335c.
Im Balksee, Amts Neuhaus an der Oste, ist eine Stadt durch den Uebermuth ihrer Bewohner, die mit dem Heiligsten frevelhaft Spott trieben, untergegangen. Auf dem Grunde des Sees ruht ein riesenhafter Stier, der Seebulle genannt. Den größten Theil des Jahres, solange das Waßer offen ist, verhält er sich still; man merkt nur an den aufsteigenden Blasen und Waßerperlen, wo er liegt und Athem holt, oder am aufquellenden Grundwaßer, wenn er sich rührt. Dagegen in der Winterzeit, sobald sich das Waßer mit Eis bedeckt, wird er unruhig, ihm entgeht die Luft, er steigt nach oben, sprengt durch sein heftiges, weithin vernehmbares, donnerähnliches Gebrüll die Eisdecke, daß lange Borsten sich darin bilden. Je stärker der Frost, desto heftiger wird sein Brüllen und Toben unter dem Eise, worin er nächtlicherweile auch mit den Hörnern Löcher stößt, oder es mit seinem Athem aufthaut, sodaß der Eisverkehr auf dem See stets ein gefährlicher ist.
Ganz Gleiches berichtet die in der Anmerkung zu Nr. 35-40 berichtete Sage von dem fetten Ochsen des im Darmßen untergegangenen Klosters. In der Anmerkung zu Nr. 267 habe ich bereits die deutschen Sagen zusammengestellt, welche uns von einem aus der Zwergenwelt oder aus dem Waßer aufsteigenden Stiere melden, dem sich der irische Elfstier und schottische waterbull (Grimm, Irische Elfenmärchen, S. XLVII, CXXI; vgl. Athenäum, 1846, S. 1244) zur Seite stellen, zu dem Grimm (a.a.O.) auch den apfelgrauen Stier aus der Eyrbyggjasaga, Kap. 63, gesellt hat. Denselben Glauben hat seitdem auch Weinhold (Altn. Leben, S. 36-38) besprochen: »Die Ochsenheerden, welche die Sage den Riesen zutheilt, laßen sich allerdings [292] aus Naturerscheinungen deuten; man findet darin die schwarzen goldgesäumten Wolken, welche auf dem Gebirge lagern. Sie weisen aber auch auf die uralte Bedeutung, welche das Rind in dem Leben und Glauben der Germanen und ihrer Verwandten hatte ...... Sehr gewöhnlich war der Glaube, der noch heute im Norden wie in Deutschland fortdauert, daß sich Waßergeister auf eine Zeit in Stiere wandelten und unter die Heerden mischten. Sie erschienen meistens apfelgrau. So hatte Olaf Pfau einen schönen apfelgrauen Bullen Harri geheißen. Er hatte vier Hörner, zwei stunden wie alle Hörner, das dritte ging gerade hinauf, das vierte kam zwischen den Augen heraus und hießBrunnenwecker (brunnwaka), denn er brach mit ihm Trinklöcher durch das Eis. Er wieherte wie ein Pferd. Als Harri achtzehn Jahre alt war, fiel der Brunnenwecker ab, und Olaf ließ ihn nun schlagen. Die Nacht darauf träumte ihm, wie eine große, zornige Frau zu ihm käme und ihn schelte, daß er ihren Sohn Harri habe tödten laßen, dafür solle er seinen eigenen Sohn im Blute sehen. Und dies erfüllte sich auch.« Das älteste Zeugniß für den irischen Elfstier hat Wolf aus der Vita Si. Aidani beigebracht (Zeitschrift, I, 353), der im 7. Jahrhundert lebte. Von deutschen Zeugnissen gehört noch hierher die alle Morgen aus dem Wittgenstein kommende Kuh; der farrenröder Hirt erhält für sie von einem Fräulein, das im Berge wohnt, das Hutgeld; Bechstein, Thüringische Sagen, II, 137. Ferner: Im Marsbrunnen halten sich Meerweiber auf; vor vielen Jahren ist auch ein Bauer mit vier Ochsen und einem Pferd in den Brunnen versunken. Er befindet sich nebst seinem Vieh noch darin, und wenn man hineinruft: »Bauer, Bauer mit einem Paar Ochsen und einem Gaul, Pütterle por (Bläschen empor!)«, so läßt er gleich Bläschen auf die Oberfläche steigen; Baader, Nr. 379. Endlich haben nach Afzelius, II, 316 (wozu Grimm, Irische Elfenmärchen, S. CXX, zu vergleichen), die aus gewißen Stellen im Meer und andern Gewäßern zu Zeiten aufsteigenden dicken schneeweißen Nebel Veranlaßung zu zahlreichen Sagen vom Meerweib gegeben, welches aus dem Meere emporgestiegen sein soll, mit langem lockigem Haar, bald seine schneeweißen Gewänder über die Gebüsche der benachbarten Inseln ausbreitend, bald schneeweiße Rinder auf die Weide treibend. Dazu stellen sich die schwarzgrauen Kühe und Schafe der Frau Hulda, die Simrock [293] (Mythologie, S. 248) besprochen und als vom Wind gejagte Regenwolken gedeutet hat. Faßen wir die so gewonnenen Züge zusammen, so zeigt sich, daß der Stier der unterirdischen Zwergenwelt, d.i. der Unterwelt, angehört, der er bald aus dem Felsen, bald aus dem Waßer entsteigt, was aber nur während des Sommers geschieht, denn nur dann treibt der Hirt seine Heerde aus; in andern Sagen wird ausdrücklich der Mai als diejenige Jahreszeit hervorgehoben, wo er sich unter die Heerden der Oberwelt mischt und die Kühe derselben befruchtet. Im Winter dagegen ist er unter der die Flut überdachenden Eisdecke gefeßelt, die er mit Gebrüll zersprengt und die er mit seinen Hörnern durchbohrt, ein Zug, auf den um so mehr Gewicht zu legen ist, als die nordische und niedersächsische Sage in Betreff seiner in voller Uebereinstimmung stehen. Sein Gebrüll ist fürchterlich, wer es vernimmt, fürchtet von ihm verschlungen zu werden, und dem sächsischen und tiroler Landmann deutet es ausbrechendes Viehsterben an. Bei Betrachtung dieser Züge kann es wol keinem Zweifel unterliegen, daß der Stier die im Sommer aufsteigende Regen- und Donnerwolke ist, die im Winter als in der Unterwelt gefeßelt erscheint und deshalb mit ihrem Feuerhauch das Eis aufthaut oder mit Donnergebrüll es bersten läßt, im Sommer aber, zwar nicht die irdischen, wohl aber die himmlischen Kühe, die Wolken, befruchtet, daß sie ihren Reichthum über die Erde ergießen, aber dann auch von ihm verschlungen werden, um mit ihm zu verschwinden und der Sonne und allen lichten Göttern Raum zu geben. Wie so die himmlischen Kühe an die Stelle der irdischen zu setzen sind, so müßen auch an die Stelle der von dem Stier verschlungenen Menschen die feindlichen Naturmächte gesetzt werden, welche den Regen und die Erdfruchtbarkeit zurückhalten, und daß auch bei uns ein solcher Kampf feindlicher Mächte als im Gewitter stattfindend gedacht wurde, zeigt die Auffaßung desselben, nach welcher es entsteht, wenn Gott den Teufel verfolgt und ihn endlich erschlägt. Die vedischen Lieder sind solcher Anschauungen voll, und mehr als einmal tritt der sommerliche Gott Indra in Stiersgestalt auf, die himmlischen Kühe befruchtend, die feindlichen Asuras mit seinem Donnergebrüll verjagend und endlich die lichte Sonne am Himmel heraufführend, und Agni, der Gott des himmlischen und irdischen Feuers, tritt gleichfalls [294] als Stier mehrfach an seine Stelle. Von beiden aber wird uns gemeldet, vom Agni in den Liedern und ausführlicher in den Brâhmanas, vom Indra in der epischen Sage, daß sie einst ihre Zuflucht im Waßer gesucht, vom Indra insbesondere, nachdem er seinen Feind Vrĭtra erschlagen. Die indische Sage zeigt aber hier eine Lücke: es wird nicht gesagt, daß einer von beiden als Stier hinabgestiegen sei, wohl aber berichtet ein Brâhmana, daß Agni sich als Roß ein Jahr lang in einem Açvatthabaume geborgen habe, was in deutlichem Zusammenhang mit den dem Waßer entsteigenden Rosse unserer Sagen (vgl. Norddeutsche Sagen, Anm. zu Nr. 61; Grimm, Mythologie, S. 458) steht, da auch das Roß als Bild der Wolke erscheint. Wir dürfen demnach das einstige Vorhandensein dieser Vorstellung bei den Indern voraussetzen, da uns die Brâhmanas von einem Stier des Manu (Manu ist aber dem Herrscher der Unterwelt, Yama, ursprünglich identisch) berichten. Ich habe diesen Stier bereits in der Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung (IV, 91 fg., 98 fg.) besprochen und ihn sowol dem Minotauros als dem Stier unserer Sagen gleichgesetzt. Hier hole ich nach, daß wie vor dem Brüllen und Hauch des Manustiers Asuras und Raxasas zermalmt niederstürzen, d.h. die winterlichen Mächte weichen, so auch unser Stier durch Gebrüll und Feuerhauch die winterlichen Bande zu vernichten strebt; eine Entfernung von dem ursprünglichen Gedanken, also wahrhafte Mythenbildung, zeigt sich schon darin, daß die im Brâhmana gemeinten Asuras und Raxasas feindliche Stämme sind, ebenso wie die athenischen Jünglinge und Jungfrauen, die Minos' Stier verschlingt, an die Stelle älterer Dämonen traten. Und so kann es nicht befremden, daß in der deutschen Sage, die im Ganzen den Grundgedanken bewundernswürdig festgehalten hat, an die Stelle der Asuras Menschen schlechthin und an die Stelle der himmlischen Kühe irdische, die der Stier verschlingt, getreten sind. In Betreff des vernichtenden Gebrülls des Stiers stimmen die deutsche und indische Sage ziemlich überein, während die griechische und deutsche in einigen Berichten darin stimmen, daß die Menschengestalt schon ganz oder zum Theil an die Stelle der thierischen tritt, indem die Griechen den Minotauros bald als Mensch mit dem Stierkopfe, bald als Stier mit Menschenkopf erscheinen laßen, der Viehschelm aber als schwarzer Mann oder Stier auftritt. Von [295] dem mythischen Ursprung des Stiers weiß die indische Sage uns, wenigstens bis jetzt, nichts zu berichten, die deutsche nennt uns zwar eine große, zornige Frau als Mutter des Harri, aber wir erfahren nichts Weiteres von ihr. Doch verdient noch ein Umstand Erwähnung. Der Minotauros ist erst der Sohn der unter einer Kuhhaut verborgenen Pasiphae und des vom Poseidon aus dem Meere heraufgesandten Stiers, der sich eigentlich unserm Seestier vergleichen müßte. Wir haben also nur eine Wiederholung des ursprünglichen Gedankens im Minotauros zu sehen, die einigermaßen eine natürlichere Auffaßung ist, da der im Mai aufsteigende, im Herbst wieder in den See tauchende Stier nur eine einzelne Gestalt an die Stelle der vielen Donnerwolken des Sommers setzt. Sie ist auch darum natürlicher und deshalb genauer, weil der Unterschied zwischen Sommer- und Wintergewölk noch fester gehalten ist, indem das auch im Winter vorhandene Gewölk unter dem Bilde der Kuhhaut dargestellt wird (vgl. über dasselbe Max Müller, Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung, V, 146; danach ist auch meine Auffaßung der viçvarûpâ, der von den Rĭbhus aus der Haut geschaffenen Kuh a.a.O., IV, 112, also ebenfalls der fruchtbaren Sommerwolke, »die alles zeitigt«, zu berichtigen, wodurch zugleich für den Daidalos und die Rĭbhus eine neue Berührung gewonnen wird). Unter dieser bloßen Haut, dem unfruchtbaren, seinen Segen gar nicht oder nur in eisigen Flocken ergießenden Gewölk (im Gegensatz der fruchtbaren Kuh, deren Euter Indra im Sommer mit dem Blitze melkt) verbirgt sich Pasiphae, der belebende, allen leuchtende, alles befruchtende Sonnenstrahl, des Poseidon Stier erscheint und aus ihrer Verbindung geht der Minotauros hervor, der nun zu Minos in das Labyrinth hinabsteigt, das ich a.a.O. den Irrgängen unserer Zwerghöhlen um so mehr zu vergleichen berechtigt war, als es geradezu durch Wieland's Haus übersetzt wurde. Sehen wir also hier unter der Haut den Winterhimmel aufgefaßt und die griechische und indische Mythenbildung in schöner Uebereinstimmung, so schließt sich daran auch, wenn auch in einem andern Sagenkreise, die deutsche Mythologie an, indem das wilde Heer aus der Haut einer geschlachteten und verzehrten Kuh dieselbe neu hervorgehen läßt, wie derselbe Gedanke bekanntlich bei [296] den Böcken Thor's wiedererscheint. Auch die deutsche Mythe kannte demnach das Bild der wieder zur Kuh werdenden Haut, und es scheint mir natürlich, sie auch in jener die fleischlosen Knochen des Hinterleibs deckenden Haut des Viehschelms (Anm. zu Nr. 335 b) zu sehen, wie denn in diesem und dem Kuhtod mehr die winterliche als die sommerliche Gestaltung des Begriffs sich ausprägt. Diese Vergleichungen laßen uns aber, wenn auch nicht die Abstammung, so doch wenigstens die mythische Gruppirung unsers Seestiers ahnen. Dem Minos wird der Stier vom Poseidon gesandt und diesen glaubte Grimm (Mythologie, S. 200), wenn auch nur hypothetisch, dem Niördr vergleichbar. Dazu mag gehalten werden, daß die ihm im deutschen Glauben zur Seite stehende Nerthus dem See auf einem von Rindern gezogenen Wagen entsteigt und in ihn zurückkehrt. Des Niördr Sohn ist aber Freyr, dem vorzugsweise Stiere geopfert werden, ja unter den dichterischen Namen des Ochsen findet sich gar Freyr selbst (Grimm, Mythologie, S. 194; vgl. auch Weinhold, Altn. Leben, S. 38, wo alle Namen verzeichnet und übersetzt sind), und von Freyr hängen Regen und Sonnenschein ab, er wird um Fruchtbarkeit der Erde und Frieden angerufen, seine Wirksamkeit paßt also ganz zu dem Wesen des Stiers, wie wir es oben kennen gelernt haben. Es ist also wol möglich, daß Freyr einer frühern Zeit selbst als jener sommerliche Stier galt, die spätere aber wird, sobald sie sich von den alten Thierpersonificationen mehr losriß und das Thier nur als Begleiter des Gottes, nicht mehr als den Gott selbst auffaßte, auch Freyr und den Stier getrennt haben, sie wird, wie sie den Freyr den Asen gesellte, den Stier der Unterwelt gelaßen haben, wie für die deutsche Mythologie wenigstens daraus hervorzugehen scheint, daß der Stier als dem unterirdischen Schmiede angehörig (Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung, IV, 98 fg.) und dem See, der den Eingang zur Unterwelt bildet, zwar entsteigend, aber auch in ihn zurückkehrend, im Winter in demselben gebannt, auftritt. [297]