7. Fragment eines Gedichts über das Begräbniß Christi

Untergehend küßte die niedrige Sonne die Klippen
Des westlichen Gestades traurig. Ihr rauschten die Wellen
Furchtsam entgegen, und, da sie mit matterem Strahle
Ihnen zuwinkt': er starb! da flohen sie schäumend vom Ufer
Tief in den Schooß des Meeres hinab und rauscheten hohler. –
Ehrerbietige Dämmrung umgab den grossen Entseelten,
Dessen holdselige Wangen Todesbläß' entstellte.
Doch, wie die scheidende Sonne noch erquikkende Röthe
An dem Abendhimmel zurük ließ, so war auf dem Antliz
JESU die göttlicherbarmende menschenfreundliche Miene
Noch nicht gestorben. –
Plözlich wandte Maria ihr weitoffenes Auge
Von dem Kreuze hinweg, schlug in die bebenden Hände,
Konnte Seufzer dem vollen Busen nicht mehr entpressen,
Tränen nicht mehr dem Auge. Nun eilte sie, unwissend, wo sie
Ihre ohnmächtigen Füsse hintragen würden: ihr dunkler
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Blik sah den Himmel nicht mehr, sah nicht mehr die Erde; hoch über
Dem starr vor sich schauenden Haupt die Arme gerungen,
Eilte sie fort. –
Indem war sie zu einem einsamen Thale gekommen,
Den ein Hügel des Golgatha macht. Eine schlängelnde Quelle
Tränkte die lieblichen Blumen, die hier den Boden durchkreuzten;
Deren melancholisches Rieseln klang harmonisch in ihr
Abgebrochenes Stöhnen. Ausser sich sank sie am bunten
Ufer nieder. Zirkelnd empfing das trübe Gewässer
Ihre einzelnen Tränen. Und sieh! die frommen Schaafe,
Die hier weideten, nahten furchtsam zu ihr; blikten
Starr mitleidig sie an, und blökten und weidten nicht ferner. –
»Sohn! – o göttlicher Sohn! – du bist mir entrissen – entrissen!«
Dann blieb sie lange sprachloß, schlug an die Brust, dann sprach sie:
»Er ist dahin! – Mein Stolz dahin! – Nun bin ich nicht Mutter
Des Allerheiligsten mehr, ein sündiges Weib bin ich izt nur.«
Nun fiel sie auf ihr Antliz: »Du, der du starbst, o erhabner
Göttlicher Mann, nicht Sohn mehr – klaget ihr Mütter, die ihr mich
Selig prieset, nicht Sohn mehr, darf die elende Maria
Die du nicht würdig mehr hieltest von dir den seligen Namen,
Den herzerhöhenden Namen der Mutter länger zu hören,
Darf sie hinaufflehn zu dir? Zulezt noch, bittre Erinnrung!
Nannte dein blasser Mund mich mit diesem göttlichen Namen:
Ach! nun hör' ich ihn ewig nicht mehr. – O Sohn, o Geliebter!
Der du hoch über dem Staube zu dem ich verstossen bin, über
Dieser Dämmrung in der ich weine, umringet von Engeln
Sizzest und leuchtest und zählst meine Tränen, sie alle versammelst,
Sende Trost in diesen geöfneten blutenden Busen,
Dem der Sohn entrissen ist, unter dem du einst geschlafen. –
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Göttliche Stunden, ihr seid entflohn, ihr besucht mich nicht wieder,
Da ich ihn trug den Großen, Erhabenen, Größten der Söhne. –
Tröste mich Sohn! Jehovah! tröste du selbst mich! –
Ich kann deinen der Gottheit beraubten, leblosen Leichnam,
Diese Hülle, die ich gebar, die allein mir zurük bleibt,
Jene blutrünstigen Lokken, jene noch freundlichen Lippen,
Jene strömenden Hände, ich konnte sie länger nicht ansehn. –
Meines trostlosen Mutterherzens, ich kann sie nicht sprechen,
Kann seine Martern nicht aussprechen. Tröste, tröste,
Du mich Sohn! Jehovah!«
Hier ward ihr Sprechen ein Schluchsen;
Ihre Seele ganz Schmerz vermocht nicht Gedanken zu denken.
Aber bald dämmerte ihr eine Morgenröthe von Hofnung,
Die Verzweiflung milderte sich, und stiller Kummer
Breitete Wermuttriefende Schwingen über sie. Seufzend
Hub sie sich auf vom tränenbenezten Boden; da hörte
Sie in der Stille der Dämmrung wie eines Sterbenden Stöhnen.
Und sie näherte sich der dumpfen angstvollen Stimme,
Und sah – Petrum schlafend. An eine ächzende Eiche
Hatt' er sein Haupt gelehnt, die Händ' auf dem Busen gefaltet,
Und der Todesangst Tropfen blizten auf seiner feuchten
Traurig gerunzelten Stirne; sein Herz schlug sichtbar: sie sah ihn
Mitleidig an: »Welch schreklicher Traum verkündigt dem Treusten
Seiner Jünger sein Schiksal?« –
Aber furchtbare Bilder täuschten die Sinne des blöden
Reuerfüllten Verleugners. Am Ufer des tobenden Welt Meers
Stand, so träumt' er, ein hoher abhängiger Felsen mit dünnem
Dürren Gesträuche bekleidt: er theilte mit eißgrauer Scheitel
Das Gewölk. An diesem Felsen klimmte der bange
Petrus, schon war er hoch hinangeklimmt – da verliessen
Ihn die Kräfte auf einmal: die Reiser flatterten plözlich
Aus seinen blutig gestreiften Händen, er haschte vergeblich
Nach ihnen, sich an sie zu halten, und stürzte den schroffen
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Felsen hinunter, den Tod in der Brust – da ergrif aus der Wolke
Ueber dem Felsen eine glänzende Hand ihn, und hob ihn
Auf den Felsen empor, und eine Stimm' aus der Wolke
Nannt' ihn Bruder, und herrlich breitete himmlische Freude
In seiner Seele sich aus. – Doch plözlich veränderte sich die
Scene. Am Fuß des Felsen stand er und sah – (er bebte,
Seine Empfindung war Grenzlose Furcht, hinreissendes Staunen)
Sah in ihrer ganzen Grösse blutroth die Sonne,
In ihrer ganzen Grösse, umwälzend, die Feuerwelt vor sich:
Tausend wütende Meerstrudel hätten (so braußte sie) mehr nicht
Als das Schwirren der Mükke bei diesem Getöse die Ohren
Fernher berührt. Und nun, o Himmelerschütterndes Wunder!
Sank sie langsam verlöschend in die versiegenden Wogen
Des Oceans. Sein schlammigter Grund ward sichtbar. Ein Rauchdampf
Wie von zahllos kämpfenden Meteoren bedekte
Den mit sträubendem Haar hinfallenden Jünger: es stürzte
In ihm von Ader zu Ader das kochende Blut. Wie vom Tode
Ein Beseßner erwacht, um sich den erschlagenen Vater
Und der Mutter rauchend Geblüte von mördrischen Fäusten
Rinnen sieht: so erschrokken, so ganz ausser sich, schlug izt
Petrus ein wildes Aug' auf, schaute – sprang auf – sank zu Boden,
Röchelte Seufzer: – spät erst erblikt' er Maria, da füllte
Blut sein Angesicht, Tränen sein Aug', er wandte sich plözlich.
»Warum fliehest du Jünger? Hör' erst die schrökliche Bothschaft,
Die mein Haupt wie ein Wetter belastet, höre sie! flieh dann!
JESUS verschied.« – Er hört's, stand starr, schlug laut in die Hände,
Stöhnete laut, floh schneller, verlor' sich dem Auge und suchte Wüsten. –
Auch Maria war izt von neuen Aengsten ergriffen:
Unwissend wohin sie eilte, nahete sie durch das dunkle
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Thaubefeuchtete Graß an einen duftenden Hügel
Von dessen mooßigter Stirn' ein Hayn ehrwürdiger Tannen
Sich ins Thal hinabzog. Nie empfundener Schauer
Drang ihr durch die Gebeine und verschlang ihre Tränen.
»GOTT, wie heilig muß dieser Ort sein! Hier ist des Himmels
Haus, des Allerhöchsten Wohnung. Vielleicht ward ein Weiser,
Ein Prophet, ein Gerechter, dem Göttlichen gleich, hier begraben,
Daß die Tannen so heilig rauschen, und süsser Schauer
So die beschatteten Gänge dieses Hügels durchlispelt.«
Aber plözlich durchdrang ihr Ohr ein hohles Gemurmel
Menschlicher Stimmen: – ihr Herz schlug heftiger. Ahndungsvoll eilte
Sie um den Hügel herum, und sah auf der östlichen Seite
Ein Gedränge von Menschen. Mit beflügelten Schritten
Lief sie hinzu und schaut' und fragte die rauschende Menge.
Alles stand betrachtend. Wie auf aufschwellendem Meere
Sich des beängstigten Fischers Ruder vergeblich bemühet:
So erhub sie umsonst beschwörende Fragen. Izt theilte
Sich eine Wolke von Pöbel: sie drängte sich näher und sah ein
Hohes Grab in den Felsen gehauen, sah Joseph den Rathsherrn
Und Nikodemus den Pharisäer. Nun ward eine Leiche
Niedergesenkt. Sie richtete hoch sich über die Häupter
Derer Schauenden auf, und sah – (ihr Auge ward dunkel,
Schnelle Tränen entflohn ihm): es war Jesus. Da rekte
Sie die zitternden Arme hoch empor: »Es ist Jesus!
Es ist JESUS mein Sohn: wehrt nicht der Träne der Mutter
Ihn zu betröpfeln, wehrt nicht den brennenden Lippen den lezten
Theuren Kuß ihm zu geben.« Sie sprach es: aber die Hüter
Schlossen schnell einen Kreiß ums Grab; sie sah ihn nicht ferner.
Wie die rathlose Henne, der ein grausamer Knabe
Die unschuldig schreienden Kinder entreißt, mit schneller
Kriegerischer verzweiflungsvoller Wuth auf ihn losstürzt:
So drang stürmisch Maria sich hizzig durch alle aufhaltende Haufen
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Und die barbarische Wache der Kriegsknechte, die ihrer Stärke
Voll Verwundrung und Ehrfurcht auswichen. Inbrunstvoll warf sie
Dann vor der Leiche sich hin, und weinte über der Leiche. –

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TextGrid Repository (2012). Lenz, Jakob Michael Reinhold. Gedichte. Gedichte. 7. Fragment eines Gedichts. 7. Fragment eines Gedichts. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-E2D8-F