Die Wittewîwerskûle.

138a.

Mündlich.


Am Tippelsberg bei Riemke liegt ein einzelner Bauerhof, auf dem jetzt der Bauer Thiem wohnt; unmittelbar an dem Gehöfte desselben liegt eine etwa 20 Fuß hinabgehende Tiefung, in welcher ein schöner klarer Quell entspringt, der ringsum von einem schönen Gehölz umgeben ist. Diese Vertiefung nennt man dieWittewîwerskûle und erzählt, daß hier vor Zeiten diewitten wîwer gewohnt, die sich auch je zuweilen sehen lassen.

So wird namentlich erzählt, daß einst vor langen Jahren auf dem Hofe des Bauer Stimberg zu Riemke einer der Vorfahren des jetzigen Besitzers gewohnt, dessen [123] Frau einmal nach ihrem Kindbette ausgegangen sei, bevor sie ihren Kirchgang gethan. Da habe sie denn eines Abends am Feuer geseßen und plötzlich seien zwei witte wîwer hereingetreten, hätten sie mit Gewalt fortgeschleppt und mit sich in ihre Höhle entführt. Hier haben sie ihr verboten, jemals aus der Thür zu sehen, denn sonst würden sie ihr den Hals brechen. Das hat sie auch sieben Jahre hindurch geduldig getragen, aber endlich hat sie doch, als die witten wîwer einst abwesend waren, ihr Verlangen nicht länger zähmen können und hat die Thür aufgethan. Und wie sie da hinaustritt, hört sie auf einmal die bochumer Glocken läuten und hat an dem wohlbekannten Klange sogleich gewußt, wo sie war, und so ist sie denn hinabgeeilt nach Riemke zum Hofe ihres Mannes. Der hatte aber indessen, da er seine Frau todt geglaubt, bereits eine andere gefreit, und als sie ins Haus getreten und diese gesehen, hat sie sich schweigend an den Herd gesetzt. Die Kinder jedoch haben sie sogleich erkannt, und sich schmeichelnd an sie gedrängt, worauf die Stiefmutter ihnen geboten, von ihr wegzugehen, da das Bettelweib sie nichts anginge. Das hat sie nicht ertragen können und gesagt: »Wohlgehen sie mich mehr an als dich«, und gerade bei diesen Worten ist ihr Mann ins Haus getreten, hat sie freudig wiedererkannt und nun die erste neben der zweiten im Hause behalten. So hat sie denn noch einige Jahre bei ihm gelebt, hat aber nie eine andere Speise als »möre äppel« zu sich nehmen können.

So lauten in großer Uebereinstimmung die meisten Berichte über diese Sage, nur fügen einige noch hinzu, sobald sie ans Tageslicht hinausgetreten, sei die Macht der witten wîwer über sie dahin gewesen und sie habe nun frei und ungehindert nach Riemke hinabgehen können. Andere erzählen auch, daß die witten wîwer der [124] Stimbergschen erlaubt hätten, daß sie aus allen Löchern heraussehen dürfe, nur aus einem nicht. Da hat sie es nach sieben Jahren endlich doch nicht mehr überwinden können, aus diesem einen Blick zu thun, hat Lust gesehen und die bochumer Glocken läuten hören und ist nun hinabgeeilt nach Riemke.


Zu dem Verbot, aus der Thür zu schauen, vgl. Wolf, Beiträge, I, 23 fg., mit dem Blick aus derselben kehrt offenbar die Erinnerung an die Erde zurück. – Wie in unserer Sage erscheinen auch die witten juffers in dem nahen Holland Gebärende und Kinder raubend, werden aber dort angeblich von den witten wijven geschieden; Wolf, Niederländische Sagen, Nr. 212; witte juffers erscheinen auch oben Nr. 17; über die witten wijven und die Entführung von Kindbetterinnen vgl. auch noch W. Scott, Minstrelsy of the Scot. Border, II, 123. Daß der Unterschied zwischen witten juffers und witten wijven kein durchgreifender sei, zeigen wol die zu Nr. 53-56 beigebrachten Sagen aus Wolf's Deutsche Sagen und Märchen, wonach beide wie die Schönaunken den Frevler verfolgend erscheinen. Im allgemeinen wird man behaupten dürfen, daß witte juffers und witte wijven identisch sind und ursprünglich wol eine besondere, nur wenig zahlreiche Klasse der unterirdischen Geister bezeichneten, wol die Schicksalsschwestern, worauf ihr Erscheinen mit dem Spinnrade und die Schelte Platvoet deutet (vgl. Woeste in Wolf, Zeitschrift, II, 97, und oben zu Nr. 53-56), auch daß sie zu zweien, dreien (aber auch sieben) auftreten; allmählich scheinen sie aber allgemeine Bezeichnung der Unterirdischen geworden zu sein und tre ten als solche entschieden auf Rügen auf; Wolf, Zeitschrift, II, 145. Wie die Zwerge Mönche, so heißen sie Nonnen, ebendaselbst. – Zu dem Raube der Kindbetterin bemerke ich: In gleicher Weise werden Wöchnerinnen, die ohne geweihte Kerzen zur Kirche gehen, entführt, niemand weiß wohin? Wolf, Zeitschrift, I, 464-466; ebenso entführen die Zwerge eine Mutter, aber mit dem Kinde; Schambach und Müller, Nr. 148, 4, Anmerk.; Pröhle, Oberharzsagen, S. 208; eine Müllerin; Chambers,Popular rhymes, S. 16. – Auch die Erzählung bei Firmenich, Germaniens Völkerstimmen, I, 370, gibt sieben Jahre als Zeit des Aufenthalts bei den witten wîwern an; nach dem schwedischen Volkslied weilt die Jungfrau[125] acht Jahre bei dem Zwergkönig, Grimm, Mythologie, S. 435; sieben Jahre bleiben die Schwanjungfrauen bei Wieland und seinen Brüdern, im achten grämten sie sich, im neunten flogen sie davon, Völund. Kv., 3 (Simrock, Edda, S. 114). Auch nach schottischem Aberglauben währt der Aufenthalt sieben Jahre, Scott, Minstrelsy, II, 179, wie auch Thomas the rhymer sieben Jahre im Feenland weilt; Chambers, Popular rhymes, S. 6. Die Rückkehr der Geraubten nach sieben Jahren berührt schon Gervasius Tilber., S. 38: »Nec plus hoc contingere dicunt quam foeminis lactantibus, quas draci rapiunt, ut prolem suam infelicem nutriant, et nonnunquam post exactum septennium remuneratae ad hoc nostrum redeunt; quae etiam narrant, se in amplis palatiis cum dracis et eorum uxoribus in cavernis et ripis fluminum habitasse. Vidimus equidem huiuscemodi foeminam, raptam, dum in ripa fluminis Rhodani panniculos ablueret, scypho ligneo superenatante, quem dum ad comprehendendum sequeretur, ad altiora progressa, a draco introfertur, nutrixque facta filii sui sub aqua, illaesa rediit, a viro et amico vix agnita, post septennium.« Eine siebenjährige Verwandlung in Werwölfe erzählt Giraldus Cambrensis, Liebrecht zu Gervasius, S. 161. Damit stehen offenbar anderweitige siebenjährige Perioden in Zusammenhang: so weilt das vergeßene Kind sieben Jahre in der Höhle des Altkönig; Wolf, Heßische Sagen, Nr. 2; sieben Jahre bleibt man auch im Kyffhäuser und im Odenberg; Lyncker, Heßische Sagen, Nr. 6, 7, 8; das Mädchen im winterberger Schloßberge weilt dagegen zehn Jahre dort; unten Nr. 210. Alle sieben Jahre erscheinen gewöhnlich die weißen Frauen, alle sieben Jahre brennt das Schatzfeuer; Schambach u. Müller, Niedersächsische Sagen, Nr. 137, 3; Wolf, Heßische Sagen, Nr. 181 (nach andern alle 9 Jahre), alle sieben Jahre um Mittsommer kriecht der Drache hervor, unten Nr. 156. Ferner kann nur ein siebenjähriger Knabe die Stolberger weiße Junfer erlösen; Pröhle, Unterharzsagen, S. 401; nach sieben Jahren sterben Mann und Frau, die eine weiße Frau erlöst und ihren Schatz erhalten haben; Baader, Nr. 260; ebenso ein Knabe, der einen unredlichen Pflüger erlöst; ebendaselbst, Nr. 307; der Mann auf dem Dreimärker soll sich eines Sacks bedienen, den ein Mädchen unter sieben Jahren gesponnen hat; Wolf, Heßische Sagen, Nr. 23, 62; ebenso muß das Noth- [126] und Sieghemd von einem solchen gesponnen sein; ebendaselbst, Anm.; der siebenjährige Knabe, der aber auch ein Sonntagskind ist, ist geistersichtig; ebendas., Nr. 29; Kinder über sieben Jahre können die Hexerei nicht mehr erlernen; Meier, Schwäbische Sagen, Nr. 217; Baader, Nr. 279; noch andern, Kinder unter sieben Jahren betreffenden Glauben bei Wolf, Beiträge, I, 209 (Nr. 55-59), 222 (Nr. 248), 223 (Nr. 262). Wie ich bei der weißen Frau diese sieben Jahre als ebenso viele Monate nachgewiesen habe, wird sich auch bei dem hier beigebrachten das Meiste auf ähnliche Weise erklären, vor allen treten die sieben Jahre bei den Zwergen weilenden Frauen und Kindern ganz in dieselbe Reihe: die Unterwelt hält ihren Raub nur so lange fest, als die Kräfte der Erde im Winterschlaf ruhen, mit dem neu erwachenden Leben kehrt, was noch nicht ganz der Unterwelt verfallen ist, zur Erde zurück. – Daß die Frau keine andere Speise als »möre äppel« zu sich nehmen kann, zeigt, wie ich glaube, ebenfalls, daß sie in der Unterwelt war; bei den Zwergen stehen herrliche Apfelbäume; vgl. Norddeutsche Sagen, Nr. 292; ein Kind, das ein Jahr lang im Berge geweilt, wird von der Mutter mit einem Apfel in der Hand wiedergefunden und erzählt, daß ihm ein Fräulein alle Tage Aepfel und Milch gebracht habe; Panzer, Beiträge, II, 202, Nr. 352 b. Persephone verfällt durch den Genuß der Kerne des Granatapfels der Unterwelt. Auf einer ähnlichen Vorstellung beruht wol, daß wer von einer Hexe einen Apfel annimmt, dadurch bezaubert wird (Wolf, Zeitschrift, I, 38), wozu man vergleiche, daß ein altes Weib auf dem Sterbebett einem Mädchen einen Apfel schenkt und von Stund an der Kobold des Weibes dem Mädchen überall nachgeht, und daß der Nix dem Weibe, das bei ihm im See gewohnt hat, einen Apfel zuwirft, damit es zurückkehre; Sommer, S. 171, 172. Danach modificirt sich in etwas W. Müller's Ansicht über die Folgen des Genusses von Speisen in der Unterwelt (Niedersächsische Sagen, S. 373 fg., 382 fg.), die in der Hauptsache schon Grimm in den Irischen Elfenmärchen ausgesprochen hatte (S. CIII).

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TextGrid Repository (2012). Kuhn, Adalbert. Märchen und Sagen. Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen. Erster Theil. Sagen. Die Wittewîwerskûle. 138a. [Am Tippelsberg bei Riemke liegt ein einzelner Bauerhof, auf dem]. 138a. [Am Tippelsberg bei Riemke liegt ein einzelner Bauerhof, auf dem]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-CF9D-D