[217] Die Nachtigall

Eine Fabel


Die zartgebaute Nachtigall
Verbarg sich vor dem großen Schall
Der noch entfernten Donnerschläge;
Nicht weit von ihr, am offnen Wege,
Saß ungeschützt, mit seiner Brut,
Ein schwarzer Rabe, voller Muth,
Und hörte kaum die Donnerschläge.
Da sah die bange Sängerinn
Nach ihrem kühnen Nachbar hin.
»Warum«, so klagte sie bescheiden,
»Muß diesen Räuber ich beneiden?
Mich nennen Wiese, Busch und Flur,
Den kleinen Günstling der Natur;
Und doppelt fühl' ich jedes Leiden.«
[218]
Ein Schäfer, der vorübergieng,
Vernahm den Klageton, und fieng
Den Frühlingsbothen an zu fragen:
»Ob nicht die Luft, an heitern Tagen,
Ob nicht das erste Grün, im May,
Den Nachtigallen schöner sey,
Als denen, welche nimmer klagen«?
Der weise Schäfer hatte Recht.
Es giebt ein nervichtes Geschlecht
Von unerschrocknen Männerseelen;
Jedoch aus ihren heisern Kehlen
Geht keine Göttermelodie,
Und Rabenkinder werden nie
Zu still behorchten Philomelen.

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TextGrid Repository (2012). Jacobi, Johann Georg. Gedichte. Ausgewählte Gedichte. Die Nachtigall. Die Nachtigall. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8A9B-1