An die Leda

Von dem Olympus zogest du ihn nieder,
O Leda! deinetwegen trägt
Der Donnergott ein lilienweiß Gefieder,
Der sonst mit Keulen um sich schlägt.
Er theilt die Wolken, seine Flügel trennen
Den Aether und den Sonnenstrahl,
Er kommt, und deines Auges Blicke brennen,
Dein Antlitz blühet wie das Thal.
Dein Busen schwillt, wie kleine Flocken Hügel,
Wenn Boreas durch Fluren bläst
Und jeder Bach verwandelt wird zum Spiegel,
Und das gestorbne Laub verwest.
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Du lächelst mit der fein geschnitzten Lippe
Dem Schwane, der den Hals erhebt
Und nach der weißen Alabaster Klippe
Wollüstig mit dem Schnabel strebt.
Sein maulbeerfarbnes Auge redet Liebe,
Die ganze Macht der Buhlerei,
Den innern Aufruhr schlau versteckter Triebe
Verräth der Schwan durch Schmeichelei.
Er will dich küssen, sterbliche Beglückte!
Beneidenswerthe Leda! dich
Umfaßt mit beiden Flügeln der entzückte,
Beflammte Gott, und wünschet sich
Den süßen Rausch der Küssenden auf Erden,
Und fühlet Amors stärksten Pfeil,
Und trinket mit süßlachenden Geberden
Des Liebes-Nektars lezten Theil.
[31]

Notes
Entstehungszeit unbekannt.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Karsch, Anna Louisa. An die Leda. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8FC9-2