[178] Der Milan und die Nachtigall

Dem Milan, der, ein offenkundiger Dieb,
Ringsum in üblen Ruf geraten war
Und den des Dorfes aufmerksame Knabenschar
Mit lautem Lärm von dannen trieb,
Gelang es, eine Nachtigall zu fangen.
Die Frühlingskünderin bat um ihr Leben:
»Verzehr mich nicht, ich will dir nach Verlangen
Weit höhere Genüsse geben.
Ich singe dir von Tereus' Leidenschaft.«
»Tereus? Wer ist das? Ein Gericht
Für Milanmagen?« – »Nein, das nicht.
Er war ein König, der mit Liebeskraft
Mich sündige Gluten fühlen ließ.
Ich singe dir davon ein Lied, das jeder pries,
Ein schönes Lied, es wird auch dich entzücken.«
Der Milan sprach: »Das wird ihm nimmer glücken.
Zu mir, der ich noch nüchtern bin,
Brauchst du nicht von Musik zu reden.«
»Ich sing vor Fürsten und ergötze jeden.«
»Fängt dich ein Fürst, erzähl dein Wunder mit Gewinn;
Bei mir, dem Milan, ist dein Sang verloren.
Hungriger Bauch hat keine Ohren.«

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TextGrid Repository (2012). La Fontaine, Jean de. Versfabeln. Fabeln. Der Milan und die Nachtigall. Der Milan und die Nachtigall. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-D936-8