Auf meinen ausgebälgten Geier
1.

Du stehst so still und ernst, mein ausgebälgter Geier,
Ich bringe dir ein Lied mit meiner ernsten Leier.
[225]
Zwar hörst du nichts davon, dir geht mein Gruß verloren;
Doch Dichter sind gewohnt, zu singen toten Ohren.
Es lebt ja noch der Geist, der einst dir gab die Schwingen,
Den traf der Jäger nicht, er hört mein Lied erklingen.
Und wenn kein Menschenohr auch meinem Sange lauschte,
So hört mich doch der Geist, der mir das Herz berauschte.
Ich wollt, ich wäre jetzt in fernen Felsenklüften,
Und du hoch über mir, still kreisend in den Lüften;
Ich ließe froh mein Aug mit deinem Fluge schweifen,
Und wie du niederfährst, die Beute zu ergreifen;
Wie du, atmender Blitz, zu Boden niederzückest
Und mit den Krallen scharf ein warmes Leben pflückest;
Wie du das volle Herz ansetzest als ein Zecher,
Daß mit dem Leben trinkt der Tod aus einem Becher.
Traun! milder ist der Tod, trotz Blut und Jammerstimme
Wo heiße Lebenslust sich paart mit seinem Grimme,
Als wo kein Leben ist beim letzten Hauch zu sehen,
Wo still der Tod uns dünkt ein einsames Vergehen.
Ihr Weinenden am Sarg, an seinem dichten Schleier,
O kommt ins Felsental mit mir und meinem Geier!
O kommt, Unsterblichkeit will die Natur euch lehren,
Mit diesem Blute will sie trösten eure Zähren.
[226]
Im Kreischen dieses Aars, mags auch die Sinne stören,
Ist für die Seele doch ein süßer Klang zu hören.
Hier findet Trost ein Mann, ward ihm ein Glück zunichte,
Und näher tritt er hier dem Rätsel der Geschichte.
Der Geist, der heiß nach Blut hieß diesen Geier schmachten,
Es ist der starke Geist zugleich der Völkerschlachten;
Ein rasches Pochen ists, ein ungeduldigs Drängen
Der Seele, ihren Leib, den Kerker, aufzusprengen.
Den großen Kaiser hat einst dieser Geist durchdrungen,
Er hat ihm hoch sein Schwert zur Völkermahd geschwungen;
Dem Jäger, der als Wild die Menschheit trieb im Zorne
Durchs Dickicht seines Heers und Bajonettendorne;
Der, wie das Schicksal, fest beim Wehgeheul der Schmerzen,
Saatkörner seines Ruhms, warf Kugeln in die Herzen;
Und der auf Helena, wenn rings die Meerflut schäumte,
Beim Sturme sich zurück in seine Schlachten träumte. –
Mehr als ein blutger Tod macht es mein Herz erbeben,
Wenn unsichtbarer Hauch verweht ein Menschenleben;
Wenn übers Angesicht des Spiel vom letzten Schmerze
Hinzittert wie der Rauch der ausgelöschten Kerze.
[227]
Doch furchtbar ist der Tod, ein Grauen nicht zu zwingen,
Wenn eine Seuche kommt, die Völker zu verschlingen.
Der Kaiser liegt im Grab, die Menschen wollen Frieden,
Da ward nach lautem Schreck ein stiller herbeschieden.
Viel tausend Leben hat die Seuche fortgenommen,
Als hätte die Natur Verzweiflung überkommen,
Als wäre die Natur gejagt von einem Fluche,
Daß mit geheimem Gift den Selbstmord sie versuche.
Ein Geier ist der Krieg, Herzblut ist sein Verlangen
Die Seuche, still und glatt, ist vom Geschlecht der Schlangen.
Wo diese Schlange schleicht, fliegt ihr voran das Grauen,
Weil wir die Schlange nicht und ihren Rachen schauen.
Doch wie der wilde Aar, mit seinen scharfen Fängen,
Will auch die Schlange nur das Leben vorwärts drängen.

2.

Du toter Geier stehst noch immer wild und edel,
Und neben dich gestellt hab ich den bleichen Schädel.
Ich lasse dir nach ihm den Schnabel niederhangen,
Als hättest du gespeist das Fleisch von seinen Wangen.
Es mag an diesem Bild sich gern mein Blick entzünden,
Sehnsüchtig träumen sich nach Himalayagründen.
[228]
Den Ganges will ich dort abholen an der Quelle
Und ziehn mit ihm hinab, sein lauschender Geselle.
Der Ganges rauscht vorbei an einem Totenacker,
Und Geier fliegen schnell heran, die Leichenhacker.
Hier Gentlemen, Hindu und Moslemim beisammen,
Die lustig nach Hurdwar zur lauten Messe kamen.
Die Schlange Cholera mit mörderischer Tücke
Verschlang sie rasch und spie sie schwarz und kalt zurücke.
An manchem Herzen jetzt die Geier zehrend haften
Wie noch vor einem Tag die heißen Leidenschaften.
Die Raben tummeln sich am Rest des Geiermahls,
Und gierig springen dran Wildhunde und Schakals
Und Störche ziehn heran, gefiederte Giganten,
Vom strenggemeßnen Schritt geheißen Adjutanten.
Wie sie auf ihren Fraß zuschreiten leis und sacht,
Unhörbar: ist allein, was hier mich grauen macht;
Und wie bedächtig sie den Schnabel klappernd wetzen;
Nur die Methode weckt mir grieselndes Entsetzen.
Dort Leichen führt hinab der Ganges, dumpf erbrausend,
Viel Geier sitzen drauf und schwimmen mit, fortschmausend;
Und andre folgen satt, mit müßigem Geflatter
Dem Leichenzuge nach, wild schwärmende Bestatter.
Hier bin ich rings umbraust von heißem Lebenstriebe,
Natur! hier rauscht dein Kuß der heftgen Mutterliebe.
[229]
Hier muß das Grauen selbst der Seuche sich verlindern,
Seh ich, Natur, wie du hier schwelgst in deinen Kindern!
Fort wird das Bild des Tods vom Lebenssturm getragen,
Der Siegesruf verschlingt mir alle Todesklagen.
Und mit den Geiern dort, die um die Leichen schwanken
Laß fliegen ich am Strom Unsterblichkeitsgedanken.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Lenau, Nikolaus. Gedichte. Gedichte. Drittes Buch. Gestalten. Auf meinen ausgebälgten Geier. Auf meinen ausgebälgten Geier. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DFB5-3