[132] Der Hof des Löwen

Einst kam des Löwen Majestät die Laune an,
Das Volk sich zu beschauen, das ihm untertan,
Und also ließ er schnell nach allen
Gebieten seines Reiches hin
Durch seine treuesten Vasallen
Ein Siegelschreiben bringen, drin
Ein jeder ward zu Hof geladen,
Wo Majestät von Gottes Gnaden
Große Gesellschaft geben wolle
Mit einem Fest voll Lust und Pracht,
Das einen Monat dauern solle.
Es wollte so des Thrones Macht
Der Fürst einmal beweisen seinem Volk und Trosse.
Und alle kamen sie zum Schlosse.
Doch welch ein Schloß! – Ein Schlachthaus war's voll Fleischgestank.
Es wurde manches Tier von dieser Luft fast krank.
Der Bär hielt sich die Nase zu. Was tat er da?!
Der zornige Monarch, der die Grimasse sah,
Der sandte diesen Heiklen gleich zu Pluto hin.
Der Kriecher Affe pries des Herrschers strengen Sinn
Und seine Wut und Kraft, und schmeichelnd rühmte er
Der Mördergrube süße Luft,
Mit der verglichen Ambraduft und Blumenduft
Nur wie Geruch von Knoblauch wär.
Doch Strafe folgte schnell der blöden Schmeichelei;
Denn unser Löwe war sehr nah
Verwandt mit dem Caligula.
Dann winkte der Tyrann den roten Fuchs herbei.
»Nun,« sprach er, »was riechst du? Sprich! Sag es ohne Scheu.«
[133] Der Fuchs entschuldigt sich, er habe schon seit Tagen
So starken Schnupfen, daß er dies nur könne sagen:
Er rieche nichts! – Der Fürst gab ihn zufrieden frei.
So prägt euch diese Lehre ein:
Es kann euch, möchtet ihr des Herrschers Gunst besitzen,
Nicht fades Schmeicheln und nicht offnes Reden nützen.
Sagt nach Normannenart manchmal nicht ja, nicht nein!

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TextGrid Repository (2012). La Fontaine, Jean de. Versfabeln. Fabeln. Der Hof des Löwen. Der Hof des Löwen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DA78-A