[281] Morgen-Fragen an Gliphästion,
als er Abends vorher einen Traum erzählet und dabey gesagt hatte: Er schlafe immer sehr gut, und habe selten Träume

(Zu Berlin, den 4ten des Brachmonaths 1761.)


Freund, war dein Schlaf, so wie nach einer Schlacht
Des Feldherrn Schlummer ist, der ganze schwere Nächte
Bey seiner Lampe durchgewacht,
Und nichts, als nur daran gedacht,
Wie er den Sieg erhalten möchte?
War deine Ruhe so, wie eines Jünglings ist,
Der mehr als Cicero zu überreden wuste,
Und der, die sich ergeben muste,
Bewegungsgründe zugeküßt?
[282]
War sie dem Schlaf des Schnitters gleich,
Der, ohne Gold bey schwarzem Brodte reich,
Bey Wasser aus dem Quell zufrieden ist, und müde
Die Schlummerkörner bald auf seinem Augenliede
Sanft drückend liegen hat, wenn sie manch grosser Mann
Auf Purpurdecken wünscht und nicht erseufzen kann?
Und schliefst du nun so süß, als Helden auf Trophäen,
Und wie ein Jüngling, der am weichen Busen schlief?
Wie Schnitter, die zurück im Abendthaue gehen
Vom Feld, auf welches sie die Morgensonne rief?
So sollst du deinen Traum mir sagen;
Sprich! fuhrest du auf Venus Wagen,
Bespannt mit Tauben, die du längst ersungen hast?
Und sah dein Geist den prächtigsten Pallast,
[283]
Wie dort in Miltons Lied ihn schwarze Krieger bauen,
Die aus der Erde Demant-Klippen hauen;
War der Pallast groß wie Europa ist, 1
Und waren die Tapezereyen
Gemählde, derer die im Schattenreich sich scheuen,
So oft ein Fremdling sagt, daß sie die Welt vergißt,
Weil jedermann nur Friedrichs Thaten ließt?
Und hat dich endlich dieser Wagen
Nicht vor ein prächtig Zelt getragen,
Wo Türken auf den Knien lagen?
Entbothen sie des Sultans Gruß,
Nicht mit versichernden Gebehrden,
Daß Mustaph stolz drauf thut, ein Bundsgenoß zu werden
Vom besten Könige und größtem Held auf Erden? 2
[284]
Und sahst du nicht erschrockne Russen fliehn,
Die Schaam auf ihren Wangen glühn;
Und Oestreich, mit Entschluß zum Sterben oder Siegen,
Noch einmal fechten und alsdann zu Boden liegen?
Sprich bist du nicht erwacht vom jauchzenden Berlin,
Und hast, indem du bist erwacht,
Erst an den Frieden und zuletzt an mich gedacht?

Fußnoten

1 Eines solchen Pallastes wurde bey Erzählung des Traumes erwähnet.

2 Damals wurde von einem Bündniß des Königs mit der Ottomannischen Pforte gesprochen.

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TextGrid Repository (2012). Karsch, Anna Louisa. Gedichte. Auserlesene Gedichte. Vermischte Gedichte. Erstes Buch. Morgen-Fragen an Gliphästion. Morgen-Fragen an Gliphästion. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8FE4-4