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Durchs Frührot zog das Wolkenschiff
vor einem hellen Frühlingstag,
Als ich, ein träumend Schülerkind,
im morgenstillen Felde lag;
Ein Falter streifte meine Stirn,
und vor mir eine Lilie stand;
[64]
Ich aber schaute drüber hin
ins tiefe blaue Morgenland.
Das ganze Erdreich schwoll empor
in tausendfacher Blütenlust;
Doch mächtiger schwoll Traum an Traum
und Bild an Bild aus meiner Brust:
Das war die duftige Kinderwelt,
an deren Scheide ich mich fand,
Die wie die erste Blüte sich,
am Lebensbaume, mir entwand!
Sie baute sich noch einmal auf,
mit letztem Glanz, im letzten Flor;
Ein lieblich wunderlicher Bau,
ein Feentempel stieg empor
Von hundert Säulchen, zart wie Glas,
Altärlein, Nischen – Bildchen drin,
Bepriestert war das Wunderhaus
nach mystisch heil'gem Kindersinn.
Und mitten in dem Tempel stand,
durchsichtig, ein kristallner Sarg,
Der eine rosenrote Frau,
auf Feuerlilien schlafend, barg.
Vier Riesen lagen um den Schrein
mit schlummernden Falken auf der Faust;
Sie nickten oft im Morgenwind,
der ihnen um die Schläfe braust'.
Da ging die Sonne flammend auf
und schmolz den Tempel auf den Grund,
Nur in der wehenden Asche noch
der Schrein mit seinen Hütern stund;
[65]
Worauf der wärmste Sonnenstrahl
den Deckel von Kristall erschloß,
So daß der rosigen Schläferin
der Tag sich in die Augen goß.
Und auch die Riesen wachten auf
die sandten ihre Falkenzucht
Aus in den goldenen Morgenschein
nach aller Winde fröhlicher Flucht.
Sie stiegen auf ins Ätherblau
und brachten in einem Augenblick
Der Dame im kristallnen Sarg
eine scheue weiße Taube zurück.
Halb Kind, halb Jüngling, träumend noch,
fand ich die Liebe im Morgentau;
Ich trug sie singend in der Brust,
heimkehrend von der funkelnden Au.
Ein neuer Mensch, trat ich ins Haus
und fand das lockige Mädchen da,
Das schüchtern mir und ungewohnt,
wegfliehend in die Augen sah.
O süße Stunde, die das Herz
vom Herzen voller Sehnsucht reißt!
O Trennung, die schon im Entstehn
auf schrankenlos Vereinen weist!
Zieht ein mit eurem ganzen Hof,
o Liebesweh, o Seligkeit!
Zieht klingend ein, hier ist für euch
ein offnes Feld und gute Zeit!

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TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Gedichte. Gedichte. Siebenundzwanzig Liebeslieder. 2. [Durchs Frührot zog das Wolkenschiff]. 2. [Durchs Frührot zog das Wolkenschiff]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9EFB-E