Der Narr auf Manegg

Einige Zeit nach dem Spaziergange, den Herr Jacques mit seinem Paten gemacht, wunderte es diesen, wie es dem jungen Adepten des Originalwesens ergehe und welche Fortschritte er darin zurückgelegt habe. An einem schönen Septembertage ging er darum in das Haus der Gevattersleute, um seinen Jungpaten heimzusuchen und etwa zu einem Gang vor das Tor einzuladen. Nur mit halbsäuerlicher Höflichkeit wurde er hiefür empfangen; denn man hielt ihn trotz seiner weißen Haare und seines gewaltigen Jabots für einen jener frondierenden Herren, welche, stets kühl gegen die Kirche und kritisch gegen die Staatsbehörden, sich zwar wohl hüten, irgendwo an einer praktischen Tätigkeit wirklichen Anteil zu nehmen, nichtsdestoweniger aber einer radikalen, wo nicht frivolen Gesinnung bezichtigt werden, einer Gesinnung, vor deren Einfluß besonders die Jugend zu bewahren sei.

Der alte Herr ließ sich aber nicht abschrecken, seinen Taufschützling selbst aufzusuchen, und fand denselben im obersten Stockwerke des Hauses in seinem Sommerquartier, einer großen geweißten Kammer, deren hohe Fenster noch aus unzähligen runden Scheiben zusammengesetzt waren. In diesem Gemache standen die ältesten Schränke des Hauses, nicht etwa die schönen Nußbaumschränke, welche die Vorsäle der untern Gemächer zierten, sondern uralte, baufällige Kasten von Fichtenholz, mit Blumen und Vögeln bemalt. Von der Decke hingen verschollene Zierstücke, große Glaskugeln, die inwendig mit bunten Ausschnittbildern, Damen in Reifröcken, Jägern, Hirschen [109] u. dgl., beklebt und mit einem weißen Gipsgrunde ausgegossen waren, so daß sie bemaltem Porzellane glichen. Auch prangten an den Wänden einige Familienbildnisse, welche wegen zu schlechter Arbeit aus den Wohnräumen verbannt worden. Ihre Gesichter lächelten alle ohne andere Ursache, als weil die Maler die Mundwinkel mit angewöhntem eisernem Schnörkel so zu formen gezwungen waren. Diese grundlose Heiterkeit der verjährten Gesellschaft machte fast einen unheimlichen Eindruck. Die guten Maler und die Vorfahren schienen nicht immer gleichzeitig geraten zu sein. Dazwischen hingen wunderliche Bilder, die mit Harzfarben unmittelbar auf die Rückseite von Glastafeln gemalt waren, und vergilbte Kupferstiche, welche Prospekte zürcherischer Staatszeremonien oder militärischer Schauspiele zum Gegenstande hatten. Seltsamerweise war hier noch ein kleines Rähmlein versteckt mit längst gesprungenem Glase und einem gestochenen Bildnisse Karls I. dahinter; mit verblichener Tinte war darauf geschrieben:


König Karl von Engelland
Ward der Krone quitt erkannt.
Daß er dürfe keiner Krone,
Machten sie ihn Köpfes ohne.

Der Schreiber dieser Zeilen war aber nicht unter den töricht lachenden Ahnen, die hier im Exil hingen, zu finden; derselbe weilte vielmehr, von einem guten Künstler gemalt, in einer ganz anderen Stadt in der Gemäldesammlung eines dortigen Liebhabers. Es war ein ernsthafter Mann in der Tracht des siebzehnten Jahrhunderts, dessen eisengraue Augenbrauen und Knebelbart wie Sturmfahnen zu flattern schienen. Nicht nur als eifriger Antipapist lebte er im Gedächtnis, sondern als ein Ungläubiger und Unbotmäßiger überhaupt, der zu verschiedenen Malen verwarnt und gebüßt worden sei; und da eine geheime Tradition im Hause dahin lautete, daß es besser wäre, wenn nie eine Empörung stattgefunden hätte, nie ein König enthauptet [110] worden und auch keine Kirchentrennung entstanden wäre, so war das Bild von einem Nachkommen für unangenehm befunden und einem fremden Kenner guter Sachen verkauft worden. Noch lieber hätte man längst das kleine Bildchen mit der frechen Aufschrift entfernt. Allein es ging die abergläubische Sage, daß jedesmal, sooft dies versucht würde, der alte Empörer nächtlich umgehe und mit entsetzlichen Hammerschlägen das Rähmlein wieder an der Wand befestige; der Schreck habe einst einen Hausgenossen so angegriffen, daß er daran gestorben sei.

Mitten auf dem rötlichen Kachelboden der Kammer stand der Tisch, an welchem Herr Jacques sein Wesen trieb, wenn er in der guten Jahreszeit sich in diesen unheizbaren Raum zurückzog, in Erwartung eines eigenen Studierzimmers, das ihm nicht mehr lang entgehen konnte. Als der Pate kam, saß er eben vor einem Reißbrett, worauf ein großer Pergamentbogen gespannt war. Derselbe zeigte eine kranzartige Schilderei von Landeswappen, Fahnen, Waffen, Musikinstrumenten, Büchern, Schriftrollen, Erdglobus, Eulen der Minerva, Lorbeer- und Eichenzweigen u. dgl., hervorgebracht von einer jugendlich unerfahrenen Hand. Besonders zwei Löwen waren von allzu unsicherer Gestaltung; sie schienen mitten im Kampf ums Dasein, wie man jetzt sagen müßte, auf einer untern Entwicklungsstufe erstarrt zu sein und lächelten dabei unweise, wie die Ahnenbilder an der Wand. Im innern Raume aber entstand soeben in großen Lettern die Aufschrift »Zürcherischer Ehrenhort«, und Herr Jacques war beschäftigt, die vorgezeichneten Buchstaben aus einer Muschel mit Gold zu überziehen. Je dicker er aber das Gold auftrug, desto weniger wollte es glänzen.

»Dick auftragen hilft nicht immer, mein Lieber, sondern gut polieren!« sagte der Pate, der ihm einen Augenblick zuschaute. Er nahm eine kleine Agatkugel, die mit andern Sachen an seiner Uhrkette hing, und zeigte ihm, wie durch die Handhabung derselben die Schrift bald zu schimmern begann.

»Aber was in aller Welt soll denn diese bunte Projektion vorstellen, [111] und welchem Zwecke soll sie dienen?« fragte er nun den Herrn Jacques.

Und dieser vertraute ihm, wie er über den Verlust der Handschrift Manesse seit jenem Spaziergange nachgedacht und ausfindig gemacht habe, auf welche Art und Weise der Vaterstadt ein würdiger Ersatz geschafft werden könnte. So sei er auf den Gedanken geraten, sein Leben daranzusetzen und einen Codex zu stiften und auszuführen, dessengleichen anderswo nicht zu finden wäre, und dies hier sei das Titelblatt, mit dem er begonnen habe. Alles, was der Stadt und Republik Zürich seit ihrem Entstehen zu Schmuck und Ehren gereiche, wolle er in schönen Versen erzählen und mit schönen Bildern illustrieren, wobei die Entwicklung von den schwächern Anfängen bis zur Vollkommenheit des Endes von selbst den gleichen Verlauf nehmen werde wie der Gegenstand des Werkes. So gedenke er einen Schatz und Wahrzeichen, einen Ehrenhort zu gründen, der den alten Spruch Ottos von Freising bestätige Nobile Turegum multarum copia rerum! und wie er des schweizerischen Athens, des Athens an der Limmat allein würdig sei!

Bei dem letztern Ausdrucke verzog der Pate, der erst gelächelt, das Gesicht, wie wenn er einen Schluck sauren Bieres erwischt hätte.

»Hast du diese schwache Redensart auch schon aufgeschnappt?« sagte er verdrießlich; »wenn ich sie nur nie mehr hören müßte! Fühlt Ihr denn nicht, daß Eitelkeit, die sich auf Kosten anderer bläht, in diesem Fall also auf Kosten von Bundesgenossen, die jederzeit wohl so klug und gebildet gewesen sind wie wir, daß eine solche Eitelkeit immer das gleiche Laster bleibt, ob sie der eigenen Person oder dem Gemeinwesen gelte, dem man angehört? Da wird allerdings eine gewisse naßkalte frostige Bescheidenheit getrieben; jeder sieht dem andern auf die Finger, ob er sich nicht zuviel einbilde; dafür wird aber in der Gesamteinbildung geschwelgt, daß die Mäuler triefen, und kein Gleichnis ist zu stark, um die Vortrefflichkeit aller zu bestätigen! [112] Darum sieht man auch so manche schwächliche Gesellen herumlaufen, die am Gesamtdünkel fast zugrunde gehen, eben weil die Persönlichkeit unzulänglich ist, ein so Ungeheures mitzutragen! – Doch das wirst du alles genugsam erleben und vielleicht mitmachen; jetzt wollen wir uns nicht dabei aufhalten, sondern wieder einmal miteinander ins Freie gehen, wenn es dir beliebt!«

Jakob hatte mit ängstlicher Miene zugehört, weil er die Übertreibung des alten Krittlers nicht zu bemessen wußte; diese erstmalige Erfahrung, daß auch eine höchststehende Heimatstadt, ja vielleicht ein ganzes Vaterland eine schwache, wohl gar lächerliche Seite haben könne, gleich einem einzelnen Menschenkinde, beklemmte sein Herz, und er fühlte sich durch die Einladung des Paten dankbar erlöst. Sie wurden einig, abermals die Überbleibsel der Burg Manegg zu besuchen, und machten sich alsobald auf den Weg.

Nachdem sie im Pachthofe am Fuße der Burg sich durch eine landesübliche Erfrischung gehörig gestärkt hatten, wozu die einfache und mäßige Lebensweise auch der Reichen jederzeit Lust und Fähigkeit verlieh, erstiegen sie vollends den Hügel. Unter den breiten Schirmwipfeln der schlanken Föhren machten sie es sich bequem. Der Pate setzte seine Meerschaumpfeife in Glut und gab dem Herrn Jacques eine Zigarre, um ihm das Rauchen beizubringen. Er war nämlich einst ein Bewerber um die Hand von dessen Mutter gewesen und führte, nachdem die Sache sich zerschlagen, seither stets einen kleinen Bosheitskrieg gegen sie. An der Erziehung und Förderung ihres Söhnchens alle Teilnahme beweisend, konnte er doch niemals lassen, der gestrengen Mama kleine Ärgernisse zu bereiten nach dem Sprichworte Alte Liebe rostet nicht! und so gewährte es ihm heute ein besonderes Vergnügen, den Herrn Jacques als einen angehenden Raucher nach Hause zu bringen. Allein er kam bereits zu spät. Jakob konnte schon rauchen, weil er diese Kunst gleich nach dem Bombenschießen, wo er die Pfeifen hielt, gelernt [113] hatte. Sie spazierten also auf dem Burgraume schmauchend auf und nieder wie in einer Studierstube, und Jakobus ging würdevoll an der Seite des Alten einher. Er frug den Herrn Paten nach dem weiteren Schicksale des Geschlechtes der Manessen und der Burg Manegg.

›Ihre verschiedenen Zweige (erzählte jener) haben in geistlichen und weltlichen Würden und auch in dunkleren Trieben noch über hundert Jahre geblüht. Jedoch ist nur ein an Tugend Ebenbürtiger des Liederfreundes aufgetreten, nämlich dessen Urenkel Rüdiger, der gegen fünfzig Jahre lang Ratsmann und Staatshaupt in Zürich gewesen ist. Auch dieser war in Tat und Leben mustergültig, fest und gelassen, ohne sich jedoch als ein Originalmensch zu gebärden. Aus Schule und Zunftleben ist dir bekannt, wie in den dreißiger Jahren des vierzehnten Säkulums auch in Zürich der Patrizierstaat der Autochthonen sich in den freien Bürgerstaat, nach damaligen Bedingungen, umgewandelt hat und wie dieser einige Jahre später dem jungen Bunde der Eidgenossen beigetreten ist, um sich gegen die feindlichen Herrenmächte zu schützen. In diesen Übergängen stand das Geschlecht der Manessen, das doch seit einem Jahrhundert mitgeherrscht hatte, bürger- und freiheitsfreundlich auf seite der Stadt und der neuen Zeit.

Am echtesten erwies sich dies gute Blut in jenem jüngeren Rüdiger, der hiedurch in der Stunde der Gefahr eine wirkliche und klassische Originalität erreichte.

Auch das Ereignis von Dätwil zu Weihnachten 1351 ist dir geläufig. Der erste Bürgermeister der neuen Ordnung, Rudolf Brun, ist mit der zürcherischen Kriegerschar, ohne weitere Hilfe, ausgezogen, die habsburg-österreichische Macht aufzusuchen, welche die Stadt wiederholt bedroht. Er trifft sie nicht an erwarteter Stelle, sieht sich aber, zur Seite ziehend, erst gegen Abend plötzlich in einem Talkessel von ihrer Überzahl, die alle Hohen besetzt hat, umringt. Da verläßt den Haupturheber der neuen Zustände, den klugen, listigen und energischen Führer [114] des Volkes, der alle Ehre und Macht in dessen Namen an sich gezogen hat und ausübt, der das große Wort führt, jählings jeder Mut, und er flieht sofort vom Schlachtfelde, sich zu bergen. Schon einmal hat er in entscheidender Stunde, als die Gefahr unmittelbar an ihn trat, das Lebensopfer eines Getreuen durch Verwechslung des Mantels angenommen, als die Verschwörung der Vertriebenen die nächtliche Stadt durchtobte. Das war als glückhaft und nützlich angesehen worden. Jetzt zeigt er aber wiederholt, daß er, der fremdes Blut zu vergießen wohl versteht, sein eigenes hinzugeben nie gewillt ist. Der sinkende Tag findet das kleine Heer ratlos und vom Untergang bedroht; allein jetzt tritt Manesse, Bruns Statthalter, ruhig hervor, als ob nichts geschehen wäre. Die Flucht des Führers stellt er als selbstverständlich und notwendig, als eine Maßregel der Vorsorge dar und faßt sodann laut und volltönig, mit begeistertem Zuruf, die Bürger zum Notkampfe zusammen. Fest und unerschüttert steht er im Geschrei und Getöse der beginnenden Schlacht, die tief in Nacht und Dunkelheit hinein dauert, und zieht im Scheine der Morgenröte, die Leichname der gefallenen Brüder mit sich führend, mit Fahnen und Beute als Sieger heimwärts. Als nun die Volksgunst dem flüchtigen Staatshaupte sich schnell wieder zuwendet und dasselbe feierlich mit dem Stadtbanner aus seinem Schlupfwinkel als vorsorglicher Vater heimgeholt wird, reitet Manesse, ohne ein Gesicht zu verziehen, neben dem Stolzen einher und atmet still und verschwiegen unter ihm weiter; denn er hat erwogen, daß es gut ist, wenn ein Gründer der Freiheit bei Ehren bleibt, wenigstens solang er sonst tauglich ist.

Dieser Manesse starb hochbetagt, wenn ich nicht irre, um das Jahr 1380; mit ihm sank aber der Stern jener Linie; seine Söhne lebten sternlos dahin, wie alles ein Ende nimmt, und namentlich Ital, der jüngste, ist es, der die Burg hier verloren hat.

Gleich seinen Vorfahren war Ital Manesse ein anmutender und begabter Mann; allein es mangelten ihm Geduld und Vertrauen; [115] es war, als ob er den Niedergang und das Aussterben des Geschlechtes hätte ahnen und befördern müssen. Bei keiner Verrichtung und Tätigkeit konnte er ausharren, von jedem Geschäfte trieb ihn die Unruhe abzuspringen, und er schlüpfte allen, die ihm wohlwollten, ängstlich aus den Händen, wenn sie ihn festzuhalten glaubten. So gingen seine Umstände stets rückwärts. Ein Besitztum, Hof und Landgut nach dem andern mußte er dahingeben und geriet immer tiefer in Schulden, und weil er dabei ruhelos lebte, so nannte man ihn allgemein den »Ritter Ital, der nie zu Haus ist«.

Als im Jahre 1392 in Schaffhausen ein großes Turnier abgehalten wurde, bei welchem sich Hunderte von Fürsten, Grafen und Edelleuten einfanden, nahm auch Ital teil daran, da es eine gute Gelegenheit bot, sein unruhiges Herz von Hause wegzutragen. Seines alten Stammes und rühmlichen Namens wegen geriet er in gute Gesellschaft und gewann die Neigung einer reichen thurgauischen Erbin, deren Hand ihn wohl von aller Sorge befreien konnte. Seiner übeln Umstände bewußt, verhielt er sich schüchtern und zurückhaltend gegen die freundliche Schönheit der ganz unabhängigen Freiin, die ihm dafür, damit er Zeit und Besinnung gewänne, in dem Festgeräusche mit holder Geistesgegenwart kundzutun wußte, daß sie ehestens eine Base heimsuchen würde, die in der Abtei zu Zürich lebe. Von Hoffnung und Freude, aber auch von neuer Unruhe erfüllt, ritt er mit seinem Knechte vom Turniere hinweg und durchstreifte wochenlang die Landschaften von Ort zu Ort, um bei Freunden die Zeit in Zerstreuungen zu verbringen. Als er endlich heimkehrte und der Erscheinung der Schönen gewärtig war, sah und vernahm er nichts von ihr, als daß sie sieben Tage in Zürich zugebracht habe, dann aber wieder abgereist sei.

Freudelos lebte er nun dahin und sah sein Wohl mehr und mehr schwinden. Als etwa ein Jahr vergangen und der Sommer wieder da war, schritt er eines Tages von der Manegg, wo er einsam hauste, herunter und in die Stadt hinüber. In der Nähe [116] derselben begegnete er lustwandelnden Frauen, unter welchen er mit jäher Überraschung die thurgauische Dame erblickte. Sie gab keiner kalten Förmlichkeit Raum, sondern kam seinem Gruße mit offenbarer Huld entgegen, da sie keine Zeit auf gefährliche Weise verlieren mochte. Ital Manesse lag ihr einmal im Sinn, und sie war nur seinetwegen wieder nach Zürich gekommen, während sie andern Bewerbungen von bester Hand aus dem Wege ging. Die Freundinnen, die mit ihr waren, ahnten wohl ihre Gesinnung, und um ihr zu helfen, zwangen sie den flüchtigen Menschen, eine Stunde bei ihnen zu bleiben und mit ihnen zu gehen. Dann suchten sie auf geschickte Art Weiteres zu verabreden und ihn zu künftigem Besuche zu verpflichten. Die eilige Schöne unterbrach jedoch diese Unterhandlungen und erklärte, sie gedenke in den kommenden Tagen den Herrn auf seinem Burgsitze selbst aufzusuchen, den zu sehen es sie gelüste, und sie vertraue, daß er ihr für eine Viertelstunde Einlaß bewilligen werde. Natürlich erfüllte er gerne die Pflicht, sie bei solch günstiger Verheißung zu behaften, verabschiedete sich alsbald von den Frauen und eilte hocherfreut vollends in die Stadt, um zierliches Geschirr, Teppiche und anderes Geräte, was dort von den Vätern her noch im Hause lag, nach der Manegg zu schaffen.

Den nächsten Tag verwendete er, den Burgsitz so gut als möglich zu schmücken, wobei ihm der bejahrte Diener behilflich war, der ihm einzig übriggeblieben und sein Marschalk, Mundschenk und Küchenmeister zugleich war. Derselbe hielt auch den nötigen Vorrat bereit, um den anmutigen Besuch anständig bewirten zu können, und rüstete sich, im rechten Augenblicke schnell frische Kuchen zu backen, was er wohl verstand.

Am dritten Tage war alles bereit und die schönste Sonne am Himmel; der Alte ging noch auf den Meierhof hinunter, der am Fuße der Burg lag, um sich zu versichern, daß dort junge Tauben vorrätig seien oder ein paar junge Hähne, auch um anzuordnen, daß auf den ersten Wink eine oder zwei Weibspersonen [117] in gutem Gewande auf die Burg kämen, ihm zu helfen. Unversehens kam der Alte in großer Hast und mit dem Berichte zurückgelaufen, es sei aus den großen Forsten ein Stück Schwarzwild auf die Ackergüter des Meierhofes gebrochen. Sogleich nahm Herr Ital Jagdzeug und Hunde und begab sich mit dem Diener hinunter, das Wild zu suchen und zu erlegen. Unter dem Tor besann er sich, eh er den Fuß hinausstellte, noch einen Augenblick, ob es nicht besser getan wäre dazubleiben, weil die schöne Heimsuchung gerade heute eintreffen könnte. Allein es schien ihm doch nicht wahrscheinlich, daß sie es für schicklich befinden würde, so bald zu kommen, als ob sie große Eile hätte, und so schritt er ohne weiteres vorwärts; die eifrigen Jäger schlossen das Burgtor sorgfältig zu, nahmen den Schlüssel mit und jagten das Wild weit in die Forste hinauf, bis die Abendschatten sanken, wo sie dann mit ziemlicher Beute heimkehrten, also daß sie zu den übrigen Vorräten noch schöne Bratenstücke gewonnen hatten.

Leider war alles dies nicht mehr nötig, weil das edle Fräulein an eben diesem Tage dagewesen war. Von nur einer Ehrendienerin und einem Klosterknechtlein begleitet, hatte sie vor der verschlossenen Pforte gestanden und keinen Einlaß gefunden. Nachdem sie vergeblich das Knechtlein hatte klopfen und rufen lassen und über eine halbe Stunde ausruhend auf einem Steine gesessen und gewartet, hielt sie sich für genarrt und verschmäht und machte sich beschämt und schweigend, aber entschlossen und unaufhaltsam auf den Rückweg. Sie blickte, bald von tiefem Rot übergossen, bald erbleichend, nicht vom Boden weg, auf dem sie wandelte, und bereitete sich, kaum in der Stadt angekommen, zur Abreise, die sie noch am gleichen Tage antrat. So war sie für Ital, der nie zu Hause war, schon verloren, als er endlich vor seiner Haustüre anlangte und nicht ahnte, daß jene vergeblich vor der stummen Pforte gewartet hatte.

Ebenso vergeblich harrte er noch mehrere Tage und hielt sich [118] seinerseits für gefoppt, als niemand sich zeigte. Traurig ließ er alles Zubereitete wegräumen und den Dingen ihren Lauf.

Auf seinen unruhigen Streifzügen stieß er zwar noch auf eine magere Adelstochter aus dem Aargau und ehelichte dieselbe in aller Hast. Allein es ging um so schneller mit ihm berghinunter, und er sah sich bald genötigt, seine Wohnung in der Stadt und das Gut mit der Manegg an einen luden zu veräußern, dessen Witwe später das letztere den Zisterzienserfrauen in der Seldenau oder Selnau, wie wir jetzt sagen, verkaufte. Im Besitze jener Nonnen ist um das Jahr 1409 die Burg durch Schuld eines Narren abgebrannt, der über dem Laster, immer etwas anderes vorstellen und sein zu wollen, als man ist, verrückt geworden war.

Dieser Unglückliche galt auch für eine Art Abkömmling der manessischen Herren; einer der Söhne des liedersammelnden Ritters Rüdiger, der ebenfalls ein geistlicher Stiftsherr in Zürich gewesen, hatte von drei Nachtfrauen, wie die alten Schriften sich ausdrücken, vier uneheliche Töchter hinterlassen. Was es mit solchen Nachtfrauen für eine Bewandtnis hatte, kann nicht näher beschrieben werden, da nichts Schönes dabei herauskäme; genug, einer jener unehelichen Töchter entsproß wiederum ein Sohn, welchem sie durch Gunst die Pfründe an der St.-Egidien-Kapelle hier dicht unter der Manegg zu verschaffen wußte, eine Pfründe, welche von den Manessen gestiftet worden ist. Dieser kleine Pfaffe in der Einöde tat sich nicht minder mit nächtlichem Volk zusammen und zeugte an dem wilden Geschlechte weiter, welches so durch ein volles Jahrhundert an der Sonne herum briet und immer wieder an der Berghalde dort hängenblieb. Sie hatten von dem Blut, das zu einem Teile in ihnen floß, verworrene Kunde und kehrten daher stets dahin zurück, wo ihre dunklen Ahnfrauen geweilt hatten.

Ein letzter Sprößling der Sippschaft war also der Narr auf Manegg oder der Falätscher, wie er genannt wurde, Buz Falätscher, weil er in einer alten Lehmhütte unten an der Falätsche [119] hauste, der tiefen Kluft, die einst ein Bergrutsch zurückgelassen hat, wie wir sie da mit ihrem umheimlichen kahlen Wesen vor uns sehen. Da bisweilen jetzt noch Gerölle, Steine und Sandmassen die steile Wand herunterkommen, so würde jene Hütte ein unsicherer Aufenthalt gewesen sein, wenn nicht ein struppiges Buschwerk hinter ihr gestanden hätte, welches mit der Hütte zusammen eine kleine Insel in dem Schuttwerke bildete.

Der Buz Falätscher sah nicht weniger einöd aus als seine Behausung. Eine dürre Gestalt, trug er Gewand, das von ihm selbst aus lauter Fischotterfellen zusammengenäht war; dazu trug er im Sommer ein von Binsen geflochtenes Hütchen, im Winter eine Kapuzenkappe aus der Haut eines abgestandenen Wolfshundes. Aus seinem Gesicht konnte man nicht klug werden, ob er alt oder jung sei; doch gab es viele kleine Flächen darin, die immerwährend zitterten, wie ein von der Luft bewegter Wassertümpel, und unablässig schienen Unverschämtheit und Bekümmernis sich darin zu bekämpfen, während die Augen mit lauerndem Funkeln auf dem Zuschauer hafteten, auf den Erfolg begierig, welchen er bei ihm hervorbrachte. Denn, ob es Tag oder Nacht, ob er satt oder hungrig war, sobald er auf ein menschliches Wesen stieß, redete er auf dasselbe ein und wollte ihm etwas aufbinden, es zu einem Glauben zwingen und ihm einen Beifall abnötigen.

Er hatte seinerzeit geschult werden sollen, aber notdürftig etwas weniges lesen und schreiben und einige lateinische Worte gelernt, da es ihm bei aller Zungenfertigkeit an wirklichem Verstande gebrach. Als ein unwissender Frühmesser oder Kaplan hausierte er im Lande herum und plagte die Bauern mit der unaufhörlichen Vorstellung, daß er gleich seinen Vorfahren als Stiftsherr an ein großes Münster gehöre, wohl gar zu einem Prälaten bestimmt sei, bis er plötzlich den Vorsatz faßte, ein Feldhauptmann zu werden. Er verwandelte sich demgemäß in einen Soldaten und lief bei allen Händeln hinzu, wo ein kleinerer [120] oder größerer Haufen auszog, sei es in den inneren Fehden damaliger Zeit oder gegen Savoyen oder im ersten Mailänder Kriege usw. Hiebei fühlte er einen unbezwinglichen Drang, sich auszuzeichnen und überall die Gefahr aufzusuchen und im vordersten Gliede zu stehen; wie aber die Gefahr dicht vor ihm stand, schloff er ebenso unwillkürlich jedesmal unten durch, um nachher mit grimmigen Blicken seinen bewiesenen Mut zu rühmen, was er wohl durfte, da er den Mut wirklich empfunden hatte. Das belustigte die wackeren Kriegsgesellen, die sonst keine Feigheit duldeten, dermaßen, daß sie den Buz als eine Art Narren gern mit sich führten und redlich verpflegten. Nur mußte er sich, wenn der Tag ernstlich wurde, allmählich mehr im Hintertreffen aufhalten, trotz seines Sträubens; er entnahm hieraus, daß sie ihn für die größte Gefahr und Not sichtbarlich aufsparen wollten.

Einst litt es ihn aber nicht mehr in der Untätigkeit. Er lag mit einer eidgenössischen Schar im lombardischen Feld, unweit eines Heerhaufens von welschen Söldnern. Da eben Verhandlungen zwischen den Herren Visconti und den Schweizern obschwebten, so ruhte der Streit eine Weile, und diesen Augenblick benutzte Buz, sich endlich hervorzutun. Er ging hin und forderte einen Haupthahn des welschen Trupps zum besondern Zweikampfe heraus, mit so kühnen Worten, daß jener die Herausforderung annahm. Weil aber der Welsche seinerseits ein dicker großer Prahler war, so ließen die Schweizer, um ihn zu foppen, das Abenteuer vor sich gehen. Beide Parteien lagerten sich einander gegenüber. Der feindliche Führer, ein gerüsteter Goliath, trat mit seinem Spieße hervor und stellte sich furchtbar auf. Mit mannlichen Schritten ging auch Buz ihm entgegen, von seinen Gesellen gewappnet, wie ein Vorgesetzter, mit Helm, Schild, Schwert und Lanze beladen; schnaufend und aufgeregt, aber ohne Zögern stampfte er unter seinen klirrenden Waffen vorwärts, bis er zwei Schritte vor dem dräuenden Löwen stand und das Weiße in dessen Augen sah. Martialisch [121] setzte er die Beine in Positur und senkte den Speer, dem Gegner ängstlich ins Gesicht starrend; sowie der aber seinen Spieß ebenfalls hob, drehte Buz sich im Kreuz seines Rückens so glatt wie eine Tür in der Angel und lief mit der Schnelligkeit einer Spinne über das Feld weg, in weitem Bogen, bis er hinter der Wand seiner Landsleute geborgen war.

Das sah sich possierlich an, ein brausendes Lachen rollte durch beide Lager, und die welschen Heerknechte, welche den Auftritt als einen ihnen zum besten gegebenen Spaß betrachteten, schickten den Schweizern ein Faß Wein, worauf diese ein fettes Schwein zurücksandten.

Aus der Lustbarkeit, die hierauf folgte, wurde dem Buz Falätscher endlich klar, welche Meinung es mit seinem Kriegerstand hatte; er entlief stracks dem kleinen Wehrkörper und machte sich über die Berge heimwärts.

Als er das Reußtal hinunterwanderte, waren die Felswände mit Wolken behangen, und es regnete so verdrießlich, daß ihm das Wasser oben in den Nacken und unten aus den Schuhen lief. Da weinte er bitterlich über die Verkennung und schlechte Behandlung, die ihm überall zuteil wurde; je stärker es regnete, desto heftiger greinte und schluchzte der mißliche Kriegsmann, bis er von einem Weiblein eingeholt wurde, das in roten Strümpfen rüstig daherwanderte, eine zerknitterte weiße Haube am Arme und ein Bündel Habseligkeiten schwebend auf dem Kopfe trug, gar geschickt, ohne es mit der Hand zu stützen. Dieses Weiblein oder Dirnlein, als es einige Schritte an ihm vorübergegangen war, wendete sich um und fragte ihn, wer er sei und warum er denn so greine, da er doch einen so langen Spieß habe, die Unbill abzuwehren? Und er antwortete, er sei ein Mensch, mit dem es niemand gut meine und welchem keiner glauben wolle, was er sage.

Da sagte das Weiblein voll Mitleid, es würde es schon gut mit ihm meinen und ihm alles glauben, was ihn freue; denn es war ein törichtes Mensch, das, wie jener nach Anerkennung [122] dürstete, sich nach einem Mann sehnte und nach einem solchen umherpilgerte. Buz aber, dem das Wesen keineswegs häßlich schien, ließ seine Tränen trocknen, soweit es in der feuchten Luft möglich war, und kehrte das Gesicht und seine Gedanken der neuen Sachlage zu. Sofort leuchtete ihm ein, daß, wer nur erst das Haupt einer Familie sei, auch das Haupt von mehrerem werden könne. Wie mancher, dachte er, ist durch den Rat einer klugen Frau ein Mann bei der Chorpflege, wohl gar Bürgermeister geworden, und obschon ich immerhin klüger bin als jegliches Weib, so ist diese hier gewiß sehr gescheit, sonst hätte sie nicht auf den ersten Blick erkannt, wer ich bin!

Sie zogen also einträchtig miteinander dahin, und Buz brachte statt des Hauptmannstitels eine für ihn ganz artige Frau nach Hause, das heißt in die erwähnte Lehmhütte, welche halb verfallen war. »Ist das nicht ein schöner Hof?« fragte er die Frau mit ernster Stimme, und sie versicherte, es sei ein so herrliches Heimwesen, wie sie es nur wünschen könne. Ungesäumt begann sie die Wände und das Strohdach auszubessern und das Häuschen wohnlich zu machen; denn sie war geschickt und rüstig in mancherlei Arbeit und ernährte ihren Mann jahrelang damit. Der tat nämlich gar nichts als herumstreichen, sich in alles einmischen und die Leute hintereinanderhetzen, um sich wichtig zu machen, bis er weggejagt wurde. Dann ging er heim, verlangte sein Essen und das Lob seiner Verrichtungen, die er unaufhörlich schilderte und pries, und wenn das Weiblein nicht alles glaubte und rühmte, so schlug er dasselbe und behandelte es auf das übelste. Für jedes verweigerte Lob erhielt die arme Frau Beulen und blaue Flecke, so daß sie, wenn sie ihn nur von weitem kommen sah, vor die Hütte lief und voll Furcht die Hände erhob und seine Taten besang, ehe sie dieselben kannte.

So erging es der guten Frau nicht zum besten, bis das Glück, einen Mann zu besitzen, durch das Mißvergnügen, das er ihr bereitete, überwogen wurde, und da sie keine Kinder von ihm bekam, welche ihr die Zeit vertrieben und das Herz erfreut [123] hätten, verlor sie die Geduld und wurde zuweilen störrisch in den Lobpreisungen.

Als Buz eines Abends heimkehrte und die Erzählung seiner Tagesarbeit mit der Versicherung abschloß, daß er nicht ruhen werde, bis er in den Stand seiner Ahnen eingesetzt und zum Ritter geschlagen sei, sagte sie unbedacht:


Stiefel an, Stiefel aus,
Wird nie nichts draus!

»Was soll das heißen?« fragte der Falätscher verwundert und sah sie groß an.

»Ei«, erwiderte sie, »es fiel mir ein Mann in meiner Heimat ein, den man den Stiefelschliefer nannte; der hatte gelobt, nach Jerusalem zu reiten, und zog jeden Morgen ein Paar große Stiefel an und am Abend wieder aus, ohne jemals vom Hause wegzukommen, und damit die Stiefel sich nicht einseitig abnutzten und nicht krummgetreten würden, wechselte er sie alle Tage. Aber sie gingen doch zugrunde, und auch das Pferd starb, ohne daß er nach Jerusalem geritten wäre.«

Da merkte der Mann, daß seine eigene Frau ihm nicht mehr glaubte und seiner spottete. Er fiel über sie her und würgte sie so stark am Halse, daß sie blau im Gesichte wurde und eine Weile für tot am Boden lag. Als aber der Mann schlief, regte sie sich wieder, zog sich reisefertig an, packte ihre Habseligkeiten zusammen und verließ die Hütte, nachdem sie ihm noch ein Frühstück zurechtgestellt hatte. Also wanderte das Weiblein in dunkler Nacht von dannen und verschwand für immer aus der Gegend.

Verwundert fand Buz sich am nächsten Morgen allein in seiner Behausung. Er aß, was an Speise vorhanden war, und harrte mehrere Tage auf die Wiederkehr des Weibleins, das sein guter Geist gewesen. Als sie nicht mehr kam, ward er bekümmert und ganz verstört; jedoch trieb ihn der Hunger, sich Nahrung zu verschaffen, welche er instinktiv im Wasser und am Boden herum [124] suchte. Er spürte Dächse aus, fing fette Hamster in den Wiesen und Fischottern in den Wassern, auch allerlei Vögel im Unterholz, und erwarb eine große Geschicklichkeit, allen diesen Tieren nachzustellen, nicht wie ein gelernter Jäger, sondern wie ein Raubtier, und aus den Fellen machte er sich seine Bekleidung.

Darüber gewann seine Narrheit einen geregelten Bestand, und als er eines Tages entdeckte, daß die Burg Manegg, die nun den Klosterfrauen gehörte, gänzlich unbewohnt war, richtete er sich in den verlassenen Räumen derselben ein und nannte sich einen Ritter Manesse von Manegg. Niemand störte ihn in diesem Treiben; vielmehr wurde ihm aus Mitleiden mancherlei Beisteuer zugewendet, die er herablassend entgegennahm. Bald verstieg er sich so weit, indem er ein oder das andere rostige Waffenstück über seine Otterfelle hing und eine Hahnenfeder auf das Binsenhütlein steckte, in die Stadt zu gehen und sich dort als Ritter aufzutun. Wegen der närrischen Reden, die er führte, und besonders der seltsamen Gesichter, die er schnitt, wurde er auf den Trinkstuben der derben Bürger ein beliebter Zeitvertreib, gut bewirtet und oft scharf geneckt, was er aber alles mit der bekannten Narrenschlauheit über sich ergehen ließ. Wenn sie nur seine Ritterschaft anerkannten, war er zufrieden und hütete sich mit geheimer Vorsicht, über die Aufrichtigkeit dieser Anerkennung zu grübeln.

Selbst die Edelleute auf ihrer Stube zum Rüden verschmähten es nicht, die wunderliche Gestalt einzulassen, und die wirklichen Ritter gewöhnten sich sogar mit tieferem Humor daran, den Mann im Ottergewande als ein Sinnbild und Wahrzeichen der Nichtigkeit aller Dinge zu ihren Gelagen zu ziehen.

Bei einer solchen Gelegenheit, es war an einem Herbstgebote, hatte Herr Ital Manesse, der nie zu Hause war, von seiner geschmolzenen Habe das große Liederbuch mitgebracht, von welchem jüngst nach langer Vergessenheit die Rede gewesen. Das Buch war jetzt, wenigstens in seinen Anfängen, schon über hundert Jahre alt. Das Betrachten der schönen Handschrift, [125] welche freilich nur den erfahrungsreicheren Herren noch ganz geläufig war, und besonders der Bilder gewährte verschiedenen Gruppen der Junkergesellschaft Vergnügen, wie denn namentlich manche auswärtige Gäste mit Verwunderung und Anteil ihre Wappenschilde und die Bildnisse ihrer sangesbeflissenen Vorfahren in den frisch glänzenden Gemälden entdeckten. Ein junger Freiherr von Sax fand sogar zwei seiner Ahnen, den Bruder Eberhard und den Herrn Heinrich von Sax, und gerührt las er deren Gedichte, welche in seinem Hause längst verschwunden und verschollen waren.

Auch heute war der Narr von Manegg anwesend und diente, als die Stunden vorrückten, mit seinen Reden den Herren zur Lustbarkeit. Mochte es aber die Mahnung der Vergangenheit oder ein Hauch der Milde sein, der aus dem Buche sich verbreitet hatte die Scherze, die sie mit dem Narren vornahmen, waren dieses Mal sanfter und zierlicher als sonst. Nur Ital Manesse fühlte begreiflicherweise den Wechsel irdischen Loses tiefer als alle andern und gefiel sich darin, den Narren, der sein Nachfolger auf der Burg war, mit einiger Heftigkeit zum Trinken anzuhalten und sich selbst nicht zu schonen. Jenen aber schien der Wein nicht im mindesten närrischer zu machen, während Ital spät in der Nacht in halber Betrunkenheit den Schlaf suchte.

Am Morgen ging er zeitig nach dem Zunfthause, das Buch, das er außer acht gelassen hatte, zu holen; allein es war nicht zu finden und blieb, allem Nachsuchen zum Trotz, verschwunden.

Es wurde allgemein großes Bedauern über den Vorfall geäußert, welchen Ital selbst am tiefsten empfand als einen neuen Schlag seines trüben Schicksals. Auf Buz Falätscher, der das Buch entwendet und nach der Manegg geschleppt hatte, fiel am wenigsten ein Verdacht, weil man den Narren für zu einfältig hielt, als daß er nach dem geistigen Schatze hätte trachten sollen. Eher war man zu der Vermutung geneigt, daß einer der [126] übrigen Gäste der Aneignung nicht habe widerstehen können, da es schon dazumal stehlende Bücherfreunde gab. Man beschränkte sich demnach auf gelegentliche Nachforschungen.

Unterdessen brütete Buz auf der öden Burgfeste tagelang über dem Buche, das er nur höchst unvollkommen lesen konnte; er gewann eine schwache Ahnung, um was es sich darin handle, und beschloß sofort, ein alter Minnesänger zu sein. Ohne Verstand und Zusammenhang schrieb er mit elender Hand verschiedene Seiten aus und ergänzte sie mit Verszeilen eigener Erfindung, Verse von jenem schauerlichen Klang, der nur in der Geistesnacht ertönt und nicht nachgeahmt werden kann. Solche Anfertigungen trug er bei sich, wenn er umherstreifte, und wenn er auf den Waldpfaden oder auf einsamer Straße arglosen Leuten begegnete, drängte er sich auf unheimliche Weise dicht an sie und ging so lange neben ihnen her, bis sie seine Gedichte anhörten und erklärten, daß er ein guter und gelehrter Singmeister sei. Zögerte einer, das zu tun, oder lachte er gar, so machte der Narr böse Augen und griff nach dem langen Messer, mit welchem er die unter dem Wasser laufenden Fischottern zu töten pflegte, wenn er sie jagte.

Sogar einem wohlbewaffneten Jäger, den er im dunkeln Forste traf, wurde er auf diese Weise gefährlich; denn er schien seine Natur geändert zu haben und vor keiner Bedrohung mehr zurückzuschrecken. Andere wußte er in sein Malepartus zu locken und so in Bedrängnis zu bringen, daß sie mit Not den Mauern und der Gefahr entrannen. Dabei hielt er das geraubte Buch sorgfältig verborgen und ließ sich in der Stadt einstweilen nicht mehr sehen.

Am Aschermittwoch, der nach jenem Herbstgelage folgte, waren auf allen Zunfthäusern die Bürger beim Schmause versammelt, um die Fastnachtsfreuden abzuschließen. So saßen auch die Junker auf dem Rüden mit allen Genossen, ausgenommen den Narren, dessen Abwesenheit ihnen auffiel. Da nun auch seine neuesten Torheiten und Gewaltsamkeiten zur [127] Sprache kamen und kund wurden, fiel es den Herren wie Schuppen von den Augen, und sie überzeugten sich, daß das verschwundene Liederbuch nirgends anders als auf der Manegg liegen könne.

Sogleich wurden die jüngeren Gesellen, aufgeregt und vom Weine begeistert, einig, aufzubrechen und dem Narren eine lustige Fehde zu bereiten durch Belagerung und Erstürmung des Schlosses und Einholung des Buches. Gegen zwanzig Jünglinge versahen sich mit Fackeln und zogen unter Trommel- und Pfeifenklang aus der Stadt, scheinbar zu einem fröhlichen Umzuge. Auf dem Wege gesellten sich junge Männer von anderen Zünften zu ihnen, so daß ein Haufe von vierzig bis fünfzig raschen Gesellen/ zum Teil noch in allerhand Mummerei gehüllt, mit Fackelglanz durch die Nacht marschierte, nicht ohne ein Faß Wein auf einem Karren mit sich zu führen und mit Kannen und Bechern hinreichend versehen zu sein.

Mitternacht war schon vorüber, als die mutwillige Schar bei der Manegg anlangte. Trommelschlag, Lärm und Gesang weckten den Narren auf, der den Wald rings von Fackeln erhellt sah. Wie der Blitz fuhr er mit einem Lichtlein in der Burg umher, was man an den fluchtig erhellten Fenstern bemerkte; bald war er hier, bald dort in den Sälen und zuletzt zuoberst im Turm, als eine Zahl Männer auf der Schloßbrücke stand und donnernd an das Tor pochte. Wieder fuhr er herunter und erschien in einer Mauerritze über dem Tor. Der aber klopfte, war ein großer Mann in einer Bärenhaut, das heißt ein als Bär Verkleideter, den die Metzger alljährlich an diesem Tage herumzuführen pflegten. Entsetzt floh der Narr wieder zurück, denn er glaubte, die ganze Hölle sei vor der Türe. Nachdem er vergeblich aufgefordert worden, die Festung zu übergeben und das Tor zu öffnen, wurde dasselbe mit einer alten Geländerstange von der Brücke eingestoßen, und der Bär drang mit einigen bunten Schellenkappen hinein, den belagerten Schalk aufzuspüren und zu fangen.

[128] Zu gleicher Zeit aber schleuderte auf einer andern Seite der Burg ein Unbesonnener seine Fackel in weitem Bogen über den Graben und in ein Fenster, mehr um seine Kraft zu erproben, als um Schaden anzurichten. Allein unglücklicherweise reichte die Kraft gerade aus, daß die Fackel in das Innere des Gemaches fiel und das warme Heulager des Narren entzündete. Da der erwachende Frühling mit einem starken Föhnwind dareinblies, o stand die alte, morsche Burg bald in Flammen, und der arme Narr irrte mit erbärmlichem Geschrei zwischen dem Feuer und dem Bären umher. Jetzt drang jedoch der von Sax, der den Zug hauptsächlich des Buches wegen mitmachte, in das Innere, um las Kleinod zu retten. Ungeachtet der Gefahr verfolgte er den Narren, als der Bär mit seinen Gesellen und mit angesengtem Pelze schon zurückwich, bis er jenen fassen konnte und fand, daß er glücklicherweise das Buch bewußtlos mit sich schleppte und krampfhaft umklammerte. Mit großer Mühe brachte der mutige und gewandte junge Mann den Narren samt dem Buche aus der brennenden Burg, ersteren freilich von Schreck oder Schwäche entseelt.

Man legte den Toten auf grünes Moos unter den Bäumen; friedlich und beruhigt lag er da, erlöst von der Qual, sein zu wollen, was man nicht ist, und es schlummerte mit ihm ein unechtes Leben, das über hundert Jahre im verborgenen gewuchert hatte, endlich ein.

Stiller geworden, tranken die Gesellen, in weitem Ringe sitzend, ihren Wein, obschon nicht sehr zerknirscht, und betrachteten den Untergang der Burg, die jetzt in vollen Flammen zum Himmel lohte und in das Morgenrot hinein, das im Osten heraufstieg. Einige alte Bäume, Zeugen ihrer besseren Tage, brannten mit und legten der verglühenden Nachbarin die brennenden Kronen zu Füßen.

Der von Sax aber eilte mit dem Buche, das er in seinen Mantel einschlug, der Schar voraus und traf den Ital Manesse noch auf der Rüdenstube, wo er als der letzte Gast hinter dem letzten [129] Becher saß, blaß und kalt wie der Morgen, der in den Saal trat.

»Hier hast du das Buch!« rief jener voll Freuden. Ital blätterte einige Augenblicke darin; es war wohl erhalten. Dann schloß er es und gab es dem Freunde.

»Nimm es«, sagte er gelassen, »und verwahre es auf deiner starken Veste Forsteck; es wird dort besser aufgehoben sein als in meinen Händen!«

So kam das Buch in die Hände der Herren von Sax und blieb zweihundert Jahre auf Forsteck. Als aber 1615 die Zürcher die Herrschaft Sax ankauften, war es wieder verschwunden. Von dem Felsen, auf dem die Forsteck im Rheintale gestanden, ging die Sage, daß derselbe im Hochsommer und bei heller Witterung, wenn Reisende vorbeizögen, ein liebliches Tönen und Klingen hören lasse, als von vielen silbernen Glöcklein und Saitenspielen. Das Volk hielt es für Musik der kleinen Bergmännchen, der Naturforscher Scheuchzer dagegen für eine Folge der Tropfsteinbildung im Innern des Berges. Wir aber wissen, daß es die guten Geister des Liederbuches waren, welche dort tönten und klangen, wie aus Dankbarkeit dafür, daß die letzte Frau von Hohensax sich von dem pfälzischen Kurfürsten und seinen Gelehrten das Buch nur ungern und nach langem Zögern hatte abdrängen lassen.‹


Als die Erzählung vom Untergange der Manegg ihr Ende erreicht hatte, war auch die Sonne hinter die nahe Bergwand hinabgestiegen, und obgleich die entfernteren Landschaften von derselben noch erhellt waren, begaben sich der alte und der junge Zürcher auf den Rückweg. Herr Jacques war aber höchst einsilbig und nachdenklich und begehrte keinerlei nähere Aufschlüsse und Erläuterungen, wie er das frühere Mal getan hatte, als ihm der Herr Pate die Geschichte von Hadlaub vorgetragen. Die nachdrückliche Art, wie der Alte die Krankheit, sein zu wollen, was man nicht ist, betont hatte, war ihm aufgefallen, [130] so wie er auch noch ein Haar wegen des schweizerischen Athens auf der Zunge fühlte. Sein Gönner bemerkte die gedankliche Verlegenheit wohl, hütete sich aber, ihn darin zu stören.

Im väterlichen Hause angelangt, stieg Jakob unverweilt in die Kammer der Merkwürdigkeiten hinauf, wo er im Zwielicht der Abenddämmerung das Titelblatt des zürcherischen Ehrenhortes betrachtete. Er bedachte seufzend, ob er auch der Mann dazu sei, das große Werk einem guten Ende entgegenzuführen, und da ihm das immer zweifelhafter schien und der unglückliche Narr von Manegg vor seinen Augen schwebte wie ein Nachtgespenst, ergriff er ein Zänglein und löste, jedoch sorgfältig, das große Pergament vom Reißbrett. Hiemit gab er den weitausschauenden Plan verloren und beschränkte sich darauf, die Eingangspforte desselben in einen alten Rahmen zu fassen und neben die übrigen Schildereien an die Kammerwand zu hängen.

Die Entsagung vermerkte der Pate, als er im Laufe der Zeit wieder nach dem Freunde sah, mit Wohlgefallen. Um ihn dafür zu belohnen, schenkte er ihm eine Mappe mit großen Kupferstichen nach den gewaltigen Bildern in der Sixtinischen Kapelle und in den Stanzen des Vatikans zu Rom. Er sollte sein Auge an die wahre Größe gewöhnen und das Erhabene sehen lernen, ohne dabei gleich an sich selbst zu denken. Da jener aber wahrnahm, daß der Adolescent allerdings auf keine außerordentlichen Unternehmungen mehr sann, welche seiner Person nicht entsprachen, jedoch immer noch von dem Originalitätsübel beunruhigt wurde, so übergab er ihm eines Tages ein von ihm selbst erstelltes Manuscriptum.

»Meister Jakobus«, sagte er ihm, »Ihr habt einst den Untergang jener Menschen beklagt, welche man originelle Käuze zu nennen pflegt! Diese Klage hat insofern doch eine gewisse Berechtigung, als solche Menschen, die wir im täglichen Leben Originale nennen, immerhin selten und es von jeher gewesen sind. Ist mit ihrem besonderen Wesen allgemeine Tüchtigkeit, Liebenswürdigkeit und ein mit dem Herzschlag gehender innerlicher [131] Witz verbunden, so üben sie auf ihre zeitliche Umgebung und oft über den nächsten Kreis hinaus eine erhellende und erwärmende Wirkung, die manchen eigentlichen Geniemenschen versagt ist, und ihre Erlebnisse gestalten sich gerne zu kräftigen oder anmutigen Abenteuern. Eine Erscheinung dieser Art im schönsten Sinne war unser Salomon Landolt, der nun auch seit mehr als zehn Jahren in die Ewigkeit gegangen ist. Einer unserer geistreichen Dilettanten hat sein Leben und Treiben in einem trefflichen Büchlein beschrieben, in welchem er aber über den unverehelichten Stand des Verewigten nur mit einigen dürftigen Andeutungen hinweggeht. Das hat mich gereizt, eine ergänzende Erzählung abzufassen, um den merkwürdigen Mann auch nach dieser Seite hin vor uns aufleben zu sehen. Hier ist nun meine diesfällige Arbeit, leider ein so unleserliches Schriftstück, daß ich wünschen muß, es von einer saubern Hand ins reine gebracht zu wissen. Nimm es mit, Jakobus, und mache mir in deinen Nebenstunden eine hübsche Abschrift davon!«

Herr Jacques nahm das Manuskript seines Herrn Paten mit und fertigte in der Tat mit großer Sorgfalt und Reinlichkeit eine Kopie davon an, wie sie im Nachstehenden nicht minder getreu im Druck erscheint.

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TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Erzählungen. Züricher Novellen. Erster Band. Der Narr auf Manegg. Der Narr auf Manegg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9B5F-F