335b.

In der Nähe des Dorfes Bockel, Kirchspiel Hankenbüttel, liegt bei dem Weiler Günne ein Teich ohne Ab- und Zufluß, mitten in demselben eine schwimmende Insel, zwischen sandigen, mit Heidekraut bewachsenen Hügeln, unweit der Quelle der Ilmenau. Dieser Teich heißt die Bullenkuhle und soll von unergründlicher Tiefe sein: niemand wagt es, ihn zu meßen. Auch mit der Nordsee soll er in Verbindung stehen, was sich daran zeige, daß er mit der Ebbe und Flut steigt, und auch daran, daß sich eine eigenthümliche Art Fische, nämlich Schwertfische, in demselben aufhalten. Die Furcht, von einem Bullen verschlungen zu werden, ist die Ursache, weshalb man den letztern Umstand durch einen Fischfang noch nicht näher untersucht hat. Es soll nämlich alljährlich, vorzüglich im Monat Mai, ein den Tiefen des Sees entstiegener Bulle von wunderlicher Gestalt nächtlich das nahe Bockel besucht haben, dort in die Ställe eingedrungen sein und nur gewiße Kühe befruchtet haben. Die Kälber dieser Kühe sollen eine ungemeine Größe und Stärke und ausgezeichnete Farbe gehabt haben, sie blieben aber wild und unbezähmbar, daher man sie schon vor dem Eintritt ins reifere Alter schlachtete. Ein Schäferknecht zu Günne hat wegen wunderbarer Errettung [290] aus den Hörnern des infernalischen Bullen der heiligen Jungfrau die Kapelle zu Bockel erbaut und die von ihm selbst verfertigte Kapellenthür mit beinahe ganz unleserlich gewordenen ausgeschnittenen Schriftzügen verzieren laßen, ungefähr vor 400 Jahren.


Archiv des Histor. Vereins für Niedersachsen (Neue Folge 1847), S. 375. Auch in dem Teiche bei Icker, in welchem Meerweiber wohnen, befindet sich eine schwimmende Insel; s.o. Nr. 41 a; ebenso in dem bei Rulle, auch in dem kleinen Döngessee, in dem Nixen wohnen, zu welchen eine Wehemutter hinabgerufen wird; Bechstein, Sagenbuch, Nr. 749; von andern Teichen habe ich gezeigt, daß man glaubt, in der Mitte derselben ständen Pfähle, auf denen Gebäude gestanden (vgl. zu Nr. 369); da es nun alte Vorstellung ist, daß das Todtenreich auf einer Insel liegt, wie sowol Britannien als die Inseln der Seligen und andere Vorstellungen zeigen, so haben wir hier einen neuen Beweis, daß der Stier der Unterwelt angehört und der Teich der Eingang zu derselben ist. Die Furcht, von dem Bullen verschlungen zu werden, deutet auf weitern Zusammenhang mit dem Minotauros, den ich schon in der Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung (IV, 98) besprochen habe; ebendahin gehört der schleswigsche Kuhtod, ein ungeheuerer Stier mit langen Hörnern. Sein Brüllen ist viel dumpfer und hohler als das anderer Stiere, und so fürchterlich, daß jeder sich davor entsetzen muß. Er geht von Dorf zu Dorf und wo er sich sehen oder hören läßt, kommt ein Sterben unters Vieh und alles fällt; Müllenhoff, Nr. 328. Mit diesem Kuhtod identisch ist der Viehschelm in Tirol, von dem wir soeben in des Ritters von Alpenburg »Mythen und Sagen Tirols« Kenntniß erhalten (S. 62 fg.); er erschien in der Gestalt eines unheimlichen schwarzen Mannes oder in der eines schwarzen Stiers; die Stiergestalt war nur zur Hälfte voll, Hinterleib und Hinterfüße waren schlotternde Aasknochen, von einer darüberhin hängenden Haut überdeckt, welche beim Gehen rauschte wie's Wildg'fahr. Heimisch war er außer andern Orten auch im Bezirk um Thiersee. Sein Brüllen bedeutete ein Viehsterben und füllte, wenn es unbeschreiblich grausig des Nachts erscholl, den Landmann mit Entsetzen. – Die Begattung im [291] Mai kehrt auch bei dem schottischen mausefarbigen Elfstier wieder; Grimm, Irische Elfenmärchen, Nr. 47.

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TextGrid Repository (2012). Kuhn, Adalbert. Märchen und Sagen. Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen. Erster Theil. Sagen. Stier kommt aus dem See oder Berge. 335b. [In der Nähe des Dorfes Bockel, Kirchspiel Hankenbüttel, liegt bei]. 335b. [In der Nähe des Dorfes Bockel, Kirchspiel Hankenbüttel, liegt bei]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-C789-E