An einem Baum

Du Baum, so morsch und lebensarm,
So ausgehöhlt, sei mir gegrüßt;
Wie doch dein froher Bienenschwarm
Die Todeswunde dir versüßt!
Sie wandern fort im raschen Zug,
Sie kehren summend wieder heim
Und bringen dir im Freudenflug
Von fernen Blumen Honigseim.
O Baum, du mahnst mein Herz so schwer
An einen lieben alten Mann;
Gott gebe, kehr ich übers Meer,
Daß ich ihn noch umarmen kann!
Baum, wie du morsch und abgedorrt,
Doch Honig birgt dein altes Reis,
So birgt der Weisheit süßen Hort
In seiner Brust der morsche Greis.
Und seine muntre Bienenschar,
Gedanken fliegen aus und ein
Und bringen Honig süß und klar,
Die reiche Beut aus Wies und Hain;
Oft locket sie von hinnen weit,
Zu Blumen, die kein Herbst uns raubt,
Der Frühlingshauch der Ewigkeit;
Dann senkt er still sein edles Haupt.

Notizen
Entstanden 1835. Erstdruck 1836.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Lenau, Nikolaus. An einem Baum. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DFED-7