[110] Der Hirsch, der sich im Wasser spiegelt
In eines Quells Kristall, den sich ein Hirsch erwählte
Als Spiegelglas, sah er und lobte voller Preis
Die Schönheit des Geweihs.
Was um so mehr ihn quälte,
Das war die Dünnheit seiner Beine,
Die man im Wasser fast verschwinden sah.
Er stand in eitler Selbstbetrachtung da,
Zufrieden bis auf dieses eine,
Daß ihm sein Beinwerk keine Ehre mache.
»Welch dumme Sache,«
So sprach er, »daß solch stolzes Haupt,
Das Astwerk trägt, als hätt ich einen Baum beraubt,
Auf spindeldürren Beinen leben muß!«
Indem er also klagte voll Verdruß,
Kommt wild ein Jagdhund angeschnaubt.
Er will sich retten, flüchtet in das Waldrevier.
Doch sein Geweih – verhängnisvolle Zier –
Hält jeden Augenblick ihn auf,
Den Dienst verhindernd, den die Beine leisten wollen,
Die ihm durch schnellen Lauf
Das Leben retten sollen.
Da widerrief er und verwünschte laut die Gaben,
Die ihm der Himmel jährlich neu gebracht.
Schönheit besticht; was nützt, das läßt man außer acht.
Und doch wird Schönes oft Verderben für uns haben.
Dem Hirsch mißfällt sein Bein, das ihn behende macht,
Ein Hemmnis, sein Geweih, preist er voll Unbedacht.