Vision

Vom Himmel strahlt der Mond so klar,
Greif aus, o Rappe, greif!
Im Winde fliegt des Reiters Haar,
Des Rosses Mahn und Schweif.
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Auf seinem Hut der Reiter trägt
Gemsbart und Federnputz,
Ein schmerzliches Gelächter schlägt
Er auf und schwingt den Stutz.
Der Reiter sprengt um Mitternacht
Durchs Land Tirol, allein;
Der Waldstrom braust und stürzt mit Macht,
Der Reiter holt ihn ein.
Die Schneegans dort hoch oben ruft
Ihr schnatternd Wanderlied,
Schnell zieht der Vogel in der Luft,
Der Reiter schneller flieht.
Schnell ist der Wolkenschatten Flucht,
Der Reiter schneller noch,
Kaum braust er in der tiefen Schlucht,
Schon auch am Gipfel hoch.
Wo das Gebein der Helden liegt,
Gibt er dem Roß die Sporn,
An den vergeßnen Gräbern fliegt
Er wild vorbei im Zorn.
Am Wege dort ein Kruzifix,
Des Unglücks Herberg, ragt,
Seitwärts gewandten finstern Blicks
Vorbei der Reiter jagt.
So reitet er durchs Land Tirol
Und ruft so bang, so schwer:
»Mein schönes Land, leb wohl! leb wohl!
Du siehst mich nimmermehr!«
Das letzte Heldengrab zerreißt,
Der Reiter stürzt hinein,
Grab zu. Verschwunden ist der Geist
Von Achtzehnhundertneun.

Notes
Entstanden und Erstdruck 1838.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Lenau, Nikolaus. Vision. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-E046-7