274.

Andere haben die weißen Junfern oft, wenn der Schäfer dort am Berge hütete, in den Schafen gehen sehen; auch geschieht's oft, daß man um Mittag, namentlich im Juli, zwischen 11 und 12 Uhr dort ein Kind (dat kind sagte der Erzähler) wimmern (mirren) hört; auch sagte ein alter Tagelöhner, er habe selbst dort oft genug den Hahn krähen hören.


Die in den Schafen gehenden weißen Frauen vergleichen sich der auf den Weideplätzen der Hirten und an der Spitze ihrer Heerde erscheinenden Huldra; zu ihr gehört auch vielleicht das wimmernde Kind, da sie den Menschen ungetaufte Kinder forttragen soll; vgl. Grimm, Mythologie, S. 249; vgl. über das Huldufolk noch Afzelius, Schwedische Volkssagen, II, 293. Auch auf der Vogelsburg und Erichsburg hört man ein schreiendes Kind; Schambach u. Müller, Nr. 10, 5., 14; ebendas., 106, 1., und Wolf, Heßische Sagen, Nr. 64, ist es die weiße Jungfrau selbst, die dies Wimmern hören läßt. Wie auf der Vogelsburg (Schambach u. Müller, Nr. 10, 5.) das Geschrei aus einem Baume ertönt, so hört man im Herrenholze bei Aarau ebenfalls ein Kind schreien, das einen zwischen den dort stehenden drei Bäumen liegenden Schatz beschreien soll, Rochholz, I, Nr. 75, welcher dies an das Wachsen der Kinder auf den Bäumen anlehnt. Vgl. aber Müller, On comparative philology in den Oxford essays (1856); es wird eine mythologische Persönlichkeit sein, daher der bestimmte Artikel und der Juli, Mittag; Müller will darunter die Sonne verstanden wißen, in unsern Sagen tritt das Kind als Vorbote von Regen und Wettersturm auf: wenn man am Hungerberg ein kleines[239] Kind schreien hört, so folgt Regen (Rochholz, I, Nr. 109), oder es folgt Schnee (ebendas., S. 345). Den Indern stammt der erste der Gestorbenen, Yama, aus der Wolke, aus der er im Gewitter geboren wird; ebendaher stammt die Kore, die der Despoina-Dâsapatnî, d.h. der Wolkengöttin, gleich ist, und Kore wird die Erstgeborene, Protogone, genannt; Pausanias, I, 31, 2; IV, 2, 5. Bei uns werden die Kinder bald aus dem Brunnen, Teich oder Meer geholt, bald von Bäumen, bald aus dem Felsen oder aus Berghöhlen, oder sie kommen zu Schiffe. Das alles sind Ausdrücke für Wolke; die Vorstellung ist also die, daß die Neugeborenen, wie bei den Indern das erste sterbliche Paar, ebenfalls aus der Wolke stammen. Von dort werden sie entweder geholt oder es bringt sie der Storch, der Bote der Wolkengöttin, der zu diesem Amt erkoren ward, weil er mit der aus der Verwünschung erlösten Göttin ebenfalls wie sie im Frühling wiederkehrt, und zugleich mit dem Blitzgotte Donar in enger Beziehung steht, wol wegen der rothen Beine; vgl. Woeste in Wolf, Zeitschrift, II, 91. Zu Holla sowol als zu Berchta kommen die Seelen der ungetauft sterbenden Kinder, um von ihnen zur Erde zurückzukehren, wie es wenigstens von der schlesischen Spillaholle entschieden ausgesprochen wird, daß sie die faulen Kinder mit sich in den Brunnen nehme, um sie neugeboren kinderlosen Aeltern zuzubringen; Weinhold, Deutsche Frauen, S. 36; vgl. Pröhle in Wolf, Zeitschrift, I, 196; so werden zu Heubach die Kinder aus einer Höhle des Rosensteins geholt, wo sie der Hebamme von einer weißen Frau gereicht werden; Meier, Schwäbische Sagen, Nr. 294. »Die Vorstellung, daß die Menschen bei der Geburt aus der Gemeinschaft der Elben heraustreten und beim Tode in sie zurückkehren, wurzelt tief in unserm Heidenthum, und sie scheint, da die Elbe aus einer Personification der elementarischen Kräfte entsprungen sind, nach pantheistischer Anschauungsweise auszudrücken, daß die menschliche Seele nur ein Theil der Naturkraft ist« u.s.w. Das sind Sommer's Worte (S. 170), denen sich im allgemeinen Rochholz (I, 245) anschließt. Am deutlichsten ist der Ursprung der Neugeborenen aus der Gewitterwolke ausgesprochen in der Sage bei Rochholz, I, Nr. 77: »An der Burgfluh des Wölfliswil (Frickthal) wird ein isolirt stehender thurmförmiger Fels der Ankenkübel genannt. In ihm steht derKleinkindertrog. Donnert es, so sagt man solchen Leuten zum Troste, die eben [240] ein Kind durch den Tod verloren haben, es ist wieder ein Stein von der großen Fluh heruntergepoltert, jetzt kann die Hebamme wieder ein anderes herausholen.« Dazu vergleiche man noch, daß, wenn man im Hêrenwalde die Stimme eines kleinen Kindes hört, bald Regen folgt; Rochholz, I, 122, Nr. 109. Damit steht denn die Sage von der Sintflut in Verbindung, von der schon Grimm (Mythologie, S. 935) sagte, daß ihr Zusammenhang mit der Schöpfungssage unzweifelhaft sei; zu ihr fügt sich die Abstammung von Stein und Baum, die Deutschen und Griechen gemeinsam ist; Grimm, Mythologie, S. 538. – Für den Nachweis, daß Brunnen, Teich und Meer Ausdrücke für Wolke seien, liefern die Veden zahlreiche Belege, die hier zu geben nicht am Orte wäre; für Fels und Berg habe ich es in dem Aufsatz über die weiße Frau nachgewiesen, ebenso für das Schiff in der Zeitschrift für vergl. Sprachforschung, I, 536. Der Baum zeigt sich als Wolkenbild im Wetterbaum und der Weltesche; Norddeutsche Sagen, Gebräuche, Nr. 412, 427, 428, und Zeitschrift für vergl. Sprachforschung, I, 468. Zum Schluß gebe ich einige Nachweise des Vorkommens von Kinderstätten. Brunnen, Teich, Sumpf, Meer: Norddeutsche Sagen, Nr. 339, 3. und Anm. zu Nr. 14; Wolf, Heßische Sagen, Nr. 17, 211 mit der Anm.; derselbe, Beiträge, I, 163 fg.; Sommer, Nr. 20; Meier, Schwäbische Sagen, Nr. 294; Pröhle, Oberharzsagen, S. 198; Unterharzsagen, Nr. 9, 10, 242-245, 357, 358, 374, 433, 439; Wolf, Zeitschrift, I, 196 fg., 286; II, 91, 92, 344, 345; Rochholz, I, 17, 346; eine große Zahl Kinderbrunnen verzeichnen Schambach u. Müller, Nr. 81; Lyncker, Heß. Sagen, Nr. 117, 118. Daraus holt sie der Storch oder die Hebamme; daneben scheint eine uralte Vorstellung, daß sie der Bach bringe; Wolf, Zeitschrift, II, 345; daß sie nach Schulenburg aus dem festenburger Teich mit der Flut heruntergeschwommen kommen; Wolf, Zeitschrift, I, 196; das weist wieder sowol auf die aus der Sintflut sich Rettenden, wie den von Grimm schon besprochenen Dold, der im Wipfel der Eiche hangen bleibt, als auf die am ruminalischen Feigenbaume von der Flut zurückgelaßenen Romulus und Remus, wobei ich auf das, was ich über die Bedeutung des Feigenbaums (Zeitschrift für vergl. Sprachforschung, I, 467, 468) gesagt habe, verweise. Bäume: Linde, Eiche, Buche, Esche: Wolf, Heßische Sagen, Nr. 15; Wolf, Zeitschrift,[241] II, 92, 345; Rochholz, Aargauer Sagen, I, Nr. 75, 76; Alem. Kinderl., S. 284 fg.; Simrock, Mythologie, S. 33.Steine, Felsen, Höhlen: Norddeutsche Sagen, Nr. 14; Rochholz, I, 87, 228, 245, 288, 357; Meier, Schwäbische Sagen, Nr. 294; eine zur Flutzeit gefüllte Höhle, Wolf, Zeitschrift, II, 92; ferner ebendas., II, 344; Wolf, Beiträge, I, 171. Schiff: Wolf, Beiträge, I, 164.

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TextGrid Repository (2012). Kuhn, Adalbert. Märchen und Sagen. Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen. Erster Theil. Sagen. Die weißen Junfern am Lüningsberg. 274. [Andere haben die weißen Junfern oft, wenn der Schäfer dort am Berge]. 274. [Andere haben die weißen Junfern oft, wenn der Schäfer dort am Berge]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-CB06-3