[340] Der einsame Trinker

1.

»Ach, wer möchte einsam trinken,
Ohne Rede, Rundgesang,
Ohne an die Brust zu sinken
Einem Freund im Wonnedrang?«
Ich; – die Freunde sind zu selten;
Ohne Denken trinkt das Tier,
Und ich lad aus andern Welten
Lieber meine Gäste mir.
Wenn im Wein Gedanken quellen,
Wühlt ihr mir den Schlamm empor,
Wie des Ganges heilge Wellen
Trübt ein Elefantenchor.
Dionys in Vaterarme
Mild den einzlen Mann empfing,
Der, gekränket von dem Schwarme,
Nach Eleusis opfern ging.

2.

Ich trinke hier allein,
Von Freund und Feinden ferne,
In stiller Nacht den Wein
Und meide selbst die Sterne:
Da fährt man gerne mit
In Blicken und Gedanken
Und könnt auf solchem Ritt
Das volle Glas verschwanken.
Der Kerzen heller Brand
Kommt besser mir zustatten,
Da kann ich an der Wand
Doch schauen meinen Schatten.
[341]
Mein Schatten! komm, stoß an,
Du wesenloser Zecher!
Auf, schwinge, mein Kumpan,
Den vollen Schattenbecher!
Seh ich den dürren Schein
In deinem Glase schweben,
Schmeckt besser mir der Wein
Und mein lebendig Leben;
So schlürfte der Hellen
Die Lust des Erdenpfades,
Sah er vorübergehn
Als Schatten sich im Hades.

3.

Schatten, du mein Sohn,
Hast dich nicht verändert,
Warst vor Jahren schon
Eben so gerändert.
Was auf Stirn und Wang
Zeit mir eingehauen:
Jugenduntergang
Lassest du nicht schauen.
Einen Berg ich sah
Spät im Herbste ragen,
Umriß war noch da
Wie zu Frühlings Tagen.
Nicht mit seinem Grat
Gibt der Berg zu wissen:
›Meine Wälder hat
Mir der Sturm zerrissen.
[342]
Meine Herde schied
Mit den Glockenklängen,
Still das Alpenlied
Auf den Wiesenhängen.‹
Hohen Angesichts
Blickt der Berg ins Ferne,
Nahm der Herbst doch nichts
Seinem Felsenkerne.
Froh ins ferne Land
Will wie er ich blicken;
Und mein fester Stand
Trotze den Geschicken.
Süßes Traubenblut
Fließt auf meiner Schanze;
Rebe, teures Gut!
Seelenvolle Pflanze!
Soll für Recht und Licht
Andres Blut einst fließen,
Minder freudig nicht
Will ich meins vergießen.

4.

Redlich, Schatten, kannst du heben
Den Pokal, mich lassen leben;
Wenn sie meinen Leib bestatten,
Bist du mitvergangen, Schatten!
Manches Auge möchte weinen;
Schatten, doch ich wüßte keinen
Auf dem weiten Erdenringe,
Der wie du mit mir verginge.
Weil dem Sünder ohne Reue
Soll gebrochen sein die Treue,
[343]
Lassen tiefempfundne Mären
Den Verbrecher dich entbehren.
Treuer Freund, sei mir gepriesen!
Hast mir Liebes oft erwiesen;
Will zu stolz das Herz mir glänzen,
Zeigst du still mir meine Grenzen.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Lenau, Nikolaus. Der einsame Trinker. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DF79-D