Eine Rede zu Gott
über die Kürze der Zeit

Herr, der du über uns des Tages Wagen lenken
Mit deinem Winke kannst, Herr, lehre mich bedenken,
Daß ich davon muß aus der Zeit.
Mein Leben flieht dahin, ist kurz, ist nur so breit,
Als diese Hand, mit der ich schreibe;
O warum denk ich mir hier eine Ewigkeit
In einer Welt, in der ich vierzig, funfzig Jahr,
Wenns hoch kömmt, zweymahl vierzig Ernten bleibe!
Herr! wenn du fragen wirst, wie lang ich Wandrer war
Hier unter dir auf deiner Erde?
Wie ich die Stunden angewandt?
O Gott! bey dem Gedank erzittert mein Verstand,
Was ich dir Antwort geben werde.
Früh oder spät schlägt meine Stunde mir,
Bestimmt zur letzten meiner Stunden,
Eh ich gebildet ward von dir,
Zehntausend werden wie erwürgt befunden,
Zehntausend bracht ich fühlloß zu,
Ohn daß ich Guts ohn daß ich Böses wollte,
[306]
Und viele Tausende verschlief ich in der Ruh,
Die mich zum Guten stärken sollte.
Wie wenig Stunden braucht ich wohl
Mich zu dem Schritt vorzubereiten,
Den ich herüber schreiten soll
Ins Thor der unumgränzt – endlosen Ewigkeiten!
Die Zeit flieht schneller als ein Pfeil,
O möcht ich ihren kleinsten Theil
Noch haschen um ihn anzuwenden!
Möcht' ich den Tag mit deinem Umgang enden,
Und wenn die Sonne mich begrüßt,
Erwachend danken, daß sie meine Tage mißt;
Und wenn der Mond erleuchten kommt die Nächte,
Laß mich ihn sehn und denken, daß
Er auch mir Zeit zur Vorbereitung messe!
Erinnre du mich selbst, daß ich es nicht vergesse,
Mein Körper welkt dahin wie Graß.
Seh ich die Gräber, laß mich nicht erschrecken,
Mich wird auch einst solch kleiner Hügel decken,
Mich trägt man auch, die Hand voll Staub, zu Staub,
Und ich beschuldige mir selber diesen Raub
Der größten Hälfte meiner Tage;
Nur daß dein Ausruf mirs nicht vor den Engeln sage,
Du Ursprung alles dessen, was da ist.
Herr, der du aller Dinge Anfang bist,
[307]
Laß mich, so oft ein Jahr vor mir herum gelaufen,
Nachrechnen meine durchgelebte Zeit,
Mit Vorsatz besser sie zu kaufen,
Die Stunden, mir geschenkt, um in die Ewigkeit
Zu gehn, die Seele anzuschicken,
Und diesen Geist der mir aus deinen Händen ward,
Mit wahrer Tugend auszuschmücken,
Herauf zu dir in frommer Zuversicht
Bey allen Handlungen des kurzen Lebens blicken:
O dann verschwend ich meine Stunden nicht,
Mich holt der Tod zu dir, und tausend Jahre werden,
Mir kürzer seyn vor deinem Angesicht,
Als jetzt ein Tag auf Erden.
[308]

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TextGrid Repository (2012). Karsch, Anna Louisa. Gedichte. Gedichte (Ausgabe 1792). Lieder der Liebe. Eine Rede zu Gott über die Kürze der Zeit. Eine Rede zu Gott über die Kürze der Zeit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8EAE-6