419. Der Hexenritt.

Schriftlich von Hrn. Oberlehrer Dr. Boegekamp zu Berlin.


Einmal ist ein reicher Bauer gewesen, von dessen Frau die Leute sagten, sie wäre eine Hexe. Das sprach sich so lange aus, bis endlich dem Bauer selbst etwas davon zu Ohren kam. Der wollte nun der Sache selbst recht auf den Grund kommen und ging einen Tag vor der Mainacht hin und holte sich einen Torf von dem Grabe eines ungetauft gestorbenen Kindes. Den Torf versteckte er heimlich und legte sich abends mit seiner Frau schlafen. Er drückte die Augen zu und that, als [373] wenn er fest schliefe, obwol er ganz wach war und auf alles genau Acht gab. Als die Glocke 12 schlug, stand richtig die Frau auf und schlich zur Kammerthür hinaus. Der Bauer nimmt seinen Torf und geht ihr nach bis vor die Hausthür. Hier ist ihm seine Frau auf einmal verschwunden, und er sieht nichts als einen Trupp schwarzer Pferde. Der Bauer aber ließ sich nicht irre machen, sondern stülpte geschwind den Torf auf den Kopf. Da sah er denn keine Pferde mehr, sondern lauter bekannte Frauen und Mädchen, und seine Frau mitten dazwischen; er hörte auch, wie sie sich über die Fahrt nach dem Blocksberge besprachen, denn alle, welche unter der Erde sind, erkennen Hexen und Geister in ihrer wahren Gestalt. Da wurde der Bauer zornig, sprang auf sein Weib zu und schwang sich auf sie, wie auf eines rechten Pferdes Rücken. Er wußte auch den Hexenspruch und rief:


»Rößlein schwarz, Rößlein flink,
Thu deine Schuldigkeit geschwind.«

Da erhob sie sich mit ihm hoch in die Luft und hielt nicht an und wurde nicht müde des gewaltigen Ritts, aber der Bauer wurde auch nicht müde und immer von neuem rief er:


»Rößlein schwarz, Rößlein flink,
Thu deine Schuldigkeit geschwind.«

Und das war sein Unglück, denn ehe er sich's versah, war die Mainacht um; der Morgen kam über die Berge, und seine Frau war kein schwarzes Roß mehr. Da that sie einen kläglichen Schrei und beide stürzten aus der hohen Luft herab und zerschellten jämmerlich. Und seit der Zeit halten sie alle Nacht den Ritt und haben keine Ruhe bis zum jüngsten Tage.


Vgl. Norddeutsche Sagen, Nr. 71 mit der Anm., 154, 217, 2.; Panzer, Beiträge, I, Nr. 285; II, 168. Nr. 275;[374] Meier, Schwäbische Sagen, Nr. 199; Wolf, Heßische Sagen, Nr. 101; Woeste, Volksüberlieferungen, S. 45; Baader, Nr. 130; C. und Th. Colshorn, Märchen u. Sagen, Nr. 88; Mannhardt, Zeitschrift, III, 54 fg.»Daher kummet es, wan ein hex uff ein gabel sitzt und salbet die selbig und spricht die wort die sie sprechen sol, so fert sie dan da hin wa sie nummen wil.« Geiler von Kaisersberg (Stöber), S. 63.

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TextGrid Repository (2012). Kuhn, Adalbert. Märchen und Sagen. Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen. Erster Theil. Sagen. 419. Der Hexenritt. 419. Der Hexenritt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-D7E7-8