Allerseelen

Heut lag es wie Schnee in der Luft.

Ich dachte, es würde schneien. Die Wolken hingen bis zwischen die Häuser und wehten wie Laken vor den Fenstern.

Der Rauch aus den Schornsteinen wand sich wie schwarze Papierschlangen im Karneval um die Dächer.

Schließlich regnete es. Ein langer langsamer Regen.

Ein Regen, der sich selber zum Mißmut regnen muß.

Die Lichter der Laternen in der Ludwigstraße stachen wie goldene Bajonette durch den Asphalt und glänzten in der Tiefe. Wenn man heruntersah, glaubte man zu fliegen.

Ein matter Vogel, mit dem klirrenden Flügelschlag des Abends.

Zeppeline fuhren als Trambahnen über den Asphalthimmel. In den Augen der Frauen dämmerte der Herbst.

Heut ist der Tag aller Seelen.

Heut wollen wir nicht Leib sein. Auch nicht heiliger Leib oder Leib des Herrn. Leib der Frau. Nur Seele. Schneegewölk. Sinkendes Laub. Singender Wind.

[112] Wie viele Gräber muß ich heute besuchen. Wie viele Gräber will ich suchen, die ich nicht finden werde.

Im Waldfriedhof, zwischen den Bäumen, liegen die Gräber wie tote Tiere. Da ein Igel. Dort ein Fuchs. Ein Reh. Einige Kaninchen.

Der Regen fällt wie Tannennadeln von den Bäumen. Ich sitze auf einem Grab. Weil ich müde bin. Müde des Irrens in der Wildnis des Krieges.

Ich weiß nicht, auf welchem Grab ich sitze.

Ich habe nicht hinter mich gesehen auf die eiserne oder marmorne Tafel.

Wer du auch seist: der du hier unter dem Moose liegst: du bist mein Freund.

Nimm den Schmerz des Lebenden um deinen Tod, um den Tod aller deiner Brüder, nimm ihn in deiner braunen rauschenden Tiefe gern und gnädig an.

Du ruhst auf dem Grunde des Meeres aller Dinge wie ein schöner Seestern und die silbernen Wogen ziehen über dich hin wie Schwalben.

Wie sind wir einst im blühenden Licht des Frühlings geschritten, jubelnde Genien.

Wie jung warst du, mein Freund, ein springender Hirsch. Hamburg war deine Heimat und du warst voll Rauch des Hafens und voll Weite des Meeres. Voll roter Korallen und klingend vom Geläut hanseatischer Türme.

[113] Wir wohnten in Tegernsee zusammen im Gasthof zum Alpbach, am Eingang des Tales, das nach Schliersee herüberführt.

Jeden Morgen ließen wir uns im Kahn auf die Höhe des Sees treiben. Dann lagen wir der Länge lang auf dem Rücken im Boot und du sagtest, du könntest selbst am hellsten Tag die Sterne sehen.

So scharfe Augen hattest du.

Am Abend liebten wir ein und dasselbe Mädchen. Enzianblaue Augen und rote Haare. Ein Eichhörnchen. »Oachkatzl,« sagte sie immer und lachte. Sie liebte uns beide, aber ich glaube, sie liebte dich mehr als mich. Weil du dem heiligen Franz in ihrem Gebetbuch so ähnlich sahst.

Was du immer werden wolltest, wurdest du jetzt: Erde. Ewige Erde. Humus wurdest du und deine Kraft wuchs in die Bäume hinein.

Diese Tanne, die ich umarme und die mir brüderlich die Wangen streift: du bist es. So bist du zugleich über- und unterirdisch.

Zugleich Tod und Leben.

Der ich armselig durch die Oktobernacht des Daseins taumle, dunkel und frierend, mit der Ungewißheit des Lebens und der Gewißheit des Sterbens: ich bin weniger [114] als du, mein toter Kamerad, und nur wie eine blaue Blume auf deinem Grabe. Meine Hoffnung ist nur eine Hoffnung des Schmerzes, und mein Glaube nur der Glaube aller Seelen.

[115]

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TextGrid Repository (2012). Klabund. Erzählungen. Der Marketenderwagen. Allerseelen. Allerseelen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-AB36-A