Nüchterner Blick

Im Grund begraben wird hier, dort gefunden
Vergangner Pflanzen steingewordne Spur,
Gebein von Tierart, die vorlängst entschwunden,
Die abgelegten Kleider der Natur.
Und wollt ihr dann in staunenden Gedanken
Die Gliedermassen euch zusammenfügen,
Sinds Riesen, überragend alle Schranken,
Ihr schaut Urwelt in großen Schreckenszügen.
Der Riese wandelt – und es bebt der Grund;
Er zürnt – sein Sturmesodem glüht und qualmt,
Von seinem Tritt wird jeder Feind zermalmt;
Wie freut ihr euch, daß tot der große Fund!
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So dünkt euch schier des Mittelalters Glaube
Ein Ungetüm, das einst von Land zu Land
Verheerend zog und von der Erde schwand;
Ihr wünscht dem Tode Glück zu seinem Raube.
Doch stehn, von allen Stürmen unerschüttert,
Die Münster da, der klugen Zeit ein Grauen,
Wie hohe Felsenkrippen anzuschauen,
Wo jenes Ungeheuer ward gefüttert.

Notes
Entstanden 1842. Erstdruck 1843.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Lenau, Nikolaus. Nüchterner Blick. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-E06D-F