Der Stephansturm

1809.


Lichtvoll die Herde gehet
Auf blauer Himmelshöh',
Einsam der Hirte stehet
Und klagt der Nacht sein Weh.
Also den alten Kummer
Singst du, o Riesengeist!
Indes der träge Schlummer
Die lasse Welt umfleußt.
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O schönste Zeit der Erde,
Wo ich einst, gut und recht,
Geführt die fromme Herde,
Ein kindlich treu Geschlecht!
Da heil'ge Lieder schallten
Ernst durch mein Gotteshaus,
Fürsten und Helden wallten
Demütig ein und aus.
Da Männer kräftig thronten
Im deutschen Kaisersaal,
Da Treu' und Recht noch wohnten
Unten im Erdental.
Sittsame Fraun, ihr lieben!
Ihr Helden, stark und groß –
Herde, die treu geblieben, –
Du schläfst in meinem Schoß!
Doch, was jetzt unten schleichet,
Blinzelnd im Sonnenlicht,
Ihr Knechte, von mir weichet!
Bin euer Hirte nicht!
Mich haben die Stern' erkoren
Zu ihrem Hirten gut,
Seit ihr euch selbst verloren
In eurem Frevelmut!
Also von hohen Zinnen
Der Geist des Turmes sang,
Die Sterne zogen von hinnen,
Der Vogel sich aufschwang,
Die Sonne stieg aus den Tiefen,
Der Turm, der stand gar stumm,
Zu seinen Füßen liefen
Die kleinen Menschlein herum.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Kerner, Justinus. Gedichte. Die lyrischen Gedichte. Der Stephansturm. Der Stephansturm. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-A4F0-D