[86] Klage Telynhards um seine Entfernten Bergen

1777.


Wo seyd ihr, all' ihr Lieben?
Mit Sturm und heißem Drang,
Mit Seufzen und bangem Sehnen,
Ruft euch mein Wehgesang.
Wo seyd ihr hin, ihr Edlen?
Was täuscht ihr mich so sehr?
Ihr habt mich sonst geliebet,
Und liebt mich jetzt nicht mehr?
Ich steh' auf hohem Felsen,
Und rolle mein Aug' umher,
Und krauses Regengewölke,
Umdunkelt Luft und Meer.
[87]
Ich stürme durch Gebirg' und Thale,
Durch Morast und Dorngesträuch,
Durch Distel und Donnernessel,
Und dürst' und schrei' nach euch,
Der Eichwald steht entblättert,
Und todt und starr die Au',
Der feuchte Herbstwind sauset
Ueber Stoppeln kalt und rauh –
Was trau'rst du so, o Aue,
Was heulst du so, o Hain?
Seyd ihr auch von den Lieben verlassen?
Seyd ihr auch, wie ich, allein?
Ich bin allein, in fremdem
Einöden Land allein.
Noch sah ich hier noch Sonnen-,
Noch Mond-, noch Sternenschein.
Die Luft ist irrer Nebel,
Und nackter Fels die Au',
Und klapperndes Gerippe
Der Frost, und Reif der Thau.
[88]
Mein Aug ist ausgeweinet,
Mein Angesicht verbleicht.
Da kommt kein freundlicher Wandrer,
Der mir die Hände reicht.
Meine Klage überhallt die Felder,
Die Berge, den Forst, und laut
Gibt mir das Echo Antwort,
Doch keines Menschen Laut.
Ich bin allein. Es schweben
Phantome sichtbarlich,
Und tanzen im Wolkenwirbel,
Und schrei'n im Sturm um mich.
Der Sturm brüllt lauter. Das Weltmeer
Wälzt berghoch seine Fluth,
Und Felsenvesten erheben
Vor des stolzen Orkans Wuth.
Brülle nur, o Sturm, und schreie
Wie tausend Donner laut.
Mir hallt dein düstres Schreien,
Wie Morgengruß der Braut.
[89]
Stürme nur, und peitsch' die Berge,
Hochstolzer Ocean,
Ich hör' dein Wogengetümmel
Wie Flötenwirbel an.
Was soll mir Frühlingsmilde
Und laues Westgeweh?
Es wiegt des Verlaßnen Seele
Nur in noch heiß'res Weh!
Was soll mir Haingesäusel,
Und Nachtigallgetön?
Meine Seele wird drob in Sehnsucht
Und düsterm Gram vergehn! –
Lebt wohl, lebt wohl, ihr Lieben!
Mein kummermüdes Herz,
Mein ausgeweintes Auge
Zuckt schon vom letzten Schmerz –
Lebt wohl. Im Runde der Steine,
Hier sey mein Grab. Hier wird
Mein Geist eure Wang' umschauern,
Wenn ihr das Grab umirrt.

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TextGrid Repository (2012). Kosegarten, Gotthard Ludwig. Gedichte. Gedichte. Klage Telynhards um seine Entfernten Bergen. Klage Telynhards um seine Entfernten Bergen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-B6C6-D