Sturmesmythe

Stumm und regungslos in sich verschlossen
Ruht die tiefe See dahingegossen,
Sendet ihren Gruß dem Strande nicht;
Ihre Wellenpulse sind versunken,
Ungespüret glühn die Abendfunken,
Wie auf einem Totenangesicht.
Nicht ein Blatt am Strande wagt zu rauschen,
Wie betroffen stehn die Bäume, lauschen,
Ob kein Lüftchen, keine Welle wacht?
Und die Sonne ist hinabgeschieden,
Hüllend breitet um den Todesfrieden
Schleier nun auf Schleier stille Nacht.
[262]
Plötzlich auf am Horizonte tauchen
Dunkle Wolken, die herüberhauchen
Schwer, in stürmischer Beklommenheit;
Eilig kommen sie heraufgefahren,
Haben sich in angstverworrnen Scharen
Um die stumme Schläferin gereiht.
Und sie neigen sich herab und fragen:
›Lebst du noch?‹ in lauten Donnerklagen,
Und sie weinen aus ihr banges Weh.
Zitternd leuchten sie mit scheuem Grauen
Auf das stille Bett herab und schauen,
Ob die alte Mutter tot, die See?
Nein, sie lebt! sie lebt! der Töchter Kummer
Hat sie aufgestört aus ihrem Schlummer,
Und sie springt vom Lager hoch empor:
Mutter – Kinder – brausend sich umschlingen
Und sie tanzen freudenwild und singen
Ihrer Lieb ein Lied im Sturmeschor.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Lenau, Nikolaus. Gedichte. Gedichte. Viertes Buch. Reiseblätter. Sturmesmythe. Sturmesmythe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-E1EA-F