[29] Alzindor und Lucinde

Ein Romanze


Alzindor und Luzinde
Genossen lange Zeit,
Beschützt von Cypris Kinde,
Das Glück der Zärtlichkeit:
Der Mutter bliebs verborgen,
Wie lieblich manche Nacht
Bis an den grauen Morgen
Die Tochter zugebracht.
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Der Jüngling stieg behende
Zum Fenster ein und aus:
So klettert an die Wände
Und auf das Taubenhaus
Die blickbeflammte Katze
Des Nachts mit kühner List,
Wie er zu seinem Schatze
Hinaufgeklettert ist.
Was sie dort alles thaten,
Von Wonne ganz berauscht,
Das mögen die errathen,
Die nie der Mond belauscht
Bey schlaugestohlnen Küßen,
Die niemals nachgedacht,
Was ohne Vulkans Wissen
Mars bey der Venus macht.
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Doch großes Glück ist, leider!
Wie aller Welt bekannt,
Nicht ohne bittre Neider,
Nicht frey von Unbestand.
Alzindors Freund, voll Tücke,
Gab insgeheim sich Müh,
Das er ihr Herz berücke;
Und ihn verschmähte sie.
Da sucht er sich zu rächen,
Nach Art der jungen Herrn,
Die viel aus Prahlsucht sprechen
Von Schönen, die sie gern
Durch Schmeichelkunst betrogen. –
Hört, wie der Höllenbrand
Alzindors Ohr belogen
Und leichten Glauben fand!
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Von Bosheit angetrieben,
Spricht sein verwünschter Mund:
Lucind' hat mir geschrieben,
Daß ich den Liebesbund
Mit ihr vollziehen solle,
Und daß sie schon darzu
Ein Mittel finden wolle,
Wie man es heimlich thu.
Alzindor wird durchdrungen
Von gräulich wilder Wuth. –
Wie nach Verlust des Jungen,
Die Löwinn Jägerblut
Im Walde brüllend fodert,
So fodert er voll Glut,
Die schröcklich in ihm lodert,
Lucindens Busenblut.
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O! Weh, o! Schreck, o! Jammer,
Mit bloßem Degen kömmt
Er schnell in ihre Kammer,
Und stürzet, ungehemmt
Von ihrer süßen Stimme,
Wie Sturmwind auf sie zu;
Und fragt mit Donnerstimme:
Sag' an: Wem schreibest du?
Lucinde spricht gelassen:
An deinen Freund schrieb ich.
Ha! nun mußt du erblassen,
Ruft er; und mörderlich
Fährt ihr bey sanften Lächeln
Der Degen stark und tief
Ins Herz; und ach! mit Röcheln
Lallt sie: Hier ist – der – Brief.
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Sie sinkt, und läßt im Sinken
Ihr Auge, brechendmatt,
Noch seine Blicke trinken.
Er liest das Unglücksblatt:
Dem Lügner war geschrieben:
Herr, plagt mich länger nicht!
Nur einen kann ich lieben,
Und dieser seyd ihr nicht.
O Scheusal! – ruft er plötzlich:
Stirb nach, hier liegt dein Weib!
Drauf sticht er sich entsetzlich,
Wie Kato, durch den Leib;
Fällt auf Lucindens Leiche,
Stirbt ächzend, und verflucht
Nunmehr in Plutos Reiche
Den Zorn der Eifersucht.

Notes
Entstehungszeit unbekannt (zwischen 1761 und 1772).
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Karsch, Anna Louisa. Alzindor und Lucinde. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9130-B