[69] Anna Vögtly

Wo dem Spalt geborstner Felsen
In endloser Wildnis Grausen,
Recht wie aus der Hölle Grund,
Heiße Wasser wild entbrausen,
Aus dem alten Born zu Pfäffers
Hob sich oft des Abgrunds Meister,
Warb zu seiner Hölle Dienst
Listig sünd'ger Menschen Geister.
Anna Vögtly! Anna Vögtly!
Wahre fest dein sünd'ges Herze!
Geh nicht, Zauberkräuter suchend,
Mitternachts mit mag'scher Kerze!
Ja, bei solchem Höllenspiel
Ist er keck vor dich getreten;
Anna Vögtly! Anna Vögtly!
Lehrte Mutter dich nicht beten?
Durch den Graus der Mitternacht
Bist du leuchtend vorgeschritten,
Raubtest, weh! den heiligen Leib
Aus der Waldkapelle Mitten;
Wild Gelächter man vernommen,
Ries'ge Felsen widerhallten,
Höllenmasken, scheußlich grinsend,
Funkelten aus ihren Spalten.
Bäume schwankten auf und nieder,
Ächzend wie von Sturmes Zorne,
Und die Hostie wirfst du zitternd
In der grausen Wildnis Dorne.
Eine Rose silberhelle
Ist sogleich emporgesprossen,
Hält mit sieben Strahlenblättern
Fest das Heiligtum umschlossen.
Als der Nächte Graus verschwunden,
Goldne Tagesstrahlen siegten,
Vögel sich auf schlankem Zweige
Singend überm Abgrund wiegten.
Eine Schäfrin fährt zu Tal,
Schaut der Silberrose Funkel,
Und sie spricht: Fürwahr ein Stern
Blieb in dieses Waldes Dunkel!
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Ihre treuen Schäflein zögern
An den nahen Born zu gehen,
Neigen alle sich zur Erde,
Als so sel'gen Glanz sie sehen.
Aufgewacht vom Felsenlager
Kommt ein gier'ger Wolf geschritten,
Sieht der Gottesblume Licht,
Legt sich in der Schäflein Mitten.
Und die Hirtin tut es kund,
Volk und Priester eilt zur Stelle,
Pflanzen diese Gottesblume
Auf den Altar der Kapelle.
Helle Glocken, Preisgesänge
Hallen durch die Waldesstille,
Über Land und Meere ziehen
Fromme Pilgrime die Fülle.
Ettiswyl nennt sich die Stätte,
Wo in dunkler Waldkapelle
Jene Gottesblume blüht
Silbern mit des Mondes Helle.
Wer sie einmal nur ersah,
Den verläßt ihr Mondlicht nimmer,
Sicher geht er durch die Nacht,
Und das Haupt den heil'gen Schimmer.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Kerner, Justinus. Gedichte. Die lyrischen Gedichte. Anna Vögtly. Anna Vögtly. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-A517-F