[134] 21. Der Bärensohn.

Es war in der Erntezeit, da alle Leute, jung und alt, draussen waren, um den Gottessegen vom Felde heimzuschaffen. Nun wurde dem Schulzen ein wichtiger Brief übermittelt, und weil er gerade niemand anders zur Hand hatte, bat er seine junge Frau, dass sie den Brief in das nächste Dorf zu dem andern Schulzen trage. Das that sie auch; wie sie jedoch im Walde war, kam mit einem Male ein grosser, starker Bär auf sie losgestürzt, nahm sie in seine Arme und trug sie in seine Höhle; dann wälzte er einen Stein vor das Loch, dass die Frau nicht entfliehen konnte, und trottete wieder seiner Wege. Am Abend kehrte er zurück und trug ein Schaf in seinem Maule. Damit ging er, nachdem er den Stein zurückgeschoben hatte, zu der Schulzenfrau, riss das beste Stück herunter und gab es ihr; und weil sie Hunger hatte, ass sie es auf, roh, wie es war. Die Nacht über musste sie an des Bären Seite liegen, und ihr wurde warm von dem weichen Pelze; als aber der Morgen kam, lief er wieder aus der Höhle und ging auf Raub aus; doch vergass er nicht, den Stein vor den Eingang zu wälzen. So verging ein Tag wie der andere, und die Frau wurde vertraut mit dem Bären, und ehe ein Jahr vergangen war, schenkte sie ihm einen kleinen Sohn. Der war rauh über dengan zen Leib, aber sonst von schöner Menschengestalt; doch wuchs er schneller, wie andere Kinder pflegen, und als er sieben Jahre alt geworden war, hatte er die Grösse und das Ansehen eines ausgewachsenen Mannes.

Den Bärensohn bekümmerte es sehr, dass er seine Mutter immer in der Höhle weinen sah. Der alte Bär brachte jeden Tag frisches Fleisch, dazu war es warm in der Höhle, und sie hatten ein schönes Lager von weichem Moos, was konnte ihr also fehlen? Eines Morgens fasste er sich ein Herz und fragte: »Mutter, warum weinst du so viel?« – »Ach, mein Sohn,« antwortete die Frau, »was fragst du mich darnach. Ich werde hier in der Höhle gefangen gehalten. Was dein Vater, der Bär, ist, hat mich meinem Manne geraubt, und wenn ich auch dich ihm geboren habe, so mag ich es doch nimmermehr in dem finstern Loche aushalten.« – »Wenn es weiter nichts ist!« sagte der Junge, »dem wollen wir schon abhelfen;« damit ging er an den Eingang und schob mit einem Rucke den schweren Stein bei Seite, den der Bär vor das Loch gewälzt hatte. Nun war die Frau frei, und sie fasste ihren Sohn bei der Hand, und dann liefen sie, was sie laufen konnten, aus dem Walde heraus, gerade auf den Schulzenhof zu. Der Schulze bekam keinen kleinen Schreck, als er seine Frau Hand in Hand mit einem grossen Kerle ankommen sah; denn er hatte sie längst[135] tot geglaubt. Als ihm nun aber die Frau erzählte, wie es ihr gegangen sei und wie sie dem Bären den Sohn geboren habe, sagte er: »Hm, hm!« und kratzte sich verlegen hinter den Ohren. Endlich aber gewann sein gutes Herz doch den Sieg, und weil seine Frau unschuldig in das Unglück gekommen war, behielt er sie bei sich, und den Bärensohn nahm er gar an Kindesstatt an.

Nachdem der Junge ein paar Tage auf dem Hofe herumgelegen hatte, sollte er auch zur Schule gehen. Das war er zufrieden; denn was dem einen recht ist, ist dem andern billig, und so setzte er sich mit den übrigen Kindern auf eine Bank. Das waren aber lose Buben, die verspotteten ihn seiner Grösse wegen und zupften ihn an seinen Zottelhaaren. »Lasst mich zufrieden,« sagte der Bärensohn, »ich habe euch auch nichts gethan!« Doch je mehr er redete, um so ärger trieben es die Jungen, bis ihm endlich die Sache zu bunt wurde, und hast du nicht gesehen, hatte er einen nach dem andern über die Bänke in die Ecke geworfen, und es war ein Wunder, dass sie nicht Hals und Bein dabei brachen. Indem kam der Schulmeister in die Stube, und als er den Bärensohn so wüten sah, dachte er bei sich, der sei der Übelthäter, langte den Stock hinter dem Ofen hervor und zog ihm eins über die Schultern. Damit war er aber an den Unrechten gekommen; der Bärensohn ergriff ihn bei dem einen Bein und warf ihn über die Bänke, dass er gerade auf den Schuljungen zu liegen kam, dann ging er auf den Schulzenhof zurück und that, als ob nichts geschehen wäre.

Der Küster hatte aber die Schmerzen nicht vergessen und machte ein grosses Geschrei im Dorfe, er würde keinen Jungen und kein Mädchen mehr unterrichten, auch nicht mehr in der Kirche und zur Leiche singen, wenn der Bärensohn nicht aus der Welt geschafft würde. Der Schulz schickte den Stock herum, und als alle Bauern beisammen waren, wurde zuerst beschlossen, dass der Küster recht habe und dass der Zottelmensch über Seite gebracht werden müsse; dann sannen sie darüber nach, wie es geschehen müsse, denn es wagte niemand, sich an ihm zu vergreifen. Endlich hatten sie es gefunden: In des Schulzen Hofe musste der Brunnen gereinigt werden. Da sollte der Junge in die Grube hinabsteigen, und die Bauern wollten Steine auf ihn werfen, dass sie ihn töteten. Und so geschah es auch. Als der Junge in dem Brunnenschacht steckte, stiessen die Bauern schwere Steine hinein. »Seht euch vor und werft mir den Sand nicht in die Augen!« rief der Bärensohn; da stiegen die Bauern auf den Kirchturm und hängten die grosse Glocke ab, trugen sie bis zu dem Brunnen und warfen sie in den Schacht, so dass sie dem Bärensohn auf den Kopf fiel. »Ach, nun habe ich aber einen prächtigen Hut!« rief er vergnügt und freute sich so sehr darüber, dass er die Leiter in die Höhe kletterte und aus dem Brunnen heraus stieg. Da machten alle Bauern reissaus, allein die Schulzenfrau blieb auf dem Hofe zurück und sprach zu ihrem Sohne: »Die Leute haben's auf dich abgesehen! Nun sie dich nicht im Brunnen töten konnten, werden sie warten, bis [136] du im Bette liegst und schläfst, und dir dann den Garaus machen.« – »Wenn's so steht, Mutter,« antwortete der Bärensohn, »ist meines Bleibens hier nicht länger, viel lieber wandere ich in die weite Welt hinaus.« Da band ihm die Schulzenfrau einen Schinken und ein paar Brote in ein Tuch; das nahm der Junge über den Nacken und, nachdem er seiner Mutter zum Abschied noch einmal die Hand geschüttelt hatte, wanderte er durch das Hofthor zum Dorfe hinaus.

Es dauerte gar nicht lange, so kam er am Waldesrand bei einem See vorbei. Da lag im Grase eine Fiedel mit drei Saiten und ein Bogen dazu. »Das ist ein angenehmer Zeitvertreib,« dachte der Bärensohn bei sich und nahm die Fiedel mit sich. Auf der Landstrasse begegnete ihm ein schwarzbärtiger Jude und fragte: »Nichts zu schachern? Nichts zu schachern? Hat der Herr doch eine schöne Geige!« – »Schön ist sie auch,« sagte der Bärensohn, nahm den Bogen und strich damit die drei Saiten der Fiedel; und sogleich begann der Jude zu tanzen und tanzte immer höher und höher in Strauchwerk und Dornbüsche hinein, dass ihm das Zeug am Leibe zerriss und Gesicht und Hände und Füsse wund gestochen wurden von den scharfen Dornen. Und hätte der Bärensohn nicht inne gehalten mit dem Fiedeln, der Jude hätte das Leben verloren. So aber wollte er sich rächen und lief in die Stadt, durch welche der Bärensohn kommen musste, und hiess den Richter, gut aufpassen, es käme ein Räuber und Mörder des Weges daher, der habe ihn so zugerichtet. Da schickte der Richter Soldaten aus, die sollten den Bärensohn fangen; er aber lachte sie aus und stiess sie von sich und sagte ihnen, er wolle freiwillig gehen, denn mit Gewalt möge ihn doch niemand zwingen. So kam er vor das Gericht, und ohne dass er sich verantworten durfte, ward er zum Galgen verurteilt. Das war ungerecht von den Richtern, dass sie dem schwarzbärtigen Juden so ohne weiteres Glauben schenkten; aber der Bärensohn machte sich nicht viel daraus, sondern ging mit dem Henker zum Galgen. Als ihm nun die Schlinge um den Nacken gelegt werden sollte, bat er als letzte Bitte, noch einmal ein Stückchen auf der Fiedel spielen zu dürfen. »Gewährt ihm den Wunsch nicht!« rief der Jude; aber die Richter durften ihm die Bitte nicht abschlagen, und er nahm den Bogen und strich damit auf der Fiedel. Und so wie er den ersten Strich gethan hatte, erhoben der Richter, der Jude und alles Volk ihre Beine und tanzten, und je länger der Bärensohn spielte, um so höher sprangen sie, dass es eine Lust war, mit anzusehen. Endlich dachte er: »Nun habt ihr genug« und hörte auf zu spielen. Da lag alles Volk auf der Seite und konnte kein Glied mehr rühren; der Bärensohn aber wusste, was er an seiner Fiedel hatte, und hielt sie fortan hoch in Ehren auf seiner Wanderschaft.

Nachdem er ein paar Jahre in der Welt herumgezogen und noch viel grösser und stärker geworden war, kam er eines Tages an einen wunderschönen Garten. Vor dem Eingang stand ein Riese, der rief ihm zu: »Erdwürmchen, was willst du hier?« – »Lass mich in Ruhe,« [137] antwortete der Bärensohn, »ich habe dich auch nicht gefragt, warum du hier am Thore stehst und dem Herrgott den Tag wegstiehlst!« – »Das sollen wohl Spitzen sein?« rief der Riese zornig und lief auf den Bärensohn ein; der machte aber keine grossen Umstände, ergriff den langen Kerl bei den Füssen und warf ihn mit solcher Gewalt auf den Erdboden, dass er des Lebens vergass. Als der Riese tot war, ging der Bärensohn in den Garten und freute sich der schönen Blumen und Bäume. Er mochte wohl bis zur Mitte gedrungen sein, da vertrat ihm mit einem Male ein anderer Riese den Weg, der war noch viel grösser und stärker, als der erste gewesen, und rief: »Wie bist du in diesen Garten gekommen, du Erdwurm, und was suchst du hier?« und ehe der Bärensohn Antwort geben konnte, schlug er mit seinen gewaltigen Fäusten auf ihn ein. Der Bärensohn aber war nicht faul, packte den Riesen bei Arm und Fuss und warf ihn gegen einen Baumstamm, dass ihm der Schädel sprang und das Gehirn auf den Rasen spritzte. »Du wirst nicht wieder die Leute ärgern!« sprach der Bärensohn bei sich und freute sich weiter der grossen Pracht und Herrlichkeit, die in dem Garten zu sehen war. Zu guter letzt kam er auch an ein prächtiges Schloss, vor dem war als Wächter ein dritter Riese aufgestellt, so gross, als die beiden andern zusammen genommen. Als der den Bärensohn erblickte, ergriff er ihn beim Arm und sagte: »Erdwürmchen, hier hast du nichts zu suchen; komm, ich will dich wieder hinausführen in den grünen Wald.« Kaum hatte er jedoch die Worte zu Ende gesprochen, so riss sich der Bärensohn, welchen die Rede verdross, von ihm los und gab ihm mit geballter Faust einen Schlag ins Rückgrat, dass ihm das Blut aus der Nase fuhr. Mit grossem Getöse stürzte er zu Boden und sein Bauch platzte von dem gewaltigen Sturze, und die Därme quollen ihm unter dem Leibe hervor.

Der Bärensohn achtete es aber nicht, that das Thor auf und ging in das Schloss hinein. Drinnen trat ein Zwerg mit langem, grauem Barte auf ihn zu und sprach: »Tritt nicht so fest auf, dass dich die Riesen nicht hören, die in dem Garten Wache halten.« Antwortete der Bärensohn: »Die drei Riesen thuen niemand mehr ein Leid an. Ich habe ihnen die Nase gewischt, und da sind sie ganz stille geworden.« Der Zwerg merkte wohl, dass der Bärensohn den groben Gesellen den Garaus gemacht habe, und sprach voller Freuden: »Ich habe noch elf Brüder, und wir müssen allesamt dem Drachen dienen, der in dem Schlosse wohnt und die Königstochter gefangen hält. Wenn du den Drachen tötest, wollen wir dir dienen, und du sollst unser Herr sein.« Damit führte er ihn in ein besonderes Gemach, und die zwölf Zwerge kamen und brachten ihm Speise und Trank und bedienten ihn. Als er satt gegessen und getrunken hatte, stand er auf und ging in die Kammer, in der die Prinzessin von dem Drachen gefangen gehalten wurde. Die freute sich zwar, als sie ein Menschenkind erblickte, aber sie erschrak auch zugleich, denn sie dachte an den Drachen und rief: »Flieh, Unglücklicher! Wenn mein Herr, der [138] Drache, heimkommt, so wird er dich verschlingen.« Sagte der Bärensohn: »Je nun, er wird wohl mit sich reden lassen.« – »Nein,« sprach die Prinzessin, »er ist so stark, dass ihn niemand überwinden kann, und er hat noch alle getötet und gefressen, die ihn zu bekämpfen kamen.« Indem hörten sie es schon von ferne sausen und brausen, denn der Drache roch frisches Menschenfleisch und eilte, auf sein Schloss zu kommen. »Geh in ein anderes Gemach;« sagte der Bärensohn zur Königstochter, »denn wo sich zwei schlagen, bekommt der dritte das meiste!« und kaum hatte sich die Prinzessin geflüchtet, so schnob der Drache herein und wollte sich gerades Wegs auf den Bärensohn los stürzen. Der dachte in seiner Not an die Fiedel und setzte sie an. »Erdwürmchen,« brüllte der Drache mit fürchterlicher Stimme, »du hast mir die drei Riesen ...« aber weiter kam er nicht, denn der Bärensohn strich mit dem Bogen die drei Saiten: Didelittittitt, didelittittitt, heidideleidideleideidei! und alsbald begann der Drache zu tanzen und tanzte und tanzte immer fort im Kreise herum. »Schnapp,« machte es nach einiger Zeit, und die erste Saite war gesprungen; da war der Drache schon ganz müde und matt und konnte kaum noch tanzen, aber der Bärensohn hörte nicht auf und spielte auf zwei Saiten weiter. »Schnapp,« sagte es zum andern Male, da war auch die zweite Saite gesprungen, und der Drache war schon so müde geworden, dass er ganz auf einer Seite lag. Da dachte der Bärensohn, es wäre schlecht, ihn noch länger zu quälen; er legte die Fiedel bei Seite, schlang seine Arme um des totmüden Drachen Hals und erwürgte ihn. Dann warf er ihm ein Seil um den Leib und schleppte ihn aus dem Schlosse heraus.

Als er damit fertig war, ging er zu der Königstochter, die inzwischen zusammengekauert in der Ecke gesessen und den lieben Gott gebeten hatte, dass er dem fremden Mann beistehen möchte. Wie sie nun ihren Retter gesund und munter vor sich stehen sah, fiel sie ihm zu Füssen und sprach zu ihm: »Du bist mein Erlöser, komm mit mir in meines Vaters Reich! Der hat mich dem Manne bestimmt, welcher mich von dem Drachen erlösen würde.« Das war der Bärensohn wohl zufrieden, und die zwölf Zwerge brachten ihm zwei schöne Pferde herbei und fragten ihn, wie viel von den Schätzen des Drachen sie ihm mitgeben sollten. »Ich nehme nichts mit!« antwortete der Bärensohn; »Ihr Zwerge waltet über das Reich, das ich mir hier erworben habe, und über die Schätze, bis ich wieder komme.« Da schwuren ihm die Zwerge Treue, und darauf hob er die Königstochter auf das eine Ross, schwang sich selbst auf das andere, und sie ritten beide in ihres Vaters Reich.

Da herrschte grosse Freude, als das Land die Prinzessin wieder hatte, und nachdem der Bärensohn gesagt hatte, er würde die Königstochter gerne zur Frau nehmen, wurde sofort Verlobung und Hochzeit zugleich gefeiert in grosser Pracht und Herrlichkeit. Nachdem das Fest vorüber war, sagte der alte König: »Kinder, wenn ich tot bin, sollt ihr das Königreich erben.« – »Und bis dahin wohne ich in [139] meinem eigenen Königreich, das ich mir erlöst habe,« sagte der Bärensohn. Und als der alte König fragte, welches Land er meine, erzählte er ihm, von den drei Riesen und dem wunderschönen Garten, von dem grossen Schloss und den zwölf Zwergen. Da war der alte König neugierig, und sie reisten dorthin, und richtig, das Land des Bärensohnes war zehnmal schöner und reicher und grösser, als das Königreich seines Schwiegervaters. Nun konnte er es ihm freilich nicht verdenken, wenn er mit seiner jungen Frau, der Königin, dort wohnen wollte, und dort wohnt er am Ende noch mit den zwölf Zwergen und den Schätzen des Drachen bis auf den heutigen Tag.

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TextGrid Repository (2012). Jahn, Ulrich. Märchen und Sagen. Volksmärchen aus Pommern und Rügen. 21. Der Bärensohn. 21. Der Bärensohn. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8CCC-1