[156] Die beiden Hunde und der tote Esel
Tugenden sollten Schwestern sein,
Gleichwie die Laster Brüder sind.
Dringt eins von diesen uns ins Herz hinein,
So folgen alle andern gar geschwind,
Falls ihnen möglich, unter einem Dach zu leben,
Indem sie nicht einander hart entgegenstreben.
Was Tugenden betrifft, so wird man selten finden,
Daß alle sich in einem Wesen schön verbinden
Und treu einander ihre Hände geben.
Der eine ist voll Mitgefühl,
Doch auch im Jähzorn ist er groß,
Der andre ist zwar klug, doch kühl.
Bei Tieren ist wohl beispiellos
Des Hundes treue Sorge um den Herrn,
Doch kann er wie kein andres Tier
Auch töricht sein und heiß von Gier.
Beweis: die beiden Hunde, die von fern
Den toten Esel sahn, der auf den Wellen schwamm.
Die Hunde wurden aufmerksam,
Doch weiter, weiter trieb der Wind den Leichnam fort.
»Freund,« sprach der eine, »deine Augen sind noch besser,
Sieh scharf doch über das Gewässer,
Ist das ein Pferd, ein Ochse dort?«
»Ganz einerlei, welch eine Kreatur,«
Entgegnete der andre Fresser,
»Ist's eine gute Beute nur!
Doch fragt sich's, wie wir sie bekommen können.
Da uns so weite Wellen von ihr trennen,
[157]So hilft uns Schwimmen nicht dazu.
Los, saufen wir das ganze Wasser, ich und du!
Den heißen Kehlen wird es so gelingen,
Den Leichnam bald aufs Trockene zu bringen.
Dann haben wir für eine Woche Fraß und Ruh.«
Die Hunde gingen dran, das Wasser zu verschlingen!
Der Atem ging den beiden aus dabei.
Verenden sah man alle zwei.
Der Mensch treibt's ebenso.
Entflammt ihn eine Sache lichterloh,
So übersieht er die Unmöglichkeit.
Wie tobt und rast er nach Vermögen oder Ruhm!
Wenn ich vergrößerte mein Eigentum!
Wenn ich erstrebte die Allwissenheit,
Hebräisch lernte, Alchimie, Geschichte!
Wenn ich Dukaten hätte, Truhen voll! –
O Mensch, damit dir alles das gelingen soll,
Trink Meere aus wie jene Hundewichte.
Den Plänen zu genügen, die ein einziger schmiedet,
Vier Körper täten not – und wären doch ermüdet,
So glaub ich, eh die Hälfte noch vollbracht.
Nicht vier Methusalems besäßen Macht,
Die Gier zu stillen, die in einer Seele siedet.