Der nächtliche Gang

Tiefe Nacht; – der stille Vollmond
Hebt sich jenseits von den Auen,
Und die Wellen der Durance
Sind ein Silberstrom zu schauen.
Flüchtig eilen sie vorüber
An den mondbeglänzten Riffen,
Und von rätselhafter Wehmut
Fühlt der Wandrer sich ergriffen;
Denn er hört im ruhelosen,
Immergleichen Wellenschlage
Ewig an die Sterne tönen
Seines Herzens bange Frage;
Ein Verrauschen, ein Verschwinden
Alles Leben! – doch von wannen? –
Doch wohin? – die Sterne schweigen,
Und die Welle rauscht von dannen.
[168]
Cisteron, das Städtchen, schlummert,
Nur im Schlosse lassen Worte
Dumpf und eilig sich vernehmen,
Und es dröhnt die Eisenpforte.
Männer steigen still und langsam
Dort hinauf zum Felsenhause:
Waffenknechte sind es, führen
Den Gefangnen in die Klause.
Johann Kasimir von Polen!
Heiß durchrollt von Königsblute,
Edler Sproß vom Stamme Wasa,
Ach, wie mag dir sein zumute l
Heldenjüngling, der du kämpftest
Ruhmbekränzt in manchen Schlachten,
In verräterischer Fremde
Mußt du als Gefangner schmachtenl
Spricht man so im feinen Frankreich
Hohn des Gastes heilgem Rechte,
Daß den freundgesinnten Fürsten
Zwingen die Tyrannenknechte?!
In des Mondes hellem Scheine
Glänzen ihre Mordgewehre;
Aber nicht des Polenfürsten
Stolz und schnell verwischte Zähre.
Auf dem steilen Stufenpfade,
Eingehauen dem Granite,
Heben sich in scheuer Windung
Nach dem Gipfel ihre Schritte.
Wagt es wer, im schwanken Mondlicht
Da den Pfad hinaufzuwallen,
[169]
Bebend sieht er seinen Schatten
In den grausen Abgrund fallen.
Sinnend bleibt Johannes stehen,
Und er hört im Niederlauschen
Immer leiser dort die Schluchten,
Leiser die Durance rauschen.
Horch! ein Lüftchen aus den Auen,
Wo die Nachtigallen singen,
Kommt dem Armen nachgeflogen,
Ihm noch einen Laut zu bringen.
Weither kam das gute Lüftchen,
Wie ein Kind, das frohbehende
Einem Bettler, wenn er scheidet,
Nacheilt mit der milden Spende.
Und sie klimmen immer höher,
Nur noch ihre Tritte schallen;
Still ist nun der Wasser Rauschen,
Still das Lied der Nachtigallen.
Todesruhe deckt die Höhen,
Die verlaßnen Felsenklippen;
Kein Gesträuch und keine Blume
Auf des Abgrunds bleichen Lippen.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Lenau, Nikolaus. Gedichte. Gedichte. Zweites Buch. Klara Hebert. Der nächtliche Gang. Der nächtliche Gang. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DD2E-5