[314] Das Wunderbild,
eine Erzählung

Zur Zeit, da Luther und Calvin,
Von Gott gerüstet, sich bestrebten,
Die armen Menschen, die in dicker Blindheit lebten,
Vom Aberglauben abzuziehn:
Da war ein Wunderbild, geschmückt wie Kayserinnen.
Die Lahmen beteten: Frau! heile meinen Fuß!
Der taubgewordne gab der Erde manchen Kuß,
Um sein Gehör hier wieder zu gewinnen;
Das unfruchtbare Weib verließ den alten Mann,
Und stellte grosse Wallfahrt an,
Mit frommen Jünglingen, die auf der Mutter Rathen,
Bey diesem Gnadenbild um gute Weiber baten,
Die man so schwer erbitten kann!
[315]
An einem Fasttag kniete nieder
Ein ganzes Volk um den Altar.
Sie sangen Hymnen, sangen Lieder,
Und an die Brust schlug sich, wer recht andächtig war;
Am längsten blieb zu ihrem Fusse
Ein armer bärtiger Soldat,
Der sie vielleicht im Thon der Busse
Für seiner Jugend Schuld zur Mittlerin erbath.
Er ganz allein hat da gelegen,
Als schon die Priester allen Segen
Und allen Ablaß ausgetheilt,
Und dann zum fetten Mahl und guten Wein geeilt.
Der Tag ward zugebracht mit Freuden,
Und an dem andern Morgen früh
Gieng, unsre liebe Frau, ein Priester umzukleiden;
Denn mehr als funfzig Kleider hatte sie.
Für Schrecken fuhr der Priester ganz zusammen.
»Den frechen Dieb soll Gott verdammen!
[316]
Hier fehlet eine Perlen-Schnur!«
So schrie er, als sein Herz in ihm zusammenfuhr:
Es wurde nachgeforscht, und endlich ward befunden,
Daß lange nach den Andachts-Stunden,
Noch ein Soldat vor ihr gekniet.
Er wird geholt; er kommt gebunden;
Und als er nun die Richter sieht,
So spricht er: »Ja! ich läugne nicht, zu haben
Die theure Perlen-Schnur. Doch ihre Hände gaben
Mir selber diesen Schatz. Ich bin ein armer Mann
Der Weib und Kinder hat, und sie nicht nähren kann.
Ich hörte, daß dies Bild so viele Wunder thäte,
Drum lieg ich lange da, und bete:
Ach! hilf mir liebe Frau! wenn du begabet bist
Mit solcher Gotteskraft auf Erden!
Mir hilft kein römischer, catholisch-guter Christ.
Wenn du nicht hilfst, so muß ich werden
Aus Armuth heut ein Calvinist.
[317]
Ich wiederholte diese Bitte
Mit tiefgeschöpften Seufzern oft;
Klagt ihr den Mangel, den ich litte,
Und da geschahe, was kein böser Ketzer hofft,
Das grosse Wunderwerck. Die Mutter Gottes langte
Mir diese Perlen-Schnur, die an dem Halse prangte,
Mit ihrer starken Hand herab,
Und sprach, indem sie mir sie gab:
Geh hin, und kaufe Brodt für Weib und Kinder!
Nur werde kein verlohrner Sünder,
Lauf niemals aus der Kirche Schooß!
Sie sprachs: Die Heiligen sind alle meine Zeugen;«
Die Richter hörten dies, und alle mußten schweigen.
Die Priester riefen aus: »Maria, du bist groß!«

Notes
Entstanden etwa 1761/63.
License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Karsch, Anna Louisa. Das Wunderbild. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8F0D-A