[211] An meinen Bruder

Halle, im May.


Im Schatten jener Bäume, Freund,
Die uns der beste Vater pflanzte,
Dort, wo, mit Zärtlichkeit vereint,
In unsern Reihen Freude tanzte,
Wo wir als Kinder einst gespielt,
Im Jünglingsalter einst gefühlt,
In den getreuen Finsternissen,
Auf jenes Moos, an jenem Bach,
Wo, unter brüderlichen Küssen,
Mein Herz mit deinem Herzen sprach;
Dort lagre Dich zum jungen Lenze,
Dort schleichet meine Muse nach,
Und windet Dir die ersten Kränze.
Soll, o mein Liebster! soll sie Dir
Die ländlich frohe Wohnung schildern,
In welcher ihre Lieder mir
Den Kummer vieler Tage mildern?
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Willst Du den kleinen Garten hier,
Willst Du die angenehmen Höhen
In ihrer stillen Einfalt sehen?
O Freund! hier redet die Natur
Im fernen Wald, auf naher Flur,
In ungekünstelten Alleen,
An meinem Hügel hier, im Klee,
Wo sanft, wie meine Galathee,
Die Lämmer unter Blumen gehen.
Belauschet von der Hirten Chor,
Sing ich hier oft, mit Deshoulieren 1
Den Schäfchen meine Klagen vor,
Die keine Wünsche sich verwehren,
Und nicht des süßen Glücks entbehren,
Auf ihren Triften frey zu seyn.
Hier führt zu blumigten Altären
Die Wollust mich in ihren Hain;
In ihrem Tempel muß ich schwören,
Ihn nie durch Laster zu entweihn.
Es fließt um sie der keusche Schleyer;
Ein Veilchen schmückt der Göttin Haar,
Und selbst die Weisheit bringt das Feuer
Zum unschuldvollen Opfer dar.
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Hier locket keine freche Leyer
Der Nymphen buhlerische Schar,
Kein roher Faun, kein Ungeheuer
Entheiligt reiner Liebe Kuß,
Und keines Satyrs wilder Fuß
Tritt hier die besten Rosen nieder.
Die Tugend singt der Freude Lieder;
Es blickt die junge Schäferin
Nach dem Geliebten schüchtern hin;
Umsonst will sie dem Busen wehren,
Sich still verlangend zu empören,
Umsonst die ersten Küsse fliehn!
Hörst Du das Rauschen, liebster Freund!
Womit ein Fluß 2 die Wiese theilet,
Und vor der Stadt vorübereilet,
In der kein zärtlich Mädchen weint?
Dort, wo die Sonne heller scheint
Auf niedrige, berauchte Hütten 3,
Dort wohnen alte deutsche Sitten
Mit Tapferkeit und Treue noch;
Dort, unter nervigten Haloren,
Fühlt sich der Jüngling frey geboren,
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Und ehret die Gesetze doch.
Verweile nicht bey jenen Trümmern 4:
Was gehen uns die Felsen an,
Die einst den Springer Ludwig sahn?
Es mag um den verwegnen Mann
Der Chronikschreiber sich bekümmern!
Wär', in der Liebe süßem Wahn,
Er einem Mädchen nachgesprungen,
Ich hätte längst von ihm gesungen.
Nur zeig ich noch im Thale Dir
Der öden Burg verheerte Mauern 5,
Die mitten unter Blumen trauern.
Ein ernster Sänger hätte hier,
Umringt von hingesunknen Säulen,
Wenn in der Einsamkeit die Eulen
Zum Liede kleiner Vögel heulen,
Gedanken, schwarz wie eine Nacht,
Erhabnen Britten nachgedacht.
Mir aber scheint er nicht zu klagen,
Minervens Vogel; sein Geschrey
Will, mit verliebter Schwärmerey,
Dem Eulenmädchen zärtlich sagen,
Daß sie für ihn die schönste sey;
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Und die Geliebte sagt ihm frey,
Daß seine Lieder mehr gefallen,
Als der Gesang der Nachtigallen.
Mir, bester Freund! gefallen sie
Mehr, als die bange Harmonie
Der Dichter, die nur Unglück fühlen,
In lauter Dissonanzen wühlen,
Und da, wo leichte Weste spielen,
Um eine Sommernacht zu kühlen,
Nach alten Leichensteinen schielen.
O mein Geliebter, eile Du
Dem brüderlichen Hügel zu!
Will uns in unsrer sanften Ruh
Vielleicht ein trüber Weiser stören,
So wollen wir ihn bald bekehren;
Nur Gleims Gesänge soll er hören,
Und selbst die Menschen Freude lehren.

Fußnoten

1 S. ihre Idylle über die Lämmer.

2 Die Saale.

3 Die königlichen Salzkothen.

4 Der Thurm von Gibichstein.

5 Die Morizburg, ehemalige Wohnung der Bischöfe.

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TextGrid Repository (2012). Jacobi, Johann Georg. Gedichte. Ausgewählte Gedichte. An meinen Bruder. An meinen Bruder. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8ABF-F