An Katharinas Töchter, die Prinzessinnen Marie und Sophie von Württemberg

Mit in Schwarz ausgeschnittenen Blumen.


Die Sage geht, ich kann's euch nicht verbergen,
Daß man in jenem Haus, dem stillen, kleinen,
So ihr geschaut an Weinsbergs Rebenbergen,
Verstorbner Menschen Schatten sah erscheinen.
Sei solches Schaun nun Täuschung oder Wahrheit
(Wollt nur, was euch das Innre sagt, hier meinen),
Ward mir doch kürzlich die Erscheinung Klarheit:
Ich saß in einer stillen Mondennacht
Einsam auf jenen alten Burgruinen,
Beleuchtet von des Sternenhimmels Pracht,
Nachdenkend euch, und wie ihr mir erschienen
Als Glückliche, um die ein Sel'ges wacht,
Dem noch viel Selige als Engel dienen –
Die Mutter war's, an die ich tief gedacht,
Da kamen durch die monderhellte Luft
(Von Menschenschatten wohl hört man's oft sagen)
Jetzt Blumenschatten, schwarz und ohne Duft,
Zu mir im Geisterreigen hergeschwebet.
Ein Westhauch durch die Totenstille bebet,
Und schmerzreich, wie entstiegen einer Gruft,
Hör' ich's also in Harfentönen klagen:
»Welch herbe Schickung haben wir erlebet!
Den vollen Kränzen, weh! sind wir entfallen,
Die man für sie, die Lieblichen, gebunden
Im Neckartale in den holden Stunden,
Als sie erschienen Blumenengel allen.
Weh! wir Unseligen sind nicht gekommen
An ihre Brust und nicht in ihre Hände,
Die staub'ge Erde hat uns hingenommen;
Und sündhaft fluchten wir da unserm Ende.
Nun irren wir rastlos, als schwarze Schatten
Gehoben in die Lüfte von der Erden,
Bis daß auch wir das Ziel, das jene hatten,
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Die glücklicher als wir, erreichen werden.
Hin treibt es uns wohl ohne Duft und Farben,
Unsel'ge, hin zu jenen Liebewerten,
An deren Busen unsre Schwestern starben,
Und selig drauf erstanden in den Gärten,
Wo ihre Mutter wallt, der Lenz nie endet.
Dir, der sich nie von jener Sel'gen wendet
(Und der Gedanke hat gemacht uns dreister),
Erscheinen wir unsel'ge Blumengeister
Und bitten schmerzvoll dich: sei du der Meister,
Der uns in ein Gefäß gebannt versendet
Dahin, wohin wir, ach! so sehnlich streben!«
Also ertönt' es, und die Blumen schweben,
Die Schatten, farblos dunkles Geisterleben,
Recht Blumengeister, nach mir von den Höhen
Zu Tal, daß ich sie banne. – Dem Verlangen
Bin ich gefolgt. Möcht' nun für sie erflehen,
Ihr Lieblichen! ein freundliches Empfangen,
Daß ihr die Armen löset von den Schmerzen,
Daß sie nicht starben jüngst an euren Herzen!
Daß sie sind ungesehn von euch vergangen!
Oft nach dem Tod erst wird erkannt die Liebe,
Ihr Lieblichen! o sprechet: »Blickt nicht trübe,
Ihr Blumenschatten! seid uns ja willkommen
Mit Lächeln aufgenommen!
Oft nach dem Tod erst wird erkannt die Liebe!«

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Kerner, Justinus. Gedichte. Die lyrischen Gedichte. An Katharinas Töchter. An Katharinas Töchter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-A650-7