[210] Des Bruders Tod

1.

Des Bruders Tod am Palmtag-Morgen.


Wer deinen Tod, du Bruderherz! gesehen,
Dem wird das Sterben Lust;
Gleich Melodie aus fernen Himmelshöhen
Hört' ich das letzte Atmen deiner Brust,
Ein sanftes Säuseln noch – dann war's geschehen.
Nicht Todesschweiß, nicht Kälte war zu fühlen,
So lächelnd und so licht,
Wie eines Müden, den Zephire kühlen,
War nach dem Tod dein liebes Angesicht,
Wie eines Kinds, das träumt von seinen Spielen.
O könnt' ich doch hienieden noch erringen
Die Tugend, diesen Tod,
Auf Engelsflügeln mich emporzuschwingen
In eines Palmtags heil'ges Morgenrot,
Wenn Erd' und Himmel Hosianna singen!
Hier unten kränzt der Lenz aufs neu' die Erde,
Es jubelt Wald und Flur,
Der Vogel singt sein Lied, es tanzt die Herde,
Mich doch bewegt nichts als die Sorge nur:
Daß, eh' der Tod mir ruft, ich gleich dir werde.

2.

Soll ich dein Sterben nicht beweinen?
Mein krankes Herz der Kummer bricht,
Ich sterbe, und mit dir vereinen
Wird mich der Tod, der frühe, nicht.
Du wurdest reif hier, ganz vollendet,
Du bist ein Sel'ger aufgeschwebt,
Indes, wenn jetzt mein Leben endet,
Mein Geist noch an dem Staube klebt.
Du gingst zur Heimat lichter Geister,
Los aller irdischen Natur.
Du wurdest hier im Glauben Meister,
Ich aber blieb ein Jünger nur.
[211]
Ich hebe flehend meine Hände
Zu dir, o Bruderherz! nun hin,
Bitt' Gott, daß er verschieb' mein Ende,
Bis daß wie du gereift ich bin.
Bis daß auch mir der Tod wird Wonne
Und ich aufflieg', ein sel'ger Strahl,
Du Bruderherz! in deine Sonne,
Mit dir zu leben noch einmal.

3.

O daß du wardst hinweggenommen,
Zu kehren nimmermehr zurück!
Von einem Meere fortgeschwommen
Ist seitdem all mein, all mein Glück!
Vergebens blick' ich nach dem fernen
Azurnen Himmel, rufend dir.
Antwortete von all den Sternen
Doch einer nur: »Er ist bei mir!«
O spräch's nur aus den regen Winden,
O spräch's nur aus dem Baum, dem Kraut:
»Er ist in uns!« wollt's überwinden!
Doch ach! von ihm kein Wort, kein Laut!
Die Vögel singen bunte Weisen,
Die Quellen murmeln Lust und Gram,
Sie sprechen. O ich wollt' sie preisen,
Verrieten sie, wohin er kam!
Die Stern' erklingen, Winde tragen
So manchen Laut durch Wald und Flur,
Doch will man nach den Toten fragen,
Gibt keine Antwort die Natur.

4.

Weinen muß ich, – sollt' es nicht!
Daß du bist vorangegangen,
Hin, wo Freiheit ist und Licht,
Während ich noch hier gefangen.
Aber sieh! es ist mir jetzt,
Seit du dich von mir gerissen,
Wie dem Kinde, ausgesetzt,
Elternlos in Finsternissen.
[212]
Heimatlich war es mir nur,
Bruderherz! durch dich hienieden,
Fremd blickt an mich die Natur,
Seit du bist aus ihr geschieden.
In ein Herz zusammen fast
Wuchsen wir in langen Jahren –
Freudig trug ich jede Last,
Wußt' ich's nur, daß du's erfahren.
Trug dich, andern unbewußt,
Mitten unter tiefen Schmerzen,
Einen Stoff von sel'ger Lust
Still in meinem wunden Herzen.
Alles dies dein Tod zerbrach! –
Doch du zürnst und rufst zum Staube:
»Bruderherz, wie lange, ach!
Ist ein schwankend Rohr dein Glaube!«

5.

Bruder! bin nicht wie du!
Du warst ein Herz voll Klarheit,
Voll Festigkeit, voll Wahrheit,
Voll Liebe und voll Ruh'!
Bruder! bin nicht wie du!
Mein Herz von wilden Wogen
Der lauten Welt durchzogen,
Hat Klarheit nicht, nicht Ruh'!
Bruder! aus deinem Licht
Nur einen Funken send' mir,
Nur ein Ruhstündlein spend' mir!
Bruder! verlaß mich nicht!

6.

Seit du warst hinweggenommen,
Treibt mich sehnliches Verlangen
Hin, wohin du bist gekommen.
Lieber! Lieber!
Möchte leis zu dir hinüber!
Wie man schleicht mit leisem Tritte
Aus langweiliger Visite,
Draus der liebste Freund gegangen.

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TextGrid Repository (2012). Kerner, Justinus. Des Bruders Tod. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-A668-4