhaften Kränzen;
Du gingst, in Deinen ersten Lenzen,
Mit ihr vertraut ins Heiligthum:
Da wälzten Donnerwolken sich;
Du sahst den Dolch, der Bosheit Rächer,
Du sahst den giftgefüllten Becher,
Und Ketten rasselten um Dich;
Du sahst die bebende Natur,
Voll Laster und voll Ungeheuer:
Mit nie gefühltem Schauder fuhr
In Dich ein allgewaltig Feuer,
Das, von dem Himmel angefacht,
[209]Zur Göttin eine Clairon macht.
Nun aber sank der finstre Schleyer,
Und Dir erschien Melpomene,
Gleich einer hohen Grazie,
Mit jungem Lorberreis geschmückt;
Kaum hatte sie Dich angeblickt,
So lerntest Du die schönen Thränen,
Den süßen Ton, das leise Sehnen
Der Liebe, die voll Unschuld fleht;
Und jene stille Majestät,
Womit am Throne der Tyrannen,
Die das Verdienst in Kerker bannen,
Die unbesiegte Tugend steht.
Schon leitet Dich, mit stolzen Schritten,
Unsterblichkeit an ihrer Hand.
Ihr Grabmaal bey Monarchen fand,
Und unser kaltes Vaterland,
Das im Palast ein Ordensband,
Mehr, als den großen Geist in Hütten,
Mehr, als erhabne Werke, schätzt,
Nicht Säulen Dir von Marmor setzt;
[210]So denk: es lebet noch Dein Name,
Wenn um die bald vergeßne Dame,
Die Dir ein gnädig Lächeln giebt,
Kein später Enkel sich betrübt.
Ihr, die der Musen Chor geliebt,
Ihr ruht in schönen Lorberhainen,
Wo Götter euren Tod beweinen,
Und heilig, wie ein Tempel, ist
Das stille Grab, das euch umschließt.