Schlaflose Nacht

Schlaflose Nacht, du bist allein die Zeit
Der ungestörten Einsamkeit!
Denn seine Herde treibt der laute Tag
In unsern grünenden Gedankenhag,
Die schönsten Blüten werden abgefressen,
Zertreten oft im Keime und vergessen.
Trägt aber uns der Schlaf mit weicher Hand
Ins Zauberboot, das heimlich stoßt vom Strand,
Und lenkt das Boot im weiten Ozean
Der Traum herum, ein trunkner Steuermann,
So sind wir nicht allein, denn bald gesellen
Die Launen uns der unbeherrschten Wellen
Mit Menschen mancherlei, vielleicht mit solchen,
[303]
Die feindlich unser Innres tief verletzt,
Bei deren Anblick sich das Herz entsetzt,
Getroffen von des Hasses kalten Dolchen;
An denen gerne wir vorüberdenken,
Um tiefer nicht den Dolch ins Herz zu senken. –
Dann wieder bringen uns die Wellenfluchten,
Wohin wir wachend nimmermehr gelangen,
In der Vergangenheit geheimste Buchten,
Wo uns der Jugend Hoffnungen empfangen.
Was aber hilfts? wir wachen auf – entschwunden
Ist all das Glück, es schmerzen alte Wunden.
Schlaflose Nacht, du bist allein die Zeit
Der ungestörten Einsamkeit!

Notes
Entstanden 1835. Erstdruck 1836.
License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Lenau, Nikolaus. Schlaflose Nacht. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DCF4-4