Todesboten

1.

Die fliegende Todesbötin schau',
Ein schlimmes Gespenst wie die weiße Frau;
[44]
Wenn solche nachts flieget in ein Haus,
An das Fensterglas legt wie Glühwurms Schein
Den Kopf, daß er leuchtet ins Zimmer hinein,
So trägt man da eines bald tot hinaus.

2.


Der vor'ge Geist verkündet einz'lne Leichen,
Der doch vorausgeht langen schwarzen Seuchen,
Vor dieses Nachtgespensts Erscheinen
Hört man oft fern ein Klagen, Weinen,
Der Glaskopf spricht: »Das ist ein Heulen
In der Waldeinsamkeit von Eulen.«
Doch bald auch er sieht wie der Bauer,
Daß hoch sitzt auf der Kirchhofsmauer
Die Klagfrau, nun auch ihm ein Graus,
Die strecket weitaus ihre Arme
Und rufet in die Nacht hinaus:
»Daß Gott sich eurer Seel' erbarme!
Bestellt, bestellet euer Haus!
Bald bricht der schwarze Tod hier aus!«
Und drauf zerfließet sie in Luft.
Doch bald erscheint dann jene Seuche,
Zum Kirchhof trägt man Leich' an Leiche,
Daß bald ihm mangeln Grab und Gruft.
[45]
Oft einer geht ehrsam und fromm einher,
Und jeder meint, daß er das wirklich wär',
Doch ach und weh! ein Mantel das nur ist,
Verbergend seines Innern tiefen Mist.
Oft einer geht einher in dieser Welt,
Daß jeder ihn für bös und sündhaft hält,
Er ist es nicht, sein Äußres macht das nur,
Gut ist und fromm die innere Natur.
Du kannst nicht sagen: Der ist rein, ja rein!
Den läßt einst Gott in seinen Himmel ein!
Du kannst nicht sagen: Der ist schlimm, ja schlimm!
Der wird einst fühlen seines Gottes Grimm!
Nein! nein! Der Geist, der über der Natur,
Gott, Gott durchschaut des Menschen Innres nur.
Der schicket ganz nach ihrem innern Wert
Die Seele nach dem Tod hinab, hinauf,
Oft anders, als am Grab ihr Lebenslauf
In wohlgesetzter Rede es begehrt.
Sieh die Raup' in ihrer Puppe
Stillem, dunklem Schattenreich,
Nun getrennt von den Genossen,
Einzig in sich selbst verschlossen,
Tot nicht, ob begraben gleich,
Schaut nicht mehr den Tau der Triften,
Ist der Blüt' und Kräuter bar,
Gänzlich nur sich selbst gegeben,
Trägt sie das vergangne Leben
In sich als ein Pünktchen klar.
Und in solcher stillen Klause
Streift sie ab ihr Erdgewand,
Reifen ihr die bunten Schwingen,
Die sie einst als Psyche bringen
Himmelwärts aus düstrem Land.
Sieh die Raup' in ihrer Puppe!
Glaube: daß auch dich der Tod
Einst nicht trägt mit Blitzesschnelle,
Ist dein Innres noch so helle,
In ein ew'ges Morgenrot.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Kerner, Justinus. Todesboten. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-A7D2-A