Gotthold Ephraim Lessing
Hamburgische Dramaturgie

Erster Band

Ankündigung

Es wird sich leicht erraten lassen, daß die neue Verwaltung des hiesigen Theaters die Veranlassung des gegenwärtigen Blattes ist.

Der Endzweck desselben soll den guten Absichten entsprechen, welche man den Männern, die sich dieser Verwaltung unterziehen wollen, nicht anders als beimessen kann. Sie haben sich selbst hinlänglich darüber erklärt, und ihre Äußerungen sind, sowohl hier, als auswärts, von dem feinern Teile des Publikums mit dem Beifalle aufgenommen worden, den jede freiwillige Beförderung des allgemeinen Besten verdienet, und zu unsern Zeiten sich versprechen darf.

Freilich gibt es immer und überall Leute, die, weil sie sich selbst am besten kennen, bei jedem guten Unternehmen nichts als Nebenabsichten erblicken. Man könnte ihnen diese Beruhigung ihrer selbst gern gönnen; aber, wenn die vermeinten Nebenabsichten sie wider die Sache selbst aufbringen; wenn ihr hämischer Neid, um jene zu vereiteln, auch diese scheitern zu lassen, bemüht ist: so müssen sie wissen, daß sie die verachtungswürdigsten Glieder der menschlichen Gesellschaft sind.

Glücklich der Ort, wo diese Elenden den Ton nicht angeben; wo die größere Anzahl wohlgesinnter Bürger sie in den Schranken der Ehrerbietung hält, und nicht verstattet, daß das Bessere des Ganzen ein Raub ihrer Kabalen, und patriotische Absichten ein Vorwurf ihres spöttischen Aberwitzes werden!

So glücklich sei Hamburg in allem, woran seinem Wohlstande und seiner Freiheit gelegen: denn es verdienet, so glücklich zu sein!

Als Schlegel, zur Aufnahme des dänischen Theaters, – (ein deutscher Dichter des dänischen Theaters!) – Vorschläge tat, [231] von welchen es Deutschland noch lange zum Vorwurfe gereichen wird, daß ihm keine Gelegenheit gemacht worden, sie zur Aufnahme des unsrigen zu tun: war dieses der erste und vornehmste, »daß man den Schauspielern selbst die Sorge nicht überlassen müsse, für ihren Verlust und Gewinnst zu arbeiten.« 1 Die Principalschaft unter ihnen hat eine freie Kunst zu einem Handwerke herabgesetzt, welches der Meister mehrenteils desto nachlässiger und eigennütziger treiben läßt, je gewissere Kunden, je mehrere Abnehmer, ihm Notdurft oder Luxus versprechen.

Wenn hier also bis itzt auch weiter noch nichts geschehen wäre, als daß eine Gesellschaft von Freunden der Bühne Hand an das Werk gelegt, und nach einem gemeinnützigen Plane arbeiten zu lassen, sich verbunden hätte: so wäre dennoch, bloß dadurch, schon viel gewonnen. Denn aus dieser ersten Veränderung können, auch bei einer nur mäßigen Begünstigung des Publikums, leicht und geschwind alle andere Verbesserungen erwachsen, deren unser Theater bedarf.

An Fleiß und Kosten wird sicherlich nichts gesparet werden: ob es an Geschmack und Einsicht fehlen dürfte, muß die Zeit lehren. Und hat es nicht das Publikum in seiner Gewalt, was es hierin mangelhaft finden sollte, abstellen und verbessern zu lassen? Es komme nur, und sehe und höre, und prüfe und richte. Seine Stimme soll nie geringschätzig verhöret, sein Urteil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden!

Nur daß sich nicht jeder kleine Kritikaster für das Publikum halte, und derjenige, dessen Erwartungen getäuscht werden, auch ein wenig mit sich selbst zu Rate gehe, von welcher Art seine Erwartungen gewesen. Nicht jeder Liebhaber ist Kenner; nicht jeder, der die Schönheiten eines Stücks, das richtige Spiel eines Acteurs empfindet, kann darum auch den Wert aller andern schätzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich über Schönheiten von jeder Art verbreitet, [232] aber von keiner mehr Vergnügen und Entzücken erwartet, als sie nach ihrer Art gewähren kann.

Der Stufen sind viel, die eine werdende Bühne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Bühne ist von dieser Höhe, natürlicher Weise, noch weit entfernt: und ich fürchte sehr, daß die deutsche mehr dieses als jenes ist.

Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der Langsamste, der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer geschwinder, als der ohne Ziel herum irret.

Diese Dramaturgie soll ein kritisches Register von allen aufzuführenden Stücken halten, und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers, hier tun wird. Die Wahl der Stücke ist keine Kleinigkeit: aber Wahl setzt Menge voraus; und wenn nicht immer Meisterstücke aufgeführet werden sollten, so sieht man wohl, woran die Schuld liegt. Indes ist es gut, wenn das Mittelmäßige für nichts mehr ausgegeben wird, als es ist; und der unbefriedigte Zuschauer wenigstens daran urteilen lernt. Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinander zu setzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat. Gewisse mittelmäßige Stücke müssen auch schon darum beibehalten werden, weil sie gewisse vorzügliche Rollen haben, in welchen der oder jener Acteur seine ganze Stärke zeigen kann. So verwirft man nicht gleich eine musikalische Komposition, weil der Text dazu elend ist.

Die größte Feinheit eines dramatischen Richters zeiget sich darin, wenn er in jedem Falle des Vergnügens und Mißvergnügens, unfehlbar zu unterscheiden weiß, was und wie viel davon auf die Rechnung des Dichters, oder des Schauspielers, zu setzen sei. Den einen um etwas tadeln, was der andere versehen hat, heißt beide verderben. Jenem wird der Mut benommen, und dieser wird sicher gemacht.

Besonders darf es der Schauspieler verlangen, daß man hierin die größte Strenge und Unparteilichkeit beobachte.

[233] Die Rechtfertigung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da, und kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhaftern Eindruck auf jenen gemacht hat.

Eine schöne Figur, eine bezaubernde Miene, ein sprechendes Auge, ein reizender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: sind Dinge, die sich nicht wohl mit Worten ausdrücken lassen. Doch sind es auch weder die einzigen noch größten Vollkommenheiten des Schauspielers. Schätzbare Gaben der Natur, zu seinem Berufe sehr nötig, aber noch lange nicht seinen Beruf erfüllend! Er muß überall mit dem Dichter denken; er muß da, wo dem Dichter etwas Menschliches widerfahren ist, für ihn denken.

Man hat allen Grund, häufige Beispiele hiervon sich von unsern Schauspielern zu versprechen. – Doch ich will die Erwartung des Publikums nicht höher stimmen. Beide schaden sich selbst: der zu viel verspricht, und der zu viel erwartet.

Heute geschieht die Eröffnung der Bühne. Sie wird viel entscheiden; sie muß aber nicht alles entscheiden sollen. In den ersten Tagen werden sich die Urteile ziemlich durchkreuzen. Es würde Mühe kosten, ein ruhiges Gehör zu erlangen. – Das erste Blatt dieser Schrift soll daher nicht eher, als mit dem Anfange des künftigen Monats erscheinen.

Hamburg, den 22. April, 1767.

Erstes Stück

Den 1sten Mai, 1767


Das Theater ist den 22sten vorigen Monats mit dem Trauerspiele, Olint und Sophronia, glücklich eröffnet worden.

Ohne Zweifel wollte man gern mit einem deutschen Originale anfangen, welches hier noch den Reiz der Neuheit habe. Der innere Wert dieses Stückes konnte auf eine solche [234] Ehre keinen Anspruch machen. Die Wahl wäre zu tadeln, wenn sich zeigen ließe, daß man eine viel bessere hätte treffen können.

Olint und Sophronia ist das Werk eines jungen Dichters, und sein unvollendet hinterlassenes Werk. Cronegk starb allerdings für unsere Bühne zu früh; aber eigentlich gründet sich sein Ruhm mehr auf das, was er, nach dem Urteile seiner Freunde, für dieselbe noch hätte leisten können, als was er wirklich geleistet hat. Und welcher dramatische Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, hätte in seinem sechs und zwanzigsten Jahre sterben können, ohne die Kritik über seine wahren Talente nicht eben so zweifelhaft zu lassen?

Der Stoff ist die bekannte Episode beim Tasso. Eine kleine rührende Erzählung in ein rührendes Drama umzuschaffen, ist so leicht nicht. Zwar kostet es wenig Mühe, neue Verwickelungen zu erdenken, und einzelne Empfindungen in Szenen auszudehnen. Aber zu verhüten wissen, daß diese neue Verwickelungen weder das Interesse schwächen, noch der Wahrscheinlichkeit Eintrag tun; sich aus dem Gesichtspunkte des Erzählers in den wahren Standort einer jeden Person versetzen können; die Leidenschaften, nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers entstehen, und ohne Sprung, in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu lassen, daß dieser sympathisieren muß, er mag wollen oder nicht: das ist es, was dazu nötig ist; was das Genie, ohne es zu wissen, ohne es sich langweilig zu erklären, tut, und was der bloß witzige Kopf nachzumachen, vergebens sich martert.

Tasso scheinet, in seinem Olint und Sophronia, den Virgil, in seinem Nisus und Euryalus, vor Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in diesen die Stärke der Freundschaft geschildert hatte, wollte Tasso in jenen die Stärke der Liebe schildern. Dort war es heldenmütiger Diensteifer, der die Probe der Freundschaft veranlaßte: hier ist es die Religion, welche der Liebe Gelegenheit gibt, sich in aller ihrer Kraft zu zeigen. Aber die Religion, welche bei dem Tasso nur das Mittel ist, wodurch er die Liebe so wirksam zeiget, ist in Cronegks Bearbeitung das Hauptwerk geworden. Er woll te den Triumph dieser, in den Triumph jener veredeln. Gewiß, eine fromme [235] Verbesserung – weiter aber auch nichts, als fromm! Denn sie hat ihn verleitet, was bei dem Tasso so simpel und natürlich, so wahr und menschlich ist, so verwickelt und romanenhaft, so wunderbar und himmlisch zu machen, daß nichts darüber!

Beim Tasso ist es ein Zauberer, ein Kerl, der weder Christ noch Mahomedaner ist, sondern sich aus beiden Religionen einen eigenen Aberglauben zusammengesponnen hat, welcher dem Aladin den Rat gibt, das wundertätige Marienbild aus dem Tempel in die Moschee zu bringen. Warum machte Cronegk aus diesem Zauberer einen mahomedanischen Priester? Wenn dieser Priester in seiner Religion nicht eben so unwissend war, als es der Dichter zu sein scheinet, so konnte er einen solchen Rat unmöglich geben. Sie duldet durchaus keine Bilder in ihren Moscheen. Cronegk verrät sich in mehrern Stücken, daß ihm eine sehr unrichtige Vorstellung von dem mahomedanischen Glauben beigewohnet. Der gröbste Fehler aber ist, daß er eine Religion überall des Polytheismus schuldig macht, die fast mehr als jede andere auf die Einheit Gottes dringet. Die Moschee heißt ihm »ein Sitz der falschen Götter,« und den Priester selbst läßt er ausrufen:


»So wollt ihr euch noch nicht mit Rach und Strafe rüsten,
Ihr Götter? Blitzt, vertilgt, das freche Volk der Christen!«

Der sorgsame Schauspieler hat in seiner Tracht das Costume, vom Scheitel bis zur Zehe, genau zu beobachten gesucht; und er muß solche Ungereimtheiten sagen!

Beim Tasso kömmt das Marienbild aus der Moschee weg, ohne daß man eigentlich weiß, ob es von Menschenhänden entwendet worden, oder ob eine höhere Macht dabei im Spiele gewesen. Cronegk macht den Olint zum Täter. Zwar verwandelt er das Marienbild in »ein Bild des Herrn am Kreuz;« aber Bild ist Bild, und dieser armselige Aberglaube gibt dem Olint eine sehr verächtliche Seite. Man kann ihm unmöglich wieder gut werden, daß er es wagen können, durch eine so kleine Tat sein Volk an den Rand des Verderbens zu stellen. Wenn er sich hernach freiwillig dazu bekennet: so ist es nichts mehr als Schuldigkeit, und keine Großmut. [236] Beim Tasso läßt ihn bloß die Liebe diesen Schritt tun; er will Sophronien retten, oder mit ihr sterben; mit ihr sterben, bloß um mit ihr zu sterben; kann er mit ihr nicht ein Bette besteigen, so sei es ein Scheiterhaufen; an ihrer Seite, an den nämlichen Pfahl gebunden, bestimmt, von dem nämlichen Feuer verzehret zu werden, empfindet er bloß das Glück einer so süßen Nachbarschaft, denket an nichts, was er jenseit dem Grabe zu hoffen habe, und wünschet nichts, als daß diese Nachbarschaft noch enger und vertrauter sein möge, daß er Brust gegen Brust drücken, und auf ihren Lippen seinen Geist verhauchen dürfe.

Dieser vortreffliche Kontrast zwischen einer lieben, ruhigen, ganz geistigen Schwärmerin, und einem hitzigen, begierigen Jünglinge, ist beim Cronegk völlig verloren. Sie sind beide von der kältesten Einförmigkeit; beide haben nichts als das Märtertum im Kopfe; und nicht genug, daß er, daß sie, für die Religion sterben wollen; auch Evander wollte, auch Serena hätte nicht übel Lust dazu.

Ich will hier eine doppelte Anmerkung machen, welche, wohl behalten, einen angehenden tragischen Dichter vor großen Fehltritten bewahren kann. Die eine betrifft das Trauerspiel überhaupt. Wenn heldenmütige Gesinnungen Bewunderung erregen sollen: so muß der Dichter nicht zu verschwenderisch damit umgehen; denn was man öfters, was man an mehrern sieht, höret man auf zu bewundern. Hierwider hatte sich Cronegk schon in seinem Codrus sehr versündiget. Die Liebe des Vaterlandes, bis zum freiwilligen Tode für dasselbe, hätte den Codrus allein auszeichnen sollen: er hätte als ein einzelnes Wesen einer ganz besondern Art da stehen müssen, um den Eindruck zu machen, welchen der Dichter mit ihm im Sinne hatte. Aber Elisinde und Philaide, und Medon, und wer nicht? sind alle gleich bereit, ihr Leben dem Vaterlande aufzuopfern; unsere Bewunderung wird geteilt, und Codrus verlieret sich unter der Menge. So auch hier. Was in Olint und Sophronia Christ ist, das alles hält gemartert werden und sterben, für ein Glas Wasser trinken. Wir hören diese frommen Bravaden so oft, aus so verschiedenem Munde, daß sie alle Wirkung verlieren.

[237] Die zweite Anmerkung betrifft das christliche Trauerspiel insbesondere. Die Helden desselben sind mehrenteils Märtyrer. Nun leben wir zu einer Zeit, in welcher die Stimme der gesunden Vernunft zu laut erschallet, als daß jeder Rasender, der sich mutwillig, ohne Not, mit Verachtung aller seiner bürgerlichen Obliegenheiten, in den Tod stürzet, den Titel eines Märtyrers sich anmaßen dürfte. Wir wissen itzt zu wohl, die falschen Märtyrer von den wahren zu unterscheiden; wir verachten jene eben so sehr, als wir diese verehren, und höchstens können sie uns eine melancholische Träne über die Blindheit und den Unsinn auspressen, deren wir die Menschheit überhaupt in ihnen fähig erblicken. Doch diese Träne ist keine von den angenehmen, die das Trauerspiel erregen will. Wenn daher der Dichter einen Märtyrer zu sei nem Helden wählet: daß er ihm ja die lautersten und triftigsten Bewegungsgründe gebe! daß er ihn ja in die unumgängliche Notwendigkeit setze, den Schritt zu tun, durch den er sich der Gefahr bloß stellet! daß er ihn ja den Tod nicht freventlich suchen, nicht höhnisch ertrotzen lasse! Sonst wird uns sein frommer Held zum Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter leiden. Ich habe schon berühret, daß es nur ein eben so nichtswürdiger Aberglaube sein konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verachten, welcher den Olint antrieb, das Bild aus der Moschee wieder zu entwenden. Es entschuldiget den Dichter nicht, daß es Zeiten gegeben, wo ein solcher Aberglaube allgemein war, und bei vielen guten Eigenschaften bestehen konnte; daß es noch Länder gibt, wo er der frommen Einfalt nichts befremdendes haben würde. Denn er schrieb sein Trauerspiel eben so wenig für jene Zeiten, als er es bestimmte, in Böhmen oder Spanien gespielt zu werden. Der gute Schriftsteller, er sei von welcher Gattung er wolle, wenn er nicht bloß schreibet, seinen Witz, seine Gelehrsamkeit zu zeigen, hat immer die Erleuchtesten und Besten seiner Zeit und seines Landes in Augen, und nur was diesen gefallen, was diese rühren kann, würdiget er zu schreiben. Selbst der dramatische, wenn er sich zu dem Pöbel herabläßt, läßt sich nur darum zu ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu bessern; [238] nicht aber ihn in seinen Vorurteilen, ihn in seiner unedeln Denkungsart zu bestärken.

Zweites Stück

Den 5ten Mai, 1767


Noch eine Anmerkung, gleichfalls das christliche Trauerspiel betreffend, würde über die Bekehrung der Clorinde zu machen sein. So überzeugt wir auch immer von den unmittelbaren Wirkungen der Gnade sein mögen, so wenig können sie uns doch auf dem Theater gefallen, wo alles, was zu dem Charakter der Personen gehöret, aus den natürlichsten Ursachen entspringen muß. Wunder dulden wir da nur in der physikalischen Welt; in der moralischen muß alles seinen ordentlichen Lauf behalten, weil das Theater die Schule der moralischen Welt sein soll. Die Bewegungsgründe zu jedem Entschlusse, zu jeder Änderung der geringsten Gedanken und Meinungen, müssen, nach Maßgebung des einmal angenommenen Charakters, genau gegen einander abgewogen sein, und jene müssen nie mehr hervorbringen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervor bringen können. Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns, durch Schönheiten des Detail, über Mißverhältnisse dieser Art zu täuschen; aber er täuscht uns nur einmal, und sobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den Beifall, den er uns abgetäuschet hat, zurück. Dieses auf die vierte Szene des vierten Akts angewendet, wird man finden, daß die Reden und das Betragen der Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden hätten bewegen können, aber viel zu unvermögend sind, Bekehrung an einer Person zu wirken, die gar keine Anlage zum Enthusiasmus hat. Beim Tasso nimmt Clorinde auch das Christentum an; aber in ihrer letzten Stunde; aber erst, nachdem sie kurz zuvor erfahren, daß ihre Ältern diesem Glauben zugetan gewesen: feine, erhebliche Umstände, durch welche die Wirkung einer höhern Macht in die Reihe natürlicher Begebenheiten gleichsam mit eingeflochten wird. Niemand hat es besser verstanden, wie weit man in diesem Stücke auf dem Theater gehen [239] dürfe, als Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle Seele des Zamor, durch Beispiel und Bitten, durch Großmut und Ermahnungen bestürmet, und bis in das Innerste erschüttert worden, läßt er ihn doch die Wahrheit der Religion, an deren Bekennern er so viel Großes sieht, mehr vermuten, als glauben. Und vielleicht würde Voltaire auch diese Vermutung unterdrückt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zuschauers etwas hätte geschehen müssen.

Selbst der Polyeukt des Corneille ist, in Absicht auf beide Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es seine Nachahmungen immer mehr geworden sind, so dürfte die erste Tragödie, die den Namen einer christlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten sein. Ich meine ein Stück, in welchem einzig der Christ als Christ uns interessieret. – Ist ein solches Stück aber auch wohl möglich? Ist der Charakter des wahren Christen nicht etwa ganz untheatralisch? Streiten nicht etwa die stille Gelassenheit, die unveränderliche Sanftmut, die seine wesentlichsten Züge sind, mit dem ganzen Geschäfte der Tragödie, welches Leidenschaften durch Leidenschaften zu reinigen sucht? Widerspricht nicht etwa seine Erwartung einer belohnenden Glückseligkeit nach diesem Leben, der Uneigennützigkeit, mit welcher wir alle große und gute Handlungen auf der Bühne unternommen und vollzogen zu sehen wünschen?

Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen kann, wie viel Schwierigkeiten es zu übersteigen vermag, diese Bedenklichkeiten unwidersprechlich widerlegt, wäre also mein Rat: – man ließe alle bisherige christliche Trauerspiele unaufgeführet. Dieser Rat, welcher aus den Bedürfnissen der Kunst hergenommen ist, welcher uns um weiter nichts, als sehr mittelmäßige Stücke bringen kann, ist darum nichts schlechter, weil er den schwächern Gemütern zu Statten kömmt, die, ich weiß nicht welchen Schauder empfinden, wenn sie Gesinnungen, auf die sie sich nur an einer heiligern Stätte gefaßt machen, im Theater zu hören bekommen. Das Theater soll niemanden, wer es auch sei, Anstoß geben; und ich wünschte, daß es auch allem genommenen Anstoße vorbeugen könnte und wollte.

Cronegk hatte sein Stück nur bis gegen das Ende des vierten [240] Aufzuges gebracht. Das übrige hat eine Feder in Wien dazu gefüget; eine Feder – denn die Arbeit eines Kopfes ist dabei nicht sehr sichtbar. Der Ergänzer hat, allem Ansehen nach, die Geschichte ganz anders geendet, als sie Cronegk zu enden Willens gewesen. Der Tod löset alle Verwirrungen am besten; darum läßt er beide sterben, den Olint und die Sophronia. Beim Tasso kommen sie beide davon; denn Clorinde nimmt sich mit der uneigennützigsten Großmut ihrer an. Cronegk aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da war es freilich schwer zu erraten, wie er zwei Nebenbuhlerinnen aus einander setzen wollen, ohne den Tod zu Hülfe zu rufen. In einem andern noch schlechtern Trauerspiele, wo eine von den Hauptpersonen ganz aus heiler Haut starb, fragte ein Zuschauer seinen Nachbar: Aber woran stirbt sie denn? – Woran? am fünften Akte; antwortete dieser. In Wahrheit; der fünfte Akt ist eine garstige böse Staupe, die manchen hinreißt, dem die ersten vier Akte ein weit längeres Leben versprachen. –

Doch ich will mich in die Kritik des Stückes nicht tiefer einlassen. So mittelmäßig es ist, so ausnehmend ist es vorgestellet worden. Ich schweige von der äußern Pracht; denn diese Verbesserung unsers Theaters erfordert nichts als Geld. Die Künste, deren Hülfe dazu nötig ist, sind bei uns in eben der Vollkommenheit, als in jedem andern Lande; nur die Künstler wollen eben so bezahlt sein, wie in jedem andern Lande.

Man muß mit der Vorstellung eines Stückes zufrieden sein, wenn unter vier, fünf Personen, einige vortrefflich, und die andern gut gespielet haben. Wen, in den Nebenrollen, ein Anfänger oder sonst ein Notnagel, so sehr beleidiget, daß er über das Ganze die Nase rümpft, der reise nach Utopien, und besuche da die vollkommenen Theater, wo auch der Lichtputzer ein Garrick ist.

Herr Eckhof war Evander; Evander ist zwar der Vater des Olints, aber im Grunde doch nicht viel mehr als ein Vertrauter. Indes mag dieser Mann eine Rolle machen, welche er will; man erkennet ihn in der kleinsten noch immer für den ersten Akteur, und betauert, auch nicht zugleich alle übrigen [241] Rollen von ihm sehen zu können. Ein ihm ganz eigenes Talent ist dieses, daß er Sittensprüche und allgemeine Betrachtungen, diese langweiligen Ausbeugungen eines verlegenen Dichters, mit einem Anstande, mit einer Innigkeit zu sagen weiß, daß das Trivialste von dieser Art, in seinem Munde Neuheit und Würde, das Frostigste Feuer und Leben erhält.

Die eingestreuten Moralen sind Cronegks beste Seite. Er hat, in seinem Codrus und hier, so manche in einer so schönen nachdrücklichen Kürze ausgedrückt, daß viele von seinen Versen als Sentenzen behalten, und von dem Volke unter die im gemeinen Leben gangbare Weisheit aufgenommen zu werden verdienen. Leider sucht er uns nur auch öfters gefärbtes Glas für Edelsteine, und witzige Antithesen für gesunden Verstand einzuschwatzen. Zwei dergleichen Zeilen, in dem ersten Akte, hatten eine besondere Wirkung auf mich. Die eine,


»Der Himmel kann verzeihn, allein ein Priester nicht.«

Die andere,

»Wer schlimm von andern denkt, ist selbst ein Bösewicht.«


Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allgemeine Bewegung, und dasjenige Gemurmel zu bemerken, durch welches sich der Beifall ausdrückt, wenn ihn die Aufmerksamkeit nicht gänzlich ausbrechen läßt. Teils dachte ich: Vortrefflich! man liebt hier die Moral; dieses Parterr findet Geschmack an Maximen; auf dieser Bühne könnte sich ein Euripides Ruhm erwerben, und ein Sokrates würde sie gern besuchen. Teils fiel es mir zugleich mit auf, wie schielend, wie falsch, wie anstößig diese vermeinten Maximen wären, und ich wünschte sehr, daß die Mißbilligung an jenem Gemurmle den meisten Anteil möge gehabt haben. Es ist nur ein Athen gewesen, es wird nur ein Athen bleiben, wo auch bei dem Pöbel das sittliche Gefühl so fein, so zärtlich war, daß einer unlautern Moral wegen, Schauspieler und Dichter Gefahr liefen, von dem Theater herabgestürmet zu werden! Ich weiß wohl, die Gesinnungen müssen in dem Drama dem angenommenen [242] Charakter der Person, welche sie äußert, entsprechen; sie können also das Siegel der absoluten Wahrheit nicht haben; genug, wenn sie poetisch wahr sind, wenn wir gestehen müssen, daß dieser Charakter, in dieser Situation, bei dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urteilen können. Aber auch diese poetische Wahrheit muß sich, auf einer andern Seite, der absoluten wiederum nähern, und der Dichter muß nie so unphilosophisch denken, daß er annimmt, ein Mensch könne das Böse, um des Bösen wegen, wollen, er könne nach lasterhaften Grundsätzen handeln, das Lasterhafte derselben erkennen, und doch gegen sich und andere damit prahlen. Ein solcher Mensch ist ein Unding, so gräßlich als ununterrichtend, und nichts als die armselige Zuflucht eines schalen Kopfes, der schimmernde Tiraden für die höchste Schönheit des Trauerspieles hält. Wenn Ismenor ein grausamer Priester ist, sind darum alle Priester Ismenors? Man wende nicht ein, daß von Priestern einer falschen Religion die Rede sei. So falsch war noch keine in der Welt, daß ihre Lehrer notwendig Unmenschen sein müssen. Priester haben in den falschen Religionen, so wie in der wahren, Unheil gestiftet, aber nicht weil sie Priester, sondern weil sie Bösewichter waren, die, zum Behuf ihrer schlimmen Neigungen, die Vorrechte auch eines jeden andern Standes gemißbraucht hätten.

Wenn die Bühne so unbesonnene Urteile über die Priester überhaupt ertönen läßt, was Wunder, wenn sich auch unter diesen Unbesonnene finden, die sie als die grade Heerstraße zur Hölle ausschreien?

Aber ich verfalle wiederum in die Kritik des Stückes, und ich wollte von dem Schauspieler sprechen.

Drittes Stück

Den 8ten Mai, 1767


Und wodurch bewirkt dieser Schauspieler, (Hr. Eckhof) daß wir auch die gemeinste Moral so gern von ihm hören? Was ist es eigentlich, was ein anderer von ihm zu lernen hat, [243] wenn wir ihn in solchem Falle eben so unterhaltend finden sollen?

Alle Moral muß aus der Fülle des Herzens kommen, von der der Mund übergehet; man muß eben so wenig lange darauf zu denken, als damit zu prahlen scheinen.

Es versteht sich also von selbst, daß die moralischen Stellen vorzüglich wohl gelernet sein wollen. Sie müssen ohne Stocken, ohne den geringsten Anstoß, in einem ununterbrochenen Flusse der Worte, mit einer Leichtigkeit gesprochen werden, daß sie keine mühsame Auskramungen des Gedächtnisses, sondern unmittelbare Eingebungen der gegenwärtigen Lage der Sachen scheinen.

Eben so ausgemacht ist es, daß kein falscher Accent uns muß argwöhnen lassen, der Akteur plaudere, was er nicht verstehe. Er muß uns durch den richtigsten, sichersten Ton überzeugen, daß er den ganzen Sinn seiner Worte durchdrungen habe.

Aber die richtige Accentuation ist zur Not auch einem Papagei beizubringen. Wie weit ist der Akteur, der eine Stelle nur versteht, noch von dem entfernt, der sie auch zugleich empfindet! Worte, deren Sinn man einmal gefaßt, die man sich einmal ins Gedächtnis gepräget hat, lassen sich sehr richtig hersagen, auch indem sich die Seele mit ganz andern Dingen beschäftiget; aber alsdann ist keine Empfindung möglich. Die Seele muß ganz gegenwärtig sein; sie muß ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf ihre Reden richten, und nur alsdann –

Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich viel Empfindung haben, und doch keine zu haben scheinen. Die Empfindung ist überhaupt immer das streitigste unter den Talenten eines Schauspielers. Sie kann sein, wo man sie nicht erkennet; und man kann sie zu erkennen glauben, wo sie nicht ist. Denn die Empfindung ist etwas Inneres, von dem wir nur nach seinen äußern Merkmalen urteilen können. Nun ist es möglich, daß gewisse Dinge in dem Baue des Körpers diese Merkmale entweder gar nicht verstatten, oder doch schwächen und zweideutig machen. Der Akteur kann eine gewisse Bildung des Gesichts, gewisse Mienen, einen gewissen [244] Ton haben, mit denen wir ganz andere Fähigkeiten, ganz andere Leidenschaften, ganz andere Gesinnungen zu verbinden gewohnt sind, als er gegenwärtig äußern und ausdrücken soll. Ist dieses, so mag er noch so viel empfinden, wir glauben ihm nicht: denn er ist mit sich selbst im Widerspruche. Gegenteils kann ein anderer so glücklich gebauet sein; er kann so entscheidende Züge besitzen; alle seine Muskeln können ihm so leicht, so geschwind zu Gebote stehen; er kann so feine, so vielfältige Abänderungen der Stimme in seiner Gewalt haben; kurz, er kann mit allen zur Pantomime erforderlichen Gaben in einem so hohen Grade beglückt sein, daß er uns in denjenigen Rollen, die er nicht ursprünglich, sondern nach irgend einem guten Vorbilde spielet, von der innigsten Empfindung beseelet scheinen wird, da doch alles, was er sagt und tut, nichts als mechanische Nachäffung ist.

Ohne Zweifel ist dieser, ungeachtet seiner Gleichgültigkeit und Kälte, dennoch auf dem Theater weit brauchbarer, als jener. Wenn er lange genug nichts als nachgeäffet hat, haben sich endlich eine Menge kleiner Regeln bei ihm gesammelt, nach denen er selbst zu handeln anfängt, und durch deren Beobachtung (zu Folge dem Gesetze, daß eben die Modifikationen der Seele, welche gewisse Veränderungen des Körpers hervorbringen, hinwiederum durch diese körperliche Veränderungen bewirket werden,) er zu einer Art von Empfindung gelangt, die zwar die Dauer, das Feuer derjenigen, die in der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben kann, aber doch in dem Augenblicke der Vorstellung kräftig genug ist, etwas von den nicht freiwilligen Veränderungen des Körpers hervorzubringen, aus deren Dasein wir fast allein auf das innere Gefühl zuverlässig schließen zu können glauben. Ein solcher Akteur soll z. E. die äußerste Wut des Zornes ausdrücken; ich nehme an, daß er seine Rolle nicht einmal recht verstehet, daß er die Gründe dieses Zornes weder hinlänglich zu fassen, noch lebhaft genug sich vorzustellen vermag, um seine Seele selbst in Zorn zu setzen. Und ich sage; wenn er nur die allergröbsten Äußerungen des Zornes, einem Akteur von ursprünglicher Empfindung abgelernet hat, und getreu nachzumachen [245] weiß – den hastigen Gang, den stampfenden Fuß, den rauhen bald kreischenden bald verbissenen Ton, das Spiel der Augenbraunen, die zitternde Lippe, das Knirschen der Zähne u.s.w. – wenn er, sage ich, nur diese Dinge, die sich nachmachen lassen, sobald man will, gut nachmacht: so wird dadurch unfehlbar seine Seele ein dunkles Gefühl von Zorn befallen, welches wiederum in den Körper zurückwirkt, und da auch diejenigen Veränderungen hervorbringt, die nicht bloß von unserm Willen abhangen; sein Gesicht wird glühen, seine Augen werden blitzen, seine Muskeln werden schwellen; kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu sein scheinen ohne es zu sein, ohne im geringsten zu begreifen, warum er es sein sollte.

Nach diesen Grundsätzen von der Empfindung überhaupt, habe ich mir zu bestimmen gesucht, welche äußerliche Merkmale diejenige Empfindung begleiten, mit der moralische Betrachtungen wollen gesprochen sein, und welche von diesen Merkmalen in unserer Gewalt sind, so daß sie jeder Akteur, er mag die Empfindung selbst haben, oder nicht, darstellen kann. Mich dünkt Folgendes.

Jede Moral ist ein allgemeiner Satz der, als solcher, einen Grad von Sammlung der Seele und ruhiger Überlegung verlangt. Er will also mit Gelassenheit und einer gewissen Kälte gesagt sein.

Allein dieser allgemeine Satz ist zugleich das Resultat von Eindrücken, welche individuelle Umstände auf die handelnden Personen machen; er ist kein bloßer symbolischer Schluß; er ist eine generalisierte Empfindung, und als diese will er mit Feuer und einer gewissen Begeisterung gesprochen sein.

Folglich mit Begeisterung und Gelassenheit, mit Feuer und Kälte? –

Nicht anders; mit einer Mischung von beiden, in der aber, nach Beschaffenheit der Situation, bald dieses, bald jenes, hervorsticht.

Ist die Situation ruhig, so muß sich die Seele durch die Moral gleichsam einen neuen Schwung geben wollen; sie muß über ihr Glück, oder ihre Pflichten, bloß darum allgemeine [246] Betrachtungen zu machen scheinen, um durch diese Allgemeinheit selbst, jenes desto lebhafter zu genießen, diese desto williger und mutiger zu beobachten.

Ist die Situation hingegen heftig, so muß sich die Seele durch die Moral (unter welchem Worte ich jede allgemeine Betrachtung verstehe) gleichsam von ihrem Fluge zurückholen; sie muß ihren Leidenschaften das Ansehen der Vernunft, stürmischen Ausbrüchen den Schein vorbedächtlicher Entschließungen geben zu wollen scheinen.

Jenes erfodert einen erhabnen und begeisterten Ton; dieses einen gemäßigten und feierlichen. Denn dort muß das Raisonnement in Affekt entbrennen, und hier der Affekt in Raisonnement sich auskühlen.

Die meisten Schauspieler kehren es gerade um. Sie poltern in heftigen Situationen die allgemeinen Betrachtungen eben so stürmisch heraus, als das Übrige; und in ruhigen, beten sie dieselben eben so gelassen her, als das Übrige. Daher geschieht es denn aber auch, daß sich die Moral weder in den einen, noch in den andern bei ihnen ausnimmt; und daß wir sie in jenen eben so unnatürlich, als in diesen langweilig und kalt finden. Sie überlegten nie, daß die Stückerei von dem Grunde abstechen muß, und Gold auf Gold brodieren ein elender Geschmack ist.

Durch ihre Gestus verderben sie vollends alles. Sie wissen weder, wenn sie deren dabei machen sollen, noch was für welche. Sie machen gemeiniglich zu viele, und zu unbedeutende.

Wenn in einer heftigen Situation die Seele sich auf einmal zu sammeln scheinet, um einen überlegenen Blick auf sich, oder auf das, was sie umgibt, zu werfen; so ist es natürlich, daß sie allen Bewegungen des Körpers, die von ihrem bloßen Willen abhangen, gebieten wird. Nicht die Stimme allein wird gelassener; die Glieder alle geraten in einen Stand der Ruhe, um die innere Ruhe auszudrücken, ohne die das Auge der Vernunft nicht wohl um sich schauen kann. Mit eins tritt der fortschreitende Fuß fest auf, die Arme sinken, der ganze Körper zieht sich in den waagrechten Stand; eine Pause – und dann die Reflexion. Der Mann steht da, in einer feierlichen [247] Stille, als ob er sich nicht stören wollte, sich selbst zu hören. Die Reflexion ist aus, – wieder eine Pause – und so wie die Reflexion abgezielet, seine Leidenschaft entweder zu mäßigen, oder zu befeuern, bricht er entweder auf einmal wieder los oder setzet allmählig das Spiel seiner Glieder wieder in Gang. Nur auf dem Gesichte bleiben, während der Reflexion, die Spuren des Affekts; Miene und Auge sind noch in Bewegung und Feuer; denn wir haben Miene und Auge nicht so urplötzlich in unserer Gewalt, als Fuß und Hand. Und hierin dann, in diesen ausdrückenden Mienen, in diesem entbrannten Auge, und in dem Ruhestande des ganzen übrigen Körpers, bestehet die Mischung von Feuer und Kälte, mit welcher ich glaube, daß die Moral in heftigen Situationen gesprochen sein will.

Mit eben dieser Mischung will sie auch in ruhigen Situationen gesagt sein; nur mit dem Unterschiede, daß der Teil der Aktion, welcher dort der feurige war, hier der kältere, und welcher dort der kältere war, hier der feurige sein muß. Nämlich: da die Seele, wenn sie nichts als sanfte Empfindungen hat, durch allgemeine Betrachtungen diesen sanften Empfindungen einen höhern Grad von Lebhaftigkeit zu geben sucht, so wird sie auch die Glieder des Körpers, die ihr unmittelbar zu Gebote stehen, dazu beitragen lassen; die Hände werden in voller Bewegung sein; nur der Ausdruck des Gesichts kann so geschwind nicht nach, und in Miene und Auge wird noch die Ruhe herrschen, aus der sie der übrige Körper gern heraus arbeiten möchte.

Viertes Stück

Den 12ten Mai, 1767


Aber von was für Art sind die Bewegungen der Hände, mit welchen, in ruhigen Situationen, die Moral gesprochen zu sein liebet?

Von der Chironomie der Alten, das ist, von dem Inbegriffe der Regeln, welche die Alten den Bewegungen der Hände vorgeschrieben hatten, wissen wir nur sehr wenig; aber dieses [248] wissen wir, daß sie die Händesprache zu einer Vollkommenheit gebracht, von der sich aus dem was unsere Redner darin zu leisten im Stande sind, kaum die Möglichkeit sollte begreifen lassen. Wir scheinen von dieser ganzen Sprache nichts als ein unartikuliertes Geschrei behalten zu haben; nichts als das Vermögen, Bewegungen zu machen, ohne zu wissen, wie diesen Bewegungen eine fixierte Bedeutung zu geben, und wie sie unter einander zu verbinden, daß sie nicht bloß eines einzeln Sinnes, sondern eines zusammenhangenden Verstandes fähig werden.

Ich bescheide mich gern, daß man, bei den Alten, den Pantomimen nicht mit dem Schauspieler vermengen muß. Die Hände des Schauspielers waren bei weiten so geschwätzig nicht, als die Hände des Pantomimens. Bei diesem vertraten sie die Stelle der Sprache; bei jenem sollten sie nur den Nachdruck derselben vermehren, und durch ihre Bewegungen, als natürliche Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen der Stimme Wahrheit und Leben verschaffen helfen. Bei dem Pantomimen waren die Bewegungen der Hände nicht bloß natürliche Zeichen; viele derselben hatten eine konventionelle Bedeutung, und dieser mußte sich der Schauspieler gänzlich enthalten.

Er gebrauchte sich also seiner Hände sparsamer, als der Pantomime, aber eben so wenig vergebens, als dieser. Er rührte keine Hand, wenn er nichts damit bedeuten oder verstärken konnte. Er wußte nichts von den gleichgültigen Bewegungen, durch deren beständigen einförmigen Gebrauch ein so großer Teil von Schauspielern, besonders das Frauenzimmer, sich das vollkommene Ansehen von Drahtpuppen gibt. Bald mit der rechten, bald mit der linken Hand, die Hälfte einer krieplichten Achte, abwärts vom Körper, beschreiben, oder mit beiden Händen zugleich die Luft von sich wegrudern, heißt ihnen, Aktion haben; und wer es mit einer gewissen Tanzmeistergrazie zu tun geübt ist, o! der glaubt, uns bezaubern zu können.

Ich weiß wohl, daß selbst Hogarth den Sohauspielern befiehlt, ihre Hand in schönen Schlangenlinien bewegen zu lernen; aber nach allen Seiten mit allen möglichen Abänderungen, [249] deren diese Linien, in Ansehung ihres Schwunges, ihrer Größe und Dauer, fähig sind. Und endlich befiehlt er es ihnen nur zur Übung, um sich zum Agieren dadurch geschickt zu machen, um den Armen die Biegungen des Reizes geläufig zu machen; nicht aber in der Meinung, daß das Agieren selbst in weiter nichts, als in der Beschreibung solcher schönen Linien, immer nach der nämlichen Direktion, bestehe.

Weg also mit diesem unbedeutenden Portebras, vornehmlich bei moralischen Stellen weg mit ihm! Reiz am unrechten Orte, ist Affektation und Grimasse; und eben derselbe Reiz, zu oft hinter einander wiederholt, wird kalt und endlich ekel. Ich sehe einen Schulknaben sein Sprüchelchen aufsagen, wenn der Schauspieler allgemeine Betrachtungen mit der Bewegung, mit welcher man in der Menuett die Hand gibt, mir zureicht, oder seine Moral gleichsam vom Rocken spinnet.

Jede Bewegung, welche die Hand bei moralischen Stellen macht, muß bedeutend sein. Oft kann man bis in das Malerische damit gehen; wenn man nur das Pantomimische vermeidet. Es wird sich vielleicht ein andermal Gelegenheit finden, diese Gradation von bedeutenden zu malerischen, von malerischen zu pantomimischen Gesten, ihren Unterschied und ihren Gebrauch, in Beispielen zu erläutern. Itzt würde mich dieses zu weit führen, und ich merke nur an, daß es unter den bedeutenden Gesten eine Art gibt, die der Schauspieler vor allen Dingen wohl zu beobachten hat, und mit denen er allein der Moral Licht und Leben erteilen kann. Es sind dieses, mit einem Worte, die individualisierenden Gestus. Die Moral ist ein allgemeiner Satz, aus den besondern Umständen der handelnden Personen gezogen; durch seine Allgemeinheit wird er gewissermaßen der Sache fremd, er wird eine Ausschweifung, deren Beziehung auf das Gegenwärtige von dem weniger aufmerksamen, oder weniger scharfsinnigen Zuhörer, nicht bemerkt oder nicht begriffen wird. Wann es daher ein Mittel gibt, diese Beziehung sinnlich zu machen, das Symbolische der Moral wiederum auf das Anschauende zurückzubringen, und wann dieses Mittel gewisse Gestus [250] sein können, so muß sie der Schauspieler ja nicht zu machen versäumen.

Man wird mich aus einem Exempel am besten verstehen. Ich nehme es, wie mir es itzt beifällt; der Schauspieler wird sich ohne Mühe auf noch weit einleuchtendere besinnen. – Wenn Olint sich mit der Hoffnung schmeichelt, Gott werde das Herz des Aladin bewegen, daß er so grausam mit den Christen nicht verfahre, als er ihnen gedrohet: so kann Evander, als ein alter Mann, nicht wohl anders, als ihm die Betrieglichkeit unsrer Hoffnungen zu Gemüte führen.


»Vertraue nicht, mein Sohn, Hoffnungen, die betriegen!«


Sein Sohn ist ein feuriger Jüngling, und in der Jugend ist man vorzüglich geneigt, sich von der Zukunft nur das Beste zu versprechen.


»Da sie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend oft.«


Doch indem besinnt er sich, daß das Alter zu dem entgegen gesetzten Fehler nicht weniger geneigt ist; er will den unverzagten Jüngling nicht ganz niederschlagen, und fähret fort:


»Das Alter quält sich selbst, weil es zu wenig hofft.«


Diese Sentenzen mit einer gleichgültigen Aktion, mit einer nichts als schönen Bewegung des Armes begleiten, würde weit schlimmer sein, als sie ganz ohne Aktion hersagen. Die einzige ihnen angemessene Aktion ist die, welche ihre Allgemeinheit wieder auf das Besondere einschränkt. Die Zeile,


»Da sie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend oft«


muß in dem Tone, mit dem Gestu der väterlichen Warnung, an und gegen den Olint gesprochen werden, weil Olint es ist, dessen unerfahrne leichtgläubige Jugend bei dem sorgsamen Alten diese Betrachtung veranlaßt. Die Zeile hingegen,


»Das Alter quält sich selbst, weil es zu wenig hofft«


erfordert den Ton, das Achselzucken, mit dem wir unsere eigene Schwachheiten zu gestehen pflegen, und die Hände müssen sich notwendig gegen die Brust ziehen, um zu bemerken, [251] daß Evander diesen Satz aus eigener Erfahrung habe, daß er selbst der Alte sei, von dem er gelte.

Es ist Zeit, daß ich von dieser Ausschweifung über den Vortrag der moralischen Stellen, wieder zurückkomme. Was man Lehrreiches darin findet, hat man lediglich den Beispielen des Hrn. Eckhof zu danken; ich habe nichts als von ihnen richtig zu abstrahieren gesucht. Wie leicht, wie angenehm ist es, einem Künstler nachzuforschen, dem das Gute nicht bloß gelingt, sondern der es macht!

Die Rolle der Clorinde ward von Madame Henseln gespielt, die ohnstreitig eine von den besten Aktricen ist, welche das deutsche Theater jemals gehabt hat. Ihr besonderer Vorzug ist eine sehr richtige Deklamation; ein falscher Accent wird ihr schwerlich entwischen; sie weiß den verworrensten, holprichsten, dunkelsten Vers, mit einer Leichtigkeit, mit einer Präcision zu sagen, daß er durch ihre Stimme die deutlichste Erklärung, den vollständigsten Kommentar erhält. Sie verbindet damit nicht selten ein Raffinement, welches entweder von einer sehr glücklichen Empfindung, oder von einer sehr richtigen Beurteilung zeuget. Ich glaube die Liebeserklärung, welche sie dem Olint tut, noch zu hören:


» – Erkenne mich! Ich kann nicht länger schweigen;
Verstellung oder Stolz sei niedern Seelen eigen.
Olint ist in Gefahr, und ich bin außer mir –
Bewundernd sah ich oft im Krieg und Schlacht nach dir;
Mein Herz, das vor sich selbst sich zu entdecken scheute,
War wider meinen Ruhm und meinen Stolz im Streite.
Dein Unglück aber reißt die ganze Seele hin,
Und itzt erkenn ich erst wie klein, wie schwach ich bin.
Itzt, da dich alle die, die dich verehrten, hassen,
Da du zur Pein bestimmt, von jedermann verlassen,
Verbrechern gleich gestellt, unglücklich und ein Christ,
Dem furchtbarn Tode nah, im Tod noch elend bist:
Itzt wag ichs zu gestehn: itzt kenne meine Triebe!«

Wie frei, wie edel war dieser Ausbruch! Welches Feuer, welche Inbrunst beseelten jeden Ton! Mit welcher Zudringlichkeit, mit welcher Überströmung des Herzens sprach ihr Mitleid! [252] Mit welcher Entschlossenheit ging sie auf das Bekenntnis ihrer Liebe los! Aber wie unerwartet, wie überraschend brach sie auf einmal ab, und veränderte auf einmal Stimme und Blick, und die ganze Haltung des Körpers, da es nun darauf ankam, die dürren Worte ihres Bekenntnisses zu sprechen. Die Augen zur Erde geschlagen, nach einem langsamen Seufzer, in dem furchtsamen gezogenen Tone der Verwirrung, kam endlich,


»Ich liebe dich, Olint, –«


heraus, und mit einer Wahrheit! Auch der, der nicht weiß, ob die Liebe sich so erklärt, empfand, daß sie sich so erklären sollte. Sie entschloß sich als Heldin, ihre Liebe zu gestehen, und gestand sie, als ein zärtliches, schamhaftes Weib. So Kriegerin als sie war, so gewöhnt sonst in allem zu männlichen Sitten: behielt das Weibliche doch hier die Oberhand. Kaum aber waren sie hervor, diese der Sittsamkeit so schwere Worte, und mit eins war auch jener Ton der Freimütigkeit wieder da. Sie fuhr mit der sorglosesten Lebhaftigkeit, in aller der unbekümmerten Hitze des Affekts fort:


»– – – Und stolz auf meine Liebe,
Stolz, daß dir meine Macht dein Leben retten kann,
Biet ich dir Hand und Herz, und Kron und Purpur an.«

Denn die Liebe äußert sich nun als großmütige Freundschaft: und die Freundschaft spricht eben so dreist, als schüchtern die Liebe.

Fünftes Stück

Den 15ten Mai, 1767


Es ist unstreitig, daß die Schauspielerin durch diese meisterhafte Absetzung der Worte,

»Ich liebe dich, Olint, –«


der Stelle eine Schönheit gab, von der sich der Dichter, bei dem alles in dem nämlichen Flusse von Worten daher [253] rauscht, nicht das geringste Verdienst beimessen kann. Aber wenn es ihr doch gefallen hätte, in diesen Verfeinerungen ihrer Rolle fortzufahren! Vielleicht besorgte sie, den Geist des Dichters ganz zu verfehlen; oder vielleicht scheute sie den Vorwurf, nicht das, was der Dichter sagt, sondern was er hätte sagen sollen, gespielt zu haben. Aber welches Lob könnte größer sein, als so ein Vorwurf? Freilich muß sich nicht jeder Schauspieler einbilden, dieses Lob verdienen zu können. Denn sonst möchte es mit den armen Dichtern übel aussehen.

Cronegk hat wahrlich aus seiner Clorinde ein sehr abgeschmacktes, widerwärtiges, häßliches Ding gemacht. Und dem ohngeachtet ist sie noch der einzige Charakter, der uns bei ihm interessieret. So sehr er die schöne Natur in ihr verfehlt, so tut doch noch die plumpe, ungeschlachte Natur einige Wirkung. Das macht, weil die übrigen Charaktere ganz außer aller Natur sind, und wir doch noch leichter mit einem Dragoner von Weibe, als mit himmelbrütenden Schwärmern sympathisieren. Nur gegen das Ende, wo sie mit in den begeisterten Ton fällt, wird sie uns eben so gleichgültig und ekel. Alles ist Widerspruch in ihr, und immer springt sie von einem Äußersten auf das andere. Kaum hat sie ihre Liebe erklärt, so fügt sie hinzu:


»Wirst du mein Herz verschmähn? Du schweigst? – Entschließe dich;
Und wenn du zweifeln kannst – so zittre!«

So zittre? Olint soll zittern? er, den sie so oft, in dem Tumulte der Schlacht, unerschrocken unter den Streichen des Todes gesehen? Und soll vor ihr zittern? Was will sie denn? Will sie ihm die Augen auskratzen? – O wenn es der Schauspielerin eingefallen wäre, für diese ungezogene weibliche Gasconade »so zittre!« zu sagen: ich zittre! Sie konnte zittern, so viel sie wollte, ihre Liebe verschmäht, ihren Stolz beleidiget zu finden. Das wäre sehr natürlich gewesen. Aber es von dem Olint verlangen, Gegenliebe von ihm, mit dem Messer an der Gurgel, fodern, das ist so unartig als lächerlich.

Doch was hätte es geholfen, den Dichter einen Augenblick [254] länger in den Schranken des Wohlstandes und der Mäßigung zu erhalten? Er fährt fort, Clorinden in dem wahren Tone einer besoffenen Marquetenderin rasen zu lassen; und da findet keine Linderung, keine Bemäntelung mehr Statt.

Das einzige, was die Schauspielerin zu seinem Besten noch tun könnte, wäre vielleicht dieses, wenn sie sich von seinem wilden Feuer nicht so ganz hinreißen ließe, wenn sie ein wenig an sich hielte, wenn sie die äußerste Wut nicht mit der äußersten Anstrengung der Stimme, nicht mit den gewaltsamsten Gebärden ausdrückte.

Wenn Shakespeare nicht ein eben so großer Schauspieler in der Ausübung gewesen ist, als er ein dramatischer Dichter war, so hat er doch wenigstens eben so gut gewußt, was zu der Kunst des einen, als was zu der Kunst des andern gehöret. Ja vielleicht hatte er über die Kunst des erstern um so viel tiefer nachgedacht, weil er so viel weniger Genie dazu hatte. Wenigstens ist jedes Wort, das er dem Hamlet, wenn er die Komödianten abrichtet, in den Mund legt, eine goldene Regel für alle Schauspieler, denen an einem vernünftigen Beifalle gelegen ist. »Ich bitte euch,« läßt er ihn unter andern zu den Komödianten sagen, »sprecht die Rede so, wie ich sie euch vorsagte; die Zunge muß nur eben darüber hinlaufen. Aber wenn ihr mir sie so heraushalset, wie es manche von unsern Schauspielern tun: seht, so wäre mir es eben so lieb gewesen, wenn der Stadtschreier meine Verse gesagt hätte. Auch durchsägt mir mit eurer Hand nicht so sehr die Luft, sondern macht alles hübsch artig; denn mitten in dem Strome, mitten in dem Sturme, mitten, so zu reden, in dem Wirbelwinde der Leidenschaften, müßt ihr noch einen Grad von Mäßigung beobachten, der ihnen das Glatte und Geschmeidige gibt.«

Man spricht so viel von dem Feuer des Schauspielers; man zerstreitet sich so sehr, ob ein Schauspieler zu viel Feuer haben könne. Wenn die, welche es behaupten, zum Beweise anführen, daß ein Schauspieler ja wohl am unrechten Orte heftig, oder wenigstens heftiger sein könne, als es die Umstände erfodern: so haben die, welche es leugnen, Recht zu sagen, [255] daß in solchem Falle der Schauspieler nicht zu viel Feuer, sondern zu wenig Verstand zeige. Überhaupt kömmt es aber wohl darauf an, was wir unter dem Worte Feuer verstehen. Wenn Geschrei und Kontorsionen Feuer sind, so ist es wohl unstreitig, daß der Akteur darin zu weit gehen kann. Besteht aber das Feuer in der Geschwindigkeit und Lebhaftigkeit, mit welcher alle Stücke, die den Akteur ausmachen, das ihrige dazu beitragen, um seinem Spiele den Schein der Wahrheit zu geben: so müßten wir diesen Schein der Wahrheit nicht bis zur äußersten Illusion getrieben zu sehen wünschen, wenn es möglich wäre, daß der Schauspieler allzuviel Feuer in diesem Verstande anwenden könnte. Es kann also auch nicht dieses Feuer sein, dessen Mäßigung Shakespeare, selbst in dem Strome, in dem Sturme, in dem Wirbelwinde der Leidenschaft verlangt: er muß bloß jene Heftigkeit der Stimme und der Bewegungen meinen; und der Grund ist leicht zu finden, warum auch da, wo der Dichter nicht die geringste Mäßigung beobachtet hat, dennoch der Schaupieler sich in beiden Stücken mäßigen müsse. Es gibt wenig Stimmen, die in ihrer äußersten Anstrengung nicht widerwärtig würden; und allzu schnelle, allzu stürmische Bewegungen werden selten edel sein. Gleichwohl sollen weder unsere Augen noch unsere Ohren beleidiget werden; und nur alsdenn, wenn man bei Äußerung der heftigen Leidenschaften alles vermeidet, was diesen oder jenen unangenehm sein könnte, haben sie das Glatte und Geschmeidige, welches ein Hamlet auch noch da von ihnen verlangt, wenn sie den höchsten Eindruck machen, und ihm das Gewissen verstockter Frevler aus dem Schlafe schrecken sollen.

Die Kunst des Schauspielers stehet hier, zwischen den bildenden Künsten und der Poesie, mitten inne. Als sichtbare Malerei muß zwar die Schönheit ihr höchstes Gesetz sein; doch als transitorische Malerei braucht sie ihren Stellungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche die alten Kunstwerke so imponierend macht. Sie darf sich, sie muß sich das Wilde eines Tempesta, das Freche eines Bernini öfters erlauben; es hat bei ihr alle das Ausdrückende, welches ihm eigentümlich ist, ohne das Beleidigende zu haben, das es in den [256] bildenden Künsten durch den permanenten Stand erhält. Nur muß sie nicht allzulang darin verweilen; nur muß sie es durch die vorhergehenden Bewegungen allmählig vorbereiten, und durch die darauf folgenden wiederum in den allgemeinen Ton des Wohlanständigen auflösen; nur muß sie ihm nie alle die Stärke geben, zu der sie der Dichter in seiner Bearbeitung treiben kann. Denn sie ist zwar eine stumme Poesie, aber die sich unmittelbar unsern Augen verständlich machen will; und jeder Sinn will geschmeichelt sein, wenn er die Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen giebet, unverfälscht überliefern soll.

Es könnte leicht sein, daß sich unsere Schauspieler bei der Mäßigung, zu der sie die Kunst auch in den heftigsten Leidenschaften verbindet, in Ansehung des Beifalles, nicht allzuwohl befinden dürften. – Aber welches Beifalles? – Die Galerie ist freilich ein großer Liebhaber des Lärmenden und Tobenden, und selten wird sie ermangeln, eine gute Lunge mit lauten Händen zu erwidern. Auch das deutsche Parterre ist noch ziemlich von diesem Geschmacke, und es gibt Akteurs, die schlau genug von diesem Geschmacke Vorteil zu ziehen wissen. Der Schläfrigste rafft sich, gegen das Ende der Szene, wenn er abgehen soll, zusammen, erhebet auf einmal die Stimme, und überladet die Aktion, ohne zu überlegen, ob der Sinn seiner Rede diese höhere Anstrengung auch erfodere. Nicht selten widerspricht sie sogar der Verfassung, mit der er abgehen soll; aber was tut das ihm? Genug, daß er das Parterre dadurch erinnert hat, aufmerksam auf ihn zu sein, und wenn es die Güte haben will, ihm nachzuklatschen. Nachzischen sollte es ihm! Doch leider ist es teils nicht Kenner genug, teils zu gutherzig, und nimmt die Begierde, ihm gefallen zu wollen, für die Tat.

Ich getraue mich nicht, von der Aktion der übrigen Schauspieler in diesem Stücke etwas zu sagen. Wenn sie nur immer bemüht sein müssen, Fehler zu bemänteln, und das Mittelmäßige geltend zu machen: so kann auch der Beste nicht anders, als in einem sehr zweideutigen Lichte erscheinen. Wenn wir ihn auch den Verdruß, den uns der Dichter verursacht, nicht mit entgelten lassen, so sind wir doch nicht aufgeräumt [257] genug, ihm alle die Gerechtigkeit zu erweisen, die er verdienet.

Den Beschluß des ersten Abends machte der Triumph der vergangenen Zeit, ein Lustspiel in einem Aufzuge, nach dem Französischen des le Grand. Es ist eines von den drei kleinen Stücken, welche le Grand unter dem allgemeinen Titel, der Triumph der Zeit, im Jahr 1724 auf die französische Bühne brachte, nachdem er den Stoff desselben, bereits einige Jahre vorher, unter der Aufschrift, die lächerlichen Verliebten, behandelt, aber wenig Beifall damit erhalten hatte. Der Einfall, der dabei zum Grunde liegt, ist drollig genug, und einige Situationen sind sehr lächerlich. Nur ist das Lächerliche von der Art, wie es sich mehr für eine satyrische Erzählung, als auf die Bühne schickt. Der Sieg der Zeit über Schönheit und Jugend macht eine traurige Idee; die Einbildung eines sechszigjährigen Gecks und einer eben so alten Närrin, daß die Zeit nur über ihre Reize keine Gewalt sollte gehabt haben, ist zwar lächerlich; aber diesen Geck und diese Närrin selbst zu sehen, ist ekelhafter, als lächerlich.

Sechstes Stück

Den 19ten Mai, 1767


Noch habe ich der Anreden an die Zuschauer, vor und nach dem großen Stücke des ersten Abends, nicht gedacht. Sie schreiben sich von einem Dichter her, der es mehr als irgend ein anderer versteht, tiefsinnigen Verstand mit Witz aufzuheitern, und nachdenklichem Ernste die gefällige Miene des Scherzes zu geben. Womit könnte ich diese Blätter besser auszieren, als wenn ich sie meinen Lesern ganz mitteile? Hier sind sie. Sie bedürfen keines Kommentars. Ich wünsche nur, daß manches darin nicht in den Wind gesagt sei!

Sie wurden beide ungemein wohl, die erstere mit alle dem Anstande und der Würde, und die andere mit alle der Wärme und Feinheit und einschmeichelnden Verbindlichkeit gesprochen, die der besondere Inhalt einer jeden erfoderte.

[258]
Prolog
(Gesprochen von Madame Löwen)
Ihr Freunde, denen hier das mannichfache Spiel
Des Menschen, in der Kunst der Nachahmung gefiel:
Ihr, die ihr gerne weint, ihr weichen, bessern Seelen,
Wie schön, wie edel ist die Lust, sich so zu quälen;
Wenn bald die süße Trän', indem das Herz erweicht,
In Zärtlichkeit zerschmilzt, still von den Wangen schleicht,
Bald die bestürmte Seel', in jeder Nerv' erschüttert,
Im Leiden Wollust fühlt, und mit Vergnügen zittert!
O sagt, ist diese Kunst, die so eur Herz erschmelzt,
Der Leidenschaften Strom so durch eur Inners wälzt,
Vergnügend, wenn sie rührt, entzückend, wenn sie schrecket,
Zu Mitleid, Menschenlieb', und Edelmut erwecket,
Die Sittenbilderin, die jede Tugend lehrt,
Ist die nicht eurer Gunst, und eurer Pflege wert?
Die Fürsicht sendet sie mitleidig auf die Erde,
Zum Besten des Barbars, damit er menschlich werde;
Weiht sie, die Lehrerin der Könige zu sein,
Mit Würde, mit Genie, mit Feur vom Himmel ein;
Heißt sie, mit ihrer Macht, durch Tränen zu ergötzen,
Das stumpfeste Gefühl der Menschenliebe wetzen;
Durch süße Herzensangst, und angenehmes Graun
Die Bosheit bändigen, und an den Seelen baun;
Wohltätig für den Staat, den Wütenden, den Wilden,
Zum Menschen, Bürger, Freund, und Patrioten bilden.
Gesetze stärken zwar der Staaten Sicherheit,
Als Ketten an der Hand der Ungerechtigkeit:
Doch deckt noch immer List den Bösen vor dem Richter,
Und Macht wird oft der Schutz erhabner Bösewichter.
Wer rächt die Unschuld dann? Weh dem gedrückten Staat,
Der, statt der Tugend, nichts, als ein Gesetzbuch hat!
Gesetze, nur ein Zaum der offenen Verbrechen,
Gesetze, die man lehrt des Hasses Urteil sprechen,
Wenn ihnen Eigennutz, Stolz und Parteilichkeit
Für eines Solons Geist, den Geist der Drückung leiht!
[259]
Da lernt Bestechung bald, um Strafen zu entgehen,
Das Schwert der Majestät aus ihren Händen drehen:
Da pflanzet Herrschbegier, sich freuend des Verfalls
Der Redlichkeit, den Fuß der Freiheit auf den Hals.
Läßt den, der sie vertritt, in Schimpf und Banden schmachten,
Und das blutschuld'ge Beil der Themis Unschuld schlachten!
Wenn der, den kein Gesetz straft, oder strafen kann,
Der schlaue Bösewicht, der blutige Tyrann,
Wenn der die Unschuld drückt, wer wagt es, sie zu decken?
Den sichert tiefe List, und diesen waffnet Schrecken.
Wer ist ihr Genius, der sich entgegen legt? –
Wer? Sie, die itzt den Dolch, und itzt die Geißel trägt,
Die unerschrockne Kunst, die allen Mißgestalten
Strafloser Torheit wagt den Spiegel vorzuhalten;
Die das Geweb' enthüllt, worin sich List verspinnt,
Und den Tyrannen sagt, daß sie Tyrannen sind;
Die, ohne Menschenfurcht, vor Thronen nicht erblödet,
Und mit des Donners Stimm' ans Herz der Fürsten redet;
Gekrönte Mörder schreckt, den Ehrgeiz nüchtern macht,
Den Heuchler züchtiget, und Toren klüger lacht;
Sie die zum Unterricht die Toten läßt erscheinen,
Die große Kunst, mit der wir lachen, oder weinen.
Sie fand in Griechenland Schutz, Lieb', und Lehrbegier;
In Rom, in Gallien, in Albion, und – hier.
Ihr, Freunde, habt hier oft, wenn ihre Tränen flossen,
Mit edler Weichlichkeit, die euren mit vergossen;
Habt redlich euren Schmerz mit ihrem Schmerz vereint,
Und ihr aus voller Brust den Beifall zugeweint:
Wie sie gehaßt, geliebt, gehoffet, und gescheuet,
Und eurer Menschlichkeit im Leiden euch erfreuet.
Lang hat sie sich umsonst nach Bühnen umgesehn:
In Hamburg fand sie Schutz: hier sei denn ihr Athen!
Hier, in dem Schoß der Ruh, im Schutze weiser Gönner,
Gemutiget durch Lob, vollendet durch den Kenner;
[260]
Hier reifet – ja ich wünsch', ich hoff', ich weissag' es! –
Ein zweiter Roscius, ein zweiter Sophokles,
Der Gräciens Kothurn Germanien erneure:
Und ein Teil dieses Ruhms, ihr Gönner, wird der eure.
O seid desselben wert! Bleibt eurer Güte gleich,
Und denkt, o denkt daran, ganz Deutschland sieht auf euch!
Epilog
(Gesprochen von Madame Hensel)
Seht hier! so standhaft stirbt der überzeugte Christ!
So lieblos hasset der, dem Irrtum nützlich ist,
Der Barbarei bedarf, damit er seine Sache,
Sein Ansehn, seinen Traum, zu Lehren Gottes mache.
Der Geist des Irrtums war Verfolgung und Gewalt,
Wo Blindheit für Verdienst, und Furcht für Andacht galt.
So konnt er sein Gespinst von Lügen, mit den Blitzen
Der Majestät, mit Gift, mit Meuchelmord beschützen.
Wo Überzeugung fehlt, macht Furcht den Mangel gut:
Die Wahrheit überführt, der Irrtum fodert Blut.
Verfolgen muß man die, und mit dem Schwert bekehren,
Die anders Glaubens sind, als die Ismenors lehren.
Und mancher Aladin sieht Staatsklug oder schwach,
Dem schwarzen Blutgericht der heilgen Mörder nach,
Und muß mit seinem Schwert den, welchen Träumer hassen,
Den Freund, den Märtyrer der Wahrheit würgen lassen.
Abscheulichs Meisterstück der Herrschsucht und der List,
Wofür kein Name hart, kein Schimpfwort lieblos ist!
O Lehre, die erlaubt, die Gottheit selbst mißbrauchen,
In ein unschuldig Herz des Hasses Dolch zu tauchen,
Dich, die ihr Blutpanier oft über Leichen trug,
Dich, Greuel, zu verschmähn, wer leiht mir einen Fluch!
Ihr Freund', in deren Brust der Menschheit edle Stimme
Laut für die Heldin sprach, als Sie dem Priester Grimme
[261]
Ein schuldlos Opfer ward, und für die Wahrheit sank
Habt Dank für dies Gefühl, für jede Träne Dank!
Wer irrt, verdient nicht Zucht des Hasses oder Spottes:
Was Menschen hassen lehrt, ist keine Lehre Gottes!
Ach! liebt die Irrenden, die ohne Bosheit blind,
Zwar Schwächere vielleicht, doch immer Menschen sind.
Belehret, duldet sie; und zwingt nicht die zu Tränen,
Die sonst kein Vorwurf trifft, als daß sie anders wähnen!
Rechtschaffen ist der Mann, den, seinem Glauben treu,
Nichts zur Verstellung zwingt, zu böser Heuchelei;
Der für die Wahrheit glüht, und, nie durch Furcht gezügelt,
Sie freudig, wie Olint, mit seinem Blut versiegelt.
Solch Beispiel, edle Freund', ist eures Beifalls wert:
O wohl uns! hätten wir, was Cronegk schön gelehrt,
Gedanken, die ihn selbst so sehr veredelt haben,
Durch unsre Vorstellung tief in eur Herz gegraben!
Des Dichters Leben war schön, wie sein Nachruhm ist;
Er war, und – o verzeiht die Trän! – und starb ein Christ.
Ließ sein vortrefflich Herz der Nachwelt in Gedichten,
Um sie – was kann man mehr? – noch tot zu unterrichten.
Versaget, hat euch itzt Sophronia gerührt,
Denn seiner Asche nicht, was ihr mit Recht gebührt,
Den Seufzer, daß er starb, den Dank für seine Lehre,
Und – ach! den traurigen Tribut von einer Zähre.
Uns aber, edle Freund', ermuntre Gütigkeit;
Und hätten wir gefehlt, so tadelt; doch verzeiht.
Verzeihung mutiget zu edelerm Erkühnen,
Und feiner Tadel lehrt, das höchste Lob verdienen.
Bedenkt, daß unter uns die Kunst nur kaum beginnt,
In welcher tausend Quins, für einen Garrick sind;
Erwartet nicht zu viel, damit wir immer steigen,
Und – doch nur euch gebührt zu richten, uns zu schweigen.
[262]
Siebendes Stück

Den 22sten Mai, 1767


Der Prolog zeiget das Schauspiel in seiner höchsten Würde, indem er es als das Supplement der Gesetze betrachten läßt. Es gibt Dinge in dem sittlichen Betragen des Menschen, welche, in Ansehung ihres unmittelbaren Einflusses auf das Wohl der Gesellschaft, zu unbeträchtlich, und in sich selbst zu veränderlich sind, als daß sie wert oder fähig wären, unter der eigentlichen Aufsicht des Gesetzes zu stehen. Es gibt wiederum andere, gegen die alle Kraft der Legislation zu kurz fällt; die in ihren Triebfedern so unbegreiflich, in sich selbst so ungeheuer, in ihren Folgen so unermeßlich sind, daß sie entweder der Ahndung der Gesetze ganz entgehen, oder doch unmöglich nach Verdienst geahndet werden können. Ich will es nicht unternehmen, auf die erstern, als auf Gattungen des Lächerlichen, die Komödie; und auf die andern, als auf außerordentliche Erscheinungen in dem Reiche der Sitten, welche die Vernunft in Erstaunen, und das Herz in Tumult setzen, die Tragödie einzuschränken. Das Genie lacht über alle die Grenzscheidungen der Kritik. Aber so viel ist doch unstreitig, daß das Schauspiel überhaupt seinen Vorwurf entweder diesseits oder jenseits der Grenzen des Gesetzes wählet, und die eigentlichen Gegenstände desselben nur in so fern behandelt, als sie sich entweder in das Lächerliche verlieren, oder bis in das Abscheuliche verbreiten.

Der Epilog verweilet bei einer von den Hauptlehren, auf welche ein Teil der Fabel und Charaktere des Trauerspiels mit abzwecken. Es war zwar von dem Hrn. von Cronegk ein wenig unüberlegt, in einem Stücke, dessen Stoff aus den unglücklichen Zeiten der Kreuzzüge genommen ist, die Toleranz predigen, und die Abscheulichkeiten des Geistes der Verfolgung an den Bekennern der mahomedanischen Religion zeigen zu wollen. Denn diese Kreuzzüge selbst, die in ihrer Anlage ein politischer Kunstgriff der Päbste waren, wurden in ihrer Ausführung die unmenschlichsten Verfolgungen, deren sich der christliche Aberglaube jemals schuldig gemacht hat; die meisten und blutgierigsten Ismenors [263] hatte damals die wahre Religion; und einzelne Personen, die eine Moschee beraubet haben, zur Strafe ziehen, kömmt das wohl gegen die unselige Raserei, welche das rechtgläubige Europa entvölkerte, um das ungläubige Asien zu verwüsten? Doch was der Tragicus in seinem Werke sehr unschicklich angebracht hat, das konnte der Dichter des Epilogs gar wohl auffassen. Menschlichkeit und Sanftmut verdienen bei jeder Gelegenheit empfohlen zu werden, und kein Anlaß dazu kann so entfernt sein, den wenigstens unser Herz nicht sehr natürlich und dringend finden sollte.

Übrigens stimme ich mit Vergnügen dem rührenden Lobe bei, welches der Dichter dem seligen Cronegk erteilet. Aber ich werde mich schwerlich bereden lassen, daß er mit mir, über den poetischen Wert des kritisierten Stückes, nicht ebenfalls einig sein sollte. Ich bin sehr betroffen gewesen, als man mich versichert, daß ich verschiedene von meinen Lesern durch mein unverhohlnes Urteil unwillig gemacht hätte. Wenn ihnen bescheidene Freiheit, bei der sich durchaus keine Nebenabsichten denken lassen, mißfällt, so laufe ich Gefahr, sie noch oft unwillig zu machen. Ich habe gar nicht die Absicht gehabt, ihnen die Lesung eines Dichters zu verleiden, den ungekünstelter Witz, viel feine Empfindung und die lauterste Moral empfehlen. Diese Eigenschaften werden ihn jederzeit schätzbar machen, ob man ihm schon andere absprechen muß, zu denen er entweder gar keine Anlage hatte, oder die zu ihrer Reife gewisse Jahre erfordern, weit unter welchen er starb. Sein Codrus ward von den Verfassern der Bibliothek der schönen Wissenschaften gekrönet, aber wahrlich nicht als ein gutes Stück, sondern als das beste von denen, die damals um den Preis stritten. Mein Urteil nimmt ihm also keine Ehre, die ihm die Kritik damals erteilet. Wenn Hinkende um die Wette laufen, so bleibt der, welcher von ihnen zuerst an das Ziel kömmt, doch noch ein Hinkender.

Eine Stelle in dem Epilog ist einer Mißdeutung ausgesetzt gewesen, von der sie gerettet zu werden verdienet. Der Dichter sagt:


[264]
»Bedenkt, daß unter uns die Kunst nur kaum beginnt,
In welcher tausend Quins, für einen Garrick sind.«

Quin, habe ich darwider erinnern hören, ist kein schlechter Schauspieler gewesen. – Nein, gewiß nicht; er war Thomsons besonderer Freund, und die Freundschaft, in der ein Schauspieler mit einem Dichter, wie Thomson, gestanden, wird bei der Nachwelt immer ein gutes Vorurteil für seine Kunst erwecken. Auch hat Quin noch mehr, als dieses Vorurteil für sich: man weiß, daß er in der Tragödie mit vieler Würde gespielet; daß er besonders der erhabenen Sprache des Milton Genüge zu leisten gewußt; daß er, im Komischen, die Rolle des Falstaff zu ihrer größten Vollkommenheit gebracht. Doch alles dieses macht ihn zu keinem Garrick; und das Mißverständnis liegt bloß darin, daß man annimmt, der Dichter habe diesem allgemeinen und außerordentlichen Schauspieler einen schlechten, und für schlecht durchgängig erkannten, entgegen setzen wollen. Quin soll hier einen von der gewöhnlichen Sorte bedeuten, wie man sie alle Tage sieht; einen Mann, der überhaupt seine Sache so gut wegmacht, daß man mit ihm zufrieden ist; der auch diesen und jenen Charakter ganz vortrefflich spielet, so wie ihm seine Figur, seine Stimme, sein Temperament dabei zu Hülfe kommen. So ein Mann ist sehr brauchbar, und kann mit allem Rechte ein guter Schauspieler heißen; aber wie viel fehlt ihm noch, um der Proteus in seiner Kunst zu sein, für den das einstimmige Gerücht schon längst den Garrick erkläret hat. Ein solcher Quin machte, ohne Zweifel, den König im Hamlet, als Thomas Jones und Rebhuhn in der Komödie waren; 2 und der Rebhuhne gibt es mehrere, die nicht einen Augenblick anstehen, ihn einem Garrick weit vorzuziehen. »Was? sagen sie, Garrick der größte Akteur? Er schien ja nicht über das Gespenst erschrocken, sondern er war es. Was ist das für eine Kunst, über ein Gespenst zu erschrecken? Gewiß und wahrhaftig, wenn wir den Geist gesehen hätten, so würden wir eben so ausgesehen, und eben das getan haben,[265] was er tat. Der andere hingegen, der König, schien wohl auch, etwas gerührt zu sein, aber als ein guter Akteur gab er sich doch alle mögliche Mühe, es zu verbergen. Zu dem sprach er alle Worte so deutlich aus, und redete noch einmal so laut, als jener kleine unansehnliche Mann, aus dem ihr so ein Aufhebens macht!«

Bei den Engländern hat jedes neue Stück seinen Prolog und Epilog, den entweder der Verfasser selbst, oder ein Freund desselben, abfasset. Wozu die Alten den Prolog brauchten, den Zuhörer von verschiedenen Dingen zu unterrichten, die zu einem geschwindern Verständnisse der zum Grunde liegenden Geschichte des Stückes dienen, dazu brauchen sie ihn zwar nicht. Aber er ist darum doch nicht ohne Nutzen. Sie wissen hunderterlei darin zu sagen, was das Auditorium für den Dichter, oder für den von ihm bearbeiteten Stoff einnehmen, und unbilligen Kritiken, sowohl über ihn als über die Schauspieler, vorbauen kann. Noch weniger bedienen sie sich des Epilogs, so wie sich wohl Plautus dessen manchmal bedienet; um die völlige Auflösung des Stücks, die in dem fünften Akte nicht Raum hatte, darin erzählen zu lassen. Sondern sie machen ihn zu einer Art von Nutzanwendung, voll guter Lehren, voll feiner Bemerkungen über die geschilderten Sitten, und über die Kunst, mit der sie geschildert worden; und das alles in dem schnurrigsten, launigsten Tone. Diesen Ton ändern sie auch nicht einmal gern bei dem Trauerspiele; und es ist gar nichts ungewöhnliches, daß nach dem blutigsten und rührendsten, die Satyre ein so lautes Gelächter aufschlägt, und der Witz so mutwillig wird, daß es scheinet, es sei die ausdrückliche Absicht, mit allen Eindrücken des Guten ein Gespötte zu treiben. Es ist bekannt, wie sehr Thomson wider diese Narrenschellen, mit der man der Melpomene nachklingelt, geeifert hat. Wenn ich daher wünschte, daß auch bei uns neue Originalstücke, nicht ganz ohne Einführung und Empfehlung, vor das Publikum gebracht würden, so versteht es sich von selbst, daß bei dem Trauerspiele der Ton des Epilogs unserm deutschen Ernste angemessener sein müßte. Nach dem Lustspiele könnte er immer so burlesk sein, als er wollte. [266] Dryden ist es, der bei den Engländern Meisterstücke von dieser Art gemacht hat, die noch itzt mit dem größten Vergnügen gelesen werden, nachdem die Spiele selbst, zu welchen er sie verfertiget, zum Teil längst vergessen sind. Hamburg hätte einen deutschen Dryden in der Nähe; und ich brauche ihn nicht noch einmal zu bezeichnen, wer von unsern Dichtern Moral und Kritik mit attischem Salze zu würzen, so gut als der Engländer verstehen würde.

Achtes Stück

Den 26sten Mai, 1767


Die Vorstellungen des ersten Abends, wurden den zweiten wiederholt.

Den dritten Abend (Freitags, den 24sten v. M.) ward Melanide aufgeführet. Dieses Stück des Nivelle de la Chaussee ist bekannt. Es ist von der rührenden Gattung, der man den spöttischen Beinamen, der Weinerlichen, gegeben. Wenn weinerlich heißt, was uns die Tränen nahe bringt, wobei wir nicht übel Lust hätten zu weinen, so sind verschiedene Stücke von dieser Gattung etwas mehr, als weinerlich; sie kosten einer empfindlichen Seele Ströme von Tränen; und der gemeine Praß französischer Trauerspiele verdienet, in Vergleichung ihrer, allein weinerlich genannt zu werden. Denn eben bringen sie es ungefähr so weit, daß uns wird, als ob wir hätten weinen können, wenn der Dichter seine Kunst besser verstanden hätte.

Melanide ist kein Meisterstück von dieser Gattung; aber man sieht es doch immer mit Vergnügen. Es hat sich, selbst auf dem französischen Theater, erhalten, auf welchem es im Jahre 1741 zuerst gespielt ward. Der Stoff, sagt man, sei aus einem Roman, Mademoiselle de Bontems betitelt, entlehnet. Ich kenne diesen Roman nicht; aber wenn auch die Situation der zweiten Szene des dritten Akts aus ihm genommen ist, so muß ich einen Unbekannten, anstatt des de la Chaussee, um das beneiden, weswegen ich wohl, eine Melanide gemacht zu haben, wünschte.

[267] Die Übersetzung war nicht schlecht; sie ist unendlich besser, als eine italienische, die in dem zweiten Bande der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Ich muß es zum Troste des größten Haufens unserer Übersetzer anführen, daß ihre italienischen Mitbrüder meistenteils noch weit elender sind, als sie. Gute Verse indes in gute Prosa übersetzen, erfodert etwas mehr, als Genauigkeit; oder ich möchte wohl sagen, etwas anders. Allzu pünktliche Treue macht jede Übersetzung steif, weil unmöglich alles, was in der einen Sprache natürlich ist, es auch in der andern sein kann. Aber eine Übersetzung aus Versen macht sie zugleich wäßrig und schielend. Denn wo ist der glückliche Versificateur, den nie das Sylbenmaß, nie der Reim, hier etwas mehr oder weniger, dort etwas stärker oder schwächer, früher oder später, sagen ließe, als er es, frei von diesem Zwange, würde gesagt haben? Wenn nun der Übersetzer dieses nicht zu unterscheiden weiß; wenn er nicht Geschmack, nicht Mut genug hat, hier einen Nebenbegriff wegzulassen, da statt der Metapher den eigentlichen Ausdruck zu setzen, dort eine Ellipsis zu ergänzen oder anzubringen: so wird er uns alle Nachlässigkeiten seines Originals überliefert, und ihnen nichts als die Entschuldigung benommen haben, welche die Schwierigkeiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der Grundsprache für sie machen.

Die Rolle der Melanide ward von einer Aktrice gespielet, die nach einer neunjährigen Entfernung vom Theater, aufs neue in allen den Vollkommenheiten wieder erschien, die Kenner und Nichtkenner, mit und ohne Einsicht, ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten. Madame Löwen verbindet mit dem silbernen Tone der sonoresten lieblichsten Stimme, mit dem offensten, ruhigsten und gleichwohl ausdruckfähigsten Gesichte von der Welt, das feinste schnellste Gefühl, die sicherste wärmste Empfindung, die sich, zwar nicht immer so lebhaft, als es viele wünschen, doch allezeit mit Anstand und Würde äußert. In ihrer Deklamation accentuiert sie richtig, aber nicht merklich. Der gänzliche Mangel intensiver Accente verursacht Monotonie; aber ohne ihr diese vorwerfen zu können, weiß sie dem sparsamern Gebrauche [268] derselben durch eine andere Feinheit zu Hülfe zu kommen, von der, leider! sehr viele Akteurs ganz und gar nichts wissen. Ich will mich erklären. Man weiß, was in der Musik das Mouvement heißt; nicht der Takt, sondern der Grad der Langsamkeit oder Schnelligkeit, mit welchen der Takt gespielt wird. Dieses Mouvement ist durch das ganze Stück einförmig; in dem nämlichen Maße der Geschwindigkeit, in welchem die ersten Takte gespielet worden, müssen sie alle, bis zu den letzten, gespielet werden. Diese Einförmigkeit ist in der Musik notwendig, weil ein Stück nur einerlei ausdrücken kann, und ohne dieselbe gar keine Verbindung verschiedener Instrumente und Stimmen möglich sein würde. Mit der Deklamation hingegen ist es ganz anders. Wenn wir einen Perioden von mehrern Gliedern, als ein besonderes musikalisches Stück annehmen, und die Glieder als die Takte desselben betrachten, so müssen diese Glieder, auch alsdenn, wenn sie vollkommen gleicher Länge wären, und aus der nämlichen Anzahl von Sylben des nämlichen Zeitmaßes bestünden, dennoch nie mit einerlei Geschwindigkeit gesprochen werden. Denn da sie, weder in Absicht auf die Deutlichkeit und den Nachdruck, noch in Rücksicht auf den in dem ganzen Perioden herrschenden Affekt, von einerlei Wert und Belang sein können: so ist es der Natur gemäß, daß die Stimme die geringfügigern schnell herausstößt, flüchtig und nachlässig darüber hinschlupft; auf den beträchtlichern aber verweilet, sie dehnet und schleift, und jedes Wort, und in jedem Worte jeden Buchstaben, uns zuzählet. Die Grade dieser Verschiedenheit sind unendlich; und ob sie sich schon durch keine künstliche Zeitteilchen bestimmen und gegen einander abmessen lassen, so werden sie doch auch von dem ungelehrtesten Ohre unterschieden, so wie von der ungelehrtesten Zunge beobachtet, wenn die Rede aus einem durchdrungenen Herzen, und nicht bloß aus einem fertigen Gedächtnisse fließet. Die Wirkung ist unglaublich, die dieses beständig abwechselnde Mouvement der Stimme hat; und werden vollends alle Abänderungen des Tones, nicht bloß in Ansehung der Höhe und Tiefe, der Stärke und Schwäche, sondern auch des Rauhen und Sanften, [269] des Schneidenden und Runden, sogar des Holprichten und Geschmeidigen, an den rechten Stellen, damit verbunden: so entstehet jene natürliche Musik, gegen die sich unfehlbar unser Herz eröffnet, weil es empfindet, daß sie aus dem Herzen entspringt, und die Kunst nur in so fern daran Anteil hat, als auch die Kunst zur Natur werden kann. Und in dieser Musik, sage ich, ist die Aktrice, von welcher ich spreche, ganz vortrefflich, und ihr niemand zu vergleichen, als Herr Eckhof, der aber, indem er die intensiven Accente auf einzelne Worte, worauf sie sich weniger befleißiget, noch hinzufüget, bloß dadurch seiner Deklamation eine höhere Vollkommenheit zu geben im Stande ist. Doch vielleicht hat sie auch diese in ihrer Gewalt; und ich urteile bloß so von ihr, weil ich sie noch in keinen Rollen gesehen, in welchen sich das Rührende zum Pathetischen erhebet. Ich erwarte sie in dem Trauerspiele, und fahre indes in der Geschichte unsers Theaters fort.

Den vierten Abend (Montags, den 27ten v. M.) ward ein neues deutsches Original, betitelt Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe, aufgeführet. Es hat den Hrn. Heufeld in Wien zum Verfasser, der uns sagt, daß bereits zwei andere Stücke von ihm, den Beifall des dortigen Publikums erhalten hätten. Ich kenne sie nicht; aber nach dem gegenwärtigen zu urteilen, müssen sie nicht ganz schlecht sein.

Die Hauptzüge der Fabel und der größte Teil der Situationen, sind aus der Neuen Heloise des Rousseau entlehnet. Ich wünschte, daß Hr. Heufeld, ehe er zu Werke geschritten, die Beurteilung dieses Romans in den Briefen, die neueste Literatur betreffend, 3 gelesen und studiert hätte. Er würde mit einer sicherern Einsicht in die Schönheiten seines Originals gearbeitet haben, und vielleicht in vielen Stücken glücklicher gewesen sein.

Der Wert der Neuen Heloise ist, von der Seite der Erfindung, sehr gering, und das Beste darin ganz und gar keiner dramatischen Bearbeitung fähig. Die Situationen sind alltäglich oder unnatürlich, und die wenig guten so weit von [270] einander entfernt, daß sie sich, ohne Gewaltsamkeit, in den engen Raum eines Schauspiels von drei Aufzügen nicht zwingen lassen. Die Geschichte konnte sich auf der Bühne unmöglich so schließen, wie sie sich in dem Romane nicht sowohl schließt, als verlieret. Der Liebhaber der Julie mußte hier glücklich werden, und Hr. Heufeld läßt ihn glücklich werden. Er bekömmt seine Schülerin. Aber hat Hr. Heufeld auch überlegt, daß seine Julie nun gar nicht mehr die Julie des Rousseau ist? Doch Julie des Rousseau, oder nicht: wem liegt daran? Wenn sie nur sonst eine Person ist, die interessieret. Aber eben das ist sie nicht; sie ist nichts, als eine kleine verliebte Närrin, die manchmal artig genug schwatzet, wenn sich Herr Heufeld auf eine schöne Stelle im Rousseau besinnet. »Julie, sagt der Kunstrichter, dessen Urteils ich erwähnet habe, spielt in der Geschichte eine zweifache Rolle. Sie ist Anfangs ein schwaches und sogar etwas verführerisches Mädchen, und wird zuletzt ein Frauenzimmer, das, als ein Muster der Tugend, alle, die man jemals erdichtet hat, weit übertrifft.« Dieses letztere wird sie durch ihren Gehorsam, durch die Aufopferung ihrer Liebe, durch die Gewalt, die sie über ihr Herz gewinnet. Wenn nun aber von allen diesen in dem Stücke nichts zu hören und zu sehen ist: was bleibt von ihr übrig, als, wie gesagt, das schwache verführerische Mädchen, das Tugend und Weisheit auf der Zunge, und Torheit im Herzen hat?

Den St. Preux des Rousseau hat Herr Heufeld in einen Siegmund umgetauft. Der Name Siegmund schmecket bei uns ziemlich nach dem Domestiquen. Ich wünschte, daß unsere dramatischen Dichter auch in solchen Kleinigkeiten ein wenig gesuchterer, und auf den Ton der großen Welt aufmerksamer sein wollten. – St. Preux spielt schon bei dem Rousseau eine sehr abgeschmackte Figur. »Sie nennen ihn alle, sagt der angeführte Kunstrichter, den Philosophen. Den Philosophen! Ich möchte wissen, was der junge Mensch in der ganzen Geschichte spricht oder tut, dadurch er diesen Namen verdienet? In meinen Augen ist er der albernste Mensch von der Welt, der in allgemeinen Ausrufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel erhebt, und nicht den [271] geringsten Funken davon besitzet. In seiner Liebe ist er abenteuerlich, schwülstig, ausgelassen, und in seinem übrigen Tun und Lassen findet sich nicht die geringste Spur von Überlegung. Er setzet das stolzeste Zutrauen in seine Vernunft, und ist dennoch nicht entschlossen genug, den kleinsten Schritt zu tun, ohne von seiner Schülerin, oder von seinem Freunde an der Hand geführet zu werden.« – Aber wie tief ist der deutsche Siegmund noch unter diesem St. Preux!

Neuntes Stück

Den 29sten Mai, 1767


In dem Romane hat St. Preux doch noch dann und wann Gelegenheit, seinen aufgeklärten Verstand zu zeigen, und die tätige Rolle des rechtschaffenen Mannes zu spielen. Aber Siegmund in der Komödie ist weiter nichts, als ein kleiner eingebildeter Pedant, der aus seiner Schwachheit eine Tugend macht, und sich sehr beleidiget findet, daß man seinem zärtlichen Herzchen nicht durchgängig will Gerechtigkeit widerfahren lassen. Seine ganze Wirksamkeit läuft auf ein Paar mächtige Torheiten heraus. Das Bürschchen will sich schlagen und erstechen.

Der Verfasser hat es selbst empfunden, daß sein Siegmund nicht in genugsamer Handlung erscheinet; aber er glaubt, diesem Einwurfe dadurch vorzubeugen, wenn er zu erwägen gibt: »daß ein Mensch seines gleichen, in einer Zeit von vier und zwanzig Stunden, nicht wie ein König, dem alle Augenblicke Gelegenheiten dazu darbieten, große Handlungen verrichten könne. Man müsse zum voraus annehmen, daß er ein rechtschaffener Mann sei, wie er beschrieben werde; und genug, daß Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, lauter rechtschaffene Leute, ihn dafür erkannt hätten.«

Es ist recht wohl gehandelt, wenn man, im gemeinen Leben, in den Charakter anderer kein beleidigendes Mißtrauen setzt; wenn man dem Zeugnisse, das sich ehrliche Leute unter einander erteilen, allen Glauben beimißt. Aber darf uns der dramatische Dichter mit dieser Regel der Billigkeit abspeisen? [272] Gewiß nicht; ob er sich schon sein Geschäft dadurch sehr leicht machen könnte. Wir wollen es auf der Bühne sehen, wer die Menschen sind, und können es nur aus ihren Taten sehen. Das Gute, das wir ihnen, bloß auf anderer Wort, zutrauen sollen, kann uns unmöglich für sie interessieren; es läßt uns völlig gleichgültig, und wenn wir nie die geringste eigene Erfahrung davon erhalten, so hat es sogar eine üble Rückwirkung auf diejenigen, auf deren Treu und Glauben wir es einzig und allein annehmen sollen. Weit gefehlt also, daß wir deswegen, weil Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, den Siegmund für den vortrefflichsten, vollkommensten jungen Menschen erklären, ihn auch dafür zu erkennen bereit sein sollten: so fangen wir vielmehr an, in die Einsicht aller dieser Personen ein Mißtrauen zu setzen, wenn wir nie mit unsern eigenen Augen etwas sehen, was ihre günstige Meinung rechtfertiget. Es ist wahr, in vier und zwanzig Stunden kann eine Privatperson nicht viel große Handlungen verrichten. Aber wer verlangt denn große? Auch in den kleinsten kann sich der Charakter schildern; und nur die, welche das meiste Licht auf ihn werfen, sind, nach der poetischen Schätzung, die größten. Wie traf es sich denn indes, daß vier und zwanzig Stunden Zeit genug waren, dem Siegmund zu den zwei äußersten Narrheiten Gelegenheit zu schaffen, die einem Menschen in seinen Umständen nur immer einfallen können? Die Gelegenheiten sind auch darnach; könnte der Verfasser antworten: doch das wird er wohl nicht. Sie möchten aber noch so natürlich herbeigeführet, noch so fein behandelt sein: so würden darum die Narrheiten selbst, die wir ihn zu begehen im Begriffe sehen, ihre üble Wirkung auf unsere Idee von dem jungen stürmischen Scheinweisen, nicht verlieren. Daß er schlecht handele, sehen wir: daß er gut handeln könne, hören wir nur, und nicht einmal in Beispielen, sondern in den allgemeinsten schwankendsten Ausdrücken.

Die Härte, mit der Julien von ihrem Vater begegnet wird, da sie einen andern von ihm zum Gemahle nehmen soll, als den ihr Herz gewählet hatte, wird beim Rousseau nur kaum berührt. Herr Heufeld hatte den Mut, uns eine ganze Szene [273] davon zu zeigen. Ich liebe es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er läßt den Vater die Tochter zu Boden stoßen. Ich war um die Ausführung dieser Aktion besorgt. Aber vergebens; unsere Schauspieler hatten sie so wohl konzertieret; es ward, von Seiten des Vaters und der Tochter, so viel Anstand dabei beobachtet, und dieser Anstand tat der Wahrheit so wenig Abbruch, daß ich mir gestehen mußte, diesen Akteurs könne man so etwas anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld verlangt, daß, wenn Julie von ihrer Mutter aufgehoben wird, sich in ihrem Gesichte Blut zeigen soll. Es kann ihm lieb sein, daß dieses unterlassen worden. Die Pantomime muß nie bis zu dem Ekelhaften getrieben werden. Gut, wenn in solchen Fällen die erhitzte Einbildungskraft Blut zu sehen glaubt; aber das Auge muß es nicht wirklich sehen.

Die darauf folgende Szene ist die hervorragendste des ganzen Stückes. Sie gehört dem Rousseau. Ich weiß selbst nicht, welcher Unwille sich in die Empfindung des Pathetischen mischet, wenn wir einen Vater seine Tochter fußfällig um etwas bitten sehen. Es beleidiget, es kränket uns, denjenigen so erniedriget zu erblicken, dem die Natur so heilige Rechte übertragen hat. Dem Rousseau muß man diesen außerordentlichen Hebel verzeihen; die Masse ist zu groß, die er in Bewegung setzen soll. Da keine Gründe bei Julien anschlagen wollen; da ihr Herz in der Verfassung ist, daß es sich durch die äußerste Strenge in seinem Entschlusse nur noch mehr befestigen würde: so konnte sie nur durch die plötzliche Überraschung der unerwartesten Begegnung erschüttert, und in einer Art von Betäubung umgelenket werden. Die Geliebte sollte sich in die Tochter, verführerische Zärtlichkeit in blinden Gehorsam verwandeln; da Rousseau kein Mittel sahe, der Natur diese Veränderung abzugewinnen, so mußte er sich entschließen, ihr sie abzunötigen, oder, wenn man will, abzustehlen. Auf keine andere Weise konnten wir es Julien in der Folge vergeben, daß sie den inbrünstigsten Liebhaber dem kältesten Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da diese Aufopferung in der Komödie nicht erfolget; da es nicht die Tochter, sondern der Vater ist, der endlich nachgibt: hätte Herr Heufeld die Wendung nicht ein wenig lindern [274] sollen, durch die Rousseau bloß das Befremdliche jener Aufopferung rechtfertigen, und das Ungewöhnliche derselben vor dem Vorwurfe des Unnatürlichen in Sicherheit setzen wollte? – Doch Kritik, und kein Ende! Wenn Herr Heufeld das getan hätte, so würden wir um eine Szene gekommen sein, die, wenn sie schon nicht so recht in das Ganze passen will, doch sehr kräftig ist; er würde uns ein hohes Licht in seiner Kopie vermalt haben, von dem man zwar nicht eigentlich weiß, wo es herkömmt, das aber eine treffliche Wirkung tut. Die Art, mit der Herr Eckhof diese Szene ausführte, die Aktion, mit der er einen Teil der grauen Haare vors Auge brachte, bei welchen er die Tochter beschwor; wären es allein wert gewesen, eine kleine Unschicklichkeit zu begehen, die viel leicht niemanden, als dem kalten Kunstrichter, bei Zergliederung des Planes merklich wird.

Das Nachspiel dieses Abends war, der Schatz; die Nachahmung des Plautinschen Trinummus, in welcher der Verfasser alle die komischen Szenen seines Originals in einen Aufzug zu konzentrieren gesucht hat. Er ward sehr wohl gespielt. Die Akteurs alle wußten ihre Rollen mit der Fertigkeit, die zu dem Niedrigkomischen so notwendig erfodert wird. Wenn ein halbschieriger Einfall, eine Unbesonnenheit, ein Wortspiel, langsam und stotternd vorgebracht wird; wenn sich die Personen auf Armseligkeiten, die weiter nichts als den Mund in Falten setzen sollen, noch erst viel besinnen: so ist die Langeweile unvermeidlich. Possen müssen Schlag auf Schlag gesagt werden, und der Zuhörer muß keinen Augenblick Zeit haben, zu untersuchen, wie witzig oder unwitzig sie sind. Es sind keine Frauenzimmer in diesem Stücke; das einzige, welches noch anzubringen gewesen wäre, würde eine frostige Liebhaberin sein; und freilich lieber keines, als so eines. Sonst möchte ich es niemanden raten, sich dieser Besonderheit zu befleißigen. Wir sind zu sehr an die Untermengung beider Geschlechter gewöhnet, als daß wir bei gänzlicher Vermissung des reizendern, nicht etwas Leeres empfinden sollten.

Unter den Italienern hat ehedem Cecchi, und neuerlich unter den Franzosen Destouches, das nämliche Lustspiel des [275] Plautus wieder auf die Bühne gebracht. Sie haben beide große Stücke von fünf Aufzügen daraus gemacht, und sind daher genötiget gewesen, den Plan des Römers mit eignen Erfindungen zu erweitern. Das vom Cecchi heißt, die Mitgift, und wird vom Riccoboni, in seiner Geschichte des italienischen Theaters, als eines von den besten alten Lustspielen desselben empfohlen. Das vom Destouches führt den Titel, der verborgne Schatz, und ward ein einzigesmal, im Jahre 1745, auf der italienischen Bühne zu Paris, und auch dieses einzigemal nicht ganz bis zu Ende, aufgeführet. Es fand keinen Beifall, und ist erst nach dem Tode des Verfassers, und also verschiedene Jahre später, als der deutsche Schatz, im Drucke erschienen. Plautus selbst ist nicht der erste Erfinder dieses so glücklichen, und von mehrern mit so vieler Nacheifrung bearbeiteten Stoffes gewesen; sondern Philemon, bei dem es eben die simple Aufschrift hatte, zu der es im Deutschen wieder zurückgeführet worden. Plautus hatte seine ganz eigne Manier, in Benennung seiner Stücke; und meistenteils nahm er sie von dem allerunerheblichsten Umstande her. Dieses z.E. nennte er Trinummus, den Dreiling; weil der Sykophant einen Dreiling für seine Mühe bekam.

Zehntes Stück

Den 2ten Juni, 1767


Das Stück des fünften Abends (Dienstags, den 28sten April,) war, das unvermutete Hindernis, oder das Hindernis ohne Hindernis, vom Destouches.

Wenn wir die Annales des französischen Theaters nachschlagen, so finden wir, daß die lustigsten Stücke dieses Verfassers, gerade den allerwenigsten Beifall gehabt haben. Weder das gegenwärtige, noch der verborgne Schatz, noch das Gespenst mit der Trommel, noch der poetische Dorfjunker, haben sich darauf erhalten; und sind, selbst in ihrer Neuheit, nur wenigemal aufgeführet worden. Es beruhet sehr viel auf dem Tone, in welchem sich ein Dichter ankündiget, oder in welchem er seine besten Werke verfertiget. Man nimmt stillschweigend [276] an, als ob er eine Verbindung dadurch eingehe, sich von diesem Tone niemals zu entfernen; und wenn er es tut, dünket man sich berechtiget, darüber zu stutzen. Man sucht den Verfasser in dem Verfasser, und glaubt, etwas schlechters zu finden, sobald man nicht das nämliche findet. Destouches hatte in seinem verheirateten Philosophen, in seinem Ruhmredigen, in seinem Verschwender, Muster eines feinern, höhern Komischen gegeben, als man vom Moliere, selbst in seinen ernsthaftesten Stücken, gewohnt war. Sogleich machten die Kunstrichter, die so gern klassifizieren, dieses zu seiner eigentümlichen Sphäre; was bei dem Poeten vielleicht nichts als zufällige Wahl war, erklärten sie für vorzüglichen Hang und herrschende Fähigkeit; was er einmal, zweimal, nicht gewollt hatte, schien er ihnen nicht zu können: und als er es nunmehr wollte, was sieht Kunstrichtern ähnlicher, als daß sie ihm lieber nicht Gerechtigkeit widerfahren ließen, ehe sie ihr voreiliges Urteil änderten? Ich will damit nicht sagen, daß das Niedrigkomische des Destouches mit dem Molierischen von einerlei Güte sei. Es ist wirklich um vieles steifer; der witzige Kopf ist mehr darin zu spüren, als der getreue Maler; seine Narren sind selten von den behäglichen Narren, wie sie aus den Händen der Natur kommen, sondern mehrenteils von der hölzernen Gattung, wie sie die Kunst schnitzelt, und mit Affektation, mit verfehlter Lebensart, mit Pedanterie überladet; sein Schulwitz, sein Masuren, sind daher frostiger als lächerlich. Aber dem ohngeachtet, – und nur dieses wollte ich sagen, – sind seine lustigen Stücke am wahren Komischen so geringhaltig noch nicht, als sie ein verzärtelter Geschmack findet; sie haben Szenen mit unter, die uns aus Herzensgrunde zu lachen machen, und die ihm allein einen ansehnlichen Rang unter den komischen Dichtern versichern könnten.

Hierauf folgte ein neues Lustspiel in einem Aufzuge, betitelt, die neue Agnese.

Madame Gertrude spielte vor den Augen der Welt die fromme Spröde; aber insgeheim war sie die gefällige, feurige Freundin eines gewissen Bernard. Wie glücklich, o wie glücklich machst du mich, Bernard! rief sie einst in der Entzückung, [277] und war von ihrer Tochter behorcht. Morgens darauf fragt das liebe einfältige Mädchen: Aber Mamma, wer ist denn der Bernard, der die Leute glücklich macht? Die Mutter merkte sich verraten, faßte sich aber geschwind. Es ist der Heilige, meine Tochter, den ich mir kürzlich gewählt habe; einer von den größten im Paradiese. Nicht lange, so ward die Tochter mit einem gewissen Hilar bekannt. Das gute Kind fand in seinem Umgange recht viel Vergnügen; Mamma bekömmt Verdacht; Mamma beschleicht das glückliche Paar; und da bekömmt Mamma von dem Töchterchen eben so schöne Seufzer zu hören, als das Töchterchen jüngst von Mamma gehört hatte. Die Mutter ergrimmt, überfällt sie, tobt. Nun, was denn, liebe Mamma? sagt endlich das ruhige Mädchen. Sie haben sich den H. Bernard gewählt; und ich mir den H. Hilar. Warum nicht? – Dieses ist eines von den lehrreichen Märchen, mit welchen das weise Alter des göttlichen Voltaire die junge Welt beschenkte. Favart fand es gerade so erbaulich, als die Fabel zu einer komischen Oper sein muß. Er sahe nichts anstößiges darin, als die Namen der Heiligen, und diesem Anstoße wußte er auszuweichen. Er machte aus Madame Gertrude eine platonische Weise, eine Anhängerin der Lehre des Gabalis; und der H. Bernard ward zu einem Sylphen, der unter dem Namen und in der Gestalt eines guten Bekannten die tugendhafte Frau besucht. Zum Sylphen ward dann auch Hilar, und so weiter. Kurz, es entstand die Operette, Isabelle und Gertrude, oder die vermeinten Sylphen; welche die Grundlage zur neuen Agnese ist. Man hat die Sitten darin den unsrigen näher zu bringen gesucht; man hat sich aller Anständigkeit beflissen; das liebe Mädchen ist von der reizendsten, verehrungswürdigsten Unschuld; und durch das Ganze sind eine Menge gute komische Einfälle verstreuet, die zum Teil dem deutschen Verfasser eigen sind. Ich kann mich in die Veränderungen selbst, die er mit seiner Urschrift gemacht, nicht näher einlassen; aber Personen von Geschmack, welchen diese nicht unbekannt war, wünschten, daß er die Nachbarin, anstatt des Vaters, beibehalten hätte. – Die Rolle der Agnese spielte Mademoiselle Felbrich, ein junges Frauenzimmer, das eine vortreffliche [278] Aktrice verspricht, und daher die beste Aufmunterung verdienet. Alter, Figur, Miene, Stimme, alles kömmt ihr hier zu Statten; und ob sich, bei diesen Naturgaben, in einer solchen Rolle schon vieles von selbst spielet: so muß man ihr doch auch eine Menge Feinheiten zugestehen, die Vorbedacht und Kunst, aber gerade nicht mehr und nicht weniger verrieten, als sich an einer Agnese verraten darf.

Den sechsten Abend (Mittwochs, den 29sten April,) ward die Semiramis des Hrn. von Voltaire aufgeführet.

Dieses Trauerspiel ward im Jahre 1748 auf die französische Bühne gebracht, erhielt großen Beifall, und macht, in der Geschichte dieser Bühne, gewissermaßen Epoche. – Nachdem der Hr. von Voltaire seine Zayre und Alzire, seinen Brutus und Cäsar geliefert hatte, ward er in der Meinung bestärkt, daß die tragischen Dichter seiner Nation die alten Griechen in vielen Stücken weit überträfen. Von uns Franzosen, sagt er, hätten die Griechen eine geschicktere Exposition, und die große Kunst, die Auftritte unter einander so zu verbinden, daß die Szene niemals leer bleibt, und keine Person weder ohne Ursache kömmt noch abgehet, lernen können. Von uns, sagt er, hätten sie lernen können, wie Nebenbuhler und Nebenbuhlerinnen, in witzigen Antithesen, mit einander sprechen; wie der Dichter, mit einer Menge erhabner, glänzender Gedanken, blenden und in Erstaunen setzen müsse. Von uns hätten sie lernen können – O freilich; was ist von den Franzosen nicht alles zu lernen! Hier und da möchte zwar ein Ausländer, der die Alten auch ein wenig gelesen hat, demütig um Erlaubnis bitten, an derer Meinung sein zu dürfen. Er möchte vielleicht einwenden, daß alle diese Vorzüge der Franzosen auf das Wesentliche des Trauerspiels eben keinen großen Einfluß hätten; daß es Schönheiten wären, welche die einfältige Größe der Alten verachtet habe. Doch was hilft es, dem Herrn von Voltaire etwas einzuwenden? Er spricht, und man glaubt. Ein einziges vermißte er bei seiner Bühne; daß die großen Meisterstücke derselben nicht mit der Pracht aufgeführet würden, deren doch die Griechen die kleinen Versuche einer erst sich bildenden Kunst gewürdiget hätten. Das Theater in Paris, ein altes Ballhaus, mit Verzierungen[279] von dem schlechtesten Geschmacke, wo sich in einem schmutzigen Parterre das stehende Volk drängt und stößt, beleidigte ihn mit Recht; und besonders beleidigte ihn die barbarische Gewohnheit, die Zuschauer auf der Bühne zu dulden, wo sie den Akteurs kaum so viel Platz lassen, als zu ihren notwendigsten Bewegungen erforderlich ist. Er war überzeugt, daß bloß dieser Übelstand Frankreich um vieles gebracht habe, was man, bei einem freiern, zu Handlungen bequemern und prächtigern Theater, ohne Zweifel gewagt hätte. Und eine Probe hiervon zu geben, verfertigte er seine Semiramis. Eine Königin, welche die Stände ihres Reichs versammelt, um ihnen ihre Vermählung zu eröffnen; ein Gespenst, das aus seiner Gruft steigt, um Blutschande zu verhindern, und sich an seinem Mörder zu rächen; diese Gruft, in die ein Narr hereingeht, um als ein Verbrecher wieder herauszukommen: das alles war in der Tat für die Franzosen etwas ganz Neues. Es macht so viel Lärmen auf der Bühne, es erfodert so viel Pomp und Verwandlung, als man nur immer in einer Oper gewohnt ist. Der Dichter glaubte das Muster zu einer ganz besondern Gattung gegeben zu haben; und ob er es schon nicht für die französische Bühne, so wie sie war, sondern so wie er sie wünschte, gemacht hatte: so ward es dennoch auf derselben, vor der Hand, so gut gespielet, als es sich ohngefähr spielen ließ. Bei der ersten Vorstellung saßen die Zuschauer noch mit auf dem Theater; und ich hätte wohl ein altvätrisches Gespenst in einem so galanten Zirkel mögen erscheinen sehen. Erst bei den folgenden Vorstellungen ward dieser Unschicklichkeit abgeholfen; die Akteurs machten sich ihre Bühne frei; und was damals nur eine Ausnahme, zum Besten eines so außerordentlichen Stückes, war, ist nach der Zeit die beständige Einrichtung geworden. Aber vornehmlich nur für die Bühne in Paris; für die, wie gesagt, Semiramis in diesem Stocke Epoche macht. In den Provinzen bleibet man noch häufig bei der alten Mode, und will lieber aller Illusion, als dem Vorrechte entsagen, den Zayren und Meropen auf die Schleppe treten zu können.

[280]
Eilftes Stück

Den 5ten Junius, 1767


Die Erscheinung eines Geistes war in einem französischen Trauerspiele eine so kühne Neuheit, und der Dichter, der sie wagte, rechtfertiget sie mit so eignen Gründen, daß es sich der Mühe lohnet, einen Augenblick dabei zu verweilen.

»Man schrie und schrieb von allen Seiten, sagt der Herr von Voltaire, daß man an Gespenster nicht mehr glaube, und daß die Erscheinung der Toten, in den Augen einer erleuchteten Nation, nicht anders als kindisch sein könne. Wie? versetzt er dagegen; das ganze Altertum hätte diese Wunder geglaubt, und es sollte nicht vergönnt sein, sich nach dem Altertume zu richten? Wie? unsere Religion hätte dergleichen außerordentliche Fügungen der Vorsicht geheiliget, und es sollte lächerlich sein, sie zu erneuern?«

Diese Ausrufungen, dünkt mich, sind rhetorischer, als gründlich. Vor allen Dingen wünschte ich, die Religion hier aus dem Spiele zu lassen. In Dingen des Geschmacks und der Kritik, sind Gründe, aus ihr genommen, recht gut, seinen Gegner zum Stillschweigen zu bringen, aber nicht so recht tauglich, ihn zu überzeugen. Die Religion, als Religion, muß hier nichts entscheiden sollen; nur als eine Art von Überlieferung des Altertums, gilt ihr Zeugnis nicht mehr und nicht weniger, als andere Zeugnisse des Altertums gelten. Und so nach hätten wir es auch hier, nur mit dem Altertume zu tun.

Sehr wohl; das ganze Altertum hat Gespenster geglaubt. Die dramatischen Dichter des Altertums hatten also Recht, diesen Glauben zu nutzen; wenn wir bei einem von ihnen wiederkommende Tote aufgeführet finden, so wäre es unbillig, ihm nach unsern bessern Einsichten den Prozeß zu machen. Aber hat darum der neue, diese unsere bessere Einsichten teilende dramatische Dichter, die nämliche Befugnis? Gewiß nicht. – Aber wenn er seine Geschichte in jene leichtgläubigere Zeiten zurücklegt? Auch alsdenn nicht. Denn der dramatische Dichter ist kein Geschichtschreiber; er erzählt nicht, was man ehedem geglaubt, daß es geschehen, sondern er läßt es vor unsern Augen nochmals geschehen; und läßt [281] es nochmals geschehen, nicht der bloßen historischen Wahrheit wegen, sondern in einer ganz andern und höhern Absicht; die historische Wahrheit ist nicht sein Zweck, sondern nur das Mittel zu seinem Zwecke; er will uns täuschen, und durch die Täuschung rühren. Wenn es also wahr ist, daß wir itzt keine Gespenster mehr glauben; wenn dieses Nichtglauben die Täuschung notwendig verhindern müßte; wenn ohne Täuschung wir unmöglich sympathisieren können: so handelt itzt der dramatische Dichter wider sich selbst, wenn er uns dem ohngeachtet solche unglaubliche Märchen ausstaffieret; alle Kunst, die er dabei anwendet, ist verloren.

Folglich? Folglich ist es durchaus nicht erlaubt, Gespenster und Erscheinungen auf die Bühne zu bringen? Folglich ist diese Quelle des Schrecklichen und Pathetischen für uns vertrocknet? Nein; dieser Verlust wäre für die Poesie zu groß; und hat sie nicht Beispiele für sich, wo das Genie aller unserer Philosophie trotzet, und Dinge, die der kalten Vernunft sehr spöttisch vorkommen, unserer Einbildung sehr fürchterlich zu machen weiß? Die Folge muß daher anders fallen; und die Voraussetzung wird nur falsch sein. Wir glauben keine Gespenster mehr? Wer sagt das? Oder vielmehr, was heißt das? Heißt es so viel: wir sind endlich in unsern Einsichten so weit gekommen, daß wir die Unmöglichkeit davon erweisen können; gewisse unumstößliche Wahrheiten, die mit dem Glauben an Gespenster im Widerspruche stehen, sind so allgemein bekannt worden, sind auch dem gemeinsten Manne immer und beständig so gegenwärtig, daß ihm alles, was damit streitet, notwendig lächerlich und abgeschmackt vorkommen muß? Das kann es nicht heißen. Wir glauben itzt keine Gespenster, kann also nur so viel heißen: in dieser Sache, über die sich fast eben so viel dafür als darwider sagen läßt, die nicht entschieden ist, und nicht entschieden werden kann, hat die gegenwärtig herrschende Art zu denken den Gründen darwider das Übergewicht gegeben; einige wenige haben diese Art zu denken, und viele wollen sie zu haben scheinen; diese machen das Geschrei und geben den Ton; der größte Haufe schweigt und verhält sich gleichgültig, und denkt bald so, bald anders, hört beim hellen Tage [282] mit Vergnügen über die Gespenster spotten, und bei dunkler Nacht mit Grausen davon erzählen.

Aber in diesem Verstande keine Gespenster glauben, kann und darf den dramatischen Dichter im geringsten nicht abhalten, Gebrauch davon zu machen. Der Same, sie zu glauben, liegt in uns allen, und in denen am häufigsten, für die er vornehmlich dichtet. Es kömmt nur auf seine Kunst an, diesen Samen zum Käumen zu bringen; nur auf gewisse Handgriffe, den Gründen für ihre Wirklichkeit in der Geschwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er diese in seiner Gewalt, so mögen wir in gemeinem Leben glauben, was wir wollen; im Theater müssen wir glauben, was er will.

So ein Dichter ist Shakespeare, und Shakespeare fast einzig und allein. Vor seinem Gespenste im Hamlet richten sich die Haare zu Berge, sie mögen ein gläubiges oder ungläubiges Gehirn bedecken. Der Herr von Voltaire tat gar nicht wohl, sich auf dieses Gespenst zu berufen; es macht ihn und seinen Geist des Ninus – lächerlich.

Shakespeares Gespenst kömmt wirklich aus jener Welt; so dünkt uns. Denn es kömmt zu der feierlichen Stunde, in der schaudernden Stille der Nacht, in der vollen Begleitung aller der düstern, geheimnisvollen Nebenbegriffe, wenn und mit welchen wir, von der Amme an, Gespenster zu erwarten und zu denken gewohnt sind. Aber Voltairens Geist ist auch nicht einmal zum Popanze gut, Kinder damit zu schrecken; es ist der bloße verkleidete Komödiant, der nichts hat, nichts sagt, nichts tut, was es wahrscheinlich machen könnte, er wäre das, wofür er sich ausgibt; alle Umstände vielmehr, unter welchen er erscheinet, stören den Betrug, und verraten das Geschöpf eines kalten Dichters, der uns gern täuschen und schrecken möchte, ohne daß er weiß, wie er es anfangen soll. Man überlege auch nur dieses einzige: am hellen Tage, mitten in der Versammlung der Stände des Reichs, von einem Donnerschlage angekündiget, tritt das Voltairische Gespenst aus seiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehört, daß Gespenster so dreist sind? Welche alte Frau hätte ihm nicht sagen können, daß die Gespenster das Sonnenlicht scheuen, und große Gesellschaften gar nicht gern besuchten? Doch [283] Voltaire wußte zuverlässig das auch; aber er war zu furchtsam, zu ekel, diese gemeinen Umstände zu nutzen; er wollte uns einen Geist zeigen, aber es sollte ein Geist von einer edlern Art sein; und durch diese edlere Art verdarb er alles. Das Gespenst, das sich Dinge herausnimmt, die wider alles Herkommen, wider alle gute Sitten unter den Gespenstern sind, dünket mich kein rechtes Gespenst zu sein; und alles, was die Illusion hier nicht befördert, störet die Illusion.

Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die Pantomime genommen hätte, so würde er auch von einer andern Seite die Unschicklichkeit empfunden haben, ein Gespenst vor den Augen einer großen Menge erscheinen zu lassen. Alle müssen auf einmal, bei Erblickung desselben, Furcht und Entsetzen äußern; alle müssen es auf verschiedene Art äußern, wenn der Anblick nicht die frostige Symmetrie eines Balletts haben soll. Nun richte man einmal eine Herde dumme Statisten dazu ab; und wenn man sie auf das glücklichste abgerichtet hat, so bedenke man, wie sehr dieser vielfache Ausdruck des nämlichen Affekts die Aufmerksamkeit teilen, und von den Hauptpersonen abziehen muß. Wenn diese den rechten Eindruck auf uns machen sollen, so müssen wir sie nicht allein sehen können, sondern es ist auch gut, wenn wir sonst nichts sehen, als sie. Beim Shakespeare ist es der einzige Hamlet, mit dem sich das Gespenst einläßt; in der Szene, wo die Mutter dabei ist, wird es von der Mutter weder gesehen noch gehört. Alle unsere Beobachtung geht also auf ihn, und je mehr Merkmale eines von Schauder und Schrecken zerrütteten Gemüts wir an ihm entdecken, desto bereitwilliger sind wir, die Erscheinung, welche diese Zerrüttung in ihm verursacht, für eben das zu halten, wofür er sie hält. Das Gespenst wirket auf uns, mehr durch ihn, als durch sich selbst. Der Eindruck, den es auf ihn macht, gehet in uns über, und die Wirkung ist zu augenscheinlich und zu stark, als daß wir an der außerordentlichen Ursache zweifeln sollten. Wie wenig hat Voltaire auch diesen Kunstgriff verstanden! Es erschrecken über seinen Geist viele; aber nicht viel. Semiramis ruft einmal: Himmel! ich sterbe! und die andern machen nicht mehr Umstände mit ihm, als man ohngefähr mit einem [284] weit entfernt geglaubten Freunde machen würde, der auf einmal ins Zimmer tritt.

Zwölftes Stück

Den 9ten Junius, 1767


Ich bemerke noch einen Unterschied, der sich zwischen den Gespenstern des englischen und französischen Dichters findet. Voltaires Gespenst ist nichts als eine poetische Maschine, die nur des Knotens wegen da ist; es interessiert uns für sich selbst nicht im geringsten. Shakespeares Gespenst hingegen ist eine wirklich handelnde Person, an dessen Schicksale wir Anteil nehmen; es erweckt Schauder, aber auch Mitleid.

Dieser Unterschied entsprang, ohne Zweifel, aus der verschiedenen Denkungsart beider Dichter von den Gespenstern überhaupt. Voltaire betrachtet die Erscheinung eines Verstorbenen als ein Wunder; Shakespeare als eine ganz natürliche Begebenheit. Wer von beiden philosophischer denkt, dürfte keine Frage sein; aber Shakespeare dachte poetischer. Der Geist des Ninus kam bei Voltairen, als ein Wesen, das noch jenseits dem Grabe angenehmer und unangenehmer Empfindungen fähig ist, mit welchem wir also Mitleiden haben können, in keine Betrachtung. Er wollte bloß damit lehren, daß die höchste Macht, um verborgene Verbrechen ans Licht zu bringen und zu bestrafen, auch wohl eine Ausnahme von ihren ewigen Gesetzen mache.

Ich will nicht sagen, daß es ein Fehler ist, wenn der dramatische Dichter seine Fabel so einrichtet, daß sie zur Erläuterung oder Bestätigung irgend einer großen moralischen Wahrheit dienen kann. Aber ich darf sagen, daß diese Einrichtung der Fabel nichts weniger als notwendig ist; daß es sehr lehrreiche vollkommene Stücke geben kann, die auf keine solche einzelne Maxime abzwecken; daß man Unrecht tut, den letzten Sittenspruch, den man zum Schlusse verschiedener Trauerspiele der Alten findet, so anzusehen, als ob das Ganze bloß um seinetwillen da wäre.

Wenn daher die Semiramis des Herrn von Voltaire weiter [285] kein Verdienst hätte, als dieses, worauf er sich so viel zu gute tut, daß man nämlich daraus die höchste Gerechtigkeit verehren lerne, die außerordentliche Lastertaten zu strafen, außerordentliche Wege wähle: so würde Semiramis in meinen Augen nur ein sehr mittelmäßiges Stück sein. Besonders da diese Moral selbst nicht eben die erbaulichste ist. Denn es ist ohnstreitig dem weisesten Wesen weit anständiger, wenn er dieser außerordentlichen Wege nicht bedarf, und wir uns die Bestrafung des Guten und Bösen in die ordentliche Kette der Dinge von ihr mit eingeflochten denken.

Doch will ich mich bei dem Stücke nicht länger verweilen, um noch ein Wort von der Art zu sagen, wie es hier aufgeführet worden. Man hat alle Ursache, damit zufrieden zu sein. Die Bühne ist geräumlich genug, die Menge von Personen ohne Verwirrung zu fassen, die der Dichter in verschiedenen Szenen auftreten läßt. Die Verzierungen sind neu, von dem besten Geschmacke, und sammeln den so oft abwechselnden Ort so gut als möglich in einen.

Den siebenden Abend (Donnerstags, den 30sten April,) ward der verheiratete Philosoph, vom Destouches, gespielet.

Dieses Lustspiel kam im Jahr 1727 zuerst auf die französische Bühne, und fand so allgemeinen Beifall, daß es in Jahr und Tag sechs und dreißigmal aufgeführet ward. Die deutsche Übersetzung ist nicht die prosaische aus den zu Berlin übersetzten sämtlichen Werken des Destouches; sondern eine in Versen, an der mehrere Hände geflickt und gebessert haben. Sie hat wirklich viel glückliche Verse, aber auch viel harte und unnatürliche Stellen. Es ist unbeschreiblich, wie schwer dergleichen Stellen dem Schauspieler das Agieren machen; und doch werden wenig französische Stücke sein, die auf irgend einem deutschen Theater jemals besser ausgefallen wären, als dieses auf unserm. Die Rollen sind alle auf das schicklichste besetzt, und besonders spielet Madame Löwen die launigte Celiante als eine Meisterin, und Herr Ackermann den Geront unverbesserlich. Ich kann es überhoben sein, von dem Stücke selbst zu reden. Es ist zu bekannt, und gehört unstreitig unter die Meisterstücke der französischen Bühne, die man auch unter uns immer mit Vergnügen sehen wird.

[286] Das Stück des achten Abends (Freitags, den 1sten Mai,) war das Kaffeehaus, oder die Schottländerin, des Hrn. von Voltaire.

Es ließe sich eine lange Geschichte von diesem Lustspiele machen. Sein Verfasser schickte es als eine Übersetzung aus dem Englischen des Hume, nicht des Geschichtschreibers und Philosophen, sondern eines andern dieses Namens, der sich durch das Trauerspiel, Douglas, bekannt gemacht hat, in die Welt. Es hat in einigen Charakteren mit der Kaffeeschenke des Goldoni etwas Ähnliches; besonders scheint der Don Marzio des Goldoni, das Urbild des Frelon gewesen zu sein. Was aber dort bloß ein bösartiger Kerl ist, ist hier zugleich ein elender Skribent, den er Frelon nannte, damit die Ausleger desto geschwinder auf seinen geschwornen Feind, den Jurnalisten Freron, fallen möchten. Diesen wollte er damit zu Boden schlagen, und ohne Zweifel hat er ihm einen empfindlichen Streich versetzt. Wir Ausländer, die wir an den hämischen Neckereien der französischen Gelehrten unter sich, keinen Anteil nehmen, sehen über die Persönlichkeiten dieses Stücks weg, und finden in dem Frelon nichts als die getreue Schilderung einer Art von Leuten, die auch bei uns nicht fremd ist. Wir haben unsere Frelons so gut, wie die Franzosen und Engländer, nur daß sie bei uns weniger Aufsehen machen, weil uns unsere Literatur überhaupt gleichgültiger ist. Fiele das Treffende dieses Charakters aber auch gänzlich in Deutschland weg, so hat das Stück doch, noch außer ihm, Interesse genug, und der ehrliche Freeport allein, könnte es in unserer Gunst erhalten. Wir lieben seine plumpe Edelmütigkeit, und die Engländer selbst haben sich dadurch geschmeichelt gefunden.

Denn nur seinetwegen haben sie erst kürzlich den ganzen Stamm auf den Grund wirklich verpflanzt, auf welchem er sich gewachsen zu sein rühmte. Colman, unstreitig itzt ihr bester komischer Dichter, hat die Schottländerin, unter dem Titel des Englischen Kaufmanns, übersetzt, und ihr vollends alle das nationale Colorit gegeben, das ihr in dem Originale noch mangelte. So sehr der Herr von Voltaire die englischen Sitten auch kennen will, so hatte er doch häufig dagegen [287] verstoßen; z. E. darin, daß er seine Lindane auf einem Kaffeehause wohnen läßt. Colman mietet sie dafür bei einer ehrlichen Frau ein, die möblierte Zimmer hält, und diese Frau ist weit anständiger die Freundin und Wohltäterin der jungen verlassenen Schöne, als Fabriz. Auch die Charaktere hat Colman für den englischen Geschmack kräftiger zu machen gesucht. Lady Alton ist nicht bloß eine eifersüchtige Furie; sie will ein Frauenzimmer von Genie, von Geschmack und Gelehrsamkeit sein, und gibt sich das Ansehen einer Schutzgöttin der Literatur. Hierdurch glaubte er die Verbindung wahrscheinlicher zu machen, in der sie mit dem elenden Frelon stehet, den er Spatter nennet. Freeport vornehmlich hat eine weitere Sphäre von Tätigkeit bekommen, und er nimmt sich des Vaters der Lindane eben so eifrig an, als der Lindane selbst. Was im Französischen der Lord Falbridge zu dessen Begnadigung tut, tut im Englischen Freeport, und er ist es allein, der alles zu einem glücklichen Ende bringet.

Die englischen Kunstrichter haben in Colmans Umarbeitung die Gesinnungen durchaus vortrefflich, den Dialog fein und lebhaft, und die Charaktere sehr wohl ausgeführt gefunden. Aber doch ziehen sie ihr Colmans übrige Stücke weit vor, von welchen man die eifersüchtige Ehefrau auf dem Ackermannischen Theater ehedem hier gesehen, und nach der diejenigen, die sich ihrer erinnern, ungefähr urteilen können. Der englische Kaufmann hat ihnen nicht Handlung genug; die Neugierde wird ihnen nicht genug darin genähret; die ganze Verwickelung ist in dem ersten Akte sichtbar. Hiernächst hat er ihnen zu viel Ähnlichkeit mit andern Stücken, und den besten Situationen fehlt die Neuheit. Freeport, meinen sie, hätte nicht den geringsten Funken von Liebe gegen die Lindane empfinden müssen; seine gute Tat verliere dadurch alles Verdienst u.s.w.

Es ist an dieser Kritik manches nicht ganz ungegründet; indes sind wir Deutschen es sehr wohl zufrieden, daß die Handlung nicht reicher und verwickelter ist. Die englische Manier in diesem Punkte, zerstreuet und ermüdet uns; wir lieben einen einfältigen Plan, der sich auf einmal übersehen läßt. So wie die Engländer die französischen Stücke mit Episoden [288] erst vollpfropfen müssen, wenn sie auf ihrer Bühne gefallen sollen; so müßten wir die englischen Stücke von ihren Episoden erst entladen, wenn wir unsere Bühne glücklich damit bereichern wollten. Ihre besten Lustspiele eines Congreve und Wycherley würden uns, ohne diesen Aushau des allzu wollüstigen Wuchses, unausstehlich sein. Mit ihren Tragödien werden wir noch eher fertig; diese sind zum Teil bei weiten so verworren nicht, als ihre Komödien, und verschiedene haben, ohne die geringste Veränderung, bei uns Glück gemacht, welches ich von keiner einzigen ihrer Komödien zu sagen wüßte.

Auch die Italiener haben eine Übersetzung von der Schottländerin, die in dem ersten Teile der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Sie folgt dem Originale Schritt vor Schritt, so wie die deutsche; nur eine Szene zum Schlusse hat ihr der Italiener mehr gegeben. Voltaire sagte, Frelon werde in der englischen Urschrift am Ende bestraft; aber so verdient diese Bestrafung sei, so habe sie ihm doch dem Hauptinteresse zu schaden geschienen; er habe sie also weggelassen. Dem Italiener dünkte diese Entschuldigung nicht hinlänglich, und er ergänzte die Bestrafung des Frelons aus seinem Kopfe; denn die Italiener sind große Liebhaber der poetischen Gerechtigkeit.

Dreizehntes Stück

Den 12ten Junius, 1767


Den neunten Abend, (Montags, den 4ten Mai,) sollte Cenie gespielet werden. Es wurden aber auf einmal mehr als die Hälfte der Schauspieler, durch einen epidemischen Zufall, außer Stand gesetzet zu agieren; und man mußte sich so gut zu helfen suchen, als möglich. Man wiederholte die neue Agnese, und gab das Singspiel, die Gouvernante.

Den zehnten Abend (Dienstags, den 5ten Mai,) ward der poetische Dorfjunker, vom Destouches, aufgeführt.

Dieses Stück hat im Französischen drei Aufzüge, und in der Übersetzung fünfe. Ohne diese Verbesserung war es nicht [289] wert, in die deutsche Schaubühne des weiland berühmten Herrn Professor Gottscheds aufgenommen zu werden, und seine gelehrte Freundin, die Übersetzerin, war eine viel zu brave Ehefrau, als daß sie sich nicht den kritischen Aussprüchen ihres Gemahls blindlings hätte unterwerfen sollen. Was kostet es denn nun auch für große Mühe, aus drei Aufzügen fünfe zu machen? Man läßt in einem andern Zimmer einmal Kaffee trinken; man schlägt einen Spaziergang im Garten vor; und wenn Not an den Mann gehet, so kann ja auch der Lichtputzer herauskommen und sagen: Meine Damen und Herren, treten Sie ein wenig ab; die Zwischenakte sind des Putzens wegen erfunden, und was hilft Ihr Spielen, wenn das Parterr nicht sehen kann? – Die Übersetzung selbst ist sonst nicht schlecht, und besonders sind der Fr. Professorin die Knittelverse des Masuren, wie billig, sehr wohl gelungen. Ob sie überall eben so glücklich gewesen, wo sie den Einfällen ihres Originals eine andere Wendung geben zu müssen geglaubt, würde sich aus der Vergleichung zeigen. Eine Verbesserung dieser Art, mit der es die liebe Frau recht herzlich gut gemeinet hatte, habe ich dem ohngeachtet aufmutzen hören. In der Szene, wo Henriette die alberne Dirne spielt, läßt Destouches den Masuren zu ihr sagen: »Sie setzen mich in Erstaunen, Mademoisell; ich habe Sie für eine Virtuosin gehalten. O pfui! erwidert Henriette; wofür haben Sie mich gehalten? Ich bin ein ehrliches Mädchen; daß Sie es nur wissen. Aber man kann ja, fällt ihr Masuren ein, beides wohl zugleich, ein ehrliches Mädchen und eine Virtuosin, sein. Nein, sagt Henriette; ich behaupte, daß man das nicht zugleich sein kann. Ich eine Virtuosin!« Man erinnere sich, was Madame Gottsched, anstatt des Worts, Virtuosin, gesetzt hat: ein Wunder. Kein Wunder! sagte man, daß sie das tat. Sie fühlte sich auch so etwas von einer Virtuosin zu sein, und ward über den vermeinten Stich böse. Aber sie hätte nicht böse werden sollen, und was die witzige und gelehrte Henriette, in der Person einer dummen Agnese, sagt, hätte die Frau Professorin immer, ohne Maulspitzen, nachsagen können. Doch vielleicht war ihr nur das fremde Wort, Virtuosin, anstößig; Wunder ist deutscher; zudem gibt es unter [290] unsern Schönen funfzig Wunder gegen eine Virtuosin; die Frau wollte rein und verständlich übersetzen; sie hatte sehr recht.

Den Beschluß dieses Abends machte die stumme Schönheit, von Schlegeln.

Schlegel hatte dieses kleine Stück für das neuerrichtete Kopenhagensche Theater geschrieben, um auf demselben in einer dänischen Übersetzung aufgeführet zu werden. Die Sitten darin sind daher auch wirklich dänischer, als deutsch. Dem ohngeachtet ist es unstreitig unser bestes komisches Original, das in Versen geschrieben ist. Schlegel hatte überall eine eben so fließende als zierliche Versifikation, und es war ein Glück für seine Nachfolger, daß er seine größern Komödien nicht auch in Versen schrieb. Er hätte ihnen leicht das Publikum verwöhnen können, und so würden sie nicht allein seine Lehre, sondern auch sein Beispiel wider sich gehabt haben. Er hatte sich ehedem der gereimten Komödie sehr lebhaft angenommen; und je glücklicher er die Schwierigkeiten derselben überstiegen hätte, desto unwiderleglicher würden seine Gründe geschienen haben. Doch, als er selbst Hand an das Werk legte, fand er ohne Zweifel, wie unsägliche Mühe es koste, nur einen Teil derselben zu übersteigen, und wie wenig das Vergnügen, welches aus diesen überstiegenen Schwierigkeiten entstehet, für die Menge kleiner Schönheiten, die man ihnen aufopfern müsse, schadlos halte. Die Franzosen waren ehedem so ekel, daß man ihnen die prosaischen Stücke des Moliere, nach seinem Tode, in Verse bringen mußte; und noch itzt hören sie ein prosaisches Lustspiel als ein Ding an, das ein jeder von ihnen machen könne. Den Engländer hingegen würde eine gereimte Komödie aus dem Theater jagen. Nur die Deutschen sind auch hierin, soll ich sagen billiger, oder gleichgültiger? Sie nehmen an, was ihnen der Dichter vorsetzt. Was wäre es auch, wenn sie itzt schon wählen und ausmustern wollten?

Die Rolle der stummen Schöne hat ihre Bedenklichkeiten. Eine stumme Schöne, sagt man, ist nicht notwendig eine dumme, und die Schauspielerin hat Unrecht, die eine alberne plumpe Dirne daraus macht. Aber Schlegels stumme Schönheit [291] ist allerdings dumm zugleich; denn daß sie nichts spricht, kömmt daher, weil sie nichts denkt. Das Feine dabei würde also dieses sein, daß man sie überall, wo sie, um artig zu scheinen, denken müßte, unartig machte, dabei aber ihr alle die Artigkeiten ließe, die bloß mechanisch sind, und die sie, ohne viel zu denken, haben könnte. Ihr Gang z.E. ihre Verbeugungen, brauchen gar nicht bäurisch zu sein; sie können so gut und zierlich sein, als sie nur immer ein Tanzmeister lehren kann; denn warum sollte sie von ihrem Tanzmeister nichts gelernt haben, da sie sogar Quadrille gelernt hat? Und sie muß Quadrille nicht schlecht spielen; denn sie rechnet fest darauf, dem Papa das Geld abzugewinnen. Auch ihre Kleidung muß weder altvätrisch, noch schlumpicht sein; denn Frau Praatgern sagt ausdrücklich:

»Bist du vielleicht nicht wohl gekleidet? – Laß doch sehn! Nun! – dreh dich um! – das ist ja gut, und sitzt galant. Was sagt denn der Phantast, dir fehlte der Verstand?« In dieser Musterung der Fr. Praatgern überhaupt, hat der Dichter deutlich genug bemerkt, wie er das Äußerliche seiner stummen Schöne zu sein wünsche. Gleichfalls schön, nur nicht so reizend. »Laß sehn, wie trägst du dich? – Den Kopf nicht so zurücke!« Dummheit ohne Erziehung hält den Kopf mehr vorwärts, als zurück; ihn zurück halten, lehrt der Tanzmeister; man muß also Charlotten den Tanzmeister ansehen, und je mehr, je besser; denn das schadet ihrer Stummheit nichts, vielmehr sind die zierlich steifen Tanzmeistermanieren gerade die, welche der stummen Schönheit am meisten entsprechen; sie zeigen die Schönheit in ihrem besten Vorteile, nur daß sie ihr das Leben nehmen. »Wer fragt: hat sie Verstand? der seh nur ihre Blicke.« Recht wohl, wenn man eine Schauspielerin mit großen schönen Augen zu dieser Rolle hat. Nur müssen sich diese schöne Augen wenig oder gar nicht regen; ihre Blicke müssen langsam und stier sein; sie müssen uns, mit ihrem unbeweglichen [292] Brennpunkte, in Flammen setzen wollen, aber nichts sagen. »Geh doch einmal herum. – Gut! hieher! – Neige dich! Da haben wirs, das fehlt. Nein, sieh! So neigt man sich.«

Diese Zeilen versteht man ganz falsch, wenn man Charlotten eine bäurische Neige, einen dummen Knix machen läßt. Ihre Verbeugung muß wohl gelernt sein, und wie gesagt, ihrem Tanzmeister keine Schande machen. Frau Praatgern muß sie nur noch nicht affektiert genug finden. Charlotte verbeugt sich, und Frau Praatgern will, sie soll sich dabei zieren. Das ist der ganze Unterschied, und Madame Löwen bemerkte ihn sehr wohl, ob ich gleich nicht glaube, daß die Praatgern sonst eine Rolle für sie ist. Sie kann die feine Frau zu wenig verbergen, und gewissen Gesichtern wollen nichtswürdige Handlungen, dergleichen die Vertauschung einer Tochter ist, durchaus nicht lassen.

Den eilften Abend (Mittewochs, den 6ten Mai,) ward Miß Sara Sampson aufgeführet.

Man kann von der Kunst nichts mehr verlangen, als was Madame Henseln in der Rolle der Sara leistet, und das Stück ward überhaupt sehr gut gespielet. Es ist ein wenig zu lang, und man verkürzt es daher auf den meisten Theatern. Ob der Verfasser mit allen diesen Verkürzungen so recht zufrieden ist, daran zweifle ich fast. Man weiß ja, wie die Autores sind; wenn man ihnen auch nur einen Niednagel nehmen will, so schreien sie gleich: Ihr kommt mir ans Leben! Freilich ist der übermäßigen Länge eines Stücks, durch das bloße Weglassen, nur übel abgeholfen, und ich begreife nicht, wie man eine Szene verkürzen kann, ohne die ganze Folge des Dialogs zu ändern. Aber wenn dem Verfasser die fremden Verkürzungen nicht anstehen; so mache er selbst welche, falls es ihm der Mühe wert dünket, und er nicht von denjenigen ist, die Kinder in die Welt setzen, und auf ewig die Hand von ihnen abziehen.

Madame Henseln starb ungemein anständig; in der malerischsten Stellung; und besonders hat mich ein Zug außerordentlich überrascht. Es ist eine Bemerkung an Sterbenden, [293] daß sie mit den Fingern an ihren Kleidern oder Betten zu rupfen anfangen. Diese Bemerkung machte sie sich auf die glücklichste Art zu Nutze; in dem Augenblicke, da die Seele von ihr wich, äußerte sich auf einmal, aber nur in den Fingern des erstarrten Armes, ein gelinder Spasmus; sie kniff den Rock, der um ein weniges erhoben ward und gleich wieder sank: das letzte Aufflattern eines verlöschenden Lichts; der jüngste Strahl einer untergehenden Sonne. – Wer diese Feinheit in meiner Beschreibung nicht schön findet, der schiebe die Schuld auf meine Beschreibung; aber er sehe sie einmal!

Vierzehntes Stück

Den 16ten Junius, 1767


Das bürgerliche Trauerspiel hat an dem französischen Kunstrichter, welcher die Sara seiner Nation bekannt gemacht, 4 einen sehr gründlichen Verteidiger gefunden. Die Franzosen billigen sonst selten etwas, wovon sie kein Muster unter sich selbst haben.

Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicher Weise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfodert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.

»Man tut dem menschlichen Herze Unrecht, sagt auch Marmontel, man verkennet die Natur, wenn man glaubt, daß sie Titel bedürfe, uns zu bewegen und zu rühren. Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, des Geliebten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen überhaupt: [294] diese sind pathetischer, als alles; diese behaupten ihre Rechte immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geschlechtsname, die Geburt des Unglücklichen ist, den seine Gefälligkeit gegen unwürdige Freunde, und das verführerische Beispiel, ins Spiel verstricket, der seinen Wohlstand und seine Ehre darüber zu Grunde gerichtet, und nun im Gefängnisse seufzet, von Scham und Reue zerrissen? Wenn man fragt, wer er ist; so antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu seiner Marter ist er Gemahl und Vater; seine Gattin, die er liebt und von der er geliebt wird, schmachtet in der äußersten Bedürfnis, und kann ihren Kindern, welche Brod verlangen, nichts als Tränen geben. Man zeige mir in der Geschichte der Helden eine rührendere, moralischere, mit einem Worte, tragischere Situation! Und wenn sich endlich dieser Unglückliche vergiftet; wenn er, nachdem er sich vergiftet, erfährt, daß der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet diesem schmerzlichen und fürchterlichen Augenblicke, wo sich zu den Schrecknissen des Todes marternde Vorstellungen, wie glücklich er habe leben können, gesellen; was fehlt ihm, frage ich, um der Tragödie würdig zu sein? Das Wunderbare, wird man antworten. Wie? findet sich denn nicht dieses Wunderbare genugsam in dem plötzlichen Übergange von der Ehre zur Schande, von der Unschuld zum Verbrechen, von der süßesten Ruhe zur Verzweiflung; kurz, in dem äußersten Unglücke, in das eine bloße Schwachheit gestürzet?«

Man lasse aber diese Betrachtungen den Franzosen, von ihren Diderots und Marmontels, noch so eingeschärft werden: es scheint doch nicht, daß das bürgerliche Trauerspiel darum bei ihnen besonders in Schwang kommen werde. Die Nation ist zu eitel, ist in Titel und andere äußerliche Vorzüge verliebt; bis auf den gemeinsten Mann, will alles mit Vornehmern umgehen; und Gesellschaft mit seines gleichen, ist so viel als schlechte Gesellschaft. Zwar ein glückliches Genie vermag viel über sein Volk; die Natur hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und sie erwartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der sie in aller ihrer Wahrheit und Stärke zu zeigen verstehet. Der Versuch, den ein Ungenannter in einem [295] Stücke gemacht hat, welches er das Gemälde der Dürftigkeit nennet, hat schon große Schönheiten; und bis die Franzosen daran Geschmack gewinnen, hätten wir es für unser Theater adoptieren sollen.

Was der erstgedachte Kunstrichter an der deutschen Sara aussetzet, ist zum Teil nicht ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Verfasser wird lieber seine Fehler behalten, als sich der vielleicht unglücklichen Mühe einer gänzlichen Umarbeitung unterziehen wollen. Er erinnert sich, was Voltaire bei einer ähnlichen Gelegenheit sagte: »Man kann nicht immer alles ausführen, was uns unsere Freunde raten. Es gibt auch notwendige Fehler. Einem Bucklichten, den man von seinem Buckel heilen wollte, müßte man das Leben nehmen. Mein Kind ist bucklicht; aber es befindet sich sonst ganz gut.«

Den zwölften Abend (Donnerstags, den 7ten Mai,) ward der Spieler, vom Regnard, aufgeführet.

Dieses Stück ist ohne Zweifel das beste, was Regnard gemacht hat; aber Riviere du Freny, der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die Bühne brachte, nahm ihn wegen der Erfindung in Anspruch. Er beklagte sich, daß ihm Regnard die Anlage und verschiedene Szenen gestohlen habe; Regnard schob die Beschuldigung zurück, und itzt wissen wir von diesem Streite nur so viel mit Zuverlässigkeit, daß einer von beiden der Plagiarius gewesen. Wenn es Regnard war, so müssen wir es ihm wohl noch dazu danken, daß er sich überwinden konnte, die Vertraulichkeit seines Freundes zu mißbrauchen; er bemächtigte sich, bloß zu unserm Besten, der Materialien, von denen er voraus sahe, daß sie verhunzt werden würden. Wir hätten nur einen sehr elenden Spieler, wenn er gewissenhafter gewesen wäre. Doch hätte er die Tat eingestehen, und dem armen Du Freny einen Teil der damit erworbnen Ehre lassen müssen.

Den dreizehnten Abend (Freitags, den 8ten Mai,) ward der verheiratete Philosoph wiederholet; und den Beschluß machte, der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter.

Der Verfasser dieses kleinen artigen Stücks heißt Cerou; er studierte die Rechte, als er es im Jahre 1740 den Italienern in Paris zu spielen gab. Es fällt ungemein wohl aus.

[296] Den vierzehnten Abend (Montags, den 11ten Mai) wurden die coquette Mutter vom Quinault, und der Advocat Patelin aufgeführt.

Jene wird von Kennern unter die besten Stücke gerechnet, die sich auf dem französischen Theater aus dem vorigen Jahrhunderte erhalten haben. Es ist wirklich viel gutes Komisches darin, dessen sich Moliere nicht hätte schämen dürfen. Aber der fünfte Akt und die ganze Auflösung hätte weit besser sein können; der alte Sklave, dessen in den vorhergehenden Akten gedacht wird, kömmt nicht zum Vorscheine; das Stück schließt mit einer kalten Erzählung, nachdem wir auf eine theatralische Handlung vorbereitet worden. Sonst ist es in der Geschichte des französischen Theaters deswegen mit merkwürdig, weil der lächerliche Marquis darin der erste von seiner Art ist. Die coquette Mutter ist auch sein eigentlichster Titel nicht, und Quinault hätte es immer bei dem zweiten, die veruneinigten Verliebten, können bewenden lassen.

Der Advocat Patelin ist eigentlich ein altes Possenspiel aus dem funfzehnten Jahrhunderte, das zu seiner Zeit außerordentlichen Beifall fand. Es verdiente ihn auch, wegen der ungemeinen Lustigkeit, und des guten Komischen, das aus der Handlung selbst und aus der Situation der Personen entspringet, und nicht auf bloßen Einfällen beruhet. Brueys gab ihm eine neue Sprache und brachte es in die Form, in welcher es gegenwärtig aufgeführet wird. Hr. Eckhof spielt den Patelin ganz vortrefflich.

Den funfzehnten Abend (Dienstags, den 12ten Mai,) ward Lessings Freigeist vorgestellt.

Man kennet ihn hier unter dem Titel des beschämten Freigeistes, weil man ihn von dem Trauerspiele des Hrn. von Brawe, das eben diese Aufschrift führet, unterscheiden wollen. Eigentlich kann man wohl nicht sagen, daß derjenige beschämt wird, welcher sich bessert. Adrast ist auch nicht einzig und allein der Freigeist; sondern es nehmen mehrere Personen an diesem Charakter Teil. Die eitle unbesonnene Henriette, der für Wahrheit und Irrtum gleichgültige Lisidor, der spitzbübische Johann, sind alles Arten von Freigeistern, die [297] zusammen den Titel des Stücks erfüllen müssen. Doch was liegt an dem Titel? Genug, daß die Vorstellung alles Beifalls würdig war. Die Rollen sind ohne Ausnahme wohl besetzt; und besonders spielt Herr Böck den Theophan mit alle dem freundlichen Anstande, den dieser Charakter erfordert, um dem endlichen Unwillen über die Hartnäckigkeit, mit der ihn Adrast verkennet, und auf dem die ganze Katastrophe beruhet, dagegen abstechen zu lassen.

Den Beschluß dieses Abends machte das Schäferspiel des Hrn. Pfeffels, der Schatz.

Dieser Dichter hat sich, außer diesem kleinen Stücke, noch durch ein anders, der Eremit, nicht unrühmlich bekannt gemacht. In den Schatz hat er mehr Interesse zu legen gesucht, als gemeiniglich unsere Schäferspiele zu haben pflegen, deren ganzer Inhalt tändelnde Liebe ist. Sein Ausdruck ist nur öfters ein wenig zu gesucht und kostbar, wodurch die ohnedem schon allzu verfeinerten Empfindungen ein höchst studiertes Ansehen bekommen, und zu nichts als frostigen Spielwerken des Witzes werden. Dieses gilt besonders von seinem Eremiten, welches ein kleines Trauerspiel sein soll, das man, anstatt der allzulustigen Nachspiele, auf rührende Stücke könnte folgen lassen. Die Absicht ist recht gut; aber wir wollen vom Weinen doch noch lieber zum Lachen, als zum Gähnen übergehen.

Funfzehntes Stück

Den 19ten Junius, 1767


Den sechszehnten Abend (Mittewochs, den 13ten Mai,) ward die Zayre des Herrn von Voltaire aufgeführt.

»Den Liebhabern der gelehrten Geschichte, sagt der Hr. von Voltaire, wird es nicht unangenehm sein, zu wissen, wie dieses Stück entstanden. Verschiedene Damen hatten dem Verfasser vorgeworfen, daß in seinen Tragödien nicht genug Liebe wäre. Er antwortete ihnen, daß, seiner Meinung nach, die Tragödie auch eben nicht der schicklichste Ort für die Liebe sei; wenn sie aber doch mit aller Gewalt verliebte Helden[298] haben müßten, so wolle er ihnen welche machen, so gut als ein anderer. Das Stück ward in achtzehn Tagen vollendet, und fand großen Beifall. Man nennt es zu Paris ein christliches Trauerspiel, und es ist oft, anstatt des Polyeukts, vorgestellet worden.«

Den Damen haben wir also dieses Stück zu verdanken, und es wird noch lange das Lieblingsstück der Damen bleiben. Ein junger feuriger Monarch, nur der Liebe unterwürfig; ein stolzer Sieger, nur von der Schönheit besiegt; ein Sultan ohne Polygamie; ein Seraglio, in den freien zugänglichen Sitz einer unumschränkten Gebieterin verwandelt; ein verlassenes Mädchen, zur höchsten Staffel des Glücks, durch nichts als ihre schönen Augen, erhöhet; ein Herz, um das Zärtlichkeit und Religion streiten, das sich zwischen seinen Gott und seinen Abgott teilet, das gern fromm sein möchte, wenn es nur nicht aufhören sollte zu lieben; ein Eifersüchtiger, der sein Unrecht erkennet, und es an sich selbst rächet: wenn diese schmeichelnde Ideen das schöne Geschlecht nicht bestechen, durch was ließe es sich denn bestechen?

Die Liebe selbst hat Voltairen die Zayre diktiert: sagt ein Kunstrichter artig genug. Richtiger hätte er gesagt: die Galanterie. Ich kenne nur eine Tragödie, an der die Liebe selbst arbeiten helfen; und das ist Romeo und Juliet, vom Shakespeare. Es ist wahr, Voltaire läßt seine verliebte Zayre ihre Empfindungen sehr fein, sehr anständig ausdrücken; aber was ist dieser Ausdruck gegen jenes lebendige Gemälde aller der kleinsten geheimsten Ränke, durch die sich die Liebe in unsere Seele einschleicht, aller der unmerklichen Vorteile, die sie darin gewinnet, aller der Kunstgriffe, mit denen sie jede andere Leidenschaft unter sich bringt, bis sie der einzige Tyrann aller unserer Begierden und Verabscheuungen wird? Voltaire verstehet, wenn ich so sagen darf, den Kanzleistil der Liebe vortrefflich; das ist, diejenige Sprache, denjenigen Ton der Sprache, den die Liebe braucht, wenn sie sich auf das behutsamste und gemessenste ausdrücken will, wenn sie nichts sagen will, als was sie bei der spröden Sophistin und bei dem kalten Kunstrichter verantworten kann. Aber der beste Kanzeliste weiß von den Geheimnissen der Regierung [299] nicht immer das meiste; oder hat gleichwohl Voltaire in das Wesen der Liebe eben die tiefe Einsicht, die Shakespeare gehabt, so hat er sie wenigstens hier nicht zeigen wollen, und das Gedicht ist weit unter dem Dichter geblieben.

Von der Eifersucht läßt sich ohngefähr eben das sagen. Der eifersüchtige Orosmann spielt, gegen den eifersüchtigen Othello des Shakespeare, eine sehr kahle Figur. Und doch ist Othello offenbar das Vorbild des Orosmann gewesen. Cibber sagt, 5 Voltaire habe sich des Brandes bemächtiget, der den tragischen Scheiterhaufen des Shakespeare in Glut gesetzt. Ich hätte gesagt: eines Brandes aus diesem flammenden Scheiterhaufen; und noch dazu eines, der mehr dampft, als leuchtet und wärmet. Wir hören in dem Orosmann einen Eifersüchtigen reden, wir sehen ihn die rasche Tat eines Eifersüchtigen begehen; aber von der Eifersucht selbst lernen wir nicht mehr und nicht weniger, als wir vorher wußten. Othello hingegen ist das vollständigste Lehrbuch über diese traurige Raserei; da können wir alles lernen, was sie angeht, sie erwecken und sie vermeiden.

Aber ist es denn immer Shakespeare, werden einige meiner Leser fragen, immer Shakespeare, der alles besser verstanden hat, als die Franzosen? Das ärgert uns; wir können ihn ja nicht lesen. – Ich ergreife diese Gelegenheit, das Publikum an etwas zu erinnern, das es vorsetzlich vergessen zu wollen scheinet. Wir haben eine Übersetzung vom Shakespeare. Sie ist noch kaum fertig geworden, und niemand bekümmert sich schon mehr darum. Die Kunstrichter haben viel Böses davon gesagt. Ich hätte große Lust, sehr viel Gutes davon zu sagen. Nicht, um diesen gelehrten Männern zu widersprechen; nicht, um die Fehler zu verteidigen, die sie darin bemerkt haben: sondern, weil ich glaube, daß man von diesen Fehlern kein solches Aufheben hätte machen sollen. Das Unternehmen war schwer; ein jeder anderer, als Herr Wieland, würde in der Eil noch öftrer verstoßen, und aus [300] Unwissenheit oder Bequemlichkeit noch mehr überhüpft haben; aber was er gut gemacht hat, wird schwerlich jemand besser machen. So wie er uns den Shakespeare geliefert hat, ist es noch immer ein Buch, das man unter uns nicht genug empfehlen kann. Wir haben an den Schönheiten, die es uns liefert, noch lange zu lernen, ehe uns die Flecken, mit welchen es sie liefert, so beleidigen, daß wir notwendig eine bessere Übersetzung haben müßten.

Doch wieder zur Zayre. Der Verfasser brachte sie im Jahre 1733 auf die Pariser Bühne; und drei Jahr darauf ward sie ins Englische übersetzt, und auch in London auf dem Theater in Drury-Lane gespielt. Der Übersetzer war Aaron Hill, selbst ein dramatischer Dichter, nicht von der schlechtesten Gattung. Voltaire fand sich sehr dadurch geschmeichelt, und was er, in dem ihm eigenen Tone der stolzen Bescheidenheit, in der Zuschrift seines Stücks an den Engländer Falkener, davon sagt, verdient gelesen zu werden. Nur muß man nicht alles für vollkommen so wahr annehmen, als er es ausgibt. Wehe dem, der Voltairens Schriften überhaupt nicht mit dem skeptischen Geiste lieset, in welchem er einen Teil derselben geschrieben hat!

Er sagt z.E. zu seinem englischen Freunde: »Eure Dichter hatten eine Gewohnheit, der sich selbst Addison 6 unterworfen; denn Gewohnheit ist so mächtig als Vernunft und Gesetz. Diese gar nicht vernünftige Gewohnheit bestand darin, daß jeder Akt mit Versen beschlossen werden mußte, die in einem ganz andern Geschmacke waren, als das Übrige des Stücks; und notwendig mußten diese Verse eine Vergleichung enthalten. Phädra, indem sie abgeht, vergleicht sich sehr poetisch mit einem Rehe, Cato mit einem Felsen, und[301] Cleopatra mit Kindern, die so lange weinen, bis sie einschlafen. Der Übersetzer der Zayre ist der erste, der es gewagt hat, die Rechte der Natur gegen einen von ihr so entfernten Geschmack zu behaupten. Er hat diesen Gebrauch abgeschafft; er hat es empfunden, daß die Leidenschaft ihre wahre Sprache führen, und der Poet sich überall verbergen müsse, um uns nur den Helden erkennen zu lassen.«

Es sind nicht mehr als nur drei Unwahrheiten in dieser Stelle; und das ist für den Hrn. von Voltaire eben nicht viel. Wahr ist es, daß die Engländer, vom Shakespeare an, und vielleicht auch von noch länger her, die Gewohnheit gehabt, ihre Aufzüge in ungereimten Versen mit ein Paar gereimten Zeilen zu enden. Aber daß diese gereimten Zeilen nichts als Vergleichungen enthielten, daß sie notwendig Vergleichungen enthalten müssen, das ist grundfalsch; und ich begreife gar nicht, wie der Herr von Voltaire einem Engländer, von dem er doch glauben konnte, daß er die tragischen Dichter seines Volkes auch gelesen habe, so etwas unter die Nase sagen können. Zweitens ist es nicht an dem, daß Hill in seiner Übersetzung der Zayre von dieser Gewohnheit abgegangen. Es ist zwar beinahe nicht glaublich, daß der Hr. von Voltaire die Übersetzung seines Stücks nicht genauer sollte angesehen haben, als ich, oder ein anderer. Gleichwohl muß es so sein. Denn so gewiß sie in reimfreien Versen ist, so gewiß schließt sich auch jeder Akt mit zwei oder vier gereimten Zeilen. Vergleichungen enthalten sie freilich nicht; aber, wie gesagt, unter allen dergleichen gereimten Zeilen, mit welchen Shakespeare, und Johnson, und Dryden, und Lee, und Otway, und Rowe, und wie sie alle heißen, ihre Aufzüge schließen, sind sicherlich hundert gegen fünfe, die gleichfalls keine enthalten. Was hatte denn Hill also besonders? Hätte er aber auch wirklich das Besondere gehabt, das ihm Voltaire leihet: so wäre doch drittens das nicht wahr, daß sein Beispiel von dem Einflusse gewesen, von dem es Voltaire sein läßt. Noch bis diese Stunde erscheinen in England eben so viel, wo nicht noch mehr Trauerspiele, deren Akte sich mit gereimten Zeilen enden, als die es nicht tun. Hill selbst hat in keinem einzigen Stücke, deren er doch verschiedene, noch nach der [302] Übersetzung der Zayre, gemacht, sich der alten Mode gänzlich entäußert. Und was ist es denn nun, ob wir zuletzt Reime hören oder keine? Wenn sie da sind, können sie vielleicht dem Orchester noch nutzen; als Zeichen nämlich, nach den Instrumenten zu greifen, welches Zeichen auf diese Art weit schicklicher aus dem Stücke selbst abgenommen würde, als daß es die Pfeife oder der Schlüssel gibt.

Sechszehntes Stück

Den 23sten Junius, 1767


Die englischen Schauspieler waren zu Hills Zeiten ein wenig sehr unnatürlich; besonders war ihr tragisches Spiel äußerst wild und übertrieben; wo sie heftige Leidenschaften auszudrücken hatten, schrien und gebärdeten sie sich als Besessene; und das Übrige tönten sie in einer steifen, strotzenden Feierlichkeit daher, die in jeder Sylbe den Komödianten verriet. Als er daher seine Übersetzung der Zayre aufführen zu lassen bedacht war, vertraute er die Rolle der Zayre einem jungen Frauenzimmer, das noch nie in der Tragödie gespielt hatte. Er urteilte so: dieses junge Frauenzimmer hat Gefühl, und Stimme, und Figur, und Anstand; sie hat den falschen Ton des Theaters noch nicht angenommen; sie braucht keine Fehler erst zu verlernen; wenn sie sich nur ein Paar Stunden überreden kann, das wirklich zu sein, was sie vorstellet, so darf sie nur reden, wie ihr der Mund gewachsen, und alles wird gut gehen. Es ging auch; und die Theaterpedanten, welche gegen Hillen behaupteten, daß nur eine sehr geübte, sehr erfahrene Person einer solchen Rolle Genüge leisten könne, wurden beschämt. Diese junge Aktrice war die Frau des Komödianten Colley Cibber, und der erste Versuch in ihrem achtzehnten Jahre ward ein Meisterstück. Es ist merkwürdig, daß auch die französische Schauspielerin, welche die Zayre spielte, eine Anfängerin war. Die junge reizende Mademoisell Gossin ward auf einmal dadurch berühmt, und selbst Voltaire ward so entzückt über sie, daß er sein Alter recht kläglich betauerte.

[303] Die Rolle des Orosmann hatte ein Anverwandter des Hill übernommen, der kein Komödiant von Profession, sondern ein Mann von Stande war. Er spielte aus Liebhaberei, und machte sich nicht das geringste Bedenken, öffentlich aufzutreten, um ein Talent zu zeigen, das so schätzbar als irgend ein anders ist. In England sind dergleichen Exempel von angesehenen Leuten, die zu ihrem bloßen Vergnügen einmal mitspielen, nicht selten. »Alles was uns dabei befremden sollte, sagt der Hr. von Voltaire, ist dieses, daß es uns befremdet. Wir sollten überlegen, daß alle Dinge in der Welt von der Gewohnheit und Meinung abhangen. Der französische Hof hat ehedem auf dem Theater mit den Opernspielern getanzt; und man hat weiter nichts besonders dabei gefunden, als daß diese Art von Lustbarkeit aus der Mode gekommen. Was ist zwischen den beiden Künsten für ein Unterschied, als daß die eine über die andere eben so weit erhaben ist, als es Talente, welche vorzügliche Seelenkräfte erfodern, über bloß körperliche Fertigkeiten sind?«

Ins Italienische hat der Graf Gozzi die Zayre übersetzt; sehr genau und sehr zierlich; sie stehet in dem dritten Teile seiner Werke. In welcher Sprache können zärtliche Klagen rührender klingen, als in dieser? Mit der einzigen Freiheit, die sich Gozzi gegen das Ende des Stücks genommen, wird man schwerlich zufrieden sein. Nachdem sich Orosmann erstochen, läßt ihn Voltaire nur noch ein Paar Worte sagen, uns über das Schicksal des Nerestan zu beruhigen. Aber was tut Gozzi? Der Italiener fand es ohne Zweifel zu kalt, einen Türken so gelassen wegsterben zu lassen. Er legt also den Orosmann noch eine Tirade in den Mund, voller Ausrufungen, voller Winseln und Verzweiflung. Ich will sie der Seltenheit halber unter den Text setzen. 7 [304] Es ist doch sonderbar, wie weit sich hier der deutsche Geschmack von dem welschen entfernet! Dem Welschen ist Voltaire zu kurz; uns Deutschen ist er zu lang. Kaum hat Orosmann gesagt »verehret und gerochen;« kaum hat er sich den tödlichen Stoß beigebracht, so lassen wir den Vorhang niederfallen. Ist es denn aber auch wahr, daß der deutsche Geschmack dieses so haben will? Wir machen dergleichen Verkürzung mit mehrern Stücken; aber warum machen wir sie? Wollen wir denn im Ernst, daß sich ein Trauerspiel wie ein Epigramm schließen soll? Immer mit der Spitze des Dolchs, oder mit dem letzten Seufzer des Helden? Woher kömmt uns gelassenen, ernsten Deutschen die flatternde Ungeduld, sobald die Exekution vorbei, durchaus nun weiter nichts hören zu wollen, wenn es auch noch so wenige, zur völligen Rundung des Stücks noch so unentbehrliche Worte wären? Doch ich forsche vergebens nach der Ursache einer Sache, die nicht ist. Wir hätten kalt Blut genug, den Dichter bis ans Ende zu hören, wenn es uns der Schauspieler nur zutrauen wollte. Wir würden recht gern die letzten Befehle des großmütigen Sultans vernehmen; recht gern die Bewunderung und das Mitleid des Nerestan noch teilen: aber wir sollen nicht. Und warum sollen wir nicht? Auf dieses warum, weiß ich kein darum. Sollten wohl die Orosmannsspieler daran Schuld sein? Es wäre begreiflich genug, warum sie gern das letzte Wort haben wollten. Erstochen und geklatscht! Man muß Künstlern kleine Eitelkeiten verzeihen.

Bei keiner Nation hat die Zayre einen schärfern Kunstrichter gefunden, als unter den Holländern. Friedrich Duim, vielleicht ein Anverwandter des berühmten Akteurs dieses [305] Namens auf dem Amsterdamer Theater, fand so viel daran auszusetzen, daß er es für etwas kleines hielt, eine bessere zu machen. Er machte auch wirklich eine – andere, 8 in der die Bekehrung der Zayre das Hauptwerk ist, und die sich damit endet, daß der Sultan über seine Liebe sieget, und die christliche Zayre mit aller der Pracht in ihr Vaterland schicket, die ihrer vorgehabten Erhöhung gemäß ist; der alte Lusignan stirbt vor Freuden. Wer ist begierig, mehr davon zu wissen? Der einzige unverzeihliche Fehler eines tragischen Dichters ist dieser, daß er uns kalt läßt; er interessiere uns, und mache mit den kleinen mechanischen Regeln, was er will. Die Duime können wohl tadeln, aber den Bogen des Ulysses müssen sie nicht selber spannen wollen. Dieses sage ich darum, weil ich nicht gern zurück, von der mißlungenen Verbesserung auf den Ungrund der Kritik, geschlossen wissen möchte. Duims Tadel ist in vielen Stücken ganz gegründet; besonders hat er die Unschicklichkeiten, deren sich Voltaire in Ansehung des Orts schuldig macht, und das Fehlerhafte in dem nicht genugsam motivierten Auftreten und Abgehen der Personen, sehr wohl angemerkt. Auch ist ihm die Ungereimtheit der sechsten Szene im dritten Akte nicht entgangen. »Orosmann, sagt er, kömmt, Zayren in die Moschee abzuholen; Zayre weigert sich, ohne die geringste Ursache von ihrer Weigerung anzuführen; sie geht ab, und Orosmann bleibt als ein Laffe (als eenen lafhartigen) stehen. Ist das wohl seiner Würde gemäß? Reimet sich das wohl mit seinem Charakter? Warum dringt er nicht in Zayren, sich deutlicher zu erklären? Warum folgt er ihr nicht in das Seraglio? Durfte er ihr nicht dahin folgen?« – Guter Duim! wenn sich Zayre deutlicher erkläret hätte: wo hätten denn die andern Akte sollen herkommen? Wäre nicht die ganze Tragödie darüber in die Bilze gegangen? – Ganz Recht! auch die zweite Szene des vierten Akts ist eben so abgeschmackt: Orosmann kömmt wieder zu Zayren; Zayre geht abermals, ohne die geringste nähere Erklärung, ab, und Orosmann, der gute Schlucker, (dien goeden hals) tröstet sich desfalls in einer [306] Monologe. Aber, wie gesagt, die Verwickelung, oder Ungewißheit, mußte doch bis zum fünften Aufzuge hinhalten; und wenn die ganze Katastrophe an einem Haare hängt, so hängen mehr wichtige Dinge in der Welt an keinem stärkern.

Die letzterwähnte Szene ist sonst diejenige, in welcher der Schauspieler, der die Rolle des Orosmann hat, seine feinste Kunst in alle dem bescheidenen Glanze zeigen kann, in dem sie nur ein eben so feiner Kenner zu empfinden fähig ist. Er muß aus einer Gemütsbewegung in die andere übergehen, und diesen Übergang durch das stumme Spiel so natürlich zu machen wissen, daß der Zuschauer durchaus durch keinen Sprung, sondern durch eine zwar schnelle, aber doch dabei merkliche Gradation mit fortgerissen wird. Erst zeiget sich Orosmann in aller seiner Großmut, willig und geneigt, Zayren zu vergeben, wann ihr Herz bereits eingenommen sein sollte, Falls sie nur aufrichtig genug ist, ihm länger kein Geheimnis davon zu machen. Indem erwacht seine Leidenschaft aufs neue, und er fodert die Aufopferung seines Nebenbuhlers. Er wird zärtlich genug, sie unter dieser Bedingung aller seiner Huld zu versichern. Doch da Zayre auf ihrer Unschuld bestehet, wider die er so offenbar Beweise zu haben glaubet, bemeistert sich seiner nach und nach der äußerste Unwille. Und so geht er von dem Stolze zur Zärtlichkeit, und von der Zärtlichkeit zur Erbitterung über. Alles was Remond de Saint Albine, in seinem Schauspieler, 9 hierbei beobachtet wissen will, leistet Hr. Eckhof auf eine so vollkommene Art, daß man glauben sollte, er allein könne das Vorbild des Kunstrichters gewesen sein.

Siebzehntes Stück

Den 26sten Junius, 1767


Den siebzehnten Abend (Donnerstags, den 14ten Mai,) ward der Sidney, vom Gresset, aufgeführet.

Dieses Stück kam im Jahre 1745 zuerst aufs Theater. Ein [307] Lustspiel wider den Selbstmord, konnte in Paris kein großes Glück machen. Die Franzosen sagten: es wäre ein Stück für London. Ich weiß auch nicht; denn die Engländer dürften vielleicht den Sidney ein wenig unenglisch finden; er geht nicht rasch genug zu Werke; er philosophiert, ehe er die Tat begeht, zu viel, und nachdem er sie begangen zu haben glaubt, zu wenig; seine Reue könnte schimpflicher Kleinmut scheinen; ja, sich von einem französischen Bedienten so angeführt zu sehen, möchte von manchen für eine Beschämung gehalten werden, die des Hängens allein würdig wäre.

Doch so wie das Stück ist, scheinet es für uns Deutsche recht gut zu sein. Wir mögen eine Raserei gern mit ein wenig Philosophie bemänteln, und finden es unserer Ehre eben nicht nachteilig, wenn man uns von einem dummen Streiche zurückhält, und das Geständnis, falsch philosophiert zu haben, uns abgewinnet. Wir werden daher dem Dümont, ob er gleich ein französischer Prahler ist, so herzlich gut, daß uns die Etiquette, welche der Dichter mit ihm beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney nun erfährt, daß er durch die Vorsicht desselben dem Tode nicht näher ist, als der gesundesten einer, so läßt ihn Gresset ausrufen: »Kaum kann ich es glauben – Rosalia! – Hamilton! – und du, dessen glücklicher Eifer u.s.w.« Warum diese Rangordnung? Ist es erlaubt, die Dankbarkeit der Politesse aufzuopfern? Der Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten gehört das erste Wort, der erste Ausdruck der Freude, so Bedienter, so weit unter seinem Herrn und seines Herrn Freunden, er auch immer ist. Wenn ich Schauspieler wäre, hier würde ich es kühnlich wagen, zu tun, was der Dichter hätte tun sollen. Wenn ich schon, wider seine Vorschrift, nicht das erste Wort an meinen Erretter richten dürfte, so würde ich ihm wenigstens den ersten gerührten Blick zuschicken, mit der ersten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen; und dann würde ich mich gegen Rosalien, und gegen Hamilton wenden, und wieder auf ihn zurückkommen. Es sei uns immer angelegener, Menschlichkeit zu zeigen, als Lebensart!

Herr Eckhof spielt den Sidney so vortrefflich – Es ist ohnstreitig eine von seinen stärksten Rollen. Man kann die [308] enthusiastische Melancholie, das Gefühl der Fühllosigkeit, wenn ich so sagen darf, worin die ganze Gemütsverfassung des Sidney bestehet, schwerlich mit mehr Kunst, mit größerer Wahrheit ausdrücken. Welcher Reichtum von malenden Gesten, durch die er allgemeinen Betrachtungen gleichsam Figur und Körper gibt, und seine innersten Empfindungen in sichtbare Gegenstände verwandelt! Welcher fortreißende Ton der Überzeugung! –

Den Beschluß machte diesen Abend ein Stück in einem Aufzuge, nach dem Französischen des l'Affichard, unter dem Titel: Ist er von Familie? Man errät gleich, daß ein Narr oder eine Närrin darin vorkommen muß, der es hauptsächlich um den alten Adel zu tun ist. Ein junger wohlerzogener Mensch, aber von zweifelhaftem Herkommen, bewirbt sich um die Stieftochter eines Marquis. Die Einwilligung der Mutter hängt von der Aufklärung dieses Punkts ab. Der junge Mensch hielt sich nur für den Pflegesohn eines gewissen bürgerlichen Lisanders, aber es findet sich, daß Lisander sein wahrer Vater ist. Nun wäre weiter an die Heirat nicht zu denken, wenn nicht Lisander selbst sich nur durch Unfälle zu dem bürgerlichen Stande herablassen müssen. In der Tat ist er von eben so guter Geburt, als der Marquis; er ist des Marquis Sohn, den jugendliche Ausschweifungen aus dem väterlichen Hause vertrieben. Nun will er seinen Sohn brauchen, um sich mit seinem Vater auszusöhnen. Die Aussöhnung gelingt, und macht das Stück gegen das Ende sehr rührend. Da also der Hauptton desselben rührender, als komisch, ist: sollte uns nicht auch der Titel mehr jenes als dieses erwarten lassen? Der Titel ist eine wahre Kleinigkeit; aber dasmal hätte ich ihn von dem einzigen lächerlichen Charakter nicht hergenommen; er braucht den Inhalt weder anzuzeigen, noch zu erschöpfen; aber er sollte doch auch nicht irre führen. Und dieser tut es ein wenig. Was ist leichter zu ändern, als ein Titel? Die übrigen Abweichungen des deutschen Verfassers von dem Originale, gereichen mehr zum Vorteile des Stücks, und geben ihm das einheimische Ansehen, das fast allen von dem französischen Theater entlehnten Stücken mangelt.

[309] Den achtzehnten Abend (Freitags, den 15ten Mai,) ward das Gespenst mit der Trommel gespielt.

Dieses Stück schreibt sich eigentlich aus dem Englischen des Addison her. Addison hat nur eine Tragödie, und nur eine Komödie gemacht. Die dramatische Poesie überhaupt war sein Fach nicht. Aber ein guter Kopf weiß sich überall aus dem Handel zu ziehen; und so haben seine beiden Stücke, wenn schon nicht die höchsten Schönheiten ihrer Gattung, wenigstens andere, die sie noch immer zu sehr schätzbaren Werken machen. Er suchte sich mit dem einen sowohl, als mit dem andern, der französischen Regelmäßigkeit mehr zu nähern; aber noch zwanzig Addisons, und diese Regelmäßigkeit wird doch nie nach dem Geschmacke der Engländer werden. Begnüge sich damit, wer keine höhere Schönheiten kennet!

Destouches, der in England persönlichen Umgang mit Addison gehabt hatte, zog das Lustspiel desselben über einen noch französischern Leisten. Wir spielen es nach seiner Umarbeitung; in der wirklich vieles feiner und natürlicher, aber auch manches kalter und kraftloser geworden. Wenn ich mich indes nicht irre, so hat Madame Gottsched, von der sich die deutsche Übersetzung herschreibt, das englische Original mit zur Hand genommen, und manchen guten Einfall wieder daraus hergestellet.

Den neunzehnten Abend (Montags, den 18ten Mai,) ward der verheiratete Philosoph, vom Destouches, wiederholt.

Des Regnard Demokrit war dasjenige Stück, welches den zwanzigsten Abend (Dienstags, den 19ten Mai,) gespielet wurde.

Dieses Lustspiel wimmelt von Fehlern und Ungereimtheiten, und doch gefällt es. Der Kenner lacht dabei so herzlich, als der Unwissendste aus dem Pöbel. Was folgt hieraus? Daß die Schönheiten, die es hat, wahre allgemeine Schönheiten sein müssen, und die Fehler vielleicht nur willkürliche Regeln betreffen, über die man sich leichter hinaussetzen kann, als es die Kunstrichter Wort haben wollen. Er hat keine Einheit des Orts beobachtet: mag er doch. Er hat alles Übliche [310] aus den Augen gesetzt: immerhin. Sein Demokrit sieht dem wahren Demokrit in keinem Stücke ähnlich; sein Athen ist ein ganz anders Athen, als wir kennen: nun wohl, so streiche man Demokrit und Athen aus, und setze bloß erdichtete Namen dafür. Regnard hat es gewiß so gut, als ein anderer, gewußt, daß um Athen keine Wüste und keine Tiger und Bäre waren; daß es, zu der Zeit des Demokrits, keinen König hatte u.s.w. Aber er hat das alles itzt nicht wissen wollen; seine Absicht war, die Sitten seines Landes unter fremden Namen zu schildern. Diese Schilderung ist das Hauptwerk des komischen Dichters, und nicht die historische Wahrheit.

Andere Fehler möchten schwerer zu entschuldigen sein; der Mangel des Interesse, die kahle Verwickelung, die Menge müßiger Personen, das abgeschmackte Geschwätz des Demokrits, nicht deswegen nur abgeschmackt, weil es der Idee widerspricht, die wir von dem Demokrit haben, sondern weil es Unsinn in jedes andern Munde sein würde, der Dichter möchte ihn genannt haben, wie er wolle. Aber was übersieht man nicht bei der guten Laune, in die uns Strabo und Thaler setzen? Der Charakter des Strabo ist gleichwohl schwer zu bestimmen; man weiß nicht, was man aus ihm machen soll; er ändert seinen Ton gegen jeden, mit dem er spricht; bald ist er ein feiner witziger Spötter, bald ein plumper Spaßmacher, bald ein zärtlicher Schulfuchs, bald ein unverschämter Stutzer. Seine Erkennung mit der Cleanthis ist ungemein komisch, aber unnatürlich. Die Art, mit der Mademoisell Beauval und la Thorilliere diese Szenen zuerst spielten, hat sich von einem Akteur zum andern, von einer Aktrice zur andern fortgepflanzt. Es sind die unanständigsten Grimassen; aber da sie durch die Überlieferung bei Franzosen und Deutschen geheiliget sind, so kömmt es niemanden ein, etwas daran zu ändern, und ich will mich wohl hüten zu sagen, daß man sie eigentlich kaum in dem niedrigsten Possenspiele dulden sollte. Der beste, drolligste und ausgeführteste Charakter, ist der Charakter des Thalers; ein wahrer Bauer, schalkisch und gerade zu; voller boshafter Schnurren; und der, von der poetischen Seite betrachtet, nichts weniger [311] als episodisch, sondern zu Auflösung des Knoten eben so schicklich als unentbehrlich ist. 10

Achtzehntes Stück

Den 30sten Junius, 1767


Den ein und zwanzigsten Abend (Mittewochs, den 20sten Mai,) wurde das Lustspiel des Marivaux, die falschen Vertraulichkeiten, aufgeführt.

Marivaux hat fast ein ganzes halbes Jahrhundert für die Theater in Paris gearbeitet; sein erstes Stück ist vom Jahre 1712, und sein Tod erfolgte 1763, in einem Alter von fünf und siebzig. Die Zahl seiner Lustspiele beläuft sich auf einige dreißig, wovon mehr als zwei Dritteile den Harlekin haben, weil er sie für die italienische Bühne verfertigte. Unter diese gehören auch die falschen Vertraulichkeiten, die 1736 zuerst, ohne besondern Beifall, gespielet, zwei Jahre darauf aber wieder hervorgesucht wurden, und desto größern erhielten.

Seine Stücke, so reich sie auch an mannichfaltigen Charakteren und Verwicklungen sind, sehen sich einander dennoch sehr ähnlich. In allen der nämlich schimmernde, und öfters allzugesuchte Witz; in allen die nämliche metaphysische Zergliederung der Leidenschaften; in allen die nämliche blumenreiche, neologische Sprache. Seine Plane sind nur von einem sehr geringen Umfange; aber, als ein wahrer Kallippides seiner Kunst, weiß er den engen Bezirk derselben mit einer Menge so kleiner, und doch so merklich abgesetzter Schritte zu durchlaufen, daß wir am Ende einen noch so weiten Weg mit ihm zurückgelegt zu haben glauben.

Seitdem die Neuberin, sub Auspiciis Sr. Magnifizenz, des Herrn Prof. Gottscheds, den Harlekin öffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle deutsche Bühnen, denen daran gelegen war, regelmäßig zu heißen, dieser Verbannung beizutreten geschienen. Ich sage, geschienen; denn im Grunde hatten sie nur das bunte Jäckchen und den Namen [312] abgeschafft, aber den Narren behalten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stücke, in welchen Harlekin die Hauptperson war. Aber Harlekin hieß bei ihr Hänschen, und war ganz weiß, anstatt scheckigt, gekleidet. Wahrlich, ein großer Triumph für den guten Geschmack!

Auch die falschen Vertraulichkeiten haben einen Harlekin, der in der deutschen Übersetzung zu einem Peter geworden. Die Neuberin ist tot, Gottsched ist auch tot: ich dächte, wir zögen ihm das Jäckchen wieder an. – Im Ernste; wenn er unter fremdem Namen zu dulden ist, warum nicht auch unter seinem? »Er ist ein ausländisches Geschöpf;« sagt man. Was tut das? Ich wollte, daß alle Narren unter uns Ausländer wären! »Er trägt sich, wie sich kein Mensch unter uns trägt:« – so braucht er nicht erst lange zu sagen, wer er ist. »Es ist widersinnig, das nämliche Individuum alle Tage in einem andern Stücke erscheinen zu sehen.« Man muß ihn als kein Individuum, sondern als eine ganze Gattung betrachten; es ist nicht Harlekin, der heute im Timon, morgen im Falken, übermorgen in den falschen Vertraulichkeiten, wie ein wahrer Hans in allen Gassen, vorkömmt; sondern es sind Harlekine; die Gattung leidet tausend Varietäten; der im Timon ist nicht der im Falken; jener lebte in Griechenland, dieser in Frankreich; nur weil ihr Charakter einerlei Hauptzüge hat, hat man ihnen einerlei Namen gelassen. Warum wollen wir ekler, in unsern Vergnügungen wähliger, und gegen kahle Vernünfteleien nachgebender sein, als – ich will nicht sagen, die Franzosen und Italiener sind – sondern, als selbst die Römer und Griechen waren? War ihr Parasit etwas anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch seine eigene, besondere Tracht, in der er in einem Stücke über dem andern vorkam? Hatten die Griechen nicht ein eigenes Drama, in das jederzeit Satyri eingeflochten werden mußten, sie mochten sich nun in die Geschichte des Stücks schicken oder nicht?

Harlekin hat, vor einigen Jahren, seine Sache vor dem Richterstuhle der wahren Kritik, mit eben so vieler Laune als Gründlichkeit, verteidiget. Ich empfehle die Abhandlung des Herrn Möser über das Groteske-Komische, allen meinen [313] Lesern, die sie noch nicht kennen; die sie kennen, deren Stimme habe ich schon. Es wird darin beiläufig von einem gewissen Schriftsteller gesagt, daß er Einsicht genug besitze, dermaleins der Lobredner des Harlekin zu werden. Itzt ist er es geworden! wird man denken. Aber nein; er ist es immer gewesen. Den Einwurf, den ihm Herr Möser wider den Harlekin in den Mund legt, kann er sich nie gemacht, ja nicht einmal gedacht zu haben erinnern.

Außer dem Harlekin kömmt in den falschen Vertraulichkeiten noch ein anderer Bedienter vor, der die ganze Intrigue führet. Beide wurden sehr wohl gespielt; und unser Theater hat überhaupt, an den Herren Hensel und Merschy, ein Paar Akteurs, die man zu den Bedientenrollen kaum besser verlangen kann.

Den zwei und zwanzigsten Abend (Donnerstags, den 21sten Mai,) ward die Zelmire des Herrn Du Belloy aufgeführet.

Der Name Du Belloy kann niemanden unbekannt sein, der in der neuern französischen Literatur nicht ganz ein Fremdling ist. Des Verfassers der Belagerung von Calais! Wenn es dieses Stück nicht verdiente, daß die Franzosen ein solches Lärmen damit machten, so gereicht doch dieses Lärmen selbst, den Franzosen zur Ehre. Es zeigt sie als ein Volk, das auf seinen Ruhm eifersüchtig ist; auf das die großen Taten seiner Vorfahren den Eindruck nicht verloren haben; das, von dem Werte eines Dichters und von dem Einflusse des Theaters auf Tugend und Sitten überzeugt, jenen nicht zu seinen unnützen Gliedern rechnet, dieses nicht zu den Gegenständen zählet, um die sich nur geschäftige Müßiggänger bekümmern. Wie weit sind wir Deutsche in diesem Stücke noch hinter den Franzosen! Es gerade herauszusagen: wir sind gegen sie noch die wahren Barbaren! Barbarischer, als unsere barbarischsten Voreltern, denen ein Liedersänger ein sehr schätzbarer Mann war, und die, bei aller ihrer Gleichgültigkeit gegen Künste und Wissenschaften, die Frage, ob ein Barde, oder einer, der mit Bärfellen und Bernstein handelt, der nützlichere Bürger wäre? sicherlich für die Frage eines Narren gehalten hätten! – Ich mag mich in [314] Deutschland umsehen, wo ich will, die Stadt soll noch gebauet werden, von der sich erwarten ließe, daß sie nur den tausendsten Teil der Achtung und Erkenntlichkeit gegen einen deutschen Dichter haben würde, die Calais gegen den Du Belloy gehabt hat. Man erkenne es immer für französische Eitelkeit: wie weit haben wir noch hin, ehe wir zu so einer Eitelkeit fähig sein werden! Was Wunder auch? Unsere Gelehrte selbst sind klein genug, die Nation in der Geringschätzung alles dessen zu bestärken, was nicht gerade zu den Beutel füllet. Man spreche von einem Werke des Genies, von welchem man will; man rede von der Aufmunterung der Künstler; man äußere den Wunsch, daß eine reiche blühende Stadt der anständigsten Erholung für Männer, die in ihren Geschäften des Tages Last und Hitze getragen, und der nützlichsten Zeitverkürzung für andere, die gar keine Geschäfte haben wollen, (das wird doch wenigstens das Theater sein?) durch ihre bloße Teilnehmung aufhelfen möge; – und sehe und höre um sich. »Dem Himmel sei Dank, ruft nicht bloß der Wucherer Albinus, daß unsere Bürger wichtigere Dinge zu tun haben!«


– – – – Eu!

Rem poteris servare tuam! – –


Wichtigere? Einträglichere; das gebe ich zu! Einträglich ist freilich unter uns nichts, was im geringsten mit den freien Künsten in Verbindung stehet. Aber,


– haec animos aerugo et cura peculî
Cum semel imbuerit –

Doch ich vergesse mich. Wie gehört das alles zur Zelmire?

Du Belloy war ein junger Mensch, der sich auf die Rechte legen wollte, oder sollte. Sollte, wird es wohl mehr gewesen sein. Denn die Liebe zum Theater behielt die Oberhand; er legte den Bartolus bei Seite, und ward Komödiant. Er spielte einige Zeit unter der französischen Truppe zu Braunschweig, machte verschiedene Stücke, kam wieder in sein Vaterland, und ward geschwind durch ein Paar Trauerspiele so glücklich und berühmt, als ihn nur immer die Rechtsgelehrsamkeit [315] hätte machen können, wenn er auch ein Beaumont geworden wäre. Wehe dem jungen deutschen Genie, das diesen Weg einschlagen wollte! Verachtung und Bettelei würden sein gewissestes Los sein!

Das erste Trauerspiel des Du Belloy heißt Titus; und Zelmire war sein zweites. Titus fand keinen Beifall, und ward nur ein einzigesmal gespielt. Aber Zelmire fand desto größern; es ward vierzehnmal hinter einander aufgeführt, und die Pariser hatten sich noch nicht daran satt gesehen. Der Inhalt ist von des Dichters eigener Erfindung.

Ein französischer Kunstrichter 11 nahm hiervon Gelegenheit, sich gegen die Trauerspiele von dieser Gattung überhaupt zu erklären: »Uns wäre, sagt er, ein Stoff aus der Geschichte weit lieber gewesen. Die Jahrbücher der Welt sind an berüchtigten Verbrechen ja so reich; und die Tragödie ist ja ausdrücklich dazu, daß sie uns die großen Handlungen wirklicher Helden zur Bewunderung und Nachahmung vorstellen soll. Indem sie so den Tribut bezahlt, den die Nachwelt ihrer Asche schuldig ist, befeuert sie zugleich die Herzen der Itztlebenden mit der edlen Begierde, ihnen gleich zu werden. Man wende nicht ein, daß Zayre, Alzire, Mahomet, doch auch nur Geburten der Erdichtung wären. Die Namen der beiden ersten sind erdichtet, aber der Grund der Begebenheiten ist historisch. Es hat wirklich Kreuzzüge gegeben, in welchen sich Christen und Türken, zur Ehre Gottes, ihres gemeinschaftlichen Vaters, haßten und würgten. Bei der Eroberung von Mexiko haben sich notwendig die glücklichen und erhabenen Kontraste zwischen den europäischen und amerikanischen Sitten, zwischen der Schwärmerei und der wahren Religion, äußern müssen. Und was den Mahomet anbelangt, so ist er der Auszug, die Quintessenz, so zu reden, aus dem ganzen Leben dieses Betrügers; der Fanatismus, in Handlung gezeigt; das schönste philosophischste Gemälde, das jemals von diesem gefährlichen Ungeheuer gemacht worden.«

[316]
Neunzehntes Stück

Den 3ten Julius, 1767


Es ist einem jeden vergönnt, seinen eigenen Geschmack zu haben; und es ist rühmlich, sich von seinem eigenen Geschmacke Rechenschaft zu geben suchen. Aber den Gründen, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemeinheit erteilen, die, wenn es seine Richtigkeit damit hätte, ihn zu dem einzigen wahren Geschmacke machen müßte, heißt aus den Grenzen des forschenden Liebhabers herausgehen, und sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwerfen. Der angeführte französische Schriftsteller fängt mit einem bescheidenen, »Uns wäre lieber gewesen« an, und geht zu so allgemein verbindenden Aussprüchen fort, daß man glauben sollte, dieses uns sei aus dem Munde der Kritik selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfodert.

Nun hat es Aristoteles längst entschieden, wie weit sich der tragische Dichter um die historische Wahrheit zu bekümmern habe; nicht weiter, als sie einer wohleingerichteten Fabel ähnlich ist, mit der er seine Absichten verbinden kann. Er braucht eine Geschichte nicht darum, weil sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so geschehen ist, daß er sie schwerlich zu seinem gegenwärtigen Zwecke besser erdichten könnte. Findet er diese Schicklichkeit von ohngefähr an einem wahren Falle, so ist ihm der wahre Fall willkommen; aber die Geschichtbücher erst lange darum nachzuschlagen, lohnt der Mühe nicht. Und wie viele wissen denn, was geschehen ist? Wenn wir die Möglichkeit, daß etwas geschehen kann, nur daher abnehmen wollen, weil es geschehen ist: was hindert uns, eine gänzlich erdichtete Fabel für eine wirklich geschehene Historie zu halten, von der wir nie etwas gehört haben? Was ist das erste, was uns eine Historie glaubwürdig macht? Ist es nicht ihre innere Wahrscheinlichkeit? Und ist es nicht einerlei, ob diese Wahrscheinlichkeit von gar keinen Zeugnissen und Überlieferungen bestätiget [317] wird, oder von solchen, die zu unserer Wissenschaft noch nie gelangt sind? Es wird ohne Grund angenommen, daß es eine Bestimmung des Theaters mit sei, das Andenken großer Männer zu erhalten; dafür ist die Geschichte, aber nicht das Theater. Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch getan hat, sondern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umständen tun werde. Die Absicht der Tragödie ist weit philosophischer, als die Absicht der Geschichte; und es heißt sie von ihrer wahren Würde herabsetzen, wenn man sie zu einem bloßen Panegyrikus berühmter Männer macht, oder sie gar den Nationalstolz zu nähren mißbraucht.

Die zweite Erinnerung des nämlichen französischen Kunstrichters gegen die Zelmire des Du Belloy, ist wichtiger. Er tadelt, daß sie fast nichts als ein Gewebe mannichfaltiger wunderbarer Zufälle sei, die in den engen Raum von vier und zwanzig Stunden zusammengepreßt, aller Illusion unfähig würden. Eine seltsam ausgesparte Situation über die andere! ein Theaterstreich über den andern! Was geschieht nicht alles! was hat man nicht alles zu behalten! Wo sich die Begebenheiten so drängen, können schwerlich alle vorbereitet genug sein. Wo uns so vieles überrascht, wird uns leicht manches mehr befremden, als überraschen. »Warum muß sich z. E. der Tyrann dem Rhamnes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm seine Verbrechen zu offenbaren? Fällt Ilus nicht gleichsam vom Himmel? Ist die Gemütsänderung des Rhamnes nicht viel zu schleunig? Bis auf den Augenblick, da er den Antenor ersticht, nimmt er an den Verbrechen seines Herrn auf die entschlossenste Weise Teil; und wenn er einmal Reue zu empfinden geschienen, so hatte er sie doch sogleich wieder unterdrückt. Welche geringfügige Ursachen gibt hiernächst der Dichter nicht manchmal den wichtigsten Dingen! So muß Polidor, wenn er aus der Schlacht kömmt, und sich wiederum in dem Grabmale verbergen will, der Zelmire den Rücken zukehren, und der Dichter muß uns sorgfältig diesen kleinen Umstand einschärfen. Denn wenn Polidor anders ginge, wenn er der Prinzessin das Gesicht, anstatt den Rücken zuwendete: so [318] würde sie ihn erkennen, und die folgende Szene, wo diese zärtliche Tochter unwissend ihren Vater seinen Henkern überliefert, diese so vorstechende, auf alle Zuschauer so großen Eindruck machende Szene, fiele weg. Wäre es gleichwohl nicht weit natürlicher gewesen, wenn Polidor, indem er wieder in das Grabmal flüchtet, die Zelmire bemerkt, ihr ein Wort zugerufen, oder auch nur einen Wink gegeben hätte? Freilich wäre es so natürlicher gewesen, als daß die ganzen letzten Akte sich nunmehr auf die Art, wie Polidor geht, ob er seinen Rücken dahin oder dorthin kehret, gründen müssen. Mit dem Billet des Azor hat es die nämliche Bewandtnis: brachte es der Soldat im zweiten Akte gleich mit, so wie er es hätte mitbringen sollen, so war der Tyrann entlarvet, und das Stück hatte ein Ende.«

Die Übersetzung der Zelmire ist nur in Prosa. Aber wer wird nicht lieber eine körnichte, wohlklingende Prosa hören wollen, als matte, geradebrechte Verse? Unter allen unsern gereimten Übersetzungen werden kaum ein halbes Dutzend sein, die erträglich sind. Und daß man mich ja nicht bei dem Worte nehme, sie zu nennen! Ich würde eher wissen, wo ich aufhören, als wo ich anfangen sollte. Die beste ist an vielen Stellen dunkel und zweideutig; der Franzose war schon nicht der größte Versifikateur, sondern stümperte und flickte; der Deutsche war es noch weniger, und indem er sich bemühte, die glücklichen und unglücklichen Zeilen seines Originals gleich treu zu übersetzen, so ist es natürlich, daß öfters, was dort nur Lückenbüßerei, oder Tautologie, war, hier zu förmlichem Unsinne werden mußte. Der Ausdruck ist dabei meistens so niedrig, und die Konstruktion so verworfen, daß der Schauspieler allen seinen Adel nötig hat, jenen aufzuhelfen, und allen seinen Verstand brauchet, diese nur nicht verfehlen zu lassen. Ihm die Deklamation zu erleichtern, daran ist vollends gar nicht gedacht worden!

Aber verlohnt es denn auch der Mühe, auf französische Verse so viel Fleiß zu wenden, bis in unserer Sprache eben so wäßrig korrekte, eben so grammatikalisch kalte Verse daraus werden? Wenn wir hingegen den ganzen poetischen Schmuck der Franzosen in unsere Prosa übertragen, so wird [319] unsere Prosa dadurch eben noch nicht sehr poetisch werden. Es wird der Zwitterton noch lange nicht daraus entstehen, der aus den prosaischen Übersetzungen englischer Dichter entstanden ist, in welchen der Gebrauch der kühnsten Tropen und Figuren, außer einer gebundenen kadensierten Wortfügung uns an Besoffene denken läßt, die ohne Musik tanzen. Der Ausdruck wird sich höchstens über die alltägliche Sprache nicht weiter erheben, als sich die theatralische Deklamation Über den gewöhnlichen Ton der gesellschaftlichen Unterhaltungen erheben soll. Und so nach wünschte ich unserm prosaischen Übersetzer recht viele Nachfolger; ob ich gleich der Meinung des Houdar de la Motte gar nicht bin, daß das Sylbenmaß überhaupt ein kindischer Zwang sei, dem sich der dramatische Dichter am wenigsten Ursache habe zu unterwerfen. Denn hier kömmt es bloß darauf an, unter zwei Übeln das kleinste zu wählen; entweder Verstand und Nachdruck der Versifikation, oder diese jenen aufzuopfern. Dem Houdar de la Motte war seine Meinung zu vergeben; er hatte eine Sprache in Gedanken, in der das Metrische der Poesie nur Kitzelung der Ohren ist, und zur Verstärkung des Ausdrucks nichts beitragen kann; in der unsrigen hingegen ist es etwas mehr, und wir können der griechischen ungleich näher kommen, die durch den bloßen Rhythmus ihrer Versarten die Leidenschaften, die darin ausgedrückt werden, anzudeuten vermag. Die französischen Verse haben nichts als den Wert der überstandenen Schwierigkeit für sich; und freilich ist dieses nur ein sehr elender Wert.

Die Rolle des Antenors hat Herr Borchers ungemein wohl gespielt; mit aller der Besonnenheit und Heiterkeit, die einem Bösewichte von großem Verstande so natürlich zu sein scheinen. Kein mißlungener Anschlag wird ihn in Verlegenheit setzen; er ist an immer neuen Ränken unerschöpflich; er besinnt sich kaum, und der unerwarteste Streich, der ihn in seiner Blöße darzustellen drohte, empfängt eine Wendung, die ihm die Larve nur noch fester aufdrückt. Diesen Charakter nicht zu verderben, ist von Seiten des Schauspielers das getreueste Gedächtnis, die fertigste Stimme, die freieste, nachlässigste [320] Aktion, unumgänglich nötig. Hr. Borchers hat überhaupt sehr viele Talente, und schon das muß ein günstiges Vorurteil für ihn erwecken, daß er sich in alten Rollen eben so gern übet, als in jungen. Dieses zeiget von seiner Liebe zur Kunst; und der Kenner unterscheidet ihn sogleich von so vielen andern jungen Schauspielern, die nur immer auf der Bühne glänzen wollen, und deren kleine Eitelkeit, sich in lauter galanten liebenswürdigen Rollen begaffen und bewundern zu lassen, ihr vornehmster, auch wohl öfters ihr einziger Beruf zum Theater ist.

Zwanzigstes Stück

Den 7ten Julius, 1767


Den drei und zwanzigsten Abend (Freitags, den 22sten Mai,) ward Cenie aufgeführet.

Dieses vortreffliche Stück der Graffigny mußte der Gottschedin zum Übersetzen in die Hände fallen. Nach dem Bekenntnisse, welches sie von sich selbst ablegt, »daß sie die Ehre, welche man durch Übersetzung, oder auch Verfertigung theatralischer Stücke, erwerben könne, allezeit nur für sehr mittelmäßig gehalten habe,« läßt sich leicht vermuten, daß sie, diese mittelmäßige Ehre zu erlangen, auch nur sehr mittelmäßige Mühe werde angewendet haben. Ich habe ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie einige lustige Stücke des Destouches eben nicht verdorben hat. Aber wie viel leichter ist es, eine Schnurre zu übersetzen, als eine Empfindung! Das Lächerliche kann der Witzige und Unwitzige nachsagen; aber die Sprache des Herzens kann nur das Herz treffen. Sie hat ihre eigene Regeln; und es ist ganz um sie geschehen, sobald man diese verkennt, und sie dafür den Regeln der Grammatik unterwerfen, und ihr alle die kalte Vollständigkeit, alle die langweilige Deutlichkeit geben will, die wir an einem logischen Satze verlangen. Z.E. Dorimond hat dem Mericourt eine ansehnliche Verbindung, nebst dem vierten Teile seines Vermögens, zugedacht. Aber das ist das wenigste, worauf Mericourt geht; er verweigert sich dem [321] großmütigen Anerbieten, und will sich ihm aus Uneigennützigkeit verweigert zu haben scheinen. »Wozu das? sagt er. Warum wollen Sie sich Ihres Vermögens berauben? Genießen Sie Ihrer Güter selbst; sie haben Ihnen Gefahr und Arbeit genug gekostet.« J'en jouirai, je vous rendrai tous heureux: läßt die Graffigny den lieben gutherzigen Alten antworten. »Ich will ihrer genießen, ich will euch alle glücklich machen.« Vortrefflich! Hier ist kein Wort zu viel! Die wahre nachlässige Kürze, mit der ein Mann, dem Güte zur Natur geworden ist, von seiner Güte spricht, wenn er davon sprechen muß! Seines Glückes genießen, andere glücklich machen: beides ist ihm nur eines; das eine ist ihm nicht bloß eine Folge des andern, ein Teil des andern; das eine ist ihm ganz das andere: und so wie sein Herz keinen Unterschied darunter kennet, so weiß auch sein Mund keinen darunter zu machen; er spricht, als ob er das nämliche zweimal spräche, als ob beide Sätze wahre tautologische Sätze, vollkommen identische Sätze wären; ohne das geringste Verbindungswort. O des Elenden, der die Verbindung nicht fühlt, dem sie eine Partikel erst fühlbar machen soll! Und dennoch, wie glaubt man wohl, daß die Gottschedin jene acht Worte übersetzt hat? »Alsdenn werde ich meiner Güter erst recht genießen, wenn ich euch beide dadurch werde glücklich gemacht haben.« Unerträglich! Der Sinn ist vollkommen übergetragen, aber der Geist ist verflogen; ein Schwall von Worten hat ihn erstickt. Dieses Alsdenn, mit seinem Schwanze von Wenn; dieses Erst; dieses Recht; dieses Dadurch: lauter Bestimmungen, die dem Ausbruche des Herzens alle Bedenklichkeiten der Überlegung geben, und eine warme Empfindung in eine frostige Schlußrede verwandeln.

Denen, die mich verstehen, darf ich nur sagen, daß ungefähr auf diesen Schlag das ganze Stück übersetzt ist. Jede feinere Gesinnung ist in ihren gesunden Menschenverstand paraphrasiert, jeder affektvolle Ausdruck in die toten Bestandteile seiner Bedeutung aufgelöset worden. Hierzu kömmt in vielen Stellen der häßliche Ton des Zeremoniells; verabredete Ehrenbenennungen kontrastieren mit den Ausrufungen der gerührten Natur auf die abscheulichste Weise. Indem[322] Cenie ihre Mutter erkennet, ruft sie: »Frau Mutter! o welch ein süßer Name!« Der Name Mutter ist süß; aber Frau Mutter ist wahrer Honig mit Zitronensaft! Der herbe Titel zieht das ganze, der Empfindung sich öffnende Herz wieder zusammen. Und in dem Augenblick, da sie ihren Vater findet, wirft sie sich gar mit einem »Gnädiger Herr Vater! bin ich Ihrer Gnade wert!« ihm in die Arme. Mon pere! auf deutsch: Gnädiger Herr Vater. Was für ein respektuöses Kind! Wenn ich Dorsainville wäre, ich hätte es eben so gern gar nicht wieder gefunden, als mit dieser Anrede.

Madame Löwen spielt die Orphise; man kann sie nicht mit mehrerer Würde und Empfindung spielen. Jede Miene spricht das ruhige Bewußtsein ihres verkannten Wertes; und sanfte Melancholie auszudrücken, kann nur ihrem Blicke, kann nur ihrem Tone gelingen.

Cenie ist Madame Hensel. Kein Wort fällt aus ihrem Munde auf die Erde. Was sie sagt, hat sie nicht gelernt; es kömmt aus ihrem eignen Kopfe, aus ihrem eignen Herzen. Sie mag sprechen, oder sie mag nicht sprechen, ihr Spiel geht ununterbrochen fort. Ich wüßte nur einen einzigen Fehler; aber es ist ein sehr seltner Fehler; ein sehr beneidenswürdiger Fehler. Die Aktrice ist für die Rolle zu groß. Mich dünkt einen Riesen zu sehen, der mit dem Gewehre eines Kadetts exerzieret. Ich möchte nicht alles machen, was ich vortrefflich machen könnte.

Herr Eckhof in der Rolle des Dorimond, ist ganz Dorimond. Diese Mischung von Sanftmut und Ernst, von Weichherzigkeit und Strenge, wird gerade in so einem Manne wirklich sein, oder sie ist es in keinem. Wann er zum Schlusse des Stücks vom Mericourt sagt: »Ich will ihm so viel geben, daß er in der großen Welt leben kann, die sein Vaterland ist; aber sehen mag ich ihn nicht mehr!« wer hat den Mann gelehrt, mit ein Paar erhobenen Fingern, hierhin und dahin bewegt, mit einem einzigen Kopfdrehen, uns auf einmal zu zeigen, was das für ein Land ist, dieses Vaterland des Mericourt? Ein gefährliches, ein böses Land!


Tot linguae, quot membra viro! –


[323] Den vier und zwanzigsten Abend (Montags, den 25sten Mai,) ward die Amalia des Herrn Weiß aufgeführet.

Amalia wird von Kennern für das beste Lustspiel dieses Dichters gehalten. Es hat auch wirklich mehr Interesse, ausgeführtere Charaktere und einen lebhaftern gedankenreichern Dialog, als seine übrige komische Stücke. Die Rollen sind hier sehr wohl besetzt; besonders macht Madame Böck den Manley, oder die verkleidete Amalia, mit vieler Anmut und mit aller der ungezwungenen Leichtigkeit, ohne die wir es ein wenig sehr unwahrscheinlich finden würden, ein junges Frauenzimmer so lange verkannt zu sehen. Dergleichen Verkleidungen überhaupt geben einem dramatischen Stücke zwar ein romanenhaftes Ansehen, dafür kann es aber auch nicht fehlen, daß sie nicht sehr komische, auch wohl sehr interessante Szenen veranlassen sollten. Von dieser Art ist die fünfte des letzten Akts, in welcher ich meinem Freunde einige allzu kühn croquierte Pinselstriche zu lindern, und mit dem Übrigen in eine sanftere Haltung zu vertreiben, wohl raten möchte. Ich weiß nicht, was in der Welt geschieht; ob man wirklich mit dem Frauenzimmer manchmal in diesem zudringlichen Tone spricht. Ich will nicht untersuchen, wie weit es mit der weiblichen Bescheidenheit bestehen könne, gewisse Dinge, obschon unter der Verkleidung, so zu brüsquieren. Ich will die Vermutung ungeäußert lassen, daß es vielleicht gar nicht einmal die rechte Art sei, eine Madame Freemann ins Enge zu treiben; daß ein wahrer Manley die Sache wohl hätte feiner anfangen können; daß man über einen schnellen Strom nicht in gerader Linie schwimmen zu wollen verlangen müsse; daß – Wie gesagt, ich will diese Vermutungen ungeäußert lassen; denn es könnte leicht bei einem solchen Handel mehr als eine rechte Art geben. Nachdem nämlich die Gegenstände sind; obschon alsdenn noch gar nicht ausgemacht ist, daß diejenige Frau, bei der die eine Art fehl geschlagen, auch allen übrigen Arten Obstand halten werde. Ich will bloß bekennen, daß ich für mein Teil nicht Herz genug gehabt hätte, eine dergleichen Szene zu bearbeiten. Ich würde mich vor der einen Klippe, zu wenig Erfahrung zu zeigen, eben so sehr gefürchtet haben, als vor [324] der andern, allzu viele zu verraten. Ja wenn ich mir auch einer mehr als Crebillonschen Fähigkeit bewußt gewesen wäre, mich zwischen beide Klippen durchzustehlen: so weiß ich doch nicht, ob ich nicht viel lieber einen ganz andern Weg eingeschlagen wäre. Besonders da sich dieser andere Weg hier von selbst öffnet. Manley, oder Amalia, wußte ja, daß Freemann mit seiner vorgeblichen Frau nicht gesetzmäßig verbunden sei. Warum konnte er also nicht dieses zum Grunde nehmen, sie ihm gänzlich abspenstig zu machen, und sich ihr nicht als einen Galan, dem es nur um flüchtige Gunstbezeigungen zu tun, sondern als einen ernsthaften Liebhaber anzutragen, der sein ganzes Schicksal mit ihr zu teilen bereit sei? Seine Bewerbungen würden dadurch, ich will nicht sagen unsträflich, aber doch unsträflicher geworden sein; er würde, ohne sie in ihren eigenen Augen zu beschimpfen, darauf haben bestehen können; die Probe wäre ungleich verführerischer, und das Bestehen in derselben ungleich entscheidender für ihre Liebe gegen Freemann gewesen. Man würde zugleich einen ordentlichen Plan von Seiten der Amalia dabei abgesehen haben; anstatt daß man itzt nicht wohl erraten kann, was sie nun weiter tun können, wenn sie unglücklicher Weise in ihrer Verführung glücklich gewesen wäre.

Nach der Amalia folgte das kleine Lustspiel des Saintfoix, der Finanzpachter. Es besteht ungefähr aus ein Dutzend Szenen von der äußersten Lebhaftigkeit. Es dürfte schwer sein, in einen so engen Bezirk mehr gesunde Moral, mehr Charaktere, mehr Interesse zu bringen. Die Manier dieses liebenswürdigen Schriftstellers ist bekannt. Nie hat ein Dichter ein kleineres niedlicheres Ganze zu machen gewußt, als er.

Den fünf und zwanzigsten Abend (Dienstags, den 26sten Mai,) ward die Zelmire des Du Belloy wiederholt.

[325]
Ein und zwanzigstes Stück

Den 10ten Julius, 1767


Den sechs und zwanzigsten Abend (Freitags, den 29sten Mai,) ward die Mütterschule des Nivelle de la Chaussee aufgeführet.

Es ist die Geschichte einer Mutter, die für ihre parteiische Zärtlichkeit gegen einen nichtswürdigen schmeichlerischen Sohn, die verdiente Kränkung erhält. Marivaux hat auch ein Stück unter diesem Titel. Aber bei ihm ist es die Geschichte einer Mutter, die ihre Tochter, um ein recht gutes gehorsames Kind an ihr zu haben, in aller Einfalt erziehet, ohne alle Welt und Erfahrung läßt: und wie geht es damit? Wie man leicht erraten kann. Das liebe Mädchen hat ein empfindliches Herz; sie weiß keiner Gefahr auszuweichen, weil sie keine Gefahr kennet; sie verliebt sich in den ersten in den besten, ohne Mamma darum zu fragen, und Mamma mag dem Himmel danken, daß es noch so gut abläuft. In jener Schule gibt es eine Menge ernsthafte Betrachtungen anzustellen, in dieser setzt es mehr zu lachen. Die eine ist der Pendant der andern; und ich glaube, es müßte für Kenner ein Vergnügen mehr sein, beide an einem Abende hinter einander besuchen zu können. Sie haben hierzu auch alle äußerliche Schicklichkeit; das erste Stück ist von fünf Akten, das andere von einem.

Den sieben und zwanzigsten Abend (Montags, den 1sten Junius,) ward die Nanine des Herrn von Voltaire gespielt.

Nanine? fragten sogenannte Kunstrichter, als dieses Lustspiel im Jahre 1749 zuerst erschien. Was ist das für ein Titel? Was denkt man dabei? – Nicht mehr und nicht weniger, als man bei einem Titel denken soll. Ein Titel muß kein Küchenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalte verrät, desto besser ist er. Dichter und Zuschauer finden ihre Rechnung dabei, und die Alten haben ihren Komödien selten andere, als nichtsbedeutende Titel gegeben. Ich kenne kaum drei oder viere, die den Hauptcharakter anzeigten, oder etwas von der Intrigue verrieten. Hierunter gehöret des Plautus Miles gloriosus. Wie kömmt es, daß man noch nicht angemerket, daß [326] dieser Titel dem Plautus nur zur Hälfte gehören kann? Plautus nannte sein Stück bloß Gloriosus; so wie er ein anderes Truculentus überschrieb. Miles muß der Zusatz eines Grammatikers sein. Es ist wahr, der Prahler, den Plautus schildert, ist ein Soldat; aber seine Prahlereien beziehen sich nicht bloß auf seinen Stand, und seine kriegerische Taten. Er ist in dem Punkte der Liebe eben so großsprecherisch; er rühmt sich nicht allein der tapferste, sondern auch der schönste und liebenswürdigste Mann zu sein. Beides kann in dem Worte Gloriosus liegen; aber sobald man Miles hinzufügt, wird das gloriosus nur auf das erstere eingeschränkt. Vielleicht hat den Grammatiker, der diesen Zusatz machte, eine Stelle des Cicero 12 verführt; aber hier hätte ihm Plautus selbst, mehr als Cicero gelten sollen. Plautus selbst sagt:


Alazon Graece huic nomen est Comoediae
Id nos latine Gloriosum dicimus –

und in der Stelle des Cicero ist es noch gar nicht ausgemacht, daß eben das Stück des Plautus gemeinet sei. Der Charakter eines großsprecherischen Soldaten kam in mehrern Stücken vor. Cicero kann eben sowohl auf den Thraso des Terenz gezielet haben. – Doch dieses beiläufig. Ich erinnere mich, meine Meinung von den Titeln der Komödien überhaupt, schon einmal geäußert zu haben. Es könnte sein, daß die Sache so unbedeutend nicht wäre. Mancher Stümper hat zu einem schönen Titel eine schlechte Komödie gemacht; und bloß des schönen Titels wegen. Ich möchte doch lieber eine gute Komödie mit einem schlechten Titel. Wenn man nachfragt, was für Charaktere bereits bearbeitet worden, so wird kaum einer zu erdenken sein, nach welchem, besonders die Franzosen, nicht schon ein Stück genannt hätten. Der ist längst da gewesen! ruft man. Der auch schon! Dieser würde vom Moliere, jener vom Destouches entlehnet sein! Entlehnet? Das kömmt aus den schönen Titeln. Was für ein Eigentumsrecht erhält ein Dichter auf einen gewissen Charakter dadurch, daß er seinen Titel davon hergenommen? Wenn er ihn stillschweigend gebraucht [327] hätte, so würde ich ihn wiederum stillschweigend brauchen dürfen, und niemand würde mich darüber zum Nachahmer machen. Aber so wage es einer einmal, und mache z. E. einen neuen Misanthropen. Wann er auch keinen Zug von dem Molierschen nimmt, so wird sein Misanthrop doch immer nur eine Kopie heißen. Genug, daß Moliere den Namen zuerst gebraucht hat. Jener hat unrecht, daß er funfzig Jahr später lebet; und daß die Sprache für die unendlichen Varietäten des menschlichen Gemüts nicht auch unendliche Benennungen hat.

Wenn der Titel Nanine nichts sagt; so sagt der andere Titel desto mehr: Nanine, oder das besiegte Vorurteil. Und warum soll ein Stück nicht zwei Titel haben? Haben wir Menschen doch auch zwei, drei Namen. Die Namen sind der Unterscheidung wegen; und mit zwei Namen ist die Verwechselung schwerer, als mit einem. Wegen des zweiten Titels scheinet der Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit sich gewesen zu sein. In der nämlichen Ausgabe seiner Werke heißt er auf einem Blatte, das besiegte Vorurteil; und auf dem andern, der Mann ohne Vorurteil. Doch beides ist nicht weit aus einander. Es ist von dem Vorurteile, daß zu einer vernünftigen Ehe die Gleichheit der Geburt und des Standes erforderlich sei, die Rede. Kurz, die Geschichte der Nanine ist die Geschichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte der Herr von Voltaire den Namen Pamela nicht brauchen, weil schon einige Jahre vorher ein Paar Stücke unter diesem Namen erschienen waren, und eben kein großes Glück gemacht hatten. Die Pamela des Boissy und des De la Chaussee sind auch ziemlich kahle Stücke; und Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu sein, etwas weit Besseres zu machen.

Nanine gehört unter die rührenden Lustspiele. Es hat aber auch sehr viel lächerliche Szenen, und nur in so fern, als die lächerlichen Szenen mit den rührenden abwechseln, will Voltaire diese in der Komödie geduldet wissen. Eine ganz ernsthafte Komödie, wo man niemals lacht, auch nicht einmal lächelt, wo man nur immer weinen möchte, ist ihm ein Ungeheuer. Hingegen findet er den Übergang von dem Rührenden zum Lächerlichen, und von dem Lächerlichen zum[328] Rührenden, sehr natürlich. Das menschliche Leben ist nichts als eine beständige Kette solcher Übergänge, und die Komödie soll ein Spiegel des menschlichen Lebens sein. »Was ist gewöhnlicher, sagt er, als daß in dem nämlichen Hause der zornige Vater poltert, die verliebte Tochter seufzet, der Sohn sich über beide aufhält, und jeder Anverwandte bei der nämlichen Szene etwas anders empfindet? Man verspottet in einer Stube sehr oft, was in der Stube neben an äußerst bewegt; und nicht selten hat eben dieselbe Person in eben derselben Viertelstunde über eben dieselbe Sache gelacht und geweinet. Eine sehr ehrwürdige Matrone saß bei einer von ihren Töchtern, die gefährlich krank lag, am Bette, und die ganze Familie stand um ihr herum. Sie wollte in Tränen zerfließen, sie rang die Hände, und rief: O Gott! laß mir, laß mir dieses Kind, nur dieses; magst du mir doch alle die andern dafür nehmen! Hier trat ein Mann, der eine von ihren übrigen Töchtern geheiratet hatte, näher zu ihr hinzu, zupfte sie bei dem Ärmel, und fragte: Madame, auch die Schwiegersöhne? Das kalte Blut, der komische Ton, mit denen er diese Worte aussprach, machten einen solchen Eindruck auf die betrübte Dame, daß sie in vollem Gelächter herauslaufen mußte; alles folgte ihr und lachte; die Kranke selbst, als sie es hörte, wäre vor Lachen fast erstickt.«

»Homer, sagt er an einem andern Orte, läßt sogar die Götter, indem sie das Schicksal der Welt entscheiden, über den possierlichen Anstand des Vulkans lachen. Hektor lacht über die Furcht seines kleinen Sohnes, indem Andromacha die heißesten Tränen vergießt. Es trifft sich wohl, daß mitten unter den Greueln einer Schlacht, mitten in den Schrecken einer Feuersbrunst, oder sonst eines traurigen Verhängnisses, ein Einfall, eine ungefähre Posse, Trotz aller Beängstigung, Trotz alles Mitleids, das unbändigste Lachen erregt. Man befahl, in der Schlacht bei Speyern, einem Regimente, daß es keinen Pardon geben sollte. Ein deutscher Offizier bat darum, und der Franzose, den er darum bat, antwortete: Bitten Sie, mein Herr, was Sie wollen; nur das Leben nicht; damit kann ich unmöglich dienen! Diese Naivetät ging sogleich von Mund zu Munde; man lachte und metzelte. Wie [329] viel eher wird nicht in der Komödie das Lachen auf rührende Empfindungen folgen können? Bewegt uns nicht Alkmene? Macht uns nicht Sosias zu lachen? Welche elende und eitle Arbeit, wider die Erfahrung streiten zu wollen.«

Sehr wohl! Aber streitet nicht auch der Herr von Voltaire wider die Erfahrung, wenn er die ganz ernsthafte Komödie für eine eben so fehlerhafte, als langweilige Gattung erkläret? Vielleicht damals, als er es schrieb, noch nicht. Damals war noch keine Cenie, noch kein Hausvater vorhanden; und vieles muß das Genie erst wirklich machen, wenn wir es für möglich erkennen sollen.

Zwei und zwanzigstes Stück

Den 14ten Julius, 1767


Den acht und zwanzigsten Abend (Dienstags, den 2ten Junius,) ward der Advokat Patelin wiederholt, und mit der kranken Frau des Herrn Gellert beschlossen.

Ohnstreitig ist unter allen unsern komischen Schriftstellern Herr Gellert derjenige, dessen Stücke das meiste ursprünglich Deutsche haben. Es sind wahre Familiengemälde, in denen man sogleich zu Hause ist; jeder Zuschauer glaubt, einen Vetter, einen Schwager, ein Mühmchen aus seiner eigenen Verwandtschaft darin zu erkennen. Sie beweisen zugleich, daß es an Originalnarren bei uns gar nicht mangelt, und daß nur die Augen ein wenig selten sind, denen sie sich in ihrem wahren Lichte zeigen. Unsere Torheiten sind bemerkbarer, als bemerkt; im gemeinen Leben sehen wir über viele aus Gutherzigkeit hinweg; und in der Nachahmung haben sich unsere Virtuosen an eine allzuflache Manier gewöhnet. Sie machen sie ähnlich, aber nicht hervorspringend. Sie treffen; aber da sie ihren Gegenstand nicht vorteilhaft genug zu beleuchten gewußt, so mangelt dem Bilde die Rundung, das Körperliche; wir sehen nur immer eine Seite, an der wir uns bald satt gesehen, und deren allzuschneidende Außenlinien uns gleich an die Täuschung erinnern, wenn wir in Gedanken um die übrigen Seiten herumgehen wollen. Die [330] Narren sind in der ganzen Welt platt und frostig und ekel; wann sie belustigen sollen, muß ihnen der Dichter etwas von dem Seinigen geben. Er muß sie nicht in ihrer Alltagskleidung, in der schmutzigen Nachlässigkeit, auf das Theater bringen, in der sie innerhalb ihrer vier Pfählen herumträumen. Sie müssen nichts von der engen Sphäre kümmerlicher Umstände verraten, aus der sich ein jeder gern herausarbeiten will. Er muß sie aufputzen; er muß ihnen Witz und Verstand leihen, das Armselige ihrer Torheiten bemänteln zu können; er muß ihnen den Ehrgeiz geben, damit glänzen zu wollen.

Ich weiß gar nicht, sagte eine von meinen Bekanntinnen, was das für ein Paar zusammen ist, dieser Herr Stephan, und diese Frau Stephan! Herr Stephan ist ein reicher Mann, und ein guter Mann. Gleichwohl muß seine geliebte Frau Stephan um eine lumpige Adrienne so viel Umstände machen! Wir sind freilich sehr oft um ein Nichts krank; aber doch um ein so gar großes Nichts nicht. Eine neue Adrienne! Kann sie nicht hinschicken, und ausnehmen lassen, und machen lassen. Der Mann wird ja wohl bezahlen; und er muß ja wohl.

Ganz gewiß! sagte eine andere. Aber ich habe noch etwas zu erinnern. Der Dichter schrieb zu den Zeiten unserer Mütter. Eine Adrienne! Welche Schneidersfrau trägt denn noch eine Adrienne? Es ist nicht erlaubt, daß die Aktrice hier dem guten Manne nicht ein wenig nachgeholfen! Konnte sie nicht Roberonde, Benedictine, Respectueuse, – (ich habe die andern Namen vergessen, ich würde sie auch nicht zu schreiben wissen,) – dafür sagen! Mich in einer Adrienne zu denken; das allein könnte mich krank machen. Wenn es der neueste Stoff ist, wornach Madame Stephan lechzet, so muß es auch die neueste Tracht sein. Wie können wir es sonst wahrscheinlich finden, daß sie darüber krank geworden?

Und ich, sagte eine dritte, (es war die gelehrteste,) finde es sehr unanständig, daß die Stephan ein Kleid anzieht, das nicht auf ihren Leib gemacht worden. Aber man sieht wohl, was den Verfasser zu dieser – wie soll ich es nennen? – Verkennung unserer Delicatesse gezwungen hat. Die Einheit der Zeit! Das Kleid mußte fertig sein; die Stephan sollte es noch [331] anziehen; und in vier und zwanzig Stunden wird nicht immer ein Kleid fertig. Ja er durfte sich nicht einmal zu einem kleinen Nachspiele vier und zwanzig Stunden gar wohl erlauben. Denn Aristoteles sagt – Hier ward meine Kunstrichterin unterbrochen.

Den neun und zwanzigsten Abend (Mittewochs, den 3ten Junius,) ward nach der Melanide des De la Chaussee, der Mann nach der Uhr, oder der ordentliche Mann, gespielet.

Der Verfasser dieses Stücks ist Herr Hippel, in Danzig. Es ist reich an drolligen Einfällen; nur Schade, daß ein jeder, sobald er den Titel hört, alle diese Einfälle voraussieht. National ist es auch genug; oder vielmehr provincial. Und dieses könnte leicht das andere Extremum werden, in das unsere komischen Dichter verfielen, wenn sie wahre deutsche Sitten schildern wollten. Ich fürchte, daß jeder die armseligen Gewohnheiten des Winkels, in dem er geboren worden, für die eigentlichen Sitten des gemeinschaftlichen Vaterlandes halten dürfte. Wem aber liegt daran, zu erfahren, wie vielmal im Jahre man da oder dort grünen Kohl ißt?

Ein Lustspiel kann einen doppelten Titel haben; doch versteht sich, daß jeder etwas anders sagen muß. Hier ist das nicht; der Mann nach der Uhr, oder der ordentliche Mann, sagen ziemlich das nämliche; außer daß das erste ohngefähr die Karikatur von dem andern ist.

Den dreißigsten Abend (Donnerstags, den 4ten Junius,) ward der Graf von Essex, vom Thomas Corneille, aufgeführt.

Dieses Trauerspiel ist fast das einzige, welches sich aus der beträchtlichen Anzahl der Stücke des jüngern Corneille, auf dem Theater erhalten hat. Und ich glaube, es wird auf den deutschen Bühnen noch öfterer wiederholt, als auf den französischen. Es ist vom Jahre 1678, nachdem vierzig Jahre vorher bereits Calprenede die nämliche Geschichte bearbeitet hatte.

»Es ist gewiß, schreibt Corneille, daß der Graf von Essex bei der Königin Elisabeth in besondern Gnaden gestanden. Er war von Natur sehr stolz. Die Dienste, die er England geleistet hatte, bliesen ihn noch mehr auf. Seine Feinde beschuldigten [332] ihn eines Verständnisses mit dem Grafen von Tyrone, den die Rebellen in Irland zu ihrem Haupte erwählet hatten. Der Verdacht, der dieserwegen auf ihm blieb, brachte ihn um das Kommando der Armee. Er ward erbittert, kam nach London, wiegelte das Volk auf, ward in Verhaft gezogen, verurteilt, und nachdem er durchaus nicht um Gnade bitten wollen, den 25sten Februar, 1601, enthauptet. So viel hat mir die Historie an die Hand gegeben. Wenn man mir aber zur Last legt, daß ich sie in einem wichtigen Stücke verfälscht hätte, weil ich mich des Vorfalles mit dem Ringe nicht bedienete, den die Königin dem Grafen zum Unterpfande ihrer unfehlbaren Begnadigung, falls er sich jemals eines Staatsverbrechens schuldig machen sollte, gegeben habe: so muß mich dieses sehr befremden. Ich bin versichert, daß dieser Ring eine Erfindung des Calprenede ist, wenigstens habe ich in keinem Geschichtschreiber das geringste davon gelesen.«

Allerdings stand es Corneillen frei, diesen Umstand mit dem Ringe zu nutzen, oder nicht zu nutzen; aber darin ging er zu weit, daß er ihn für eine poetische Erfindung erklärte. Seine historische Richtigkeit ist neuerlich fast außer Zweifel gesetzt worden; und die bedächtlichsten, skeptischsten Geschichtschreiber, Hume und Robertson, haben ihn in ihre Werke aufgenommen.

Wenn Robertson in seiner Geschichte von Schottland von der Schwermut redet, in welche Elisabeth vor ihrem Tode verfiel, so sagt er: »Die gemeinste Meinung damaliger Zeit, und vielleicht die wahrscheinlichste, war diese, daß dieses Übel aus einer betrübten Reue wegen des Grafen von Essex entstanden sei. Sie hatte eine ganz außerordentliche Achtung für das Andenken dieses unglücklichen Herrn; und wiewohl sie oft über seine Hartnäckigkeit klagte, so nannte sie doch seinen Namen selten ohne Tränen. Kurz vorher hatte sich ein Vorfall zugetragen, der ihre Neigung mit neuer Zärtlichkeit belebte, und ihre Betrübnis noch mehr vergällte. Die Gräfin von Nottingham, die auf ihrem Todbette lag, wünschte die Königin zu sehen, und ihr ein Geheimnis zu offenbaren, dessen Verhehlung sie nicht ruhig würde sterben lassen. Wie die Königin in ihr Zimmer kam, sagte ihr die [333] Gräfin, Essex habe, nachdem ihm das Todesurteil gesprochen worden, gewünscht, die Königin um Vergebung zu bitten, und zwar auf die Art, die Ihro Majestät ihm ehemals selbst vorgeschrieben. Er habe ihr nämlich den Ring zuschicken wollen, den sie ihm, zur Zeit der Huld, mit der Versicherung geschenkt, daß, wenn er ihr denselben, bei einem etwanigen Unglücke, als ein Zeichen senden würde, er sich ihrer völligen Gnaden wiederum versichert halten sollte. Lady Scroop sei die Person, durch welche er ihn habe übersenden wollen; durch ein Versehen aber sei er, nicht in der Lady Scroop, sondern in ihre Hände geraten. Sie habe ihrem Gemahl die Sache erzählt, (er war einer von den unversöhnlichsten Feinden des Essex,) und der habe ihr verboten, den Ring weder der Königin zu geben, noch dem Grafen zurück zu senden. Wie die Gräfin der Königin ihr Geheimnis entdeckt hatte, bat sie dieselbe um Vergebung; allein Elisabeth, die nunmehr sowohl die Bosheit der Feinde des Grafen, als ihre eigene Ungerechtigkeit einsahe, daß sie ihn im Verdacht eines unbändigen Eigensinnes gehabt, antwortete: Gott mag Euch vergeben; ich kann es nimmermehr! Sie verließ das Zimmer in großer Entsetzung, und von dem Augenblicke an sanken ihre Lebensgeister gänzlich. Sie nahm weder Speise noch Trank zu sich; sie verweigerte sich allen Arzeneien; sie kam in kein Bette; sie blieb zehn Tage und zehn Nächte auf einem Polster, ohne ein Wort zu sprechen, in Gedanken sitzen; einen Finger im Munde, mit offenen, auf die Erde geschlagenen Augen; bis sie endlich, von innerlicher Angst der Seelen und von so langem Fasten ganz entkräftet, den Geist aufgab.«

Drei und zwanzigstes Stück

Den 17ten Julius, 1767


Der Herr von Voltaire hat den Essex auf eine sonderbare Weise kritisiert. Ich möchte nicht gegen ihn behaupten, daß Essex ein vorzüglich gutes Stück sei; aber das ist leicht zu erweisen, daß viele von den Fehlern, die er daran tadelt, Teils [334] sich nicht darin finden, Teils unerhebliche Kleinigkeiten sind, die seiner Seits eben nicht den richtigsten und würdigsten Begriff von der Tragödie voraussetzen.

Es gehört mit unter die Schwachheiten des Herrn von Voltaire, daß er ein sehr profunder Historikus sein will. Er schwang sich also auch bei dem Essex auf dieses sein Streitroß, und tummelte es gewaltig herum. Schade nur, daß alle die Taten, die er darauf verrichtet, des Staubes nicht wert sind, den er erregt.

Thomas Corneille hat ihm von der englischen Geschichte nur wenig gewußt; und zum Glücke für den Dichter, war das damalige Publikum noch unwissender. Itzt, sagt er, kennen wir die Königin Elisabeth und den Grafen Essex besser; itzt würden einem Dichter dergleichen grobe Verstoßungen wider die historische Wahrheit schärfer aufgemutzet werden.

Und welches sind denn diese Verstoßungen? Voltaire hat ausgerechnet, daß die Königin damals, als sie dem Grafen den Prozeß machen ließ, acht und sechzig Jahr alt war. Es wäre also lächerlich, sagt er, wenn man sich einbilden wollte, daß die Liebe den geringsten Anteil an dieser Begebenheit könne gehabt haben. Warum das? Geschieht nichts Lächerliches in der Welt? Sich etwas Lächerliches als geschehen denken, ist das so lächerlich? »Nachdem das Urteil über den Essex abgegeben war, sagt Hume, fand sich die Königin in der äußersten Unruhe und in der grausamsten Ungewißheit. Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleiden, Sorge für ihre eigene Sicherheit und Bekümmernis um das Leben ihres Lieblings, stritten unaufhörlich in ihr: und vielleicht, daß sie in diesem quälenden Zustande mehr zu beklagen war, als Essex selbst. Sie unterzeichnete und widerrufte den Befehl zu seiner Hinrichtung einmal über das andere; itzt war sie fast entschlossen, ihn dem Tode zu überliefern; den Augenblick darauf erwachte ihre Zärtlichkeit aufs neue, und er sollte leben. Die Feinde des Grafen ließen sie nicht aus den Augen; sie stellten ihr vor, daß er selbst den Tod wünsche, daß er selbst erkläret habe, wie sie doch anders keine Ruhe vor ihm haben würde. Wahrscheinlicher Weise tat diese Äußerung[335] von Reue und Achtung für die Sicherheit der Königin, die der Graf sonach lieber durch seinen Tod befestigen wollte, eine ganz andere Wirkung, als sich seine Feinde davon versprochen hatten. Sie fachte das Feuer einer alten Leidenschaft, die sie so lange für den unglücklichen Gefangnen genähret hatte, wieder an. Was aber dennoch ihr Herz gegen ihn verhärtete, war die vermeintliche Halsstarrigkeit, durchaus nicht um Gnade zu bitten. Sie versahe sich dieses Schrittes von ihm alle Stunden, und nur aus Verdruß, daß er nicht erfolgen wollte, ließ sie dem Rechte endlich seinen Lauf.«

Warum sollte Elisabeth nicht noch in ihrem acht und sechzigsten Jahre geliebt haben, sie, die sich so gern lieben ließ? Sie, der es so sehr schmeichelte, wenn man ihre Schönheit rühmte? Sie, die es so wohl aufnahm, wenn man ihre Kette zu tragen schien? Die Welt muß in diesem Stücke keine eitlere Frau jemals gesehen haben. Ihre Höflinge stellten sich daher alle in sie verliebt, und bedienten sich gegen Ihro Majestät, mit allem Anscheine des Ernstes, des Stils der lächerlichsten Galanterie. Als Raleigh in Ungnade fiel, schrieb er an seinen Freund Cecil einen Brief, ohne Zweifel damit er ihn weisen sollte, in welchem ihm die Königin eine Venus, eine Diane, und ich weiß nicht was, war. Gleichwohl war diese Göttin damals schon sechzig Jahr alt. Fünf Jahr darauf führte Heinrich Unton, ihr Abgesandter in Frankreich, die nämliche Sprache mit ihr. Kurz, Corneille ist hinlänglich berechtiget gewesen, ihr alle die verliebte Schwach heit beizulegen, durch die er das zärtliche Weib mit der stolzen Königin in einen so interessanten Streit bringet.

Eben so wenig hat er den Charakter des Essex verstellet, oder verfälschet. Essex, sagt Voltaire, war der Held gar nicht, zu dem ihn Corneille macht: er hat nie etwas merkwürdiges getan. Aber, wenn er es nicht war, so glaubte er es doch zu sein. Die Vernichtung der spanischen Flotte, die Eroberung von Cadix, an der ihn Voltaire wenig oder gar kein Teil läßt, hielt er so sehr für sein Werk, daß er es durchaus nicht leiden wollte, wenn sich jemand die geringste Ehre davon anmaßte. Er erbot sich, es mit dem Degen in der Hand, gegen den Grafen von Notthingham, unter dem er kommandiert [336] hatte, gegen seinen Sohn, gegen jeden von seinen Anverwandten, zu beweisen, daß sie ihm allein zugehöre.

Corneille läßt den Grafen von seinen Feinden, namentlich vom Raleigh, vom Cecil, vom Cobhan, sehr verächtlich sprechen. Auch das will Voltaire nicht gut heißen. Es ist nicht erlaubt, sagt er, eine so neue Geschichte so gröblich zu verfälschen, und Männer von so vornehmer Geburt, von so großen Verdiensten, so unwürdig zu mißhandeln. Aber hier kömmt es ja gar nicht darauf an, was diese Männer waren, sondern wofür sie Essex hielt; und Essex war auf seine eigene Verdienste stolz genug, um ihnen ganz und gar keine einzuräumen.

Wenn Corneille den Essex sagen läßt, daß es nur an seinem Willen gemangelt, den Thron selbst zu besteigen, so läßt er ihn freilich etwas sagen, was noch weit von der Wahrheit entfernt war. Aber Voltaire hätte darum doch nicht ausrufen müssen: »Wie? Essex auf dem Throne? mit was für Recht? unter was für Vorwande? wie wäre das möglich gewesen?« Denn Voltaire hätte sich erinnern sollen, daß Essex von mütterlicher Seite aus dem Königlichen Hause abstammte, und daß es wirklich Anhänger von ihm gegeben, die unbesonnen genug waren, ihn mit unter diejenigen zu zählen, die Ansprüche auf die Krone machen könnten. Als er daher mit dem Könige Jakob von Schottland in geheime Unterhandlung trat, ließ er es das erste sein, ihn zu versichern, daß er selbst dergleichen ehrgeizige Gedanken nie gehabt habe. Was er hier von sich ablehnte, ist nicht viel weniger, als was ihn Corneille voraussetzen läßt.

Indem also Voltaire durch das ganze Stück nichts als historische Unrichtigkeiten findet, begeht er selbst nicht geringe. Über eine hat sich Walpole 13 schon lustig gemacht. Wenn nämlich Voltaire die erstern Lieblinge der Königin Elisabeth nennen will, so nennt er den Robert Dudley und den Grafen von Leicester. Er wußte nicht, daß beide nur eine Person waren, und daß man mit eben dem Rechte den Poeten Arouet und den Kammerherrn von Voltaire zu zwei [337] verschiedenen Personen machen könnte. Eben so unverzeihlich ist das Hysteronproteron, in welches er mit der Ohrfeige verfällt, die die Königin dem Essex gab. Es ist falsch, daß er sie nach seiner unglücklichen Expedition in Irland bekam; er hatte sie lange vorher bekommen; und es ist so wenig wahr, daß er damals den Zorn der Königin durch die geringste Erniedrigung zu besänftigen gesucht, daß er vielmehr auf die lebhafteste und edelste Art mündlich und schriftlich seine Empfindlichkeit darüber ausließ. Er tat zu seiner Begnadigung auch nicht wieder den ersten Schritt; die Königin mußte ihn tun.

Aber was geht mich hier die historische Unwissenheit des Herrn von Voltaire an? Eben so wenig als ihn die historische Unwissenheit des Corneille hätte angehen sollen. Und eigentlich will ich mich auch nur dieser gegen ihn annehmen.

Die ganze Tragödie des Corneille sei ein Roman: wenn er rührend ist, wird er dadurch weniger rührend, weil der Dichter sich wahrer Namen bedienet hat?

Weswegen wählt der tragische Dichter wahre Namen? Nimmt er seine Charaktere aus diesen Namen; oder nimmt er diese Namen, weil die Charaktere, welche ihnen die Geschichte beilegt, mit den Charakteren, die er in Handlung zu zeigen sich vorgenommen, mehr oder weniger Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art, wie die meisten Trauerspiele vielleicht entstanden sind, sondern wie sie eigentlich entstehen sollten. Oder, mich mit der gewöhnlichen Praxi der Dichter übereinstimmender auszudrücken: sind es die bloßen Facta, die Umstände der Zeit und des Ortes, oder sind es die Charaktere der Personen, durch welche die Facta wirklich geworden, warum der Dichter lieber diese als eine andere Begebenheit wählet? Wenn es die Charaktere sind, so ist die Frage gleich entschieden, wie weit der Dichter von der historischen Wahrheit abgehen könne? In allem, was die Charaktere nicht betrifft, so weit er will. Nur die Charaktere sind ihm heilig; diese zu verstärken, diese in ihrem besten Lichte zu zeigen, ist alles, was er von dem Seinigen dabei hinzutun darf; die geringste wesentliche Veränderung [338] würde die Ursache aufheben, warum sie diese und nicht andere Namen führen; und nichts ist anstößiger, als wovon wir uns keine Ursache geben können.

Vier und zwanzigstes Stück

Den 21sten Julius, 1767


Wenn der Charakter der Elisabeth des Corneille das poetische Ideal von dem wahren Charakter ist, den die Geschichte der Königin dieses Namens beilegt; wenn wir in ihr die Unentschlüssigkeit, die Widersprüche, die Beängstigung, die Reue, die Verzweiflung, in die ein stolzes und zärtliches Herz, wie das Herz der Elisabeth, ich will nicht sagen, bei diesen und jenen Umständen wirklich verfallen ist, sondern auch nur verfallen zu können vermuten lassen, mit wahren Farben geschildert finden: so hat der Dichter alles getan, was ihm als Dichter zu tun obliegt. Sein Werk, mit der Chronologie in der Hand, untersuchen; ihn vor den Richterstuhl der Geschichte führen, um ihn da jedes Datum, jede beiläufige Erwähnung, auch wohl solcher Personen, über welche die Geschichte selbst in Zweifel ist, mit Zeugnissen belegen zu lassen: heißt ihn und seinen Beruf verkennen, heißt von dem, dem man diese Verkennung nicht zutrauen kann, mit einem Worte, chicanieren.

Zwar bei dem Herrn von Voltaire könnte es leicht weder Verkennung noch Chicane sein. Denn Voltaire ist selbst ein tragischer Dichter, und ohnstreitig ein weit größerer, als der jüngere Corneille. Es wäre denn, daß man ein Meister in einer Kunst sein, und doch falsche Begriffe von der Kunst haben könnte. Und was die Chicane anbelangt, die ist, wie die ganze Welt weiß, sein Werk nun gar nicht. Was ihr in seinen Schriften hier und da ähnlich sieht, ist nichts als Laune; aus bloßer Laune spielt er dann und wann in der Poetik den Historikus, in der Historie den Philosophen, und in der Philosophie den witzigen Kopf.

Sollte er umsonst wissen, daß Elisabeth acht und sechzig Jahr alt war, als sie den Grafen köpfen ließ? Im acht und [339] sechzigsten Jahre noch verliebt, noch eifersüchtig! Die große Nase der Elisabeth dazu genommen, was für lustige Einfälle muß das geben! Freilich stehen diese lustigen Einfälle in dem Kommentare über eine Tragödie; also da, wo sie nicht hingehören. Der Dichter hätte Recht zu seinem Kommentator zu sagen: »Mein Herr Notenmacher, diese Schwänke gehören in Eure allgemeine Geschichte, nicht unter meinen Text. Denn es ist falsch, daß meine Elisabeth acht und sechzig Jahr alt ist. Weiset mir doch, wo ich das sage. Was ist in meinem Stücke, das Euch hinderte, sie nicht ungefähr mit dem Essex von gleichem Alter anzunehmen? Ihr sagt: Sie war aber nicht von gleichem Alter: Welche Sie? Eure Elisabeth im Rapin de Thoyras; das kann sein. Aber warum habt Ihr den Rapin de Thoyras gelesen? Warum seid Ihr so gelehrt? Warum vermengt Ihr diese Elisabeth mit meiner? Glaubt Ihr im Ernst, daß die Erinnerung bei dem und jenem Zuschauer, der den Rapin de Thoyras auch einmal gelesen hat, lebhafter sein werde, als der sinnliche Eindruck, den eine wohlgebildete Aktrice in ihren besten Jahren auf ihn macht? Er sieht ja meine Elisabeth; und seine eigene Augen überzeugen ihn, daß es nicht Eure acht und sechzigjährige Elisabeth ist. Oder wird er dem Rapin de Thoyras mehr glauben, als seinen eignen Augen?« –

So ungefähr könnte sich auch der Dichter über die Rolle des Essex erklären. »Euer Essex im Rapin de Thoyras, könnte er sagen, ist nur der Embryo von dem meinigen. Was sich jener zu sein dünkte, ist meiner wirklich. Was jener, unter glücklichern Umständen, für die Königin vielleicht getan hätte, hat meiner getan. Ihr hört ja, daß es ihm die Königin selbst zugesteht; wollt Ihr meiner Königin nicht eben so viel glauben, als dem Rapin de Thoyras? Mein Essex ist ein verdienter und großer, aber stolzer und unbiegsamer Mann. Eurer war in der Tat weder so groß, noch so unbiegsam: desto schlimmer für ihn. Genug für mich, daß er doch immer noch groß und unbiegsam genug war, um meinem von ihm abgezogenen Begriffe seinen Namen zu lassen.«

Kurz: die Tragödie ist keine dialogierte Geschichte; die [340] Geschichte ist für die Tragödie nichts, als ein Repertorium von Namen, mit denen wir gewisse Charaktere zu verbinden gewohnt sind. Findet der Dichter in der Geschichte mehrere Umstände zur Ausschmückung und Individualisierung seines Stoffes bequem: wohl, so brauche er sie. Nur daß man ihm hieraus eben so wenig ein Verdienst, als aus dem Gegenteile ein Verbrechen mache!

Diesen Punkt von der historischen Wahrheit abgerechnet, bin ich sehr bereit, das übrige Urteil des Herrn von Voltaire zu unterschreiben. Essex ist ein mittelmäßiges Stück, sowohl in Ansehung der Intrigue, als des Stils. Den Grafen zu einem seufzenden Liebhaber einer Irton zu machen; ihn mehr aus Verzweiflung, daß er der ihrige nicht sein kann, als aus edelmütigem Stolze, sich nicht zu Entschuldigungen und Bitten herab zu lassen, auf das Schafott zu führen: das war der unglücklichste Einfall, den Thomas nur haben konnte, den er aber als ein Franzose wohl haben mußte. Der Stil ist in der Grundsprache schwach; in der Übersetzung ist er oft kriechend geworden. Aber überhaupt ist das Stück nicht ohne Interesse, und hat hier und da glückliche Verse; die aber im Französischen glücklicher sind, als im Deutschen. »Die Schauspieler, setzt der Herr von Voltaire hinzu, besonders die in der Provinz, spielen die Rolle des Essex gar zu gern, weil sie in einem gestickten Bande unter dem Knie, und mit einem großen blauen Bande über die Schulter darin erscheinen können. Der Graf ist ein Held von der ersten Klasse, den der Neid verfolgt: das macht Eindruck. Übrigens ist die Zahl der guten Tragödien bei allen Nationen in der Welt so klein, daß die, welche nicht ganz schlecht sind, noch immer Zuschauer an sich ziehen, wenn sie von guten Akteurs nur aufgestutzet werden.«

Er bestätiget dieses allgemeine Urteil durch verschiedene einzelne Anmerkungen, die eben so richtig, als scharfsinnig sind, und deren man sich vielleicht, bei einer wiederholten Vorstellung, mit Vergnügen erinnern dürfte. Ich teile die vorzüglichsten also hier mit; in der festen Überzeugung, daß die Kritik dem Genusse nicht schadet, und daß diejenigen, welche ein Stück am schärfesten zu beurteilen gelernt haben,[341] immer diejenigen sind, welche das Theater am fleißigsten besuchen.

»Die Rolle des Cecils ist eine Nebenrolle, und eine sehr frostige Nebenrolle. Solche kriechende Schmeichler zu malen, muß man die Farben in seiner Gewalt haben, mit welchen Racine den Narcissus geschildert hat.«

»Die vorgebliche Herzogin von Irton ist eine vernünftige tugendhafte Frau, die sich durch ihre Liebe zu dem Grafen weder die Ungnade der Elisabeth zuziehen, noch ihren Liebhaber heiraten wollen. Dieser Charakter würde sehr schön sein, wenn er mehr Leben hätte, und wenn er zur Verwickelung etwas beitrüge; aber hier vertritt sie bloß die Stelle eines Freundes. Das ist für das Theater nicht hinlänglich.«

»Mich dünket, daß alles, was die Personen in dieser Tragödie sagen und tun, immer noch sehr schielend, verwirret und unbestimmet ist. Die Handlung muß deutlich, der Knoten verständlich, und jede Gesinnung plan und natürlich sein: das sind die ersten, wesentlichsten Regeln. Aber was will Essex? Was will Elisabeth? Worin besteht das Verbrechen des Grafen? Ist er schuldig, oder ist er fälschlich angeklagt? Wenn ihn die Königin für unschuldig hält, so muß sie sich seiner annehmen. Ist er aber schuldig: so ist es sehr unvernünftig, die Vertraute sagen zu lassen, daß er nimmermehr um Gnade bitten werde, daß er viel zu stolz dazu sei. Dieser Stolz schickt sich sehr wohl für einen tugendhaften unschuldigen Helden, aber für keinen Mann, der des Hochverrats überwiesen ist. Er soll sich unterwerfen: sagt die Königin. Ist das wohl die eigentliche Gesinnung, die sie haben muß, wenn sie ihn liebt? Wenn er sich nun unterworfen, wenn er nun ihre Verzeihung angenommen hat, wird Elisabeth darum von ihm mehr geliebt, als zuvor? Ich liebe ihn hundertmal mehr, als mich selbst: sagt die Königin. Ah, Madame; wenn es so weit mit Ihnen gekommen ist, wenn Ihre Leidenschaft so heftig geworden: so untersuchen Sie doch die Beschuldigungen Ihres Geliebten selbst, und verstatten nicht, daß ihn seine Feinde unter Ihrem Namen so verfolgen und unterdrücken, wie es durch das ganze Stück, obwohl ganz ohne Grund, heißt.«

[342] »Auch aus dem Freunde des Grafen, dem Salisbury, kann man nicht klug werden, ob er ihn für schuldig oder für unschuldig hält. Er stellt der Königin vor, daß der Anschein öfters betriege, daß man alles von der Parteilichkeit und Ungerechtigkeit seiner Richter zu besorgen habe. Gleichwohl nimmt er seine Zuflucht zur Gnade der Königin. Was hatte er dieses nötig, wenn er seinen Freund nicht strafbar glaubte? Aber was soll der Zuschauer glauben? Der weiß eben so wenig, woran er mit der Verschwörung des Grafen, als woran er mit der Zärtlichkeit der Königin gegen ihn ist.«

»Salisbury sagt der Königin, daß man die Unterschrift des Grafen nachgemacht habe. Aber die Königin läßt sich im geringsten nicht einfallen, einen so wichtigen Umstand näher zu untersuchen. Gleichwohl war sie als Königin und als Geliebte dazu verbunden. Sie antwortet nicht einmal auf diese Eröffnung, die sie doch begierigst hätte ergreifen müssen. Sie erwidert bloß mit andern Worten, daß der Graf allzu stolz sei, und daß sie durchaus wolle, er solle um Gnade bitten.«

»Aber warum sollte er um Gnade bitten, wenn seine Unterschrift nachgemacht war?«

Fünf und zwanzigstes Stück

Den 24sten Julius, 1767


»Essex selbst beteuert seine Unschuld; aber warum will er lieber sterben, als die Königin davon überzeugen? Seine Feinde haben ihn verleumdet; er kann sie mit einem einzigen Worte zu Boden schlagen; und er tut es nicht. Ist das dem Charakter eines so stolzen Mannes gemäß? Soll er aus Liebe zur Irton so widersinnig handeln: so hätte ihn der Dichter durch das ganze Stück von seiner Leidenschaft mehr bemeistert zeigen müssen. Die Heftigkeit des Affekts kann alles entschuldigen; aber in dieser Heftigkeit sehen wir ihn nicht.«

»Der Stolz der Königin streitet unaufhörlich mit dem Stolze des Essex; ein solcher Streit kann leicht gefallen. Aber wenn allein dieser Stolz sie handeln läßt, so ist er bei [343] der Elisabeth sowohl, als bei dem Grafen, bloßer Eigensinn. Er soll mich um Gnade bitten; ich will sie nicht um Gnade bitten: das ist die ewige Leier. Der Zuschauer muß vergessen, daß Elisabeth entweder sehr abgeschmackt, oder sehr ungerecht ist, wenn sie verlangt, daß der Graf sich ein Verbrechen soll vergeben lassen, welches er nicht begangen, oder sie nicht untersucht hat. Er muß es vergessen, und er vergißt es wirklich, um sich bloß mit den Gesinnungen des Stolzes zu beschäftigen, der dem menschlichen Herze so schmeichelhaft ist.«

»Mit einem Worte: keine einzige Rolle dieses Trauerspiels ist, was sie sein sollte; alle sind verfehlt; und gleichwohl hat es gefallen. Woher dieses Gefallen? Offenbar aus der Situation der Personen, die für sich selbst rührend ist. – Ein großer Mann, den man auf das Schafott führet, wird immer interessieren; die Vorstellung seines Schicksals macht, auch ohne alle Hülfe der Poesie, Eindruck; ungefähr eben den Eindruck, den die Wirklichkeit selbst machen würde.«

So viel liegt für den tragischen Dichter an der Wahl des Stoffes. Durch diese allein, können die schwächsten verwirrtesten Stücke eine Art von Glück machen; und ich weiß nicht, wie es kömmt, daß es immer solche Stücke sind, in welchen sich gute Akteurs am vorteilhaftesten zeigen. Selten wird ein Meisterstück so meisterhaft vorgestellt, als es geschrieben ist; das Mittelmäßige fährt mit ihnen immer besser. Vielleicht, weil sie in dem Mittelmäßigen mehr von dem Ihrigen hinzutun können; vielleicht, weil uns das Mittelmäßige mehr Zeit und Ruhe läßt, auf ihr Spiel aufmerksam zu sein; vielleicht, weil in dem Mittelmäßigen alles nur auf einer oder zwei hervorstechenden Personen beruhet, anstatt, daß in einem vollkommenern Stücke öfters eine jede Person ein Hauptakteur sein müßte, und wenn sie es nicht ist, indem sie ihre Rolle verhunzt, zugleich auch die übrigen verderben hilft.

Beim Essex können alle diese und mehrere Ursachen zusammen kommen. Weder der Graf noch die Königin sind von dem Dichter mit der Stärke geschildert, daß sie durch die Aktion nicht noch weit stärker werden könnten. Essex [344] spricht so stolz nicht, daß ihn der Schauspieler nicht in jeder Stellung, in jeder Gebärde, in jeder Miene, noch stolzer zeigen könnte. Es ist sogar dem Stolze wesentlich, daß er sich weniger durch Worte, als durch das übrige Betragen, äußert. Seine Worte sind öfters bescheiden, und es läßt sich nur sehen, nicht hören, daß es eine stolze Bescheidenheit ist. Diese Rolle muß also notwendig in der Vorstellung gewinnen. Auch die Nebenrollen können keinen übeln Einfluß auf ihn haben: je subalterner Cecil und Salisbury gespielt werden, desto mehr ragt Essex hervor. Ich darf es also nicht erst lange sagen, wie vortrefflich ein Eckhof das machen muß, was auch der gleichgültigste Akteur nicht ganz verderben kann.

Mit der Rolle der Elisabeth ist es nicht völlig so; aber doch kann sie auch schwerlich ganz verunglücken. Elisabeth ist so zärtlich, als stolz; ich glaube ganz gern, daß ein weibliches Herz beides zugleich sein kann; aber wie eine Aktrice beides gleich gut vorstellen könne, das begreife ich nicht recht. In der Natur selbst trauen wir einer stolzen Frau nicht viel Zärtlichkeit, und einer zärtlichen nicht viel Stolz zu. Wir trauen es ihr nicht zu, sage ich: denn die Kennzeichen des einen widersprechen den Kennzeichen des andern. Es ist ein Wunder, wenn ihr beide gleich geläufig sind; hat sie aber nur die einen vorzüglich in ihrer Gewalt, so kann sie die Leidenschaft, die sich durch die andern ausdrückt, zwar empfinden, aber schwerlich werden wir ihr glauben, daß sie dieselbe so lebhaft empfindet, als sie sagt. Wie kann eine Aktrice nun weiter gehen, als die Natur? Ist sie von einem majestätischen Wuchse, tönt ihre Stimme voller und männlicher, ist ihr Blick dreist, ist ihre Bewegung schnell und herzhaft: so werden ihr die stolzen Stellen vortrefflich gelingen; aber wie steht es mit den zärtlichen? Ist ihre Figur hingegen weniger imponierend; herrscht in ihren Mienen Sanftmut, in ihren Augen ein bescheidnes Feuer, in ihrer Stimme mehr Wohlklang, als Nachdruck; ist in ihrer Bewegung mehr Anstand und Würde, als Kraft und Geist: so wird sie den zärtlichen Stellen die völligste Genüge leisten; aber auch den stolzen? Sie wird sie nicht verderben, ganz gewiß nicht; sie wird sie [345] noch genug absetzen; wir werden eine beleidigte zürnende Liebhaberin in ihr erblicken; nur keine Elisabeth nicht, die Manns genug war, ihren General und Geliebten mit einer Ohrfeige nach Hause zu schicken. Ich meine also, die Aktricen, welche die ganze doppelte Elisabeth uns gleich täuschend zu zeigen vermögend wären, dürfen noch seltner sein, als die Elisabeths selber; und wir können und müssen uns begnügen, wenn eine Hälfte nur recht gut gespielt, und die andere nicht ganz verwahrloset wird.

Madame Löwen hat in der Rolle der Elisabeth sehr gefallen; aber, jene allgemeine Anmerkung nunmehr auf sie anzuwenden, uns mehr die zärtliche Frau, als die stolze Monarchin, sehen und hören lassen. Ihre Bildung, ihre Stimme, ihre bescheidene Aktion, ließen es nicht anders erwarten; und mich dünkt, unser Vergnügen hat dabei nichts verloren. Denn wenn notwendig eine die andere verfinstert, wenn es kaum anders sein kann, als daß nicht die Königin unter der Liebhaberin, oder diese unter jener leiden sollte: so, glaube ich, ist es zuträglicher, wenn eher etwas von dem Stolze und der Königin, als von der Liebhaberin und der Zärtlichkeit, verloren geht.

Es ist nicht bloß eigensinniger Geschmack, wenn ich so urteile; noch weniger ist es meine Absicht, einem Frauenzimmer ein Kompliment damit zu machen, die noch immer eine Meisterin in ihrer Kunst sein würde, wenn ihr diese Rolle auch gar nicht gelungen wäre. Ich weiß einem Künstler, er sei von meinem oder dem andern Geschlechte, nur eine einzige Schmeichelei zu machen; und diese besteht darin, daß ich annehme, er sei von aller eiteln Empfindlichkeit entfernt, die Kunst gehe bei ihm über alles, er höre gern frei und laut über sich urteilen, und wolle sich lieber auch dann und wann falsch, als seltner beurteilet wissen. Wer diese Schmeichelei nicht versteht, bei dem erkenne ich mich gar bald irre, und er ist es nicht wert, daß wir ihn studieren. Der wahre Virtuose glaubt es nicht einmal, daß wir seine Vollkommenheit einsehen und empfinden, wenn wir auch noch so viel Geschrei davon machen, ehe er nicht merkt, daß wir auch Augen und Gefühl für seine Schwäche haben. Er [346] spottet bei sich über jede uneingeschränkte Bewunderung, und nur das Lob desjenigen kitzelt ihn, von dem er weiß, daß er auch das Herz hat, ihn zu tadeln.

Ich wollte sagen, daß sich Gründe anführen lassen, warum es besser ist, wenn die Aktrice mehr die zärtliche, als die stolze Elisabeth ausdrückt. Stolz muß sie sein, das ist ausgemacht: und daß sie es ist, das hören wir. Die Frage ist nur, ob sie zärtlicher als stolz, oder stolzer als zärtlich scheinen soll; ob man, wenn man unter zwei Aktricen zu wählen hätte, lieber die zur Elisabeth nehmen sollte, welche die beleidigte Königin, mit allem drohenden Ernste, mit allen Schrecken der rächerischen Majestät, auszudrücken vermöchte, oder die, welcher die eifersüchtige Liebhaberin, mit allen kränkenden Empfindungen der verschmähten Liebe, mit aller Bereitwilligkeit, dem teuern Frevler zu vergeben, mit aller Beängstigung über seine Hartnäckigkeit, mit allem Jammer über seinen Verlust, angemessener wäre? Und ich sage: diese.

Denn erstlich wird dadurch die Verdopplung des nämlichen Charakters vermieden. Essex ist stolz; und wenn Elisabeth auch stolz sein soll, so muß sie es wenigstens auf eine andere Art sein. Wenn bei dem Grafen die Zärtlichkeit nicht anders, als dem Stolze untergeordnet sein kann, so muß bei der Königin die Zärtlichkeit den Stolz überwiegen. Wenn der Graf sich eine höhere Miene gibt, als ihm zukömmt; so muß die Königin etwas weniger zu sein scheinen, als sie ist. Beide auf Stelzen, mit der Nase nur immer in der Luft einhertreten, beide mit Verachtung auf alles, was um sie ist, herabblicken lassen, würde die ekelste Einförmigkeit sein. Man muß nicht glauben können, daß Elisabeth, wenn sie an des Essex Stelle wäre, eben so, wie Essex, handeln würde. Der Ausgang weiset es, daß sie nachgebender ist, als er; sie muß also auch gleich von Anfange nicht so hoch daherfahren, als er. Wer sich durch äußere Macht empor zu halten vermag, braucht weniger Anstrengung, als der es durch eigene innere Kraft tun muß. Wir wissen darum doch, daß Elisabeth die Königin ist, wenn sich gleich Essex das königlichere Ansehen gibt.

[347] Zweitens ist es in dem Trauerspiele schicklicher, daß die Personen in ihren Gesinnungen steigen, als daß sie fallen. Es ist schicklicher, daß ein zärtlicher Charakter Augenblicke des Stolzes hat, als daß ein stolzer von der Zärtlichkeit sich fortreißen läßt. Jener scheint, sich zu erheben; dieser, zu sinken. Eine ernsthafte Königin, mit gerunzelter Stirne, mit einem Blicke, der alles scheu und zitternd macht, mit einem Tone der Stimme, der allein ihr Gehorsam verschaffen könnte, wenn die zu verliebten Klagen gebracht wird, und nach den kleinen Bedürfnissen ihrer Leidenschaft seufzet, ist fast, fast lächerlich. Eine Geliebte hingegen, die ihre Eifersucht erinnert, daß sie Königin ist, erhebt sich über sich selbst, und ihre Schwachheit wird fürchterlich.

Sechs und zwanzigstes Stück

Den 28sten Julius, 1767


Den ein und dreißigsten Abend (Mittewochs, den 10ten Junius,) ward das Lustspiel der Madame Gottsched, die Hausfranzösin, oder die Mammsell, aufgeführet.

Dieses Stück ist eines von den sechs Originalen, mit welchen 1744, unter Gottschedischer Geburtshülfe, Deutschland im fünften Bande der Schaubühne beschenkt ward. Man sagt, es sei, zur Zeit seiner Neuheit, hier und da mit Beifall gespielt worden. Man wollte versuchen, welchen Beifall es noch erhalten würde, und es erhielt den, den es verdienet; gar keinen. Das Testament, von eben derselben Verfasserin, ist noch so etwas; aber die Hausfranzösin ist ganz und gar nichts. Noch weniger, als nichts: denn sie ist nicht allein niedrig, und platt, und kalt, sondern noch oben darein schmutzig, ekel, und im höchsten Grade beleidigend. Es ist mir unbegreiflich, wie eine Dame solches Zeug schreiben können. Ich will hoffen, daß man mir den Beweis von diesem allen schenken wird. –

Den zwei und dreißigsten Abend (Donnerstags, den 11ten Junius,) ward die Semiramis des Herrn von Voltaire wiederholt.

[348] Da das Orchester bei unsern Schauspielen gewissermaßen die Stelle der alten Chöre vertritt, so haben Kenner schon längst gewünscht, daß die Musik, welche vor und zwischen und nach dem Stücke gespielt wird, mit dem Inhalte desselben mehr übereinstimmen möchte. Herr Scheibe ist unter den Musicis derjenige, welcher zuerst hier ein ganz neues Feld für die Kunst bemerkte. Da er einsahe, daß, wenn die Rührung des Zuschauers nicht auf eine unangenehme Art geschwächt und unterbrochen werden sollte, ein jedes Schauspiel seine eigene musikalische Begleitung erfordere: so machte er nicht allein bereits 1738 mit dem Polyeukt und Mithridat den Versuch, besondere diesen Stücken entsprechende Symphonien zu verfertigen, welche bei der Gesellschaft der Neuberin, hier in Hamburg, in Leipzig, und anderwärts aufgeführet wurden; sondern ließ sich auch in einem besondern Blatte seines kritischen Musikus 14 umständlich darüber aus, was überhaupt der Komponist zu beobachten habe, der in dieser neuen Gattung mit Ruhm arbeiten wolle.

»Alle Symphonien, sagt er, die zu einem Schauspiele verfertiget werden, sollen sich auf den Inhalt und die Beschaffenheit desselben beziehen. Es gehören also zu den Trauerspielen eine andere Art von Symphonien, als zu den Lustspielen. So verschieden die Tragödien und Komödien unter sich selbst sind, so verschieden muß auch die dazu gehörige Musik sein. Insbesondere aber hat man auch wegen der verschiedenen Abteilungen der Musik in den Schauspielen auf die Beschaffenheit der Stellen, zu welchen eine jede Abteilung gehört, zu sehen. Daher muß die Anfangssymphonie sich auf den ersten Aufzug des Stückes beziehen; die Symphonien aber, die zwischen den Aufzügen vorkommen, müssen Teils mit dem Schlusse des vorhergehenden Aufzuges, Teils aber mit dem Anfange des folgenden Aufzuges übereinkommen; so wie die letzte Symphonie dem Schlusse des letzten Aufzuges gemäß sein muß.

Alle Symphonien zu Trauerspielen müssen prächtig, feurig [349] und geistreich gesetzt sein. Insonderheit aber hat man den Charakter der Hauptpersonen, und den Hauptinhalt zu bemerken, und darnach seine Erfindung einzurichten. Dieses ist von keiner gemeinen Folge. Wir finden Tragödien, da bald diese, bald jene Tugend eines Helden, oder einer Heldin, der Stoff gewesen ist. Man halte einmal den Polyeukt gegen den Brutus, oder auch die Alzire gegen den Mithridat: so wird man gleich sehen, daß sich keineswegs einerlei Musik dazu schicket. Ein Trauerspiel, in welchem die Religion und Gottesfurcht den Helden, oder die Heldin, in allen Zufällen begleiten, erfordert auch solche Symphonien, die gewissermaßen das Prächtige und Ernsthafte der Kirchenmusik beweisen. Wenn aber die Großmut, die Tapferkeit, oder die Standhaftigkeit in allerlei Unglücksfällen im Trauerspiele herrschen: so muß auch die Musik weit feuriger und lebhafter sein. Von dieser letztern Art sind die Trauerspiele Cato, Brutus, Mithridat. Alzire aber und Zaire erfordern hingegen schon eine etwas veränderte Musik, weil die Begebenheiten und die Charaktere in diesen Stücken von einer andern Beschaffenheit sind, und mehr Veränderung der Affekten zeigen.

Eben so müssen die Komödiensymphonien überhaupt frei, fließend, und zuweilen auch scherzhaft sein; insbesondere aber sich nach dem eigentümlichen Inhalte einer jeden Komödie richten. So wie die Komödie bald ernsthafter, bald verliebter, bald scherzhafter ist, so muß auch die Symphonie beschaffen sein. Z.E. die Komödien, der Falke und die beiderseitige Unbeständigkeit, würden ganz andere Symphonien erfordern, als der verlorne Sohn. So würden sich auch nicht die Symphonien, die sich zum Geizigen, oder zum Kranken in der Einbildung, sehr wohl schicken möchten, zum Unentschlüssigen, oder zum Zerstreuten, schicken. Jene müssen schon lustiger und scherzhafter sein, diese aber verdrießlicher und ernsthafter.

Die Anfangssymphonie muß sich auf das ganze Stück beziehen; zugleich aber muß sie auch den Anfang desselben vorbereiten, und folglich mit dem ersten Auftritte übereinkommen. Sie kann aus zwei oder drei Sätzen bestehen, so [350] wie es der Komponist für gut findet. – Die Symphonien zwischen den Aufzügen aber, weil sie sich nach dem Schlusse des vorhergehenden Aufzuges und nach dem Anfange des folgenden richten sollen, werden am natürlichsten zwei Sätze haben können. Im ersten kann man mehr auf das Vorhergegangene, im zweiten aber mehr auf das Folgende sehen. Doch ist solches nur allein nötig, wenn die Affekten einander allzu sehr entgegen sind; sonst kann man auch wohl nur einen Satz machen, wenn er nur die gehörige Länge erhält, damit die Bedürfnisse der Vorstellung, als Lichtputzen, Umkleiden u.s.w. indes besorget werden können. – Die Schlußsymphonie endlich muß mit dem Schlusse des Schauspiels auf das genaueste übereinstimmen, um die Begebenheit den Zuschauern desto nachdrücklicher zu machen. Was ist lächerlicher, als wenn der Held auf eine unglückliche Weise sein Leben verloren hat, und es folgt eine lustige und lebhafte Symphonie darauf? Und was ist abgeschmackter, als wenn sich die Komödie auf eine fröhliche Art endiget, und es folgt eine traurige und bewegliche Symphonie darauf? –

Da übrigens die Musik zu den Schauspielen bloß allein aus Instrumenten bestehet, so ist eine Veränderung derselben sehr nötig, damit die Zuhörer desto gewisser in der Aufmerksamkeit erhalten werden, die sie vielleicht verlieren möchten, wenn sie immer einerlei Instrumente hören sollten. Es ist aber beinahe eine Notwendigkeit, daß die Anfangssymphonie sehr stark und vollständig ist, und also desto nachdrücklicher ins Gehör falle. Die Veränderung der Instrumenten muß also vornehmlich in den Zwischensymphonien erscheinen. Man muß aber wohl urteilen, welche Instrumente sich am besten zur Sache schicken, und womit man dasjenige am gewissesten ausdrücken kann, was man ausdrücken soll. Es muß also auch hier eine vernünftige Wahl getroffen werden, wenn man seine Absicht geschickt und sicher erreichen will. Sonderlich aber ist es nicht allzu gut, wenn man in zwei auf einander folgenden Zwischensymphonien einerlei Veränderung der Instrumente anwendet. Es ist allemal besser und angenehmer, wenn man diesen Übelstand vermeidet.«

[351] Dieses sind die wichtigsten Regeln, um auch hier die Tonkunst und Poesie in eine genauere Verbindung zu bringen. Ich habe sie lieber mit den Worten eines Tonkünstlers, und zwar desjenigen vortragen wollen, der sich die Ehre der Erfindung anmaßen kann, als mit meinen. Denn die Dichter und Kunstrichter bekommen nicht selten von den Musicis den Vorwurf, daß sie weit mehr von ihnen erwarten und verlangen, als die Kunst zu leisten im Stande sei. Die mehresten müssen es von ihren Kunstverwandten erst hören, daß die Sache zu bewerkstelligen ist, ehe sie die geringste Aufmerksamkeit darauf wenden.

Zwar die Regeln selbst waren leicht zu machen; sie lehren nur was geschehen soll, ohne zu sagen, wie es geschehen kann. Der Ausdruck der Leidenschaften, auf welchen alles dabei ankömmt, ist noch einzig das Werk des Genies. Denn ob es schon Tonkünstler gibt und gegeben, die bis zur Bewunderung darin glücklich sind, so mangelt es doch unstreitig noch an einem Philosophen, der ihnen die Wege abgelernt, und allgemeine Grundsätze aus ihren Beispielen hergeleitet hätte. Aber je häufiger diese Beispiele werden, je mehr sich die Materialien zu dieser Herleitung sammeln, desto eher können wir sie uns versprechen; und ich müßte mich sehr irren, wenn nicht ein großer Schritt dazu durch die Beeiferung der Tonkünstler in dergleichen dramatischen Symphonien geschehen könnte. In der Vokalmusik hilft der Text dem Ausdrucke allzusehr nach; der schwächste und schwankendste wird durch die Worte bestimmt und verstärkt: in der Instrumentalmusik hingegen fällt diese Hülfe weg, und sie sagt gar nichts, wenn sie das, was sie sagen will, nicht rechtschaffen sagt. Der Künstler wird also hier seine äußerste Stärke anwenden müssen; er wird unter den verschiedenen Folgen von Tönen, die eine Empfindung ausdrücken können, nur immer diejenigen wählen, die sie am deutlichsten ausdrücken; wir werden diese öfterer hören, wir werden sie mit einander öfterer vergleichen, und durch die Bemerkung dessen, was sie beständig gemein haben, hinter das Geheimnis des Ausdrucks kommen.

Welchen Zuwachs unser Vergnügen im Theater dadurch [352] erhalten würde, begreift jeder von selbst. Gleich vom Anfange der neuen Verwaltung unsers Theaters, hat man sich daher nicht nur überhaupt bemüht, das Orchester in einen bessern Stand zu setzen, sondern es haben sich auch würdige Männer bereit finden lassen, die Hand an das Werk zu legen, und Muster in dieser Art von Komposition zu machen, die über alle Erwartung ausgefallen sind. Schon zu Cronegks Olint und Sophronia hatte Herr Hertel eigne Symphonien verfertiget; und bei der zweiten Aufführung der Semiramis wurden dergleichen, von dem Herrn Agricola in Berlin, aufgeführt.

Sieben und zwanzigstes Stück

Den 31sten Julius, 1767


Ich will es versuchen, einen Begriff von der Musik des Herrn Agricola zu machen. Nicht zwar nach ihren Wirkungen; – denn je lebhafter und feiner ein sinnliches Vergnügen ist, desto weniger läßt es sich mit Worten beschreiben; man kann nicht wohl anders, als in allgemeine Lobsprüche, in unbestimmte Ausrufungen, in kreischende Bewunderung damit verfallen, und diese sind eben so ununterrichtend für den Liebhaber, als ekelhaft für den Virtuosen, den man zu ehren vermeinet; – sondern bloß nach den Absichten, die ihr Meister dabei gehabt, und nach den Mitteln überhaupt, deren er sich, zu Erreichung derselben, bedienen wollen.

Die Anfangssymphonie bestehet aus drei Sätzen. Der erste Satz ist ein Largo, nebst den Violinen, mit Hoboen und Flöten; der Grundbaß ist durch Fagotte verstärkt. Sein Ausdruck ist ernsthaft; manchmal gar wild und stürmisch; der Zuhörer soll vermuten, daß er ein Schauspiel ungefähr dieses Inhalts zu erwarten habe. Doch nicht dieses Inhalts allein; Zärtlichkeit, Reue, Gewissensangst, Unterwerfung, nehmen ihr Teil daran; und der zweite Satz, ein Andante mit gedämpften Violinen und konzertierenden Fagotten, beschäftiget sich also mit dunkeln und mitleidigen Klagen. In dem dritten Satze vermischen sich die beweglichen Tonwendungen mit stolzen; denn die Bühne eröffnet sich mit mehr [353] als gewöhnlicher Pracht; Semiramis nahet sich dem Ende ihrer Herrlichkeit; wie diese Herrlichkeit das Auge spüren muß, soll sie auch das Ohr vernehmen. Der Charakter ist Allegretto, und die Instrumente sind wie in dem ersten, außer daß die Hoboen, Flöten und Fagotte mit einander einige besondere kleinere Sätze haben.

Die Musik zwischen den Akten hat durchgängig nur einen einzigen Satz; dessen Ausdruck sich auf das Vorhergehende beziehet. Einen zweiten, der sich auf das Folgende bezöge, scheinet Herr Agricola also nicht zu billigen. Ich würde hierin sehr seines Geschmacks sein. Denn die Musik soll dem Dichter nichts verderben; der tragische Dichter liebt das Unerwartete, das Überraschende, mehr als ein anderer; er läßt seinen Gang nicht gern voraus verraten; und die Musik würde ihn verraten, wenn sie die folgende Leidenschaft angeben wollte. Mit der Anfangssymphonie ist es ein anders; sie kann auf nichts Vorhergehendes gehen; und doch muß auch sie nur den allgemeinen Ton des Stücks angeben, und nicht stärker, nicht bestimmter, als ihn ungefähr der Titel angibt. Man darf dem Zuhörer wohl das Ziel zeigen, wohin man ihn führen will, aber die verschiedenen Wege, auf welchen er dahin gelangen soll, müssen ihm gänzlich verborgen bleiben. Dieser Grund wider einen zweiten Satz zwischen den Akten, ist aus dem Vorteile des Dichters hergenommen; und er wird durch einen andern, der sich aus den Schranken der Musik ergibt, bestärkt. Denn gesetzt, daß die Leidenschaften, welche in zwei auf einander folgenden Akten herrschen, einander ganz entgegen wären, so würden notwendig auch die beiden Sätze von eben so widriger Beschaffenheit sein müssen. Nun begreife ich sehr wohl, wie uns der Dichter aus einer jeden Leidenschaft zu der ihr entgegenstehenden, zu ihrem völligen Widerspiele, ohne unangenehme Gewaltsamkeit, bringen kann; er tut es nach und nach, gemach und gemach; er steiget die ganze Leiter von Sprosse zu Sprosse, entweder hinauf oder hinab, ohne irgendwo den geringsten Sprung zu tun. Aber kann dieses auch der Musikus? Es sei, daß er es in einem Stücke, von der erforderlichen Länge, eben so wohl tun könne; aber in zwei besondern, [354] von einander gänzlich abgesetzten Stücken, muß der Sprung, z. E. aus dem Ruhigen in das Stürmische, aus dem Zärtlichen in das Grausame, notwendig sehr merklich sein, und alle das Beleidigende haben, was in der Natur jeder plötzliche Übergang aus einem Äußersten in das andere, aus der Finsternis in das Licht, aus der Kälte in die Hitze, zu haben pflegt. Itzt zerschmelzen wir in Wehmut, und auf einmal sollen wir rasen. Wie? warum? wider wen? wider eben den, für den unsere Seele ganz mitleidiges Gefühl war? oder wider einen andern? Alles das kann die Musik nicht bestimmen; sie läßt uns in Ungewißheit und Verwirrung; wir empfinden, ohne eine richtige Folge unserer Empfindungen wahrzunehmen; wir empfinden, wie im Traume; und alle diese unordentliche Empfindungen sind mehr abmattend, als ergötzend. Die Poesie hingegen läßt uns den Faden unserer Empfindungen nie verlieren; hier wissen wir nicht allein, was wir empfinden sollen, sondern auch, warum wir es empfinden sollen; und nur dieses Warum macht die plötzlichsten Übergänge nicht allein erträglich, sondern auch angenehm. In der Tat ist diese Motivierung der plötzlichen Übergänge einer der größten Vorteile, den die Musik aus der Vereinigung mit der Poesie ziehet; ja vielleicht der allergrößte. Denn es ist bei weitem nicht so notwendig, die allgemeinen unbestimmten Empfindungen der Musik, z.E. der Freude durch Worte auf einen gewissen einzeln Gegenstand der Freude einzuschränken, weil auch jene dunkeln schwanken Empfindungen noch immer sehr angenehm sind; als notwendig es ist, abstechende widersprechende Empfindungen durch deutliche Begriffe, die nur Worte gewähren können, zu verbinden, um sie durch diese Verbindung in ein Ganzes zu verweben, in welchem man nicht allein Mannichfaltiges, sondern auch Übereinstimmung des Mannichfaltigen bemerke. Nun aber würde, bei dem doppelten Satze zwischen den Akten eines Schauspiels, diese Verbindung erst hinten nach kommen; wir würden es erst hinten nach erfahren, warum wir aus einer Leidenschaft in eine ganz entgegen gesetzte überspringen müssen: und das ist für die Musik so gut, als erführen wir es gar nicht. Der Sprung hat einmal seine üble Wirkung getan, [355] und er hat uns darum nicht weniger beleidiget, weil wir nun einsehen, daß er uns nicht hätte beleidigen sollen. Man glaube aber nicht, daß so nach überhaupt alle Symphonien verwerflich sein müßten, weil alle aus mehrern Sätzen bestehen, die von einander unterschieden sind, und deren jeder etwas anders ausdrückt als der andere. Sie drücken etwas anders aus, aber nicht etwas verschiednes; oder vielmehr, sie drücken das nämliche, und nur auf eine andere Art aus. Eine Symphonie, die in ihren verschiednen Sätzen verschiedne, sich widersprechende Leidenschaften ausdrückt, ist ein musikalisches Ungeheuer; in einer Symphonie muß nur eine Leidenschaft herrschen, und jeder besondere Satz muß eben dieselbe Leidenschaft, bloß mit verschiednen Abänderungen, es sei nun nach den Graden ihrer Stärke und Lebhaftigkeit, oder nach den mancherlei Vermischungen mit andern verwandten Leidenschaften, ertönen lassen, und in uns zu erwecken suchen. Die Anfangssymphonie war vollkommen von dieser Beschaffenheit; das Ungestüme des ersten Satzes zerfließt in das Klagende des zweiten, welche sich in dem dritten zu einer Art von feierlichen Würde erhebet. Ein Tonkünstler, der sich in seinen Symphonien mehr erlaubt, der mit jedem Satze den Affekt abbricht, um mit dem folgenden einen neuen ganz verschiednen Affekt anzuheben, und auch diesen fahren läßt, um sich in einen dritten eben so verschiednen zu werfen; kann viel Kunst, ohne Nutzen, verschwendet haben, kann überraschen, kann betäuben, kann kitzeln, nur rühren kann er nicht. Wer mit unserm Herzen sprechen, und sympathetische Regungen in ihm erwecken will, muß eben sowohl Zusammenhang beobachten, als wer unsern Verstand zu unterhalten und zu belehren denkt. Ohne Zusammenhang, ohne die innigste Verbindung aller und jeder Teile, ist die beste Musik ein eitler Sandhaufen, der keines dauerhaften Eindruckes fähig ist; nur der Zusammenhang macht sie zu einem festen Marmor, an dem sich die Hand des Künstlers verewigen kann.

Der Satz nach dem ersten Akte sucht also lediglich die Besorgnisse der Semiramis zu unterhalten, denen der Dichter diesen Akt gewidmet hat; Besorgnisse, die noch mit einiger [356] Hoffnung vermischt sind; ein Andante mesto, bloß mit gedämpften Violinen und Bratsche.

In dem zweiten Akte spielt Assur eine zu wichtige Rolle, als daß er nicht den Ausdruck der darauf folgenden Musik bestimmen sollte. Ein Allegro assai aus dem G dur, mit Waldhörnern, durch Flöten und Hoboen, auch den Grundbaß mitspielende Fagotte verstärkt, druckt den durch Zweifel und Furcht unterbrochenen, aber immer noch sich wieder erholenden Stolz dieses treulosen und herrsüchtigen Ministers aus.

In dem dritten Akte erscheint das Gespenst. Ich habe, bei Gelegenheit der ersten Vorstellung, bereits angemerkt, wie wenig Eindruck Voltaire diese Erscheinung auf die Anwesenden machen läßt. Aber der Tonkünstler hat sich, wie billig, daran nicht gekehrt; er holt es nach, was der Dichter unterlassen hat, und ein Allegro aus dem E moll, mit der nämlichen Instrumentenbesetzung des vorhergehenden, nur daß E-Hörner mit G-Hörnern verschiedentlich abwechseln, schildert kein stummes und träges Erstaunen, sondern die wahre wilde Bestürzung, welche eine dergleichen Erscheinung unter dem Volke verursachen muß.

Die Beängstigung der Semiramis im vierten Aufzuge erweckt unser Mitleid; wir betauern die Reuende, so schuldig wir auch die Verbrecherin wissen. Betauern und Mitleid läßt also auch die Musik ertönen; in einem Larghetto aus dem A moll, mit gedämpften Violinen und Bratsche, und einer konzertierenden Hoboe.

Endlich folget auch auf den fünften Akt nur ein einziger Satz, ein Adagio, aus dem E dur, nächst den Violinen und der Bratsche, mit Hörnern, mit verstärkenden Hoboen und Flöten, und mit Fagotten, die mit dem Grundbasse gehen. Der Ausdruck ist den Personen des Trauerspiels angemessene, und ins Erhabene gezogene Betrübnis, mit einiger Rücksicht, wie mich deucht, auf die vier letzten Zeilen, in welchen die Wahrheit ihre warnende Stimme gegen die Großen der Erde eben so würdig als mächtig erhebt.

Die Absichten eines Tonkünstlers merken, heißt ihm zugestehen, daß er sie erreicht hat. Sein Werk soll kein Rätsel [357] sein, dessen Deutung eben so mühsam als schwankend ist. Was ein gesundes Ohr am geschwindesten in ihm vernimmt, das und nichts anders hat er sagen wollen; sein Lob wächst mit seiner Verständlichkeit; je leichter, je allgemeiner diese, desto verdienter jenes. – Es ist kein Ruhm für mich, daß ich recht gehört habe; aber für den Hrn. Agricola ist es ein so viel größerer, daß in dieser seiner Komposition niemand etwas anders gehört hat, als ich.

Acht und zwanzigstes Stück

Den 4ten August, 1767


Den drei und dreißigsten Abend (Freitags, den 12ten Junius,) ward die Nanine wiederholt, und den Beschluß machte, der Bauer mit der Erbschaft, aus dem Französischen des Marivaux.

Dieses kleine Stück ist hier Ware für den Platz, und macht daher allezeit viel Vergnügen. Jürge kömmt aus der Stadt zurück, wo er einen reichen Bruder begraben lassen, von dem er hundert tausend Mark geerbt. Glück ändert Stand und Sitten; nun will er leben wie vornehme Leute leben, erhebt seine Lise zur Madame, findet geschwind für seinen Hans und für seine Grete eine ansehnliche Partie, alles ist richtig, aber der hinkende Bote kömmt nach. Der Makler, bei dem die hundert tausend Mark gestanden, hat Banquerot gemacht, Jürge ist wieder nichts wie Jürge, Hans bekömmt den Korb, Grete bleibt sitzen, und der Schluß würde traurig genug sein, wenn das Glück mehr nehmen könnte, als es gegeben hat; gesund und vergnügt waren sie, gesund und vergnügt bleiben sie.

Diese Fabel hätte jeder erfinden können; aber wenige würden sie so unterhaltend zu machen gewußt haben, als Marivaux. Die drolligste Laune, der schnurrigste Witz, die schalkischste Satire, lassen uns vor Lachen kaum zu uns selbst kommen; und die naive Bauernsprache gibt allem eine ganz eigene Würze. Die Übersetzung ist von Kriegern, der das französische Patois in den hiesigen platten Dialekt meisterhaft [358] zu übertragen gewußt hat. Es ist nur Schade, daß verschiedene Stellen höchst fehlerhaft und verstümmelt abgedruckt worden. Einige müßten notwendig in der Vorstellung berichtiget und ergänzt werden. Z. E. folgende, gleich in der ersten Szene.


JÜRGE. He, he, he! Giv mie doch fief Schillink kleen Geld, ik hev niks, as Gullen un Dahlers.

LISE. He, he, he! Segge doch, hest du Schrullen med dienen fief Schillink kleen Geld? wat wist du damed maaken?

JÜRGE. He, he, he, he! Giv mie fief Schillink kleen Geld, seg ik die.

LISE. Woto denn, Hans Narr?

JÜRGE. För düssen Jungen, de mie mienen Bündel op dee Reise bed in unse Dörp dragen hed, un ik bün ganß licht un sacht hergahn.

LISE. Büst du to Fotte hergahn?

JÜRGE. Ja. Wielt't veel cummoder is.

LISE. Da hest du een Maark.

JÜRGE. Dat is doch noch resnabel. Wo veel maakt't? So veel is dat. Een Maark hed se mie dahn: da, da is't. Nehmt't hen; so is't richdig.

LISE. Un du verdeihst fief Schillink an een Jungen, de die dat Pak dragen hed?

JÜRGE. Ja! ik met ehm doch een Drankgeld geven.

VALENTIN. Sollen die fünf Schilling für mich, Herr Jürge?

JÜRGE. Ja, mien Fründ!

VALENTIN. Fünf Schilling? ein reicher Erbe! fünf Schillinge? ein Mann von Ihrem Stande! Und wo bleibt die Hoheit der Seele?

JÜRGE. O! et kumt mie even darop nich an, jy dörft't man seggen. Maake Fro, smiet ehm noch een Schillink hen; by uns regnet man so.


Wie ist das? Jürge ist zu Fuße gegangen, weil es kommoder ist? Er fodert fünf Schillinge, und seine Frau gibt ihm ein Mark, die ihm fünf Schillinge nicht geben wollte? Die Frau soll dem Jungen noch einen Schilling hinschmeißen? warum tut er es nicht selbst? Von dem Marke blieb ihm ja [359] noch übrig. Ohne das Französische wird man sich schwerlich aus dem Hanfe finden. Jürge war nicht zu Fuße gekommen, sondern mit der Kutsche: und darauf geht sein »Wielt't veel cummoder is.« Aber die Kutsche ging vielleicht bei seinem Dorfe nur vorbei, und von da, wo er abstieg, ließ er sich bis zu seinem Hause das Bündel nachtragen. Dafür gibt er dem Jungen die fünf Schillinge; das Mark gibt ihm nicht die Frau, sondern das hat er für die Kutsche bezahlen müssen, und er erzählt ihr nur, wie geschwind er mit dem Kutscher darüber fertig geworden. 15

Den vier und dreißigsten Abend (Montags, den 29sten Junius,) ward der Zerstreute des Regnard aufgeführt.

Ich glaube schwerlich, daß unsere Großväter den deutschen Titel dieses Stücks verstanden hätten. Noch Schlegel übersetzte Distrait durch Träumer. Zerstreut sein, ein Zerstreuter, ist lediglich nach der Analogie des Französischen gemacht. Wir wollen nicht untersuchen, wer das Recht hatte, diese Worte zu machen; sondern wir wollen sie brauchen, nachdem sie einmal gemacht sind. Man versteht sie nunmehr, und das ist genug.

Regnard brachte seinen Zerstreuten im Jahre 1697 aufs Theater; und er fand nicht den geringsten Beifall. Aber vier [360] und dreißig Jahr darauf, als ihn die Komödianten wieder vorsuchten, fand er einen so viel größern. Welches Publikum hatte nun Recht? Vielleicht hatten sie beide nicht Unrecht. Jenes strenge Publikum verwarf das Stück als eine gute förmliche Komödie, wofür es der Dichter ohne Zweifel ausgab. Dieses geneigtere nahm es für nichts mehr auf, als es ist; für eine Farce, für ein Possenspiel, das zu lachen machen soll; man lachte, und war dankbar. Jenes Publikum dachte:

– non satis est risu diducere rictum
Auditoris – – –
und dieses:

– et est quaedam tamen hic quoque virtus.


Außer der Versifikation, die noch dazu sehr fehlerhaft und nachlässig ist, kann dem Regnard dieses Lustspiel nicht viel Mühe gemacht haben. Den Charakter seiner Hauptperson fand er bei dem La Bruyere völlig entworfen. Er hatte nichts zu tun, als die vornehmsten Züge Teils in Handlung zu bringen, Teils erzählen zu lassen. Was er von dem Seinigen hinzufügte, will nicht viel sagen.

Wider dieses Urteil ist nichts einzuwenden; aber wider eine andere Kritik, die den Dichter auf der Seite der Moralität fassen will, desto mehr. Ein Zerstreuter soll kein Vorwurf für die Komödie sein. Warum nicht? Zerstreut sein, sagt man, sei eine Krankheit, ein Unglück; und kein Laster. Ein Zerstreuter verdiene eben so wenig ausgelacht zu werden, als einer der Kopfschmerzen hat. Die Komödie müsse sich nur mit Fehlern abgeben, die sich verbessern lassen. Wer aber von Natur zerstreut sei, der lasse sich durch Spöttereien eben so wenig bessern, als ein Hinkender.

Aber ist es denn wahr, daß die Zerstreuung ein Gebrechen der Seele ist, dem unsere besten Bemühungen nicht abhelfen können? Sollte sie wirklich mehr natürliche Verwahrlosung, als üble Angewohnheit sein? Ich kann es nicht glauben. Sind wir nicht Meister unserer Aufmerksamkeit? Haben wir es nicht in unserer Gewalt, sie anzustrengen, sie abzuziehen, wie wir wollen? Und was ist die Zerstreuung anders, als ein unrechter Gebrauch unserer Aufmerksamkeit? Der Zerstreute [361] denkt, und denkt nur das nicht, was er, seinen itzigen sinnlichen Eindrücken zu Folge, denken sollte. Seine Seele ist nicht entschlummert, nicht betäubt, nicht außer Tätigkeit gesetzt; sie ist nur abwesend, sie ist nur anderwärts tätig. Aber so gut sie dort sein kann, so gut kann sie auch hier sein; es ist ihr natürlicher Beruf, bei den sinnlichen Veränderungen ihres Körpers gegenwärtig zu sein; es kostet Mühe, sie dieses Berufs zu entwöhnen, und es sollte unmöglich sein, ihr ihn wieder geläufig zu machen?

Doch es sei; die Zerstreuung sei unheilbar: wo steht es denn geschrieben, daß wir in der Komödie nur über moralische Fehler, nur über verbesserliche Untugenden lachen sollen? Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität, ist lächerlich. Aber lachen und verlachen ist sehr weit auseinander. Wir können über einen Menschen lachen, bei Gelegenheit seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verlachen. So unstreitig, so bekannt dieser Unterschied ist, so sind doch alle Chicanen, welche noch neuerlich Rousseau gegen den Nutzen der Komödie gemacht hat, nur daher entstanden, weil er ihn nicht gehörig in Erwägung gezogen. Moliere, sagt er z. E., macht uns über den Misanthropen zu lachen, und doch ist der Misanthrop der ehrliche Mann des Stücks; Moliere beweiset sich also als einen Feind der Tugend, indem er den Tugendhaften verächtlich macht. Nicht doch; der Misanthrop wird nicht verächtlich, er bleibt wer er ist, und das Lachen, welches aus den Situationen entspringt, in die ihn der Dichter setzt, benimmt ihm von unserer Hochachtung nicht das geringste. Der Zerstreute gleichfalls; wir lachen über ihn, aber verachten wir ihn darum? Wir schätzen seine übrige guten Eigenschaften, wie wir sie schätzen sollen; ja ohne sie würden wir nicht einmal über seine Zerstreuung lachen können. Man gebe diese Zerstreuung einem boshaften, nichtswürdigen Manne, und sehe, ob sie noch lächerlich sein wird? Widrig, ekel, häßlich wird sie sein; nicht lächerlich.

[362]
Neun und zwanzigstes Stück

Den 7ten August, 1767


Die Komödie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen; nicht gerade diejenigen Unarten, über die sie zu lachen macht, noch weniger bloß und allein die, an welchen sich diese lächerliche Unarten finden. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit das Lächerliche zu bemerken; es unter allen Bemäntelungen der Leidenschaft und der Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmern oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes, leicht und geschwind zu bemerken. Zugegeben, daß der Geizige des Moliere nie einen Geizigen, der Spieler des Regnard nie einen Spieler gebessert habe; eingeräumet, daß das Lachen diese Toren gar nicht bessern könne: desto schlimmer für sie, aber nicht für die Komödie. Ihr ist genug, wenn sie keine verzweifelte Krankheiten heilen kann, die Gesunden in ihrer Gesundheit zu befestigen. Auch dem Freigebigen ist der Geizige lehrreich; auch dem, der gar nicht spielt, ist der Spieler unterrichtend; die Torheiten, die sie nicht haben, haben andere, mit welchen sie leben müssen; es ist ersprießlich, diejenigen zu kennen, mit welchen man in Kollision kommen kann; ersprießlich, sich wider alle Eindrücke des Beispiels zu verwahren. Ein Präservativ ist auch eine schätzbare Arzenei; und die ganze Moral hat kein kräftigers, wirksamers, als das Lächerliche. –

Das Rätsel, oder, Was den Damen am meisten gefällt, ein Lustspiel in einem Aufzuge von Herr Löwen, machte diesen Abend den Beschluß.

Wenn Marmontel und Voltaire nicht Erzählungen und Märchen geschrieben hätten, so würde das französische Theater eine Menge Neuigkeiten haben entbehren müssen. Am meisten hat sich die komische Oper aus diesen Quellen bereichert. Des letztern Ce qui plait aux Dames gab den Stoff zu einem mit Arien untermengten Lustspiele von vier Aufzügen, welches, unter dem Titel La Fée Urgele, von den italienischen Komödianten zu Paris, im Dezember 1765 aufgeführet [363] ward. Herr Löwen scheinet nicht sowohl dieses Stück, als die Erzählung des Voltaire selbst, vor Augen gehabt zu haben. Wenn man bei Beurteilung einer Bildsäule mit auf den Marmorblock zu sehen hat, aus welchem sie gemacht worden; wenn die primitive Form dieses Blockes es zu entschuldigen vermag, daß dieses oder jenes Glied zu kurz, diese oder jene Stellung zu gezwungen geraten: so ist die Kritik auf einmal abgewiesen, die den Herrn Löwen wegen der Einrichtung seines Stücks in Anspruch nehmen wollte. Mache aus einem Hexenmärchen etwas Wahrscheinlichers, wer da kann! Herr Löwen selbst gibt sein Rätsel für nichts anders, als für eine kleine Plaisanterie, die auf dem Theater gefallen kann, wenn sie gut gespielt wird. Verwandlung und Tanz und Gesang konkurrieren zu dieser Absicht; und es wäre bloßer Eigensinn, an keinem Belieben zu finden. Die Laune des Pedrillo ist zwar nicht original, aber doch gut getroffen. Nur dünkt mich, daß ein Waffenträger oder Stallmeister, der das Abgeschmackte und Wahnsinnige der irrenden Ritterschaft einsieht, sich nicht so recht in eine Fabel passen will, die sich auf die Wirklichkeit der Zauberei gründet, und ritterliche Abenteuer als rühmliche Handlungen eines vernünftigen und tapfern Mannes annimmt. Doch, wie gesagt, es ist eine Plaisanterie; und Plaisanterien muß man nicht zergliedern wollen.

Den fünf und dreißigsten Abend (Mittewochs, den 1sten Julius,) ward, in Gegenwart Sr. Königl. Majestät von Dänemark, die Rodogune des Peter Corneille aufgeführt.

Corneille bekannte, daß er sich auf dieses Trauerspiel das meiste einbilde, daß er es weit über seinen Cinna und Cid setze, daß seine übrige Stücke wenig Vorzüge hätten, die in diesem nicht vereint anzutreffen wären; ein glücklicher Stoff, ganz neue Erdichtungen, starke Verse, ein gründliches Raisonnement, heftige Leidenschaften, ein von Akt zu Akt immer wachsendes Interesse. –

Es ist billig, daß wir uns bei dem Meisterstücke dieses großen Mannes verweilen.

Die Geschichte, auf die es gebauet ist, erzählt Appianus Alexandrinus, gegen das Ende seines Buchs von den syrischen [364] Kriegen. »Demetrius, mit dem Zunamen Nicanor, unternahm einen Feldzug gegen die Parther, und lebte als Kriegsgefangner einige Zeit an dem Hofe ihres Königes Phraates, mit dessen Schwester Rodogune er sich vermählte. Inzwischen bemächtigte sich Diodotus, der den vorigen Königen gedienet hatte, des syrischen Thrones, und erhob ein Kind, den Sohn des Alexander Nothus, darauf, unter dessen Namen er als Vormund anfangs die Regierung führte. Bald aber schaffte er den jungen König aus dem Wege, setzte sich selbst die Krone auf, und gab sich den Namen Tryphon. Als Antiochus, der Bruder des gefangenen Königs, das Schicksal desselben, und die darauf erfolgten Unruhen des Reichs, zu Rhodus, wo er sich aufhielt, hörte, kam er nach Syrien zurück, überwand mit vieler Mühe den Tryphon, und ließ ihn hinrichten. Hierauf wandte er seine Waffen gegen den Phraates, und foderte die Befreiung seines Bruders. Phraates, der sich des Schlimmsten besorgte, gab den Demetrius auch wirklich los; aber nichts desto weniger kam es zwischen ihm und dem Antiochus zum Treffen, in welchem dieser den kürzern zog, und sich aus Verzweiflung selbst entleibte. Demetrius, nachdem er wieder in sein Reich gekehret war, ward von seiner Gemahlin, Cleopatra, aus Haß gegen die Rodogune, umgebracht; obschon Cleopatra selbst, aus Verdruß über diese Heirat, sich mit dem nämlichen Antiochus, seinem Bruder, vermählet hatte. Sie hatte von dem Demetrius zwei Söhne, wovon sie den ältesten, mit Namen Seleucus, der nach dem Tode seines Vaters den Thron bestieg, eigenhändig mit einem Pfeile erschoß; es sei nun, weil sie besorgte, er möchte den Tod seines Vaters an ihr rächen, oder weil sie sonst ihre grausame Gemütsart dazu veranlaßte. Der jüngste Sohn hieß Antiochus; er folgte seinem Bruder in der Regierung, und zwang seine abscheuliche Mutter, daß sie den Giftbecher, den sie ihm zugedacht hatte, selbst trinken mußte.«

In dieser Erzählung lag Stoff zu mehr als einem Trauerspiele. Es würde Corneillen eben nicht viel mehr Erfindung gekostet haben, einen Tryphon, einen Antiochus, einen Demetrius, einen Seleucus, daraus zu machen, als es ihm, eine Rodogune daraus zu erschaffen, kostete. Was ihn aber vorzüglich [365] darin reizte, war die beleidigte Ehefrau, welche die usurpierten Rechte ihres Ranges und Bettes nicht grausam genug rächen zu können glaubet. Diese also nahm er heraus; und es ist unstreitig, daß so nach sein Stück nicht Rodogune, sondern Cleopatra heißen sollte. Er gestand es selbst, und nur weil er besorgte, daß die Zuhörer diese Königin von Syrien mit jener berühmten letzten Königin von Ägypten gleiches Namens verwechseln dürften, wollte er lieber von der zweiten, als von der ersten Person den Titel hernehmen. »Ich glaubte mich, sagt er, dieser Freiheit um so eher bedienen zu können, da ich angemerkt hatte, daß die Alten selbst es nicht für notwendig gehalten, ein Stück eben nach seinem Helden zu benennen, sondern es ohne Bedenken auch wohl nach dem Chore benannt haben, der an der Handlung doch weit weniger Teil hat, und weit episodischer ist, als Rodogune; so hat z. E. Sophokles eines seiner Trauerspiele die Trachinerinnen genannt, welches man itziger Zeit schwerlich anders, als den sterbenden Herkules nennen würde.« Diese Bemerkung ist an und für sich sehr richtig; die Alten hielten den Titel für ganz unerheblich; sie glaubten im geringsten nicht, daß er den Inhalt angeben müsse; genug, wenn dadurch ein Stück von dem andern unterschieden ward, und hiezu ist der kleinste Umstand hinlänglich. Allein, gleichwohl glaube ich schwerlich, daß Sophokles das Stück, welches er die Trachinerinnen überschrieb, würde haben Deianira nennen wollen. Er stand nicht an, ihm einen nichtsbedeutenden Titel zu geben, aber ihm einen verführerischen Titel zu geben, einen Titel, der unsere Aufmerksamkeit auf einen falschen Punkt richtet, dessen möchte er sich ohne Zweifel mehr bedacht haben. Die Besorgnis des Corneille ging hiernächst zu weit; wer die ägyptische Cleopatra kennet, weiß auch, daß Syrien nicht Ägypten ist, weiß, daß mehr Könige und Königinnen einerlei Namen geführt haben; wer aber jene nicht kennt, kann sie auch mit dieser nicht verwechseln. Wenigstens hätte Corneille in dem Stück selbst, den Namen Cleopatra nicht so sorgfältig vermeiden sollen; die Deutlichkeit hat in dem ersten Akte darunter gelitten; und der deutsche Übersetzer tat daher sehr wohl, daß er sich [366] über diese kleine Bedenklichkeit wegsetzte. Kein Skribent, am wenigsten ein Dichter, muß seine Leser oder Zuhörer so gar unwissend annehmen; er darf auch gar wohl manchmal denken; was sie nicht wissen, das mögen sie fragen!

Dreißigstes Stück

Den 11ten August, 1767


Cleopatra, in der Geschichte, ermordet ihren Gemahl, erschießt den einen von ihren Söhnen, und will den andern mit Gift vergeben. Ohne Zweifel folgte ein Verbrechen aus dem andern, und sie hatten alle im Grunde nur eine und eben dieselbe Quelle. Wenigstens läßt es sich mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die einzige Eifersucht ein wütendes Eheweib zu einer eben so wütenden Mutter machte. Sich eine zweite Gemahlin an die Seite gestellet zu sehen, mit dieser die Liebe ihres Gatten und die Hoheit ihres Ranges zu teilen, brachte ein empfindliches und stolzes Herz leicht zu dem Entschlusse, das gar nicht zu besitzen, was es nicht allein besitzen konnte. Demetrius muß nicht leben, weil er für Cleopatra nicht allein leben will. Der schuldige Gemahl fällt; aber in ihm fällt auch ein Vater, der rächende Söhne hinterläßt. An diese hatte die Mutter in der Hitze ihrer Leidenschaft nicht gedacht, oder nur als an ihre Söhne gedacht, von deren Ergebenheit sie versichert sei, oder deren kindlicher Eifer doch, wenn er unter Eltern wählen müßte, ohnfehlbar sich für den zuerst beleidigten Teil erklären würde. Sie fand es aber so nicht; der Sohn ward König und der König sahe in der Cleopatra nicht die Mutter, sondern die Königsmörderin. Sie hatte alles von ihm zu fürchten; und von dem Augenblicke an, er alles von ihr. Noch kochte die Eifersucht in ihrem Herzen; noch war der treulose Gemahl in seinen Söhnen übrig; sie fing an alles zu hassen, was sie erinnern mußte, ihn einmal geliebt zu haben; die Selbsterhaltung stärkte diesen Haß; die Mutter war fertiger als der Sohn, die Beleidigerin fertiger, als der Beleidigte; sie beging den zweiten Mord, um den ersten ungestraft begangen zu haben; sie [367] beging ihn an ihrem Sohne, und beruhigte sich mit der Vorstellung, daß sie ihn nur an dem begehe, der ihr eignes Verderben beschlossen habe, daß sie eigentlich nicht morde, daß sie ihrer Ermordung nur zuvorkomme. Das Schicksal des ältern Sohnes wäre auch das Schicksal des jüngern geworden; aber dieser war rascher, oder war glücklicher. Er zwingt die Mutter, das Gift zu trinken, das sie ihm bereitet hat; ein unmenschliches Verbrechen rächet das andere; und es kömmt bloß auf die Umstände an, auf welcher Seite wir mehr Verabscheuung, oder mehr Mitleid empfinden sollen.

Dieser dreifache Mord würde nur eine Handlung ausmachen, die ihren Anfang, ihr Mittel und ihr Ende in der nämlichen Leidenschaft der nämlichen Person hätte. Was fehlt ihr also noch zum Stoffe einer Tragödie? Für das Genie fehlt ihr nichts: für den Stümper, alles. Da ist keine Liebe, da ist keine Verwicklung, keine Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer Zwischenfall; alles geht seinen natürlichen Gang. Dieser natürliche Gang reizet das Genie; und den Stümper schrecket er ab. Das Genie können nur Begebenheiten beschäftigen, die in einander gegründet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurück zu führen, jene gegen diese abzuwägen, überall das Ungefähr auszuschließen, alles, was geschieht, so geschehen zu lassen, daß es nicht anders geschehen können: das, das ist seine Sache, wenn es in dem Felde der Geschichte arbeitet, um die unnützen Schätze des Gedächtnisses in Nahrungen des Geistes zu verwandeln. Der Witz hingegen, als der nicht auf das in einander Gegründete, sondern nur auf das Ähnliche oder Unähnliche gehet, wenn er sich an Werke waget, die dem Genie allein vorgesparet bleiben sollten, hält sich bei Begebenheiten auf, die weiter nichts mit einander gemein haben, als daß sie zugleich geschehen. Diese mit einander zu verbinden, ihre Faden so durch einander zu flechten und zu verwirren, daß wir jeden Augenblick den einen unter dem andern verlieren, aus einer Befremdung in die andere gestürzt werden: das kann er, der Witz; und nur das. Aus der beständigen Durchkreuzung solcher Fäden von ganz verschiednen Farben, entstehet denn eine Kontextur, die in der[368] Kunst eben das ist, was die Weberei Changeant nennet: ein Stoff, von dem man nicht sagen kann, ob er blau oder rot, grün oder gelb ist; der beides ist, der von dieser Seite so, von der andern anders erscheinet; ein Spielwerk der Mode, ein Gaukelputz für Kinder.

Nun urteile man, ob der große Corneille seinen Stoff mehr als ein Genie, oder als ein witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu dieser Beurteilung weiter nichts, als die Anwendung eines Satzes, den niemand in Zweifel zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz, Verwicklung.

Cleopatra bringt, in der Geschichte, ihren Gemahl aus Eifersucht um. Aus Eifersucht? dachte Corneille: das wäre ja eine ganz gemeine Frau; nein, meine Cleopatra muß eine Heldin sein, die noch wohl ihren Mann gern verloren hätte, aber durchaus nicht den Thron; daß ihr Mann Rodogunen liebt, muß sie nicht so sehr schmerzen, als daß Rodogune Königin sein soll, wie sie; das ist weit erhabner. –

Ganz recht; weit erhabner und – weit unnatürlicher. Denn einmal ist der Stolz überhaupt ein unnatürlicheres, ein gekünstelteres Laster, als die Eifersucht. Zweitens ist der Stolz eines Weibes noch unnatürlicher, als der Stolz eines Mannes. Die Natur rüstete das weibliche Geschlecht zur Liebe, nicht zu Gewaltseligkeiten aus; es soll Zärtlichkeit, nicht Furcht erwecken; nur seine Reize sollen es mächtig machen; nur durch Liebkosungen soll es herrschen, und soll nicht mehr beherrschen wollen, als es genießen kann. Eine Frau, der das Herrschen, bloß des Herrschens wegen, gefällt, bei der alle Neigungen dem Ehrgeize untergeordnet sind, die keine andere Glückseligkeit kennet, als zu gebieten, zu tyrannisieren, und ihren Fuß ganzen Völkern auf den Nacken zu setzen; so eine Frau kann wohl einmal, auch mehr als einmal, wirklich gewesen sein, aber sie ist dem ohngeachtet eine Ausnahme, und wer eine Ausnahme schildert, schildert ohnstreitig das minder Natürliche. Die Cleopatra des Corneille, die so eine Frau ist, die, ihren Ehrgeiz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, sich alle Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit machiavellischen Maximen um sich wirft, ist ein Ungeheuer ihres Geschlechts, und Medea ist gegen ihr tugendhaft und liebenswürdig. [369] Denn alle die Grausamkeiten, welche Medea begeht, begeht sie aus Eifersucht. Einer zärtlichen, eifersüchtigen Frau, will ich noch alles vergeben; sie ist das, was sie sein soll, nur zu heftig. Aber gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus überlegtem Ehrgeize, Freveltaten verübet, empört sich das ganze Herz; und alle Kunst des Dichters kann sie uns nicht interessant machen. Wir staunen sie an, wie wir ein Monstrum anstaunen; und wenn wir unsere Neugierde gesättiget haben, so danken wir dem Himmel, daß sich die Natur nur alle tausend Jahre einmal so verirret, und ärgern uns über den Dichter, der uns dergleichen Mißgeschöpfe für Menschen verkaufen will, deren Kenntnis uns ersprießlich sein könnte. Man gehe die ganze Geschichte durch; unter funfzig Frauen, die ihre Männer vom Throne gestürzet und ermordet haben, ist kaum eine, von der man nicht beweisen könnte, daß nur beleidigte Liebe sie zu diesem Schritte bewogen. Aus bloßem Regierungsneide, aus bloßem Stolze das Scepter selbst zu führen, welches ein liebreicher Ehemann führte, hat sich schwerlich eine so weit vergangen. Viele, nachdem sie als beleidigte Gattinnen die Regierung an sich gerissen, haben diese Regierung hernach mit allem männlichen Stolze verwaltet: das ist wahr. Sie hatten bei ihren kalten, mürrischen, treulosen Gatten alles, was die Unterwürfigkeit kränkendes hat, zu sehr erfahren, als daß ihnen nachher ihre mit der äußersten Gefahr erlangte Unabhängigkeit nicht um so viel schätzbarer hätte sein sollen. Aber sicherlich hat keine das bei sich gedacht und empfunden, was Corneille seine Cleopatra selbst von sich sagen läßt; die unsinnigsten Bravaden des Lasters. Der größte Bösewicht weiß sich vor sich selbst zu entschuldigen, sucht sich selbst zu überreden, daß das Laster, welches er begeht, kein so großes Laster sei, oder daß ihn die unvermeidliche Notwendigkeit es zu begehen zwinge. Es ist wider alle Natur, daß er sich des Lasters, als Lasters rühmet; und der Dichter ist äußerst zu tadeln, der aus Begierde etwas Glänzendes und Starkes zu sagen, uns das menschliche Herz so verkennen läßt, als ob seine Grundneigungen auf das Böse, als auf das Böse, gehen könnten.

Dergleichen mißgeschilderte Charaktere, dergleichen [370] schaudernde Tiraden, sind indes bei keinem Dichter häufiger, als bei Corneillen, und es könnte leicht sein, daß sich zum Teil sein Beiname des Großen mit darauf gründe. Es ist wahr, alles atmet bei ihm Heroismus; aber auch das, was keines fähig sein sollte, und wirklich auch keines fähig ist: das Laster. Den Ungeheuern, den Gigantischen hätte man ihn nennen sollen; aber nicht den Großen. Denn nichts ist groß, was nicht wahr ist.

Ein und dreißigstes Stück

Den 14ten August, 1767


In der Geschichte rächet sich Cleopatra bloß an ihrem Gemahle; an Rodogunen konnte, oder wollte sie sich nicht rächen. Bei dem Dichter ist jene Rache längst vorbei; die Ermordung des Demetrius wird bloß erzählt, und alle Handlung des Stücks geht auf Rodogunen. Corneille will seine Cleopatra nicht auf halbem Wege stehen lassen; sie muß sich noch gar nicht gerächet zu haben glauben, wenn sie sich nicht auch an Rodogunen rächet. Einer Eifersüchtigen ist es allerdings natürlich, daß sie gegen ihre Nebenbuhlerin noch unversöhnlicher ist, als gegen ihren treulosen Gemahl. Aber die Cleopatra des Corneille, wie gesagt, ist wenig oder gar nicht eifersüchtig; sie ist bloß ehrgeizig; und die Rache einer Ehrgeizigen sollte nie der Rache einer Eifersüchtigen ähnlich sein. Beide Leidenschaften sind zu sehr unterschieden, als daß ihre Wirkungen die nämlichen sein könnten. Der Ehrgeiz ist nie ohne eine Art von Edelmut, und die Rache streitet mit dem Edelmute zu sehr, als daß die Rache des Ehrgeizigen ohne Maß und Ziel sein sollte. So lange er seinen Zweck verfolgt, kennet sie keine Grenzen; aber kaum hat er diesen erreicht, kaum ist seine Leidenschaft befriediget, als auch seine Rache kälter und überlegender zu werden anfängt. Er proportioniert sie nicht sowohl nach dem erlittenen Nachteile, als vielmehr nach dem noch zu besorgenden. Wer ihm nicht weiter schaden kann, von dem vergißt er es auch wohl, daß er ihm geschadet hat. Wen er nicht zu fürchten hat, den verachtet [371] er; und wen er verachtet, der ist weit unter seiner Rache. Die Eifersucht hingegen ist eine Art von Neid; und Neid ist ein kleines, kriechendes Laster, das keine andere Befriedigung kennet, als das gänzliche Verderben seines Gegenstandes. Sie tobet in einem Feuer fort; nichts kann sie versöhnen; da die Beleidigung, die sie erwecket hat, nie aufhöret, die nämliche Beleidigung zu sein, und immer wächset, je länger sie dauert: so kann auch ihr Durst nach Rache nie erlöschen, die sie spat oder früh, immer mit gleichem Grimme, vollziehen wird. Gerade so ist die Rache der Cleopatra beim Corneille; und die Mißhelligkeit, in der diese Rache also mit ihrem Charakter stehet, kann nicht anders als äußerst beleidigend sein. Ihre stolzen Gesinnungen, ihr unbändiger Trieb nach Ehre und Unabhängigkeit, lassen sie uns als eine große, erhabne Seele betrachten, die alle unsere Bewunderung verdienet. Aber ihr tückischer Groll; ihre hämische Rachsucht gegen eine Person, von der ihr weiter nichts zu befürchten stehet, die sie in ihrer Gewalt hat, der sie, bei dem geringsten Funken von Edelmute, vergeben müßte; ihr Leichtsinn, mit dem sie nicht allein selbst Verbrechen begeht, mit dem sie auch andern die unsinnigsten so plump und geradehin zumutet: machen sie uns wiederum so klein, daß wir sie nicht genug verachten zu können glauben. Endlich muß diese Verachtung notwendig jene Bewunderung aufzehren, und es bleibt in der ganzen Cleopatra nichts übrig, als ein häßliches abscheuliches Weib, das immer sprudelt und raset, und die erste Stelle im Tollhause verdienet.

Aber nicht genug, daß Cleopatra sich an Rodogunen rächet: der Dichter will, daß sie es auf eine ganz ausnehmende Weise tun soll. Wie fängt er dieses an? Wenn Cleopatra selbst Rodogunen aus dem Wege schafft, so ist das Ding viel zu natürlich: denn was ist natürlicher, als seine Feindin hinzurichten? Ginge es nicht an, daß zugleich eine Liebhaberin in ihr hingerichtet würde? Und daß sie von ihrem Liebhaber hingerichtet würde? Warum nicht? Laßt uns erdichten, daß Rodogune mit dem Demetrius noch nicht völlig vermählet gewesen; laßt uns erdichten, daß nach seinem Tode sich die beiden Söhne in die Braut des Vaters verliebt haben; laßt [372] uns erdichten, daß die beiden Söhne Zwillinge sind, daß dem ältesten der Thron gehöret, daß die Mutter es aber beständig verborgen gehalten, welcher von ihnen der älteste sei; laßt uns erdichten, daß sich endlich die Mutter entschlossen, dieses Geheimnis zu entdecken, oder vielmehr nicht zu entdecken, sondern an dessen Statt denjenigen für den ältesten zu erklären, und ihn dadurch auf den Thron zu setzen, welcher eine gewisse Bedingung eingehen wolle; laßt uns erdichten, daß diese Bedingung der Tod der Rodogune sei. Nun hätten wir ja, was wir haben wollten: beide Prinzen sind in Rodogune sterblich verliebt; wer von beiden seine Geliebte umbringen will, der soll regieren.

Schön; aber könnten wir den Handel nicht noch mehr verwickeln? Könnten wir die guten Prinzen nicht noch in größere Verlegenheit setzen? Wir wollen versuchen. Laßt uns also weiter erdichten, daß Rodogune den Anschlag der Cleopatra erfährt; laßt uns weiter erdichten, daß sie zwar einen von den Prinzen vorzüglich liebt, aber es ihm nicht bekannt hat, auch sonst keinem Menschen es bekannt hat, noch bekennen will, daß sie fest entschlossen ist, unter den Prinzen weder diesen geliebtern, noch den, welchem der Thron heimfallen dürfte, zu ihrem Gemahle zu wählen, daß sie allein den wählen wolle, welcher sich ihr am würdigsten erzeigen werde; Rodogune muß gerächet sein wollen, muß an der Mutter der Prinzen gerächet sein wollen; Rodogune muß ihnen erklären: wer mich von euch haben will, der ermorde seine Mutter!

Bravo! Das nenne ich doch noch eine Intrigue! Diese Prinzen sind gut angekommen! Die sollen zu tun haben, wenn sie sich herauswickeln wollen! Die Mutter sagt zu ihnen: wer von euch regieren will, der ermorde seine Geliebte! Und die Geliebte sagt: wer mich haben will, ermorde seine Mutter! Es versteht sich, daß es sehr tugendhafte Prinzen sein müssen, die einander von Grund der Seele lieben, die viel Respekt für den Teufel von Mamma, und eben so viel Zärtlichkeit für eine liebäugelnde Furie von Gebieterin haben. Denn wenn sie nicht beide sehr tugendhaft sind, so ist die Verwicklung so arg nicht, als es scheinet; oder sie ist zu arg, daß es gar [373] nicht möglich ist, sie wieder aufzuwickeln. Der eine geht hin und schlägt die Prinzessin tot, um den Thron zu haben: damit ist es aus. Oder der andere geht hin und schlägt die Mutter tot, um die Prinzessin zu haben: damit ist es wieder aus. Oder sie gehen beide hin, und schlagen die Geliebte tot, und wollen beiden den Thron haben: so kann es gar nicht auswerden. Oder sie schlagen beide die Mutter tot, und wollen beide das Mädchen haben: und so kann es wiederum nicht auswerden. Aber wenn sie beide fein tugendhaft sind, so will keiner weder die eine noch die andere tot schlagen; so stehen sie beide hübsch und sperren das Maul auf, und wissen nicht, was sie tun sollen: und das ist eben die Schönheit davon. Freilich wird das Stück dadurch ein sehr sonderbares Ansehen bekommen, daß die Weiber darin ärger als rasende Männer, und die Männer weibischer als die armseligsten Weiber handeln: aber was schadet das? Vielmehr ist dieses ein Vorzug des Stückes mehr; denn das Gegenteil ist so gewöhnlich, so abgedroschen! –

Doch im Ernste: ich weiß nicht, ob es viel Mühe kostet, dergleichen Erdichtungen zu machen; ich habe es nie versucht, ich möchte es auch schwerlich jemals versuchen. Aber das weiß ich, daß es einem sehr sauer wird, dergleichen Erdichtungen zu verdauen.

Nicht zwar, weil es bloße Erdichtungen sind; weil nicht die mindeste Spur in der Geschichte davon zu finden. Diese Bedenklichkeit hätte sich Corneille immer ersparen können. »Vielleicht, sagt er, dürfte man zweifeln, ob sich die Freiheit der Poesie so weit erstrecket, daß sie unter bekannten Namen eine ganze Geschichte erdenken darf; so wie ich es hier gemacht habe, wo nach der Erzählung im ersten Akte, welche die Grundlage des Folgenden ist, bis zu den Wirkungen im fünften, nicht das geringste vorkömmt, welches einigen historischen Grund hätte. Doch, fährt er fort, mich dünkt, wenn wir nur das Resultat einer Geschichte beibehalten, so sind alle vorläufigen Umstände, alle Einleitungen zu diesem Resultate in unserer Gewalt. Wenigstens wüßte ich mich keiner Regel dawider zu erinnern, und die Ausübung der Alten ist völlig auf meiner Seite. Denn man vergleiche nur [374] ein mal die Elektra des Sophokles mit der Elektra des Euripides, und sehe, ob sie mehr mit einander gemein haben, als das bloße Resultat, die letzten Wirkungen in den Begegnissen ihrer Heldin, zu welchen jeder auf einem besondern Wege, durch ihm eigentümliche Mittel gelanget, so daß wenigstens eine davon notwendig ganz und gar die Erfindung ihres Verfassers sein muß. Oder man werfe nur die Augen auf die Iphigenia in Taurika, die uns Aristoteles zum Muster einer vollkommenen Tragödie gibt, und die doch sehr darnach aussieht, daß sie weiter nichts als eine Erdichtung ist, indem sie sich bloß auf das Vorgeben gründet, daß Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem Altare, auf welchem sie geopfert werden sollte, entrückt, und ein Reh an ihrer Stelle untergeschoben habe. Vornehmlich aber verdient die Helena des Euripides bemerkt zu werden, wo sowohl die Haupthandlung, als die Episoden, sowohl der Knoten, als die Auflösung, gänzlich erdichtet sind, und aus der Historie nichts als die Namen haben.«

Allerdings durfte Corneille mit den historischen Umständen nach Gutdünken verfahren. Er durfte, z. E. Rodogunen so jung annehmen, als er wollte; und Voltaire hat sehr Unrecht, wenn er auch hier wiederum aus der Geschichte nachrechnet, daß Rodogune so jung nicht könne gewesen sein; sie habe den Demetrius geheiratet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenigstens zwanzig Jahre haben müßten, noch in ihrer Kindheit gewesen wären. Was geht das dem Dichter an? Seine Rodogune hat den Demetrius gar nicht geheiratet; sie war sehr jung, als sie der Vater heiraten wollte, und nicht viel älter, als sich die Söhne in sie verliebten. Voltaire ist mit seiner historischen Kontrolle ganz unleidlich. Wenn er doch lieber die Data in seiner allgemeinen Weltgeschichte dafür verifizieren wollte!

[375]
Zwei und dreißigstes Stück

Den 18ten August, 1767


Mit den Beispielen der Alten hätte Corneille noch weiter zurück gehen können. Viele stellen sich vor, daß die Tragödie in Griechenland wirklich zur Erneuerung des Andenkens großer und sonderbarer Begebenheiten erfunden worden; daß ihre erste Bestimmung also gewesen, genau in die Fußtapfen der Geschichte zu treten, und weder zur Rechten noch zur Linken auszuweichen. Aber sie irren sich. Denn schon Thespis ließ sich um die historische Richtigkeit ganz unbekümmert. 16 Es ist wahr, er zog sich darüber einen harten Verweis von dem Solon zu. Doch ohne zu sagen, daß Solon sich besser auf die Gesetze des Staats, als der Dichtkunst verstanden: so läßt sich den Folgerungen, die man aus seiner Mißbilligung ziehen könnte, auf eine andere Art ausweichen. Die Kunst bediente sich unter dem Thespis schon aller Vorrechte, als sie sich, von Seiten des Nutzens, ihrer noch nicht würdig erzeigen konnte. Thespis ersann, erdichtete, ließ die bekanntesten Personen sagen und tun, was er wollte: aber er wußte seine Erdichtungen vielleicht weder wahrscheinlich, noch lehrreich zu machen. Solon bemerkte in ihnen also nur das Unwahre, ohne die geringste Vermutung von dem Nützlichen zu haben. Er eiferte wider ein Gift, welches, ohne sein Gegengift mit sich zu führen, leicht von übeln Folgen sein könnte.

Ich fürchte sehr, Solon dürfte auch die Erdichtungen des großen Corneille nichts als leidige Lügen genannt haben. Denn wozu alle diese Erdichtungen? Machen sie in der Geschichte, die er damit überladet, das geringste wahrscheinlicher? Sie sind nicht einmal für sich selbst wahrscheinlich. Corneille prahlte damit, als mit sehr wunderbaren Anstrengungen der Erdichtungskraft; und er hätte doch wohl wissen sollen, daß nicht das bloße Erdichten, sondern das zweckmäßige Erdichten, einen schöpfrischen Geist beweise.

Der Poet findet in der Geschichte eine Frau, die Mann und [376] Söhne mordet; eine solche Tat kann Schrecken und Mitleid erwecken, und er nimmt sich vor, sie in einer Tragödie zu behandeln. Aber die Geschichte sagt ihm weiter nichts, als das bloße Factum, und dieses ist eben so gräßlich als außerordentlich. Es gibt höchstens drei Szenen, und da es von allen nähern Umständen entblößt ist, drei unwahrscheinliche Szenen. – Was tut also der Poet?

So wie er diesen Namen mehr oder weniger verdient, wird ihm entweder die Unwahrscheinlichkeit oder die magere Kürze der größere Mangel seines Stückes scheinen.

Ist er in dem erstern Falle, so wird er vor allen Dingen bedacht sein, eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach welcher jene unwahrscheinliche Verbrechen nicht wohl anders, als geschehen müssen. Unzufrieden, ihre Möglichkeit bloß auf die historische Glaubwürdigkeit zu gründen, wird er suchen, die Charaktere seiner Personen so anzulegen; wird er suchen, die Vorfälle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so notwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen; wird er suchen, die Leidenschaften nach eines jeden Charakter so genau abzumessen; wird er suchen, diese Leidenschaften durch so allmähliche Stufen durchzuführen: daß wir überall nichts als den natürlichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen; daß wir bei jedem Schritte, den er seine Personen tun läßt, bekennen müssen, wir würden ihn, in dem nämlichen Grade der Leidenschaft bei der nämlichen Lage der Sachen, selbst getan haben; daß uns nichts dabei befremdet, als die unmerkliche Annäherung eines Zieles, von dem unsere Vorstellungen zurückbeben, und an dem wir uns endlich, voll des innigsten Mitleids gegen die, welche ein so fataler Strom dahin reißt, und voll Schrecken über das Bewußtsein befinden, auch uns könne ein ähnlicher Strom dahin reißen, Dinge zu begehen, die wir bei kaltem Geblüte noch so weit von uns entfernt zu sein glauben. – Und schlägt der Dichter diesen Weg ein, sagt ihm sein Genie, daß er darauf nicht schimpflich ermatten werde: so ist mit eins auch jene magere Kürze seiner Fabel verschwunden; es bekümmert ihn nun nicht mehr, wie er mit so wenigen Vorfällen fünf Akte füllen wolle; ihm ist nur [377] bange, daß fünf Akte alle den Stoff nicht fassen werden, der sich unter seiner Bearbeitung aus sich selbst immer mehr und mehr vergrößert, wenn er einmal der verborgnen Organisation desselben auf die Spur gekommen, und sie zu entwickeln verstehet.

Hingegen dem Dichter, der diesen Namen weniger verdienet, der weiter nichts als ein witziger Kopf, als ein guter Versifikateur ist, dem, sage ich, wird die Unwahrscheinlichkeit seines Vorwurfs so wenig anstößig sein, daß er vielmehr eben hierin das Wunderbare desselben zu finden vermeinet, welches er auf keine Weise vermindern dürfe, wenn er sich nicht selbst des sichersten Mittels berauben wolle, Schrecken und Mitleid zu erregen. Denn er weiß so wenig, worin eigentlich dieses Schrecken und dieses Mitleid bestehet, daß er, um jenes hervor zu bringen, nicht sonderbare, unerwartete, unglaubliche, ungeheure Dinge genug häufen zu können glaubt, und um dieses zu erwecken, nur immer seine Zuflucht zu den außerordentlichsten, gräßlichsten Unglücksfällen und Freveltaten, nehmen zu müssen vermeinet. Kaum hat er also in der Geschichte eine Cleopatra, eine Mörderin ihres Gemahls und ihrer Söhne, aufgejagt, so sieht er, um eine Tragödie daraus zu machen, weiter nichts dabei zu tun, als die Lücken zwischen beiden Verbrechen auszufüllen, und sie mit Dingen auszufüllen, die wenigstens eben so befremdend sind, als diese Verbrechen selbst. Alles dieses, seine Erfindungen, und die historischen Materialien, knetet er denn in einen fein langen, fein schwer zu fassenden Roman zusammen; und wenn er es so gut zusammen geknetet hat, als sich nur immer Häcksel und Mehl zusammen kneten lassen: so bringt er seinen Teig auf das Drahtgerippe von Akten und Szenen, läßt erzählen und erzählen, läßt rasen und reimen, – und in vier, sechs Wochen, nachdem ihm das Reimen leichter oder saurer ankömmt, ist das Wunder fertig; es heißt ein Trauerspiel, – wird gedruckt und aufgeführt, – gelesen und angesehen, – bewundert oder ausgepfiffen, – beibehalten oder vergessen, – so wie es das liebe Glück will. Denn et habent sua fata libelli.

Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon auf den großen [378] Corneille zu machen? Oder brauche ich sie noch lange zu machen? – Nach dem geheimnisvollen Schicksale, welches die Schriften so gut als die Menschen haben, ist seine Rodogune, nun länger als hundert Jahr, als das größte Meisterstück des größten tragischen Dichters, von ganz Frankreich, und gelegentlich mit von ganz Europa, bewundert worden. Kann eine hundertjährige Bewunderung wohl ohne Grund sein? Wo haben die Menschen so lange ihre Augen, ihre Empfindung gehabt? War es von 1644 bis 1767 allein dem hamburgischen Dramaturgisten aufbehalten, Flecken in der Sonne zu sehen, und ein Gestirn auf ein Meteor herabzusetzen?

O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte saß einmal ein ehrlicher Hurone in der Bastille zu Paris; dem ward die Zeit lang, ob er schon in Paris war; und vor langer Weile studierte er die französischen Poeten; diesem Huronen wollte die Rodogune gar nicht gefallen. Hernach lebte, zu Anfange des itzigen Jahrhunderts, irgendwo in Italien, ein Pedant, der hatte den Kopf von den Trauerspielen der Griechen und seiner Landesleute des sechszehnten Seculi voll, und er fand an der Rodogune gleichfalls vieles auszusetzen. Endlich kam vor einigen Jahren sogar auch ein Franzose, sonst ein gewaltiger Verehrer des Corneilleschen Namens, (denn, weil er reich war, und ein sehr gutes Herz hatte, so nahm er sich einer armen verlaßnen Enkelin dieses großen Dichters an, ließ sie unter seinen Augen erziehen, lehrte sie hübsche Verse machen, sammelte Almosen für sie, schrieb zu ihrer Aussteuer einen großen einträglichen Kommentar über die Werke ihres Großvaters u.s.w.) aber gleichwohl erklärte er die Rodogune für ein sehr ungereimtes Gedicht, und wollte sich des Todes verwundern, wie ein so großer Mann, als der große Corneille, solch widersinniges Zeug habe schreiben können. – Bei einem von diesen ist der Dramaturgist ohnstreitig in die Schule gegangen; und aller Wahrscheinlichkeit nach bei dem letztern; denn es ist doch gemeiniglich ein Franzose, der den Ausländern über die Fehler eines Franzosen die Augen eröffnet. Diesem ganz gewiß betet er nach; – oder ist es nicht diesem, wenigstens dem [379] Welschen, – wo nicht gar dem Huronen. Von einem muß er es doch haben. Denn daß ein Deutscher selbst dächte, von selbst die Kühnheit hätte, an der Vortrefflichkeit eines Franzosen zu zweifeln, wer kann sich das einbilden?

Ich rede von diesen meinen Vorgängern mehr, bei der nächsten Wiederholung der Rodogune. Meine Leser wünschen aus der Stelle zu kommen; und ich mit ihnen. Itzt nur noch ein Wort von der Übersetzung, nach welcher dieses Stück aufgeführet worden. Es war nicht die alte Wolfenbüttelsche vom Bressand, sondern eine ganz neue, hier verfertigte, die noch ungedruckt lieget; in gereimten Alexandrinern. Sie darf sich gegen die beste von dieser Art nicht schämen, und ist voller starken, glücklichen Stellen. Der Verfasser aber, weiß ich, hat zu viel Einsicht und Geschmack, als daß er sich einer so undankbaren Arbeit noch einmal unterziehen wollte. Corneillen gut zu übersetzen, muß man bessere Verse machen können, als er selbst.

Drei und dreißigstes Stück

Den 21sten August, 1767


Den sechs und dreißigsten Abend (Freitags, den 3ten Julius,) ward das Lustspiel des Herrn Favart, Solimann der Zweite, ebenfalls in Gegenwart Sr. Königl. Majestät von Dänemark, aufgeführet.

Ich mag nicht untersuchen, wie weit es die Geschichte bestätiget, daß Solimann II. sich in eine europäische Sklavin verliebt habe, die ihn so zu fesseln, so nach ihrem Willen zu lenken gewußt, daß er, wider alle Gewohnheit seines Reichs, sich förmlich mit ihr verbinden und sie zur Kaiserin erklären müssen. Genug, daß Marmontel hierauf eine von seinen moralischen Erzählungen gegründet, in der er aber jene Sklavin, die eine Italienerin soll gewesen sein, zu einer Französin macht; ohne Zweifel, weil er es ganz unwahrscheinlich gefunden, daß irgend eine andere Schöne, als eine Französische, einen so seltnen Sieg über einen Großtürken erhalten können.

[380] Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Erzählung des Marmontel sagen soll; nicht, daß sie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen den feinen Kenntnissen der großen Welt, ihrer Eitelkeit und ihres Lächerlichen, ausgeführet, und mit der Eleganz und Anmut geschrieben wäre, welche diesem Verfasser so eigen sind; von dieser Seite ist sie vortrefflich, allerliebst. Aber es soll eine moralische Erzählung sein, und ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moralische sitzt. Allerdings ist sie nicht so schlüpfrig, so anstößig, als eine Erzählung des La Fontaine oder Grecourt: aber ist sie darum moralisch, weil sie nicht ganz unmoralisch ist?

Ein Sultan, der in dem Schoße der Wollüste gähnet, dem sie der alltägliche und durch nichts erschwerte Genuß unschmackhaft und ekel gemacht hat, der seine schlaffen Nerven durch etwas ganz Neues, ganz Besonderes, wieder gespannet und gereizet wissen will, um den sich die feinste Sinnlichkeit, die raffinierteste Zärtlichkeit umsonst bewirbt, vergebens erschöpft: dieser kranke Wollüstling ist der leidende Held in der Erzählung. Ich sage, der leidende: der Lecker hat sich mit zu viel Süßigkeiten den Magen verdorben; nichts will ihm mehr schmecken; bis er endlich auf etwas verfällt, was jedem gesunden Magen Abscheu erwecken würde, auf faule Eier, auf Rattenschwänze und Raupenpasteten; die schmecken ihm. Die edelste, bescheidenste Schönheit, mit dem schmachtendsten Auge, groß und blau, mit der unschuldigsten empfindlichsten Seele, beherrscht den Sultan, – bis sie gewonnen ist. Eine andere, majestätischer in ihrer Form, blendender von Colorit, blühende Suada auf ihren Lippen, und in ihrer Stimme das ganze liebliche Spiel bezaubernder Töne, eine wahre Muse, nur verführerischer, wird – genossen, und vergessen. Endlich erscheinet ein weibliches Ding, flüchtig, unbedachtsam, wild, witzig bis zur Unverschämtheit, lustig bis zum Tollen, viel Physiognomie wenig Schönheit, niedlicher als wohlgestaltet, Taille aber keine Figur; dieses Ding, als es den Sultan erblickt, fällt mit der plumpesten Schmeichelei, wie mit der Türe ins Haus: Graces au ciel, voici une figure humaine! – (Eine Schmeichelei, die nicht bloß dieser Sultan, auch mancher deutscher Fürst, dann und [381] wann etwas feiner, dann und wann aber auch wohl noch plumper, zu hören bekommen, und mit der unter zehnen neune, so gut wie der Sultan, vorlieb genommen, ohne die Beschimpfung, die sie wirklich enthält, zu fühlen.) Und so wie dieses Eingangscompliment, so das Übrige – Vous êtes beaucoup mieux, qu'il n'appartient à un Turc: vous avez même quelque chose d'un François – En vérité ces Turcs sont plaisans – Je me charge d'apprendre à vivre à ce Turc – Je ne désespère pas d'en faire quelque jour un François. – Dennoch gelingt es dem Dinge! Es lacht und schilt, es droht und spottet, es liebäugelt und mault, bis der Sultan, nicht genug, ihm zu gefallen, dem Serraglio eine neue Gestalt gegeben zu haben, auch Reichsgesetze abändern, und Geistlichkeit und Pöbel wider sich aufzubringen Gefahr laufen muß, wenn er anders mit ihr eben so glücklich sein will, als schon der und jener, wie sie ihm selbst bekennet, in ihrem Vaterlande mit ihr gewesen. Das verlohnte sich wohl der Mühe!

Marmontel fängt seine Erzählung mit der Betrachtung an, daß große Staatsveränderungen oft durch sehr geringfügige Kleinigkeiten veranlaßt worden, und läßt den Sultan mit der heimlichen Frage an sich selbst schließen: wie ist es möglich, daß eine kleine aufgestülpte Nase die Gesetze eines Reiches umstoßen können? Man sollte also fast glauben, daß er bloß diese Bemerkung, dieses anscheinende Mißverhältnis zwischen Ursache und Wirkung, durch ein Exempel erläutern wollen. Doch diese Lehre wäre unstreitig zu allgemein, und er entdeckt uns in der Vorrede selbst, daß er eine ganz andere und weit speziellere dabei zur Absicht gehabt. »Ich nahm mir vor, sagt er, die Torheit derjenigen zu zeigen, welche ein Frauenzimmer durch Ansehen und Gewalt zur Gefälligkeit bringen wollen; ich wählte also zum Beispiele einen Sultan und eine Sklavin, als die zwei Extrema der Herrschaft und Abhängigkeit.« Allein Marmontel muß sicherlich auch diesen seinen Vorsatz während der Ausarbeitung vergessen haben; fast nichts zielet dahin ab; man sieht nicht den geringsten Versuch einiger Gewaltsamkeiten von Seiten des Sultans; er ist gleich bei den ersten Insolenzen, die ihm die galante Französin sagt, der zurückhaltendste, nachgebendste, gefälligste, [382] folgsamste, untertänigste Mann, la meilleure pâte de mari, als kaum in Frankreich zu finden sein würde. Also nur gerade heraus; entweder es liegt gar keine Moral in dieser Erzählung des Marmontel, oder es ist die, auf welche ich, oben bei dem Charakter des Sultans, gewiesen: der Käfer, wenn er alle Blumen durchschwärmt hat, bleibt endlich auf dem Miste liegen.

Doch Moral oder keine Moral; dem dramatischen Dichter ist es gleich viel, ob sich aus seiner Fabel eine allgemeine Wahrheit folgern läßt oder nicht; und also war die Erzählung des Marmontel darum nichts mehr und nichts weniger geschickt, auf das Theater gebracht zu werden. Das tat Favart, und sehr glücklich. Ich rate allen, die unter uns das Theater aus ähnlichen Erzählungen bereichern wollen, die Favartsche Ausführung mit dem Marmontelschen Urstoffe zusammen zu halten. Wenn sie die Gabe zu abstrahieren haben, so werden ihnen die geringsten Veränderungen, die dieser gelitten, und zum Teil leiden müssen, lehrreich sein, und ihre Empfindung wird sie auf manchen Handgriff leiten, der ihrer bloßen Spekulation wohl unentdeckt geblieben wäre, den noch kein Kritikus zur Regel generalisieret hat, ob er es schon verdiente, und der öfters mehr Wahrheit, mehr Leben in ihr Stück bringen wird, als alle die mechanischen Gesetze, mit denen sich kahle Kunstrichter herumschlagen, und deren Beobachtung sie lieber, dem Genie zum Trotze, zur einzigen Quelle der Vollkommenheit eines Drama machen möchten.

Ich will nur bei einer von diesen Veränderungen stehen bleiben. Aber ich muß vorher das Urteil anführen, welches Franzosen selbst über das Stück gefällt haben. 17 Anfangs äußern sie ihre Zweifel gegen die Grundlage des Marmontels. »Solimann der Zweite, sagen sie, war einer von den größten Fürsten seines Jahrhunderts; die Türken haben keinen Kaiser, dessen Andenken ihnen teurer wäre, als dieses Solimanns; seine Siege, seine Talente und Tugenden, machten ihn selbst bei den Feinden verehrungswürdig, über die er siegte: aber welche kleine, jämmerliche Rolle läßt ihn Marmontel spielen? [383] Roxelane war, nach der Geschichte, eine verschlagene, ehrgeizige Frau, die, ihren Stolz zu befriedigen, der kühnsten, schwärzesten Streiche fähig war, die den Sultan durch ihre Ränke und falsche Zärtlichkeit so weit zu bringen wußte, daß er wider sein eigenes Blut wütete, daß er seinen Ruhm durch die Hinrichtung eines unschuldigen Sohnes befleckte: und diese Roxelane ist bei dem Marmontel eine kleine närrische Coquette, wie nur immer eine in Paris herumflattert, den Kopf voller Wind, doch das Herz mehr gut als böse. Sind dergleichen Verkleidungen, fragen sie, wohl erlaubt? Darf ein Poet, oder ein Erzähler, wenn man ihm auch noch so viel Freiheit verstattet diese Freiheit wohl bis auf die allerbekanntesten Charaktere erstrecken? Wenn er Facta nach seinem Gutdünken verändern darf, darf er auch eine Lucretia verbuhlt, und einen Sokrates galant schildern?«

Das heißt einem mit aller Bescheidenheit zu Leibe gehen. Ich möchte die Rechtfertigung des Hrn. Marmontel nicht übernehmen; ich habe mich vielmehr schon dahin geäußert, 18 daß die Charaktere dem Dichter weit heiliger sein müssen, als die Facta. Einmal, weil, wenn jene genau beobachtet werden, diese, insofern sie eine Folge von jenen sind, von selbst nicht viel anders ausfallen können; da hingegen einerlei Factum sich aus ganz verschiednen Charakteren herleiten läßt. Zweitens, weil das Lehrreiche nicht in den bloßen Factis, sondern in der Erkenntnis bestehet, daß diese Charaktere unter diesen Umständen solche Facta hervor zu bringen pflegen, und hervor bringen müssen. Gleichwohl hat es Marmontel gerade umgekehrt. Daß es einmal in dem Serraglio eine europäische Sklavin gegeben, die sich zur gesetzmäßigen Gemahlin des Kaisers zu machen gewußt: das ist das Factum. Die Charaktere dieser Sklavin und dieses Kaisers bestimmen die Art und Weise, wie dieses Factum wirklich geworden; und da es durch mehr als eine Art von Charakteren wirklich werden können, so steht es freilich bei dem Dichter, als Dichter, welche von diesen Arten er wählen will; ob die, welche die Historie bestätiget, oder eine andere, so wie der moralischen [384] Absicht, die er mit seiner Erzählung verbindet, das eine oder das andere gemäßer ist. Nur sollte er sich, im Fall daß er andere Charaktere, als die historischen, oder wohl gar diesen völlig entgegen gesetzte wählet, auch der historischen Namen enthalten, und lieber ganz unbekannten Personen das bekannte Factum beilegen, als bekannten Personen nicht zukommende Charaktere andichten. Jenes vermehret unsere Kenntnis, oder scheint sie wenigstens zu vermehren, und ist dadurch angenehm. Dieses widerspricht der Kenntnis, die wir bereits haben, und ist dadurch unangenehm. Die Facta betrachten wir als etwas zufälliges, als etwas, das mehrern Personen gemein sein kann; die Charaktere hingegen als etwas wesentliches und eigentümliches. Mit jenen lassen wir den Dichter umspringen, wie er will, so lange er sie nur nicht mit den Charakteren in Widerspruch setzet; diese hingegen darf er wohl ins Licht stellen, aber nicht verändern; die geringste Veränderung scheinet uns die Individualität aufzuheben, und andere Personen unterzuschieben, betrügerische Personen, die fremde Namen usurpieren, und sich für etwas ausgeben, was sie nicht sind.

Vier und dreißigstes Stück

Den 25sten August, 1767


Aber dennoch dünkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, seinen Personen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geschichte gibt, als in diesen freiwillig gewählten Charakteren selbst, es sei von Seiten der innern Wahrscheinlichkeit, oder von Seiten des Unterrichtenden, zu verstoßen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie bestehen; nicht aber dieser. Dem Genie ist es vergönnt, tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrat seines Gedächtnisses, sondern das was es aus sich selbst, aus seinem eigenen Gefühl, hervor zu bringen vermag, macht seinen Reichtum aus; 19 was es gehört oder [385] gelesen, hat es entweder wieder vergessen, oder mag es weiter nicht wissen, als insofern es in seinen Kram taugt; es verstößt also, bald aus Sicherheit bald aus Stolz, bald mit bald ohne Vorsatz, so oft, so gröblich, daß wir andern guten Leute uns nicht genug darüber verwundern können; wir stehen und staunen und schlagen die Hände zusammen und rufen: »Aber, wie hat ein so großer Mann nicht wissen können! – wie ist es möglich, daß ihm nicht beifiel! – überlegte er denn nicht?« O, laßt uns ja schweigen; wir glauben ihn zu demütigen, und wir machen uns in seinen Augen lächerlich; alles, was wir besser wissen, als er, beweiset bloß, daß wir fleißiger zur Schule gegangen, als er; und das hatten wir leider nötig, wenn wir nicht vollkommne Dummköpfe bleiben wollten.

Marmontels Solimann hätte daher meinetwegen immer ein ganz anderer Solimann, und seine Roxelane eine ganz andere Roxelane sein mögen, als mich die Geschichte kennen lehret: wenn ich nur gefunden hätte, daß, ob sie schon nicht aus dieser wirklichen Welt sind, sie dennoch zu einer andern Welt gehören könnten; zu einer Welt, deren Zufälligkeiten in einer andern Ordnung verbunden, aber doch eben so genau verbunden sind, als in dieser; zu einer Welt, in welcher Ursachen und Wirkungen zwar in einer andern Reihe folgen, aber doch zu eben der allgemeinen Wirkung des Guten abzwecken; kurz, zu der Welt eines Genies, das – (es sei mir erlaubt, den Schöpfer ohne Namen durch sein edelstes Geschöpf zu bezeichnen!) das, sage ich, um das höchste Genie im Kleinen nachzuahmen, die Teile der gegenwärtigen Welt versetzet, vertauscht, verringert, vermehret, um sich ein eigenes Ganze daraus zu machen, mit dem es seine eigene Absichten verbindet. Doch da ich dieses in dem Werke des Marmontels nicht finde, so kann ich es zufrieden sein, daß man ihm auch jenes nicht für genossen aus gehen läßt. Wer uns nicht schadlos halten kann, oder will, muß uns nicht vorsetzlich beleidigen. Und hier hat es wirklich Marmontel, es sei nun nicht gekonnt, oder nicht gewollt.

Denn nach dem angedeuteten Begriffe, den wir uns von dem Genie zu machen haben, sind wir berechtiget, in allen [386] Charakteren, die der Dichter ausbildet, oder sich schaffet, Übereinstimmung und Absicht zu verlangen, wenn er von uns verlangt, in dem Lichte eines Genies betrachtet zu werden.

Übereinstimmung: – Nichts muß sich in den Charakteren widersprechen; sie müssen immer einförmig, immer sich selbst ähnlich bleiben; sie dürfen sich itzt stärker, itzt schwächer äußern, nach dem die Umstände auf sie wirken; aber keine von diesen Umständen müssen mächtig genug sein können, sie von schwarz auf weiß zu ändern. Ein Türk und Despot muß, auch wenn er verliebt ist, noch Türk und Despot sein. Dem Türken, der nur die sinnliche Liebe kennt, müssen keine von den Raffinements beifallen, die eine verwöhnte Europäische Einbildungskraft damit verbindet. »Ich bin dieser liebkosenden Maschinen satt; ihre weiche Gelehrigkeit hat nichts anzügliches, nichts schmeichelhaftes; ich will Schwierigkeiten zu überwinden haben, und wenn ich sie überwunden habe, durch neue Schwierigkeiten in Atem erhalten sein:« so kann ein König von Frankreich denken, aber kein Sultan. Es ist wahr, wenn man einem Sultan diese Denkungsart einmal gibt, so kömmt der Despot nicht mehr in Betrachtung; er entäußert sich seines Despotismus selbst, um einer freiern Liebe zu genießen; aber wird er deswegen auf einmal der zahme Affe sein, den eine dreiste Gauklerin kann tanzen lassen, wie sie will? Marmontel sagt: Solimann war ein zu großer Mann, als daß er die kleinen Angelegenheiten seines Serraglio auf den Fuß wichtiger Staatsgeschäfte hätte treiben sollen. Sehr wohl; aber so hätte er auch am Ende wichtige Staatsgeschäfte nicht auf den Fuß der kleinen Angelegenheiten seines Serraglio treiben müssen. Denn zu einem großen Manne gehört beides: Kleinigkeiten als Kleinigkeiten, und wichtige Dinge als wichtige Dinge zu behandeln. Er suchte, wie ihn Marmontel selbst sagen läßt, freie Herzen, die sich aus bloßer Liebe zu seiner Person die Sklaverei gefallen ließen; er hätte ein solches Herz an der Elmire gefunden; aber weiß er, was er will? Die zärtliche Elmire wird von einer wollüstigen Delia verdrängt, bis ihm eine Unbesonnene den Strick über die Hörner wirft, der er sich [387] selbst zum Sklaven machen muß, ehe er die zweideutige Gunst genießet, die bisher immer der Tod seiner Begierden gewesen. Wird sie es nicht auch hier sein? Ich muß lachen über den guten Sultan, und er verdiente doch mein herzliches Mitleid. Wenn Elmire und Delia, nach dem Genusse auf einmal alles verlieren, was ihn vorher entzückte: was wird denn Roxelane, nach diesem kritischen Augenblicke, für ihn noch behalten? Wird er es, acht Tage nach ihrer Krönung, noch der Mühe wert halten, ihr dieses Opfer gebracht zu haben? Ich fürchte sehr, daß er schon den ersten Morgen, sobald er sich den Schlaf aus den Augen gewischt, in seiner verehelichten Sultane weiter nichts sieht, als ihre zuversichtliche Frechheit und ihre aufgestülpte Nase. Mich dünkt, ich höre ihn ausrufen: Beim Mahomet, wo habe ich meine Augen gehabt!

Ich leugne nicht, daß bei alle den Widersprüchen, die uns diesen Solimann so armselig und verächtlich machen, er nicht wirklich sein könnte. Es gibt Menschen genug, die noch kläglichere Widersprüche in sich vereinigen. Aber diese können auch, eben darum, keine Gegenstände der poetischen Nachahmung sein. Sie sind unter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende; es wäre denn, daß man ihre Widersprüche selbst, das Lächerliche oder die unglücklichen Folgen derselben, zum Unterrichtenden machte, welches jedoch Marmontel bei seinem Solimann zu tun offenbar weit entfernt gewesen. Einem Charakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem fehlet die Absicht. – Mit Absicht handeln ist das, was den Menschen über geringere Geschöpfe erhebt; mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was das Genie von den kleinen Künstlern unterscheidet, die nur dichten um zu dichten, die nur nachahmen um nachzuahmen, die sich mit dem geringen Vergnügen befriedigen, das mit dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden ist, die diese Mittel zu ihrer ganzen Absicht machen, und verlangen, daß auch wir uns mit dem eben so geringen Vergnügen befriedigen sollen, welches aus dem Anschauen ihres kunstreichen aber absichtlosen Gebrauches ihrer Mittel entspringet. Es ist wahr, mit dergleichen leidigen [388] Nachahmungen fängt das Genie an, zu lernen; es sind seine Vorübungen; auch braucht es sie in größern Werken zu Füllungen, zu Ruhepunkten unserer wärmern Teilnehmung: allein mit der Anlage und Ausbildung seiner Hauptcharaktere verbindet es weitere und größere Absichten; die Absicht uns zu unterrichten, was wir zu tun oder zu lassen haben; die Absicht uns mit den eigentlichen Merkmalen des Guten und Bösen, des Anständigen und Lächerlichen bekannt zu machen; die Absicht uns jenes in allen seinen Verbindungen und Folgen als schön und als glücklich selbst im Unglücke, dieses hingegen als häßlich und unglücklich selbst im Glücke, zu zeigen; die Absicht, bei Vorwürfen, wo keine unmittelbare Nacheiferung, keine unmittelbare Abschreckung für uns Statt hat, wenigstens unsere Begehrungs- und Verabscheuungskräfte mit solchen Gegenständen zu beschäftigen, die es zu sein verdienen, und diese Gegenstände jederzeit in ihr wahres Licht zu stellen, damit uns kein falscher Tag verführt, was wir begehren sollten zu verabscheuen, und was wir verabscheuen sollten zu begehren.

Was ist nun von diesen allen in dem Charakter des Solimanns, in dem Charakter der Roxelane? Wie ich schon gesagt habe: Nichts. Aber von manchem ist gerade das Gegenteil darin; ein Paar Leute, die wir verachten sollten, wovon uns das eine Ekel und das andere Unwille eigentlich erregen müßte, ein stumpfer Wollüstling, eine abgefäumte Buhlerin, werden uns mit so verführerischen Zügen, mit so lachenden Farben geschildert, daß es mich nicht wundern sollte, wenn mancher Ehemann sich daraus berechtiget zu sein glaubte, seiner rechtschaffnen und so schönen als gefälligen Gattin überdrüssig zu sein, weil sie eine Elmire und keine Roxelane ist.

Wenn Fehler, die wir adoptieren, unsere eigene Fehler sind, so haben die angeführten französischen Kunstrichter Recht, daß sie alle das Tadelhafte des Marmontelschen Stoffes dem Favart mit zur Last legen. Dieser scheinet ihnen sogar dabei noch mehr gesündiget zu haben, als jener. »Die Wahrscheinlichkeit, sagen sie, auf die es vielleicht in einer Erzählung so sehr nicht ankömmt, ist in einem dramatischen[389] Stücke unumgänglich nötig; und diese ist in dem gegenwärtigen auf das äußerste verletzet. Der große Solimann spielet eine sehr kleine Rolle, und es ist unangenehm, so einen Helden nur immer aus so einem Gesichtspunkte zu betrachten. Der Charakter eines Sultans ist noch mehr verunstaltet; da ist auch nicht ein Schatten von der unumschränkten Gewalt, vor der alles sich schmiegen muß. Man hätte diese Gewalt wohl lindern können; nur ganz vertilgen hätte man sie nicht müssen. Der Charakter der Roxelane hat wegen seines Spiels gefallen; aber wenn die Überlegung darüber kömmt, wie sieht es dann mit ihm aus? Ist ihre Rolle im geringsten wahrscheinlich? Sie spricht mit dem Sultan, wie mit einem Pariser Bürger; sie tadelt alle seine Gebräuche; sie widerspricht in allen seinem Geschmacke, und sagt ihm sehr harte, nicht selten sehr beleidigende Dinge. Vielleicht zwar hätte sie das alles sagen können; wenn sie es nur mit gemessenern Ausdrücken gesagt hätte. Aber wer kann es aushalten, den großen Solimann von einer jungen Landstreicherin so hofmeistern zu hören? Er soll sogar die Kunst zu regieren von ihr lernen. Der Zug mit dem verschmähten Schnupftuche ist hart; und der mit der weggeworfenen Tabakspfeife ganz unerträglich.«

Fünf und dreißigstes Stück

Den 28sten August, 1767


Der letztere Zug, muß man wissen, gehört dem Favart ganz allein; Marmontel hat sich ihn nicht erlaubt. Auch ist der erstere bei diesem feiner, als bei jenem. Denn beim Favart gibt Roxelane das Tuch, welches der Sultan ihr gegeben, weg; sie scheinet es der Delia lieber zu gönnen, als sich selbst; sie scheinet es zu verschmähen: das ist Beleidigung. Beim Marmontel hingegen läßt sich Roxelane das Tuch von dem Sultan geben, und gibt es der Delia in seinem Namen; sie beuget damit einer Gunstbezeigung nur vor, die sie selbst noch nicht anzunehmen Willens ist, und das mit der uneigennützigsten, gutherzigsten Miene: der Sultan kann sich über [390] nichts beschweren, als daß sie seine Gesinnungen so schlecht errät, oder nicht besser erraten will.

Ohne Zweifel glaubte Favart durch dergleichen Überladungen das Spiel der Roxelane noch lebhafter zu machen; die Anlage zu Impertinenzen sahe er einmal gemacht, und eine mehr oder weniger konnte ihm nichts verschlagen, besonders wenn er die Wendung in Gedanken hatte, die er am Ende mit dieser Person nehmen wollte. Denn ohngeachtet, daß seine Roxelane noch unbedachtsamere Streiche macht, noch plumpern Mutwillen treibet, so hat er sie dennoch zu einem bessern und edlern Charakter zu machen gewußt, als wir in Marmontels Roxelane erkennen. Und wie das? warum das?

Eben auf diese Veränderung wollte ich oben 20 kommen; und mich dünkt, sie ist so glücklich und vorteilhaft, daß sie von den Franzosen bemerkt und ihrem Urheber angerechnet zu werden verdient hätte.

Marmontels Roxelane ist wirklich, was sie scheinet, ein kleines närrisches, vermessenes Ding, dessen Glück es ist, daß der Sultan Geschmack an ihm gefunden, und das die Kunst versteht, diesen Geschmack durch Hunger immer gieriger zu machen, und ihn nicht eher zu befriedigen, als bis sie ihren Zweck erreicht hat. Hinter Favarts Roxelane hingegen steckt mehr, sie scheinet die kecke Buhlerin mehr gespielt zu haben, als zu sein, durch ihre Dreistigkeiten den Sultan mehr auf die Probe gestellt, als seine Schwäche gemißbraucht zu haben. Denn kaum hat sie den Sultan dahin gebracht, wo sie ihn haben will, kaum erkennt sie, daß seine Liebe ohne Grenzen ist, als sie gleichsam die Larve abnimmt, und ihm eine Erklärung tut, die zwar ein wenig unvorbereitet kömmt, aber ein Licht auf ihre vorige Aufführung wirft, durch welches wir ganz mit ihr ausgesöhnet werden. »Nun kenn ich dich, Sultan; ich habe deine Seele, bis in ihre geheimste Triebfedern, erforscht; es ist eine edle, große Seele, ganz den Empfindungen der Ehre offen. So viel Tugend entzückt mich! Aber lerne nun auch, mich kennen. Ich liebe [391] dich, Solimann; ich muß dich wohl lieben! Nimm alle deine Rechte, nimm meine Freiheit zurück; sei mein Sultan, mein Held, mein Gebieter! Ich würde dir sonst sehr eitel, sehr ungerecht scheinen müssen. Nein, tue nichts, als was dich dein Gesetz zu tun berechtiget. Es gibt Vorurteile, denen man Achtung schuldig ist. Ich verlange einen Liebhaber, der meinetwegen nicht erröten darf; sieh hier in Roxelanen – nichts, als deine untertänige Sklavin. 21« So sagt sie, und uns wird auf einmal ganz anders; die Coquette verschwindet, und ein liebes, eben so vernünftiges als drolligtes Mädchen steht vor uns; Solimann höret auf, uns verächtlich zu scheinen, denn diese bessere Roxelane ist seiner Liebe würdig; wir fangen sogar in dem Augenblicke an zu fürchten, er möchte die nicht genug lieben, die er uns zuvor viel zu sehr zu lieben schien, er möchte sie bei ihrem Worte fassen, der Liebhaber möchte den Despoten wieder annehmen, sobald sich die Liebhaberin in die Sklavin schickt, eine kalte Danksagung, daß sie ihn noch zu rechter Zeit von einem so bedenklichen Schritte zurück halten wollen, möchte anstatt einer feurigen Bestätigung seines Entschlusses erfolgen, das gute Kind möchte durch ihre Großmut wieder auf einmal verlieren, was sie durch mutwillige Vermessenheiten so mühsam gewonnen: doch diese Furcht ist vergebens, und das Stück schließt sich zu unserer völligen Zufriedenheit.

Und nun, was bewog den Favart zu dieser Veränderung? Ist sie bloß willkürlich, oder fand er sich durch die besondern [392] Regeln der Gattung, in welcher er arbeitete, dazu verbunden? Warum gab nicht auch Marmontel seiner Erzählung diesen vergnügendern Ausgang? Ist das Gegenteil von dem, was dort eine Schönheit ist, hier ein Fehler?

Ich erinnere mich, bereits an einem andern Orte angemerkt zu haben, welcher Unterschied sich zwischen der Handlung der äsopischen Fabel und des Drama findet. Was von jener gilt, gilt von jeder moralischen Erzählung, welche die Absicht hat, einen allgemeinen moralischen Satz zur Intuition zu bringen. Wir sind zufrieden, wenn diese Absicht erreicht wird, und es ist uns gleichviel, ob es durch eine vollständige Handlung, die für sich ein wohlgeründetes Ganze ausmacht, geschiehet oder nicht; der Dichter kann sie abbrechen, wo er will, sobald er sich an seinem Ziele sieht; wegen des Anteils, den wir an dem Schicksale der Personen nehmen, durch welche er sie ausführen läßt, ist er unbekümmert, er hat uns nicht interessieren, er hat uns unterrichten wollen; er hat es lediglich mit unserm Verstande, nicht mit unserm Herzen zu tun, dieses mag befriediget werden, oder nicht, wenn jener nur erleuchtet wird. Das Drama hingegen macht auf eine einzige, bestimmte, aus seiner Fabel fließende Lehre, keinen Anspruch; es gehet entweder auf die Leidenschaften, welche der Verlauf und die Glücksveränderungen seiner Fabel anzufachen, und zu unterhalten vermögend sind, oder auf das Vergnügen, welches eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten und Charaktere gewähret; und beides erfordert eine gewisse Vollständigkeit der Handlung, ein gewisses befriedigendes Ende, welches wir bei der moralischen Erzählung nicht vermissen, weil alle unsere Aufmerksamkeit auf den allgemeinen Satz gelenkt wird, von welchem der einzelne Fall derselben ein so einleuchtendes Beispiel gibt.

Wenn es also wahr ist, daß Marmontel durch seine Erzählung lehren wollte, die Liebe lasse sich nicht erzwingen, sie müsse durch Nachsicht und Gefälligkeit, nicht durch Ansehen und Gewalt erhalten werden: so hatte er Recht so aufzuhören, wie er aufhört. Die unbändige Roxelane wird durch nichts als Nachgeben gewonnen; was wir dabei von ihrem und des Sultans Charakter denken, ist ihm ganz gleichgültig, [393] mögen wir sie doch immer für eine Närrin und ihn für nichts bessers halten. Auch hat er gar nicht Ursache, uns wegen der Folge zu beruhigen; es mag uns immer noch so wahrscheinlich sein, daß den Sultan seine blinde Gefälligkeit bald gereuen werde: was geht das ihn an? Er wollte uns zeigen, was die Gefälligkeit über das Frauenzimmer überhaupt vermag; er nahm also eines der wildesten; unbekümmert, ob es eine solche Gefälligkeit wert sei, oder nicht.

Allein, als Favart diese Erzählung auf das Theater bringen wollte, so empfand er bald, daß durch die dramatische Form die Intuition des moralischen Satzes größten Teils verloren gehe, und daß, wenn sie auch vollkommen erhalten werden könne, das daraus erwachsende Vergnügen doch nicht so groß und lebhaft sei, daß man dabei ein anderes, welches dem Drama wesentlicher ist, entbehren könne. Ich meine das Vergnügen, welches uns eben so rein gedachte als richtig gezeichnete Charaktere gewähren. Nicht beleidiget uns aber, von Seiten dieser, mehr, als der Widerspruch, in welchem wir ihren moralischen Wert oder Unwert mit der Behandlung des Dichters finden; wenn wir finden, daß sich dieser entweder selbst damit betrogen hat, oder uns wenigstens damit betriegen will, indem er das Kleine auf Stelzen hebet, mutwilligen Torheiten den Anstrich heiterer Weisheit gibt, und Laster und Ungereimtheiten mit allen betriegerischen Reizen der Mode, des guten Tons, der feinen Lebensart, der großen Welt ausstaffieret. Je mehr unsere ersten Blicke dadurch geblendet werden, desto strenger verfährt unsere Überlegung; das häßliche Gesicht, das wir so schön geschminkt sehen, wird für noch einmal so häßlich erklärt, als es wirklich ist; und der Dichter hat nur zu wählen, ob er von uns lieber für einen Giftmischer oder für einen Blödsinnigen will gehalten sein. So wäre es dem Favart, so wäre es seinen Charakteren des Solimanns und der Roxelane ergangen; und das empfand Favart. Aber da er diese Charaktere nicht von Anfang ändern konnte, ohne sich eine Menge Theaterspiele zu verderben, die er so vollkommen nach dem Geschmacke seines Parterrs zu sein urteilte, so blieb ihm nichts zu tun übrig, als was er tat. Nun freuen wir uns, uns an nichts vergnügt [394] zu haben, was wir nicht auch hochachten könnten; und zugleich befriediget diese Hochachtung unsere Neugierde und Besorgnis wegen der Zukunft. Denn da die Illusion des Drama weit stärker ist, als einer bloßen Erzählung, so interessieren uns auch die Personen in jenem weit mehr, als in dieser, und wir begnügen uns nicht, ihr Schicksal bloß für den gegenwärtigen Augenblick entschieden zu sehen, sondern wir wollen uns auf immer desfalls zufrieden gestellet wissen.

Sechs und dreißigstes Stück

Den 1sten September, 1767


So unstreitig wir aber, ohne die glückliche Wendung, welche Favart am Ende dem Charakter der Roxelane gibt, ihre darauf folgende Krönung nicht anders als mit Spott und Verachtung, nicht anders als den lächerlichen Triumph einer Serva Padrona, würden betrachtet haben; so gewiß, ohne sie, der Kaiser in unsern Augen nichts als ein kläglicher Pimpinello, und die neue Kaiserin nichts als eine häßliche, verschmitzte Serbinette gewesen wäre, von der wir voraus gesehen hätten, daß sie nun bald dem armen Sultan, Pimpinello dem Zweiten, noch ganz anders mitspielen werde: so leicht und natürlich dünkt uns doch auch diese Wendung selbst; und wir müssen uns wundern, daß sie, dem ohngeachtet, so manchem Dichter nicht beigefallen, und so manche drollige und dem Ansehen nach wirklich komische Erzählung, in der dramatischen Form darüber verunglücken müssen.

Zum Exempel, die Matrone von Ephesus. Man kennt dieses beißende Märchen, und es ist unstreitig die bitterste Satyre, die jemals gegen den weiblichen Leichtsinn gemacht worden. Man hat es dem Petron tausendmal nach erzählt; und da es selbst in der schlechtesten Kopie noch immer gefiel, so glaubte man, daß es ein eben so glücklicher Stoff auch für das Theater sein müsse. Houdar de la Motte, und andere, machten den Versuch; aber ich berufe mich auf jedes feinere Gefühl, wie dieser Versuch ausgefallen. Der Charakter [395] der Matrone, der in der Erzählung ein nicht unangenehmes höhnisches Lächeln über die Vermessenheit der ehelichen Liebe erweckt, wird in dem Drama ekel und gräßlich. Wir finden hier die Überredungen, deren sich der Soldat gegen sie bedienet, bei weitem nicht so fein und dringend und siegend, als wir sie uns dort vorstellen. Dort bilden wir uns ein empfindliches Weibchen ein, dem es mit seinem Schmerze wirklich Ernst ist, das aber den Versuchungen und ihrem Temperamente unterliegt; ihre Schwäche dünkt uns die Schwäche des ganzen Geschlechts zu sein; wir fassen also keinen besondern Haß gegen sie; was sie tut, glauben wir, würde ungefähr jede Frau getan haben; selbst ihren Einfall, den lebendigen Liebhaber vermittelst des toten Mannes zu retten, glauben wir ihr, des Sinnreichen und der Besonnenheit wegen, verzeihen zu müssen; oder vielmehr eben das Sinnreiche dieses Einfalls bringt uns auf die Vermutung, daß er wohl auch nur ein bloßer Zusatz des hämischen Erzählers sei, der sein Märchen gern mit einer recht giftigen Spitze schließen wollen. Aber in dem Drama findet diese Vermutung nicht Statt; was wir dort nur hören, daß es geschehen sei, sehen wir hier wirklich geschehen; woran wir dort noch zweifeln können, davon überzeugt uns unser eigener Sinn hier zu unwidersprechlich; bei der bloßen Möglichkeit ergötzte uns das Sinnreiche der Tat, bei ihrer Wirklichkeit sehen wir bloß ihre Schwärze; der Einfall vergnügte unsern Witz, aber die Ausführung des Einfalls empört unsere ganze Empfindlichkeit; wir wenden der Bühne den Rücken, und sagen mit dem Lykas beim Petron, auch ohne uns in dem besondern Falle des Lykas zu befinden: Si justus Imperator fuisset, debuit patrisfamiliae corpus in monimentum referre, mulierem adfigere cruci. Und diese Strafe scheinet sei uns um so viel mehr zu verdienen, je weniger Kunst der Dichter bei ihrer Verführung angewendet; denn wir verdammen sodann in ihr nicht das schwache Weib überhaupt, sondern ein vorzüglich leichtsinniges, lüderliches Weibsstück insbesondere. – Kurz, die petronische Fabel glücklich auf das Theater zu bringen, müßte sie den nämlichen Ausgang behalten, und auch nicht behalten; müßte die Matrone so weit gehen, und [396] auch nicht so weit gehen. – Die Erklärung hierüber anderwärts!

Den sieben und dreißigsten Abend (Sonnabends, den 4ten Julius,) wurden Nanine und der Advokat Patelin wiederholt.

Den acht und dreißigsten Abend (Dienstags, den 7ten Julius,) ward die Merope des Herrn von Voltaire aufgeführt.

Voltaire verfertigte dieses Trauerspiel auf Veranlassung der Merope des Maffei; vermutlich im Jahr 1737, und vermutlich zu Cirey, bei seiner Urania, der Marquise du Chatelet. Denn schon im Jenner 1738 lag die Handschrift davon zu Paris bei dem Pater Brumoy, der als Jesuit, und als Verfasser des Theatre des Grecs, am geschicktesten war, die besten Vorurteile dafür einzuflößen, und die Erwartung der Hauptstadt diesen Vorurteilen gemäß zu stimmen. Brumoy zeigte sie den Freunden des Verfassers, und unter andern mußte er sie auch dem alten Vater Tournemine schicken, der, sehr geschmeichelt, von seinem lieben Sohne Voltaire über ein Trauerspiel, über eine Sache, wovon er eben nicht viel verstand, um Rat gefragt zu werden, ein Briefchen voller Lobeserhebungen an jenen darüber zurückschrieb, welches nachher, allen unberufenen Kunstrichtern zur Lehre und zur Warnung, jederzeit dem Stücke selbst vorgedruckt worden. Es wird darin für eines von den vollkommensten Trauerspielen, für ein wahres Muster erklärt, und wir können uns nunmehr ganz zufrieden geben, daß das Stück des Euripides gleichen Inhalts verloren gegangen; oder vielmehr, dieses ist nun nicht länger verloren, Voltaire hat es uns wieder hergestellt.

So sehr hierdurch nun auch Voltaire beruhiget sein mußte, so schien er sich doch mit der Vorstellung nicht übereilen zu wollen; welche erst im Jahre 1743 erfolgte. Er genoß von seiner staatsklugen Verzögerung auch alle die Früchte, die er sich nur immer davon versprechen konnte. Merope fand den außerordentlichsten Beifall, und das Parterr erzeigte dem Dichter eine Ehre, von der man noch zur Zeit kein Exempel gehabt hatte. Zwar begegnete ehedem das Publikum auch dem großen Corneille sehr vorzüglich; sein Stuhl auf dem Theater ward beständig frei gelassen, wenn der Zulauf auch [397] noch so groß war, und wenn er kam, so stand jedermann auf; eine Distinktion, deren in Frankreich nur die Prinzen vom Geblüte gewürdiget werden. Corneille ward im Theater wie in seinem Hause angesehen; und wenn der Hausherr erscheinet, was ist billiger, als daß ihm die Gäste ihre Höflichkeit bezeigen? Aber Voltairen widerfuhr noch ganz etwas anders: das Parterr ward begierig den Mann von Angesicht zu kennen, den es so sehr bewundert hatte; wie die Vorstellung also zu Ende war, verlangte es ihn zu sehen, und rufte, und schrie und lärmte, bis der Herr von Voltaire heraustreten, und sich begaffen und beklatschen lassen mußte. Ich weiß nicht, welches von beiden mich hier mehr befremdet hätte, ob die kindische Neugierde des Publikums, oder die eitele Gefälligkeit des Dichters. Wie denkt man denn, daß ein Dichter aussieht? Nicht wie andere Menschen? Und wie schwach muß der Eindruck sein, den das Werk gemacht hat, wenn man in eben dem Augenblicke auf nichts begieriger ist, als die Figur des Meisters dagegen zu halten? Das wahre Meisterstück, dünkt mich, erfüllet uns so ganz mit sich selbst, daß wir des Urhebers darüber vergessen; daß wir es nicht als das Produkt eines einzeln Wesens, sondern der allgemeinen Natur betrachten. Young sagt von der Sonne, es wäre Sünde in den Heiden gewesen, sie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieser Hyperbel liegt, so ist es dieser: der Glanz, die Herrlichkeit der Sonne ist so groß, so überschwenglich, daß es dem rohern Menschen zu verzeihen, daß es sehr natürlich war, wenn er sich keine größere Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz sei, wenn er sich also in der Bewunderung der Sonne so sehr verlor, daß er an den Schöpfer der Sonne nicht dachte. Ich vermute, die wahre Ursache, warum wir so wenig Zuverlässiges von der Person und den Lebensumständen des Homers wissen, ist die Vortrefflichkeit seiner Gedichte selbst. Wir stehen voller Erstaunen an dem breiten rauschenden Flusse, ohne an seine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wollen es nicht wissen, wir finden unsere Rechnung dabei, es zu vergessen, daß Homer, der Schulmeister in Smyrna, Homer, der blinde Bettler, eben der Homer ist, welcher uns in [398] seinen Werken so entzücket. Er bringt uns unter Götter und Helden; wir müßten in dieser Gesellschaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Türsteher so genau zu erkundigen, der uns hereingelassen. Die Täuschung muß sehr schwach sein, man muß wenig Natur, aber desto mehr Künstelei empfinden, wenn man so neugierig nach dem Künstler ist. So wenig schmeichelhaft also im Grunde für einen Mann von Genie das Verlangen des Publikums, ihn von Person zu kennen, sein müßte: (und was hat er dabei auch wirklich vor dem ersten dem besten Murmeltiere voraus, welches der Pöbel gesehen zu haben, eben so begierig ist?) so wohl scheinet sich doch die Eitelkeit der französischen Dichter dabei befunden zu haben. Denn da das Pariser Parterr sahe, wie leicht ein Voltaire in diese Falle zu locken sei, wie zahm und geschmeidig so ein Mann durch zweideutige Caressen werden könne: so machte es sich dieses Vergnügen öftrer, und selten ward nachher ein neues Stück aufgeführt, dessen Verfasser nicht gleichfalls hervor mußte, und auch ganz gern hervor kam. Von Voltairen bis zum Marmontel, und vom Marmontel bis tief herab zum Cordier, haben fast alle an diesem Pranger gestanden. Wie manches Armesündergesichte muß darunter gewesen sein! Der Posse ging endlich so weit, daß sich die Ernsthaftern von der Nation selbst darüber ärgerten. Der sinnreiche Einfall des weisen Polichinell ist bekannt. Und nur erst ganz neulich war ein junger Dichter kühn genug, das Parterr vergebens nach sich rufen zu lassen. Er erschien durchaus nicht; sein Stück war mittelmäßig, aber dieses sein Betragen desto braver und rühmlicher. Ich wollte durch mein Beispiel einen solchen Übelstand lieber abgeschafft, als durch zehn Meropen ihn veranlaßt haben.

Sieben und dreißigstes Stück

Den 4ten September, 1767


Ich habe gesagt, daß Voltairens Merope durch die Merope des Maffei veranlasset worden. Aber veranlasset, sagt wohl zu wenig: denn jene ist ganz aus dieser entstanden; Fabel und [399] Plan und Sitten gehören dem Maffei; Voltaire würde ohne ihn gar keine, oder doch sicherlich eine ganz andere Merope geschrieben haben.

Also, um die Kopie des Franzosen richtig zu beurteilen, müssen wir zuvörderst das Original des Italieners kennen lernen; und um das poetische Verdienst des letztern gehörig zu schätzen, müssen wir vor allen Dingen einen Blick auf die historischen Facta werfen, auf die er seine Fabel gegründet hat.

Maffei selbst fasset diese Facta, in der Zueignungsschrift seines Stückes, folgender Gestalt zusammen. »Daß, einige Zeit nach der Eroberung von Troja, als die Herakliden, d.i. die Nachkommen des Herkules, sich in Peloponnesus wieder festgesetzet, dem Kresphont das Messenische Gebiete durch das Los zugefallen; daß die Gemahlin dieses Kresphonts Merope geheißen; daß Kresphont, weil er dem Volke sich allzu günstig erwiesen, von den Mächtigern des Staates, mit samt seinen Söhnen umgebracht worden, den jüngsten ausgenommen, welcher auswärts bei einem Anverwandten seiner Mutter erzogen ward; daß dieser jüngste Sohn, Namens Aepytus, als er erwachsen, durch Hülfe der Arkader und Dorier, sich des väterlichen Reiches wieder bemächtiget, und den Tod seines Vaters an dessen Mördern gerächet habe: dieses erzählet Pausanias. Daß, nachdem Kresphont mit seinen zwei Söhnen umgebracht worden, Polyphont, welcher gleichfalls aus dem Geschlechte der Herakliden war, die Regierung an sich gerissen; daß dieser die Merope gezwungen, seine Gemahlin zu werden; daß der dritte Sohn, den die Mutter in Sicherheit bringen lassen, den Tyrannen nachher umgebracht und das Reich wieder erobert habe: dieses berichtet Apollodorus. Daß Merope selbst den geflüchteten Sohn unbekannter Weise töten wollen; daß sie aber noch in dem Augenblicke von einem alten Diener daran verhindert worden, welcher ihr entdeckt, daß der, den sie für den Mörder ihres Sohnes halte, ihr Sohn selbst sei; daß der nun erkannte Sohn bei einem Opfer Gelegenheit gefunden, den Polyphont hinzurichten: dieses meldet Hyginus, bei dem Aepytus aber den Namen Telephontes führet.«

[400] Es wäre zu verwundern, wenn eine solche Geschichte, die so besondere Glückswechsel und Erkennungen hat, nicht schon von den alten Tragicis wäre genutzt worden. Und was sollte sie nicht? Aristoteles, in seiner Dichtkunst, gedenkt eines Kresphontes, in welchem Merope ihren Sohn erkenne, eben da sie im Begriffe sei, ihn als den vermeinten Mörder ihres Sohnes umzubringen; und Plutarch, in seiner zweiten Abhandlung vom Fleischessen, zielet ohne Zweifel auf eben dieses Stück, 22 wenn er sich auf die Bewegung beruft, in welche das ganze Theater gerate, indem Merope die Axt gegen ihren Sohn erhebet, und auf die Furcht, die jeden Zuschauer befalle, daß der Streich geschehen werde, ehe der alte Diener dazu kommen könne. Aristoteles erwähnet dieses Kresphonts zwar ohne Namen des Verfassers; da wir aber, bei dem Cicero und mehrern Alten, einen Kresphont des Euripides angezogen finden, so wird er wohl kein anderes, als das Werk dieses Dichters gemeinet haben.

Der Pater Tournemine sagt in dem obgedachten Briefe: »Aristoteles, dieser weise Gesetzgeber des Theaters, hat die Fabel der Merope in die erste Klasse der tragischen Fabeln gesetzt (a mis ce sujet au premier rang des sujets tragiques.) Euripides hatte sie behandelt, und Aristoteles meldet, daß, so oft der Kresphont des Euripides auf dem Theater des witzigen Athens vorgestellet worden, dieses an tragische Meisterstücke so gewöhnte Volk ganz außerordentlich sei betroffen, gerührt und entzückt worden.« – Hübsche Phrases, aber nicht viel Wahrheit! Der Pater irret sich in beiden Punkten. Bei dem letztern hat er den Aristoteles mit dem Plutarch vermengt, und bei dem erstern den Aristoteles nicht recht verstanden. Jenes ist eine Kleinigkeit, aber über dieses verlohnet es der Mühe, ein Paar Worte zu sagen, weil mehrere den Aristoteles eben so unrecht verstanden haben. [401] Die Sache verhält sich, wie folget. Aristoteles untersucht, in dem vierzehnten Kapitel seiner Dichtkunst, durch was eigentlich für Begebenheiten Schrecken und Mitleid erreget werde. Alle Begebenheiten, sagt er, müssen entweder unter Freunden, oder unter Feinden, oder unter gleichgültigen Personen vorgehen. Wenn ein Feind seinen Feind tötet, so erweckt weder der Anschlag noch die Ausführung der Tat sonst weiter einiges Mitleid, als das allgemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerzlichen und Verderblichen überhaupt, verbunden ist. Und so ist es auch bei gleichgültigen Personen. Folglich müssen die tragischen Begebenheiten sich unter Freunden eräugnen; ein Bruder muß den Bruder, ein Sohn den Vater, eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter töten, oder töten wollen, oder sonst auf eine empfindliche Weise mißhandeln, oder mißhandeln wollen. Dieses aber kann entweder mit, oder ohne Wissen und Vorbedacht geschehen; und da die Tat entweder vollführt oder nicht vollführt werden muß: so entstehen daraus vier Klassen von Begebenheiten, welche den Absichten des Trauerspiels mehr oder weniger entsprechen. Die erste: wenn die Tat wissentlich, mit völliger Kenntnis der Person, gegen welche sie vollzogen werden soll, unternommen, aber nicht vollzogen wird. Die zweite: wenn sie wissentlich unternommen, und wirklich vollzogen wird. Die dritte: wenn die Tat unwissend, ohne Kenntnis des Gegenstandes, unternommen und vollzogen wird, und der Täter die Person, an der er sie vollzogen, zu spät kennen lernet. Die vierte: wenn die unwissend unternommene Tat nicht zur Vollziehung gelangt, indem die darein verwickelten Personen einander noch zur rechten Zeit erkennen. Von diesen vier Klassen gibt Aristoteles der letztern den Vorzug; und da er die Handlung der Merope, in dem Kresphont, davon zum Beispiele anführet: so haben Tournemine, und andere, dieses so angenommen, als ob er dadurch die Fabel dieses Trauerspiels überhaupt von der vollkommensten Gattung tragischer Fabeln zu sein erkläre.

Indes sagt doch Aristoteles kurz zuvor, daß eine gute tragische Fabel sich nicht glücklich, sondern unglücklich enden müsse. Wie kann dieses beides bei einander bestehen? Sie soll [402] sich unglücklich enden, und gleichwohl läuft die Begebenheit, welche er nach jener Klassifikation allen andern tragischen Begebenheiten vorziehet, glücklich ab. Widerspricht sich nicht also der große Kunstrichter offenbar?

Victorius, sagt Dacier, sei der einzige, welcher diese Schwierigkeit gesehen; aber da er nicht verstanden, was Aristoteles eigentlich in dem ganzen vierzehnten Kapitel gewollt: so habe er auch nicht einmal den geringsten Versuch gewagt, sie zu heben. Aristoteles, meinet Dacier, rede dort gar nicht von der Fabel überhaupt, sondern wolle nur lehren, auf wie mancherlei Art der Dichter tragische Begebenheiten behandeln könne, ohne das Wesentliche, was die Geschichte davon meldet, zu verändern, und welche von diesen Arten die beste sei. Wenn z. E. die Ermordung der Klytemnestra durch den Orest, der Inhalt des Stückes sein sollte, so zeige sich, nach dem Aristoteles, ein vierfacher Plan, diesen Stoff zu bearbeiten, nämlich entweder als eine Begebenheit der erstern, oder der zweiten, oder der dritten, oder der vierten Klasse; der Dichter müsse nun überlegen, welcher hier der schicklichste und beste sei. Diese Ermordung als eine Begebenheit der erstern Klasse zu behandeln, finde darum nicht Statt: weil sie nach der Historie wirklich geschehen müsse, und durch den Orest geschehen müsse. Nach der zweiten, darum nicht: weil sie zu gräßlich sei. Nach der vierten, darum nicht: weil Klytemnestra dadurch abermals gerettet würde, die doch durchaus nicht gerettet werden solle. Folglich bleibe ihm nichts, als die dritte Klasse übrig.

Die dritte! Aber Aristoteles gibt ja der vierten den Vorzug; und nicht bloß in einzeln Fällen, nach Maßgebung der Umstände, sondern überhaupt. Der ehrliche Dacier macht es öftrer so: Aristoteles behält bei ihm Recht, nicht weil er Recht hat, sondern weil er Aristoteles ist. Indem er auf der einen Seite eine Blöße von ihm zu decken glaubt, macht er ihm auf einer andern eine eben so schlimme. Wenn nun der Gegner die Besonnenheit hat, anstatt nach jener, in diese zu stoßen: so ist es ja doch um die Untrüglichkeit seines Alten geschehen, an der ihm, im Grunde noch mehr als an der Wahrheit selbst zu liegen scheinet. Wenn so viel auf die [403] Übereinstimmung der Geschichte ankömmt, wenn der Dichter allgemein bekannte Dinge aus ihr, zwar lindern, aber nie gänzlich verändern darf: wird es unter diesen nicht auch solche geben, die durchaus nach dem ersten oder zweiten Plane behandelt werden müssen? Die Ermordung der Klytemnestra müßte eigentlich nach dem zweiten vorgestellet werden; denn Orestes hat sie wissentlich und vorsetzlich vollzogen: der Dichter aber kann den dritten wählen, weil dieser tragischer ist, und der Geschichte doch nicht geradezu widerspricht. Gut, es sei so: aber z. E. Medea, die ihre Kinder ermordet? Welchen Plan kann hier der Dichter anders einschlagen als den zweiten? Denn sie muß sie umbringen, und sie muß sie wissentlich umbringen; beides ist aus der Geschichte gleich allgemein bekannt. Was für eine Rangordnung kann also unter diesen Planen Statt finden? Der in einem Falle der vorzüglichste ist, kömmt in einem andern gar nicht in Betrachtung. Oder um den Dacier noch mehr einzutreiben: so mache man die Anwendung, nicht auf historische, sondern auf bloß erdichtete Begebenheiten. Gesetzt, die Ermordnung der Klytemnestra wäre von dieser letztern Art, und es hätte dem Dichter frei gestanden, sie vollziehen oder nicht vollziehen zu lassen, sie mit oder ohne völlige Kenntnis vollziehen zu lassen. Welchen Plan hätte er dann wählen müssen, um eine so viel als möglich vollkommene Tragödie daraus zu machen? Dacier sagt selbst: den vierten; denn wenn er ihm den dritten vorziehe, so geschähe es bloß aus Achtung gegen die Geschichte. Den vierten also? Den also, welcher sich glücklich schließt? Aber die besten Tragödien, sagt eben der Aristoteles, der diesem vierten Plane den Vorzug vor allen erteilet, sind ja die, welche sich unglücklich schließen? Und das ist ja eben der Widerspruch, den Dacier heben wollte. Hat er ihn denn also gehoben? Bestätiget hat er ihn vielmehr.

[404]
Acht und dreißigstes Stück

Den 8ten September, 1767


Ich bin es auch nicht allein, dem die Auslegung des Dacier keine Genüge leistet. Unsern deutschen Übersetzer der Aristotelischen Dichtkunst, 23 hat sie eben so wenig befriediget. Er trägt seine Gründe dagegen vor, die zwar nicht eigentlich die Ausflucht des Dacier bestreiten, aber ihn doch sonst erheblich genug dünken, um seinen Autor lieber gänzlich im Stiche zu lassen, als einen neuen Versuch zu wagen, etwas zu retten, was nicht zu retten sei. »Ich überlasse, schließt er, einer tiefern Einsicht, diese Schwierigkeiten zu heben; ich kann kein Licht zu ihrer Erklärung finden, und scheinet mir wahrscheinlich, daß unser Philosoph dieses Kapitel nicht mit seiner gewöhnlichen Vorsicht durchgedacht habe.«

Ich bekenne, daß mir dieses nicht sehr wahrscheinlich scheinet. Eines offenbaren Widerspruchs macht sich ein Aristoteles nicht leicht schuldig. Wo ich dergleichen bei so einem Manne zu finden glaube, setze ich das größere Mißtrauen lieber in meinen, als in seinen Verstand. Ich verdoppele meine Aufmerksamkeit, ich überlese die Stelle zehnmal, und glaube nicht eher, daß er sich widersprochen, als bis ich aus dem ganzen Zusammenhange seines Systems ersehe, wie und wodurch er zu diesem Widerspruche verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn dazu verleiten können, was ihm diesen Widerspruch gewissermaßen unvermeidlich machen müssen, so bin ich überzeugt, daß er nur anscheinend ist. Denn sonst würde er dem Verfasser, der seine Materie so oft überdenken müssen, gewiß am ersten aufgefallen sein, und nicht mir ungeübterm Leser, der ich ihn zu meinem Unterrichte in die Hand nehme. Ich bleibe also stehen, verfolge den Faden seiner Gedanken zurück, ponderiere ein jedes Wort, und sage mir immer: Aristoteles kann irren, und hat oft geirret; aber daß er hier etwas behaupten sollte, wovon er auf der nächsten Seite gerade das Gegenteil behauptet, das kann Aristoteles nicht. Endlich findet sichs auch. [405] Doch ohne weitere Umstände; hier ist die Erklärung, an welcher Herr Curtius verzweifelt. – Auf die Ehre einer tiefern Einsicht mache ich desfalls keinen Anspruch. Ich will mich mit der Ehre einer größern Bescheidenheit gegen einen Philosophen, wie Aristoteles, begnügen.

Nichts empfiehlt Aristoteles dem tragischen Dichter mehr, als die gute Abfassung der Fabel; und nichts hat er ihm durch mehrere und feinere Bemerkungen zu erleichtern gesucht, als eben diese. Denn die Fabel ist es, die den Dichter vornehmlich zum Dichter macht: Sitten, Gesinnungen und Ausdruck werden zehnen geraten, gegen einen, der in jener untadelhaft und vortrefflich ist. Er erklärt aber die Fabel durch die Nachahmung einer Handlung, πραξεως; und eine Handlung ist ihm eine Verknüpfung von Begebenheiten, συνϑεσις πραγματων. Die Handlung ist das Ganze, die Begebenheiten sind die Teile dieses Ganzen: und so wie die Güte eines jeden Ganzen, auf der Güte seiner einzeln Teile und deren Verbindung beruhet, so ist auch die tragische Handlung mehr oder weniger vollkommen, nach dem die Begebenheiten, aus welchen sie bestehet, jede für sich und alle zusammen, den Absichten der Tragödie mehr oder weniger entsprechen. Nun bringt Aristoteles alle Begebenheiten, welche in der tragischen Handlung Statt haben können, unter drei Hauptstücke: des Glückswechsels, περιπετειας; der Erkennung, αναγνωρισμου; und des Leidens, παϑους. Was er unter den beiden erstern versteht, zeigen die Worte genugsam; unter dem dritten aber faßt er alles zusammen, was den handelnden Personen verderbliches und schmerzliches widerfahren kann; Tod, Wunden, Martern und dergleichen. Jene, der Glückswechsel und die Erkennung, sind das, wodurch die verwickelte Fabel, μυϑος πεπλεγμενος, von der einfachen, άπλω, unterscheidet; sie sind also keine wesentliche Stücke der Fabel; sie machen die Handlung nur mannichfaltiger, und dadurch schöner und interessanter; aber eine Handlung kann auch ohne sie ihre völlige Einheit und Rundung und Größe haben. Ohne das dritte hingegen läßt sich gar keine tragische Handlung denken; Arten des Leidens, παϑη, muß jedes Trauerspiel haben, die Fabel desselben mag einfach [406] oder verwickelt sein; denn sie gehen geradezu auf die Absicht des Trauerspiels, auf die Erregung des Schreckens und Mitleids; dahingegen nicht jeder Glückswechsel, nicht jede Erkennung, sondern nur gewisse Arten derselben diese Absicht erreichen, sie in einem höhern Grade erreichen helfen, andere aber ihr mehr nachteilig als vorteilhaft sind. Indem nun Aristoteles, aus diesem Gesichtspunkte, die verschiednen unter drei Hauptstücke gebrachten Teile der tragischen Handlung, jeden insbesondere betrachtet, und untersuchet, welches der beste Glückswechsel, welches die beste Erkennung, welches die beste Behandlung des Leidens sei: so findet sich in Ansehung des erstern, daß derjenige Glückswechsel der beste, das ist, der fähigste, Schrecken und Mitleid zu erwecken und zu befördern, sei, welcher aus dem Bessern in das Schlimmere geschieht; und in Ansehung der letztern, daß diejenige Behandlung des Leidens die beste in dem nämlichen Verstande sei, wenn die Personen, unter welchen das Leiden bevorstehet, einander nicht kennen, aber in eben dem Augenblicke, da dieses Leiden zur Wirklichkeit gelangen soll, einander kennen lernen, so daß es dadurch unterbleibt.

Und dieses soll sich widersprechen? Ich verstehe nicht, wo man die Gedanken haben muß, wenn man hier den geringsten Widerspruch findet. Der Philosoph redet von verschiedenen Teilen: warum soll denn das, was er von diesem Teile behauptet, auch von jenem gelten müssen? Ist denn die mögliche Vollkommenheit des einen, notwendig auch die Vollkommenheit des andern? Oder ist die Vollkommenheit eines Teils auch die Vollkommenheit des Ganzen? Wenn der Glückswechsel und das, was Aristoteles unter dem Worte Leiden begreift, zwei verschiedene Dinge sind, wie sie es sind, warum soll sich nicht ganz etwas Verschiedenes von ihnen sagen lassen? Oder ist es unmöglich, daß ein Ganzes Teile von entgegen gesetzten Eigenschaften haben kann? Wo sagt Aristoteles, daß die beste Tragödie nichts als die Vorstellung einer Veränderung des Glückes in Unglück sei? Oder, wo sagt er, daß die beste Tragödie auf nichts, als auf die Erkennung dessen, hinauslaufen müsse, an dem eine grausam widernatürliche Tat verübet werden sollen? Er sagt [407] weder das eine noch das andere von der Tragödie überhaupt, sondern jedes von einem besondern Teile derselben, welcher dem Ende mehr oder weniger nahe liegen, welcher auf den andern mehr oder weniger Einfluß, und auch wohl gar keinen, haben kann. Der Glückswechsel kann sich mitten in dem Stücke eräugnen, und wenn er schon bis an das Ende fortdauert, so macht er doch nicht selbst das Ende: so ist z. E. der Glückswechsel im Ödip, der sich bereits zum Schlusse des vierten Akts äußert, zu dem aber noch mancherlei Leiden (παϑη) hinzukommen, mit welchen sich eigentlich das Stück schließet. Gleichfalls kann das Leiden mitten in dem Stücke zur Vollziehung gelangen sollen, und in dem nämlichen Augenblicke durch die Erkennung hintertrieben werden, so daß durch diese Erkennung das Stück nichts weniger als geendet ist; wie in der zweiten Iphigenia des Euripides, wo Orestes, auch schon in dem vierten Akte, von seiner Schwester, die ihn aufzuopfern im Begriffe ist, erkannt wird. Und wie vollkommen wohl jener tragischste Glückswechsel mit der tragischsten Behandlung des Leidens sich in einer und eben derselben Fabel verbinden lasse, kann man an der Merope selbst zeigen. Sie hat die letztere; aber was hindert es, daß sie nicht auch den erstern haben könnte, wenn nämlich Merope, nachdem sie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den Polyphont zu schützen, entweder ihr eigenes oder dieses geliebten Sohnes Verderben beförderte? Warum könnte sich dieses Stück nicht eben sowohl mit dem Untergange der Mutter, als des Tyrannen schließen? Warum sollte es einem Dichter nicht frei stehen können, um unser Mitleiden gegen eine so zärtliche Mutter auf das höchste zu treiben, sie durch ihre Zärtlichkeit selbst unglücklich werden zu lassen? Oder warum sollte es ihm nicht erlaubt sein, den Sohn, den er der frommen Rache seiner Mutter entrissen, gleichwohl den Nachstellungen des Tyrannen unterliegen zu lassen? Würde eine solche Merope, in beiden Fällen, nicht wirklich die beiden Eigenschaften des besten Trauerspiels verbinden, die man bei dem Kunstrichter so widersprechend findet?

Ich merke wohl, was das Mißverständnis veranlasset haben [408] kann. Man hat sich einen Glückswechsel aus dem Bessern in das Schlimmere nicht ohne Leiden, und das durch die Erkennung verhinderte Leiden nicht ohne Glückswechsel denken können. Gleichwohl kann beides gar wohl ohne das andere sein; nicht zu erwähnen, daß auch nicht beides eben die nämliche Person treffen muß, und wenn es die nämliche Person trifft, daß eben nicht beides sich zu der nämlichen Zeit eräugnen darf, sondern eines auf das andere folgen, eines durch das andere verursachet werden kann. Ohne dieses zu überlegen, hat man nur an solche Fälle und Fabeln gedacht, in welchen beide Teile entweder zusammen fließen, oder der eine den andern notwendig ausschließt. Daß es dergleichen gibt, ist unstreitig. Aber ist der Kunstrichter deswegen zu tadeln, der seine Regeln in der möglichsten Allgemeinheit abfaßt, ohne sich um die Fälle zu bekümmern, in welchen seine allgemeinen Regeln in Kollision kommen, und eine Vollkommenheit der andern aufgeopfert werden muß? Setzet ihn eine solche Kollision mit sich selbst in Widerspruch? Er sagt: dieser Teil der Fabel, wenn er seine Vollkommenheit haben soll, muß von dieser Beschaffenheit sein; jener von einer andern, und ein dritter wiederum von einer andern. Aber wo hat er gesagt, daß jede Fabel diese Teile alle notwendig haben müsse? Genug für ihn, daß es Fabeln gibt, die sie alle haben können. Wenn eure Fabel aus der Zahl dieser glücklichen nicht ist; wenn sie euch nur den besten Glückswechsel, oder nur die beste Behandlung des Leidens erlaubt: so untersuchet, bei welchem von beiden ihr am besten überhaupt fahren würdet, und wählet. Das ist alles!

Neun und dreißigstes Stück

Den 11ten September, 1767


Am Ende zwar mag sich Aristoteles widersprochen, oder nicht widersprochen haben; Tournemine mag ihn recht verstanden, oder nicht recht verstanden haben: die Fabel der Merope ist weder in dem einen, noch in dem andern Falle, so schlechterdings für eine vollkommene tragische Fabel zu [409] erkennen. Denn hat sich Aristoteles widersprochen, so behauptet er eben so wohl gerade das Gegenteil von ihr, und es muß erst untersucht werden, wo er das größere Recht hat, ob dort oder hier. Hat er sich aber, nach meiner Erklärung, nicht widersprochen, so gilt das Gute, was er davon sagt, nicht von der ganzen Fabel, sondern nur von einem einzeln Teile derselben. Vielleicht war der Mißbrauch seines Ansehens bei dem Pater Tournemine auch nur ein bloßer Jesuiterkniff, um uns mit guter Art zu verstehen zu geben, daß eine so vollkommene Fabel von einem so großen Dichter, als Voltaire, bearbeitet, notwendig ein Meisterstück werden müssen.

Doch Tournemine und Tournemine – Ich fürchte, meine Leser werden fragen: »Wer ist denn dieser Tournemine? Wir kennen keinen Tournemine.« Denn viele dürften ihn wirklich nicht kennen; und manche dürften so fragen, weil sie ihn gar zu gut kennen; wie Montesquieu. 24

Sie belieben also, anstatt des Pater Tournemine, den Herrn von Voltaire selbst zu substituieren. Denn auch er sucht uns, von dem verlornen Stücke des Euripides, die nämlichen irrigen Begriffe zu machen. Auch er sagt, daß Aristoteles in seiner unsterblichen Dichtkunst nicht anstehe, zu behaupten, daß die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Bühne sei. Auch er sagt, daß Aristoteles diesem Coup de Théatre den Vorzug vor allen andern erteile. Und vom Plutarch versichert er uns gar, daß er dieses Stück des Euripides für das rührendste von allen Stücken desselben gehalten habe. 25 Dieses [410] letztere ist nun gänzlich aus der Luft gegriffen. Denn Plutarch macht von dem Stücke, aus welchem er die Situation der Merope anführt, nicht einmal den Titel namhaft; er sagt weder wie es heißt, noch wer der Verfasser desselben sei; geschweige, daß er es für das rührendste von allen Stücken des Euripides erkläre.

Aristoteles soll nicht anstehen, zu behaupten, daß die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Bühne sei! Welche Ausdrücke: nicht anstehen, zu behaupten! Welche Hyperbel: der interessanteste Augenblick, der ganzen griechischen Bühne! Sollte man hieraus nicht schließen: Aristoteles gehe mit Fleiß alle interessante Augenblicke, welche ein Trauerspiel haben könne, durch, vergleiche einen mit dem andern, wiege die verschiedenen Beispiele, die er von jedem insbesondere bei allen, oder wenigstens den vornehmsten Dichtern gefunden, unter einander ab, und tue endlich so dreist als sicher den Ausspruch für diesen Augenblick bei dem Euripides. Gleichwohl ist es nur eine einzelne Art von interessanten Augenblicken, wovon er ihn zum Beispiele anführet; gleichwohl ist er nicht einmal das einzige Beispiel von dieser Art. Denn Aristoteles fand ähnliche Beispiele in der Iphigenia, wo die Schwester den Bruder, und in der Helle, wo der Sohn die Mutter erkennet, eben da die erstern im Begriffe sind, sich gegen die andern zu vergehen.

Das zweite Beispiel von der Iphigenia ist wirklich aus dem Euripides; und wenn, wie Dacier vermutet, auch die Helle ein Werk dieses Dichters gewesen: so wäre es doch sonderbar, daß Aristoteles alle drei Beispiele von einer solchen glücklichen Erkennung gerade bei demjenigen Dichter gefunden hätte, der sich der unglücklichen Peripetie am meisten bediente. Warum zwar sonderbar? Wir haben ja gesehen, daß die eine die andere nicht ausschließt; und obschon in der Iphigenia die glückliche Erkennung auf die unglückliche Peripetie folgt, und das Stück überhaupt also glück lich sich endet: wer weiß, ob nicht in den beiden andern eine unglückliche Peripetie auf die glückliche Erkennung folgte, und sie also völlig in der Manier schlossen, durch die sich Euripides [411] den Charakter des tragischsten von allen tragischen Dichtern verdiente?

Mit der Merope, wie ich gezeigt, war es auf eine doppelte Art möglich; ob es aber wirklich geschehen, oder nicht geschehen, läßt sich aus den wenigen Fragmenten, die uns von dem Kresphontes übrig sind, nicht schließen. Sie enthalten nichts als Sittensprüche und moralische Gesinnungen, von spätern Schriftstellern gelegentlich angezogen, und werfen nicht das geringste Licht auf die Ökonomie des Stückes. 26 Aus dem einzigen, bei dem Polybius, welches eine Anrufung an die Göttin des Friedens ist, scheinet zu erhellen, daß zu der Zeit, in welche die Handlung gefallen, die Ruhe in dem Messenischen Staate noch nicht wieder hergestellet gewesen; und aus ein Paar andern sollte man fast schließen, daß die Ermordung des Kresphontes und seiner zwei ältern Söhne, entweder einen Teil der Handlung selbst ausgemacht habe, oder doch nur kurz vorhergegangen sei; welches beides sich mit der Erkennung des jüngern Sohnes, der erst verschiedene Jahre nachher seinen Vater und seine Brüder zu rächen kam, nicht wohl zusammen reimet. Die größte Schwierigkeit aber macht mir der Titel selbst. Wenn diese Erkennung, wenn diese Rache des jüngern Sohnes der vornehmste Inhalt gewesen: wie konnte das Stück Kresphontes heißen? Kresphontes war der Name des Vaters; der Sohn aber hieß nach einigen Aepytus, und nach andern Telephontes; vielleicht, daß jenes der rechte, und dieses der angenommene Name war, den er in der Fremde führte, um unerkannt und vor den Nachstellungen des Polyphonts sicher zu bleiben. Der Vater muß längst tot sein, wenn sich der Sohn des väterlichen Reiches wieder bemächtiget. Hat man jemals gehört, daß ein Trauerspiel nach einer Person benennet worden, die gar nicht darin vorkömmt? Corneille und Dacier haben sich geschwind über diese Schwierigkeit hinweg zu setzen gewußt, [412] indem sie angenommen, daß der Sohn gleichfalls Kresphont geheißen; 27 aber mit welcher Wahrscheinlichkeit? aus welchem Grunde?

Wenn es indes mit einer Entdeckung seine Richtigkeit hat, mit der sich Maffei schmeichelte: so können wir den Plan des Kresphontes ziemlich genau wissen. Er glaubte ihn nämlich bei dem Hyginus, in der hundert und vier und achtzigsten Fabel, gefunden zu haben. 28 Denn er hält die Fabeln des Hyginus überhaupt, größten Teils für nichts, als für die Argumente alter Tragödien, welcher Meinung auch schon vor ihm Reinesius gewesen war; und empfiehlt daher den neuern Dichtern, lieber in diesem verfallenen Schachte nach alten tragischen Fabeln zu suchen, als sich neue zu erdichten. Der Rat ist nicht übel, und zu befolgen. Auch hat ihn mancher befolgt, ehe ihn Maffei noch gegeben, oder ohne zu wissen, daß er ihn gegeben. Herr Weiß hat den Stoff zu seinem Thyest aus dieser Grube geholt; und es wartet da noch mancher auf ein verständiges Auge. Nur möchte es nicht der größte, sondern vielleicht gerade der allerkleinste Teil sein,[413] der in dieser Absicht von dem Werke des Hyginus zu nutzen. Es braucht auch darum gar nicht aus den Argumenten der alten Tragödien zusammen gesetzt zu sein; es kann aus eben den Quellen, mittelbar oder unmittelbar, geflossen sein, zu welchen die Tragödienschreiber selbst ihre Zuflucht nahmen. Ja, Hyginus, oder wer sonst die Kompilation gemacht, scheinet selbst, die Tragödien als abgeleitete verdorbene Bäche betrachtet zu haben; indem er an verschiedenen Stellen das, was weiter nichts als die Glaubwürdigkeit eines tragischen Dichters vor sich hatte, ausdrücklich von der alten echtern Tradition absondert. So erzählt er, z. E. die Fabel von der Ino, und die Fabel von der Antiopa, zuerst nach dieser, und darauf in einem besondern Abschnitte, nach der Behandlung des Euripides.

Vierzigstes Stück

Den 15ten September, 1767


Damit will ich jedoch nicht sagen, daß, weil über der hundert und vier und achtzigsten Fabel der Name des Euripides nicht stehe, sie auch nicht aus dem Kresphont desselben könne gezogen sein. Vielmehr bekenne ich, daß sie wirklich den Gang und die Verwickelung eines Trauerspieles hat; so daß, wenn sie keines gewesen ist, sie doch leicht eines werden könnte, und zwar eines, dessen Plan der alten Simplizität weit näher käme, als alle neuere Meropen. Man urteile selbst: die Erzählung des Hyginus, die ich oben nur verkürzt angeführt, ist nach allen ihren Umständen folgende.

Kresphontes war König von Messenien, und hatte mit seiner Gemahlin Merope drei Söhne, als Polyphontes einen Aufstand gegen ihn erregte, in welchem er, nebst seinen beiden ältesten Söhnen, das Leben verlor. Polyphontes bemächtigte sich hierauf des Reichs und der Hand der Merope, welche während dem Aufruhre Gelegenheit gefunden hatte, ihren dritten Sohn, Namens Telephontes, zu einem Gastfreunde in Ätolien in Sicherheit bringen zu lassen. Je mehr Telephontes heranwuchs, desto unruhiger ward Polyphontes. Er konnte [414] sich nichts Gutes von ihm gewärtigen, und versprach also demjenigen eine große Belohnung, der ihn aus dem Wege räumen würde. Dieses erfuhr Telephontes; und da er sich nunmehr fähig fühlte, seine Rache zu unternehmen, so machte er sich heimlich aus Ätolien weg, ging nach Messenien, kam zu dem Tyrannen, sagte, daß er den Telephontes umgebracht habe, und verlangte die ihm dafür ausgesetzte Belohnung. Polyphontes nahm ihn auf, und befahl, ihn so lange in seinem Palaste zu bewirten, bis er ihn weiter ausfragen könne. Telephontes ward also in das Gastzimmer gebracht, wo er vor Müdigkeit einschlief. Indes kam der alte Diener, welchen bisher Mutter und Sohn zu ihren wechselseitigen Botschaften gebraucht, weinend zu Meropen, und meldete ihr, daß Telephontes aus Ätolien weg sei, ohne daß man wisse, wo er hingekommen. Sogleich eilet Merope, der es nicht unbekannt geblieben, wessen sich der angekommene Fremde rühmte, mit einer Axt nach dem Gastzimmer, und hätte ihn im Schlafe unfehlbar umgebracht, wenn nicht der Alte, der ihr dahin nachgefolgt, den Sohn noch zur rechten Zeit erkannt, und die Mutter an der Freveltat verhindert hätte. Nunmehr machten beide gemeinschaftliche Sache, und Merope stellte sich gegen ihren Gemahl ruhig und versöhnt. Polyphontes dünkte sich aller seiner Wünsche gewähret, und wollte den Göttern durch ein feierliches Opfer seinen Dank bezeigen. Als sie aber alle um den Altar versammelt waren, führte Telephontes den Streich, mit dem er das Opfertier fällen zu wollen sich stellte, auf den König; der Tyrann fiel, und Telephontes gelangte zu dem Besitze seines väterlichen Reiches. 29 [415] Auch hatten, schon in dem sechszehnten Jahrhunderte, zwei italienische Dichter, Joh. Bapt. Liviera und Ponponio Torelli, den Stoff zu ihren Trauerspielen, Kresphont und Merope, aus dieser Fabel des Hyginus genommen, und waren sonach, wie Maffei meinet, in die Fußtapfen des Euripides getreten, ohne es zu wissen. Doch dieser Überzeugung ohngeachtet, wollte Maffei selbst, sein Werk so wenig zu einer bloßen Divination über den Euripides machen, und den verlornen Kresphont in seiner Merope wieder aufleben lassen, daß er vielmehr mit Fleiß von verschiednen Hauptzügen dieses vermeintlichen Euripidischen Planes abging, und nur [416] die einzige Situation, die ihn vornehmlich darin gerührt hatte, in aller ihrer Ausdehnung zu nutzen suchte.

Die Mutter nämlich, die ihren Sohn so feurig liebte, daß sie sich an dem Mörder desselben mit eigner Hand rächen wollte, brachte ihn auf den Gedanken, die mütterliche Zärtlichkeit überhaupt zu schildern, und mit Ausschließung aller andern Liebe, durch diese einzige reine und tugendhafte Leidenschaft sein ganzes Stück zu beleben. Was dieser Absicht also nicht vollkommen zusprach, ward verändert; welches besonders die Umstände von Meropens zweiter Verheiratung und von des Sohnes auswärtiger Erziehung treffen mußte. Merope mußte nicht die Gemahlin des Polyphonts sein; denn es schien dem Dichter mit der Gewissenhaftigkeit einer so frommen Mutter zu streiten, sich den Umarmungen eines zweiten Mannes überlassen zu haben, in dem sie den Mörder ihres ersten kannte, und dessen eigene Erhaltung es erforderte, sich durchaus von allen, welche nähere Ansprüche auf den Thron haben könnten, zu befreien. Der Sohn mußte nicht bei einem vornehmen Gastfreunde seines väterlichen Hauses, in aller Sicherheit und Gemächlichkeit, in der völligen Kenntnis seines Standes und seiner Bestimmung, erzogen sein: denn die mütterliche Liebe erkaltet natürlicher Weise, wenn sie nicht durch die beständigen Vorstellungen des Ungemachs, der immer neuen Gefahren, in welche ihr abwesender Gegenstand geraten kann, gereizet und angestrenget wird. Er mußte nicht in der ausdrücklichen Absicht kommen, sich an dem Tyrannen zu rächen; er muß nicht von Meropen für den Mörder ihres Sohnes gehalten werden, weil er sich selbst dafür ausgibt, sondern weil eine gewisse Verbindung von Zufällen diesen Verdacht auf ihn ziehet: denn kennt er seine Mutter, so ist ihre Verlegenheit bei der ersten mündlichen Erklärung aus, und ihr rührender Kummer, ihre zärtliche Verzweiflung hat nicht freies Spiel genug.

Und diesen Veränderungen zu Folge, kann man sich den Maffeischen Plan ungefähr vorstellen. Polyphontes regieret bereits funfzehn Jahre, und doch fühlet er sich auf dem Throne noch nicht befestiget genug. Denn das Volk ist noch immer dem Hause seines vorigen Königes zugetan, und rechnet [417] auf den letzten geretteten Zweig desselben. Die Mißvergnügten zu beruhigen, fällt ihm ein, sich mit Meropen zu verbinden. Er trägt ihr seine Hand an, unter dem Vorwande einer wirklichen Liebe. Doch Merope weiset ihn mit diesem Vorwande zu empfindlich ab; und nun sucht er durch Drohungen und Gewalt zu erlangen, wozu ihn seine Verstellung nicht verhelfen können. Eben dringt er am schärfesten in sie; als ein Jüngling vor ihn gebracht wird, den man auf der Landstraße über einem Morde ergriffen hat. Aegisth, so nannte sich der Jüngling, hatte nichts getan, als sein eignes Leben gegen einen Räuber verteidiget; sein Ansehen verrät so viel Adel und Unschuld, seine Rede so viel Wahrheit, daß Merope, die noch außerdem eine gewisse Falte seines Mundes bemerkt, die ihr Gemahl mit ihm gemein hatte, bewogen wird, den König für ihn zu bitten; und der König begnadiget ihn. Doch gleich darauf vermißt Merope ihren jüngsten Sohn, den sie einem alten Diener, Namens Polydor, gleich nach dem Tode ihres Gemahls anvertrauet hatte, mit dem Befehle, ihn als sein eigenes Kind zu erziehen. Er hat den Alten, den er für seinen Vater hält, heimlich verlassen, um die Welt zu sehen; aber er ist nirgends wieder aufzufinden. Dem Herze einer Mutter ahnet immer das Schlimmste; auf der Landstraße ist jemand ermordet worden; wie, wenn es ihr Sohn gewesen wäre? So denkt sie, und wird in ihrer bangen Vermutung durch verschiedene Umstände, durch die Bereitwilligkeit des Königs, den Mörder zu begnadigen, vornehmlich aber durch einen Ring bestärket, den man bei dem Aegisth gefunden, und von dem ihr gesagt wird, daß ihn Aegisth dem Erschlagenen abgenommen habe. Es ist dieses der Siegelring ihres Gemahls, den sie dem Polydor mitgegeben hatte, um ihn ihrem Sohne einzuhändigen, wenn er erwachsen, und es Zeit sein würde, ihm seinen Stand zu entdecken. Sogleich läßt sie den Jüngling, für den sie vorher selbst gebeten, an eine Säule binden, und will ihm das Herz mit eigner Hand durchstoßen. Der Jüngling erinnert sich in diesem Augenblicke seiner Ältern; ihm entfährt der Name Messene; er gedenkt des Verbots seines Vaters, diesen Ort sorgfältig zu vermeiden; Merope verlangt hierüber Erklärung: [418] indem kömmt der König dazu, und der Jüngling wird befreiet. So nahe Merope der Erkennung ihres Irrtums war, so tief verfällt sie wiederum darein zurück, als sie siehet, wie höhnisch der König über ihre Verzweiflung triumphiert. Nun ist Aegisth unfehlbar der Mörder ihres Sohnes, und nichts soll ihn vor ihrer Rache schützen. Sie erfährt mit einbrechender Nacht, daß er in dem Vorsaale sei, wo er eingeschlafen, und kömmt mit einer Axt, ihm den Kopf zu spalten; und schon hat sie die Axt zu dem Streiche erhoben, als ihr Polydor, der sich kurz zuvor in eben den Vorsaal eingeschlichen, und den schlafenden Aegisth erkannt hatte, in die Arme fällt. Aegisth erwacht und fliehet, und Polydor entdeckt Meropen ihren eigenen Sohn in dem vermeinten Mörder ihres Sohnes. Sie will ihm nach, und würde ihn leicht durch ihre stürmische Zärtlichkeit dem Tyrannen entdeckt haben, wenn sie der Alte nicht auch hiervon zurück gehalten hätte. Mit frühem Morgen soll ihre Vermählung mit dem Könige vollzogen werden; sie muß zu dem Altare, aber sie will eher sterben, als ihre Einwilligung erteilen. Indes hat Polydor auch den Aegisth sich kennen gelehrt; Aegisth eilet in den Tempel, dränget sich durch das Volk, und – das Übrige wie bei dem Hyginus.

Ein und vierzigstes Stück

Den 18ten September, 1767


Je schlechter es, zu Anfange dieses Jahrhunderts, mit dem italienischen Theater überhaupt aussahe, desto größer war der Beifall und das Zujauchzen, womit die Merope des Maffei aufgenommen wurde.


Cedite Romani scriptores, cedite Graii,
Nescio quid majus nascitur Oedipode:

schrie Leonardo Adami, der nur noch die ersten zwei Akte in Rom davon gesehen hatte. In Venedig ward 1714, das ganze Karneval hindurch, fast kein anderes Stück gespielt, als Merope; die ganze Welt wollte die neue Tragödie sehen [419] und wieder sehen; und selbst die Operbühnen fanden sich darüber verlassen. Sie ward in einem Jahre viermal gedruckt; und in sechszehn Jahren (von 1714–1730) sind mehr als dreißig Ausgaben, in und außer Italien, zu Wien, zu Paris, zu London davon gemacht worden. Sie ward ins Französische, ins Englische, ins Deutsche übersetzt; und man hatte vor, sie mit allen diesen Übersetzungen zugleich drucken zu lassen. Ins Französische war sie bereits zweimal übersetzt, als der Herr von Voltaire sich nochmals darüber machen wollte, um sie auch wirklich auf die französische Bühne zu bringen. Doch er fand bald, daß dieses durch eine eigentliche Übersetzung nicht geschehen könnte, wovon er die Ursachen in dem Schreiben an den Marquis, welches er nachher seiner eignen Merope vorsetzte, umständlich angibt.

»Der Ton, sagt er, sei in der italienischen Merope viel zu naiv und bürgerlich, und der Geschmack des französischen Parterrs viel zu fein, viel zu verzärtelt, als daß ihm die bloße simple Natur gefallen könne. Es wolle die Natur nicht anders als unter gewissen Zügen der Kunst sehen; und diese Züge müßten zu Paris weit anders als zu Verona sein.« Das ganze Schreiben ist mit der äußersten Politesse abgefaßt; Maffei hat nirgends gefehlt; alle seine Nachlässigkeiten und Mängel werden auf die Rechnung seines Nationalgeschmacks geschrieben; es sind wohl noch gar Schönheiten, aber leider nur Schönheiten für Italien. Gewiß, man kann nicht höflicher kritisieren! Aber die verzweifelte Höflichkeit! Auch einem Franzosen wird sie gar bald zu Last, wenn seine Eitelkeit im geringsten dabei leidet. Die Höflichkeit macht, daß wir liebenswürdig scheinen, aber nicht groß; und der Franzose will eben so groß, als liebenswürdig scheinen.

Was folgt also auf die galante Zueignungsschrift des Hrn. von Voltaire? Ein Schreiben eines gewissen de la Lindelle, welcher dem guten Maffei eben so viel Grobheiten sagt, als ihm Voltaire Verbindliches gesagt hatte. Der Stil dieses de la Lindelle ist ziemlich der Voltairische Stil; es ist Schade, daß eine so gute Feder nicht mehr geschrieben hat, und übrigens so unbekannt geblieben ist. Doch Lindelle sei Voltaire, oder [420] sei wirklich Lindelle: wer einen französischen Januskopf sehen will, der vorne auf die einschmeichelndste Weise lächelt, und hinten die hämischsten Grimassen schneidet, der lese beide Briefe in einem Zuge. Ich möchte keinen geschrieben haben; am wenigsten aber beide. Aus Höflichkeit bleibet Voltaire diesseits der Wahrheit stehen, und aus Verkleinerungssucht schweifet Lindelle bis jenseit derselben. Jener hätte freimütiger, und dieser gerechter sein müssen, wenn man nicht auf den Verdacht geraten sollte, daß der nämliche Schriftsteller sich hier unter einem fremden Namen wieder einbringen wollen, was er sich dort unter seinem eigenen vergeben habe.

Voltaire rechne es dem Marquis immer so hoch an, als er will, daß er einer der erstern unter den Italienern sei, welcher Mut und Kraft genug gehabt, eine Tragödie ohne Galanterie zu schreiben, in welcher die ganze Intrigue auf der Liebe einer Mutter beruhe, und das zärtlichste Interesse aus der reinsten Tugend entspringe. Er beklage es, so sehr als ihm beliebt, daß die falsche Delicatesse seiner Nation ihm nicht erlauben wollen, von den leichtesten natürlichsten Mitteln, welche die Umstände zur Verwicklung darbieten, von den unstudierten wahren Reden, welche die Sache selbst in den Mund legt, Gebrauch zu machen. Das Pariser Parterr hat unstreitig sehr Unrecht, wenn es seit dem königlichen Ringe, über den Boileau in seinen Satiren spottet, durchaus von keinem Ringe auf dem Theater mehr hören will; 30 wenn es seine Dichter daher zwingt, lieber zu jedem andern, auch dem aller unschicklichsten Mittel der Erkennung seine Zuflucht zu nehmen, als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung, eine Art von Versicherung der Person, verbunden hat. Es hat sehr Unrecht, wenn es nicht will, daß ein junger Mensch, der sich für den Sohn gemeiner Ältern hält, und in dem Lande auf Abenteuer ganz allein herumschweift, nachdem er einen [421] Mord verübt, dem ohngeachtet nicht soll für einen Räuber gehalten werden dürfen, weil es voraus sieht, daß er der Held des Stückes werden müsse; 31 wenn es beleidiget wird, daß man einem solchen Menschen keinen kostbaren Ring zutrauen will, da doch kein Fähndrich in des Königs Armee sei, der nicht de belles Nippes besitze. Das Pariser Parterr, sage ich, hat in diesen und ähnlichen Fällen Unrecht: aber warum muß Voltaire auch in andern Fällen, wo es gewiß nicht Unrecht hat, dennoch lieber ihm, als dem Maffei Unrecht zu geben scheinen wollen? Wenn die französische Höflichkeit gegen Ausländer darin besteht, daß man ihnen auch in solchen Stücken Recht gibt, wo sie sich schämen müßten, Recht zu haben, so weiß ich nicht, was beleidigender und einem freien Menschen unanständiger sein kann, als diese französische Höflichkeit. Das Geschwätz, welches Maffei seinem alten Polydor von lustigen Hochzeiten, von prächtigen Krönungen, denen er vor diesen beigewohnt, in den Mund legt, und zu einer Zeit in den Mund legt, wenn das Interesse aufs höchste gestiegen und die Einbildungskraft der Zuschauer mit ganz andern Dingen beschäftiget ist: dieses Nestorische, aber am unrechten Orte Nestorische, Geschwätz, kann durch keine Verschiedenheit des Geschmacks unter verschiedenen kultivierten Völkern, entschuldiget werden; hier muß der Geschmack überall der nämliche sein, und der Italiener hat nicht seinen eigenen, sondern hat gar keinen Geschmack, wenn er nicht eben sowohl dabei gähnet und darüber unwillig wird, als der Franzose. »Sie haben, sagt Voltaire zu dem Marquis, in Ihrer Tragödie jene schöne und rührende Vergleichung des Virgils:


Qualis populea moerens Philomela sub umbra
Amissos queritur foetus – – –

übersetzen und anbringen dürfen. Wenn ich mir so eine Freiheit nehmen wollte, so würde man mich damit in die Epopee verweisen. Denn Sie glauben nicht, wie streng der Herr ist, [422] dem wir zu gefallen suchen müssen; ich meine unser Publikum. Dieses verlangt, daß in der Tragödie überall der Held, und nirgends der Dichter sprechen soll, und meinet, daß bei kritischen Vorfällen, in Ratsversammlungen, bei einer heftigen Leidenschaft, bei einer dringenden Gefahr, kein König, kein Minister poetische Vergleichungen zu machen pflege.« Aber verlangt denn dieses Publikum etwas unrechts, meinet es nicht, was die Wahrheit ist? Sollte nicht jedes Publikum eben dieses verlangen? eben dieses meinen? Ein Publikum, das anders richtet, verdient diesen Namen nicht: und muß Voltaire das ganze italienische Publikum zu so einem Publiko machen wollen, weil er nicht Freimütigkeit genug hat, dem Dichter gerade heraus zu sagen, daß er hier und an mehrern Stellen luxuriere, und seinen eignen Kopf durch die Tapete stecke? Auch unerwogen, daß ausführliche Gleichnisse überhaupt schwerlich eine schickliche Stelle in dem Trauerspiele finden können, hätte er anmerken sollen, daß jenes Virgilische von dem Maffei äußerst gemißbrauchet worden. Bei dem Virgil vermehret es das Mitleiden, und dazu ist es eigentlich geschickt; bei dem Maffei aber ist es in dem Munde desjenigen, der über das Unglück, wovon es das Bild sein soll, triumphieret, und müßte nach der Gesinnung des Polyphonts, mehr Hohn als Mitleid erwecken. Auch noch wichtigere, und auf das Ganze noch größern Einfluß habende Fehler scheuet sich Voltaire nicht, lieber dem Geschmacke der Italiener überhaupt, als einem einzeln Dichter aus ihnen, zur Last zu legen, und dünkt sich von der allerfeinsten Lebensart, wenn er den Maffei damit tröstet, daß es seine ganze Nation nicht besser verstehe, als er; daß seine Fehler die Fehler seiner Nation wären; daß aber Fehler einer ganzen Nation eigentlich keine Fehler wären, weil es ja eben nicht darauf ankomme, was an und für sich gut oder schlecht sei, sondern was die Nation dafür wolle gelten lassen. »Wie hätte ich es wagen dürfen,« fährt er mit einem tiefen Bücklinge, aber auch zugleich mit einem Schnippchen in der Tasche, gegen den Marquis fort, »bloße Nebenpersonen so oft mit einander sprechen zu lassen, als Sie getan haben? Sie dienen bei Ihnen die interessanten Szenen zwischen [423] den Hauptpersonen vorzubereiten; es sind die Zugänge zu einem schönen Palaste; aber unser ungeduldiges Publikum will sich auf einmal in diesem Palaste befinden. Wir müssen uns also schon nach dem Geschmacke eines Volks richten, welches sich an Meisterstücken satt gesehen hat, und also äußerst verwöhnt ist.« Was heißt dieses anders, als: »Mein Herr Marquis, Ihr Stück hat sehr, sehr viel kalte, langweilige, unnütze Szenen. Aber es sei fern von mir, daß ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen sollte! Behüte der Himmel! ich bin ein Franzose; ich weiß zu leben; ich werde niemanden etwas unangenehmes unter die Nase reiben. Ohne Zweifel haben Sie diese kalten, langweiligen, unnützen Szenen mit Vorbedacht, mit allem Fleiße gemacht; weil sie gerade so sind, wie sie Ihre Nation braucht. Ich wünschte, daß ich auch so wohlfeil davon kommen könnte; aber leider ist meine Nation so weit, so weit, daß ich noch viel weiter sein muß, um meine Nation zu befriedigen. Ich will mir darum eben nicht viel mehr einbilden, als Sie; aber da jedoch meine Nation, die Ihre Nation so sehr übersieht« – Weiter darf ich meine Paraphrasis wohl nicht fortsetzen; denn sonst,


Desinit in piscem mulier formosa superne:


aus der Höflichkeit wird Persiflage, (ich brauche dieses französische Wort, weil wir Deutschen von der Sache nichts wissen) und aus der Persiflage, dummer Stolz.

Zwei und vierzigstes Stück

Den 22sten September, 1767


Es ist nicht zu leugnen, daß ein guter Teil der Fehler, welche Voltaire als Eigentümlichkeiten des italienischen Geschmacks nur deswegen an seinem Vorgänger zu entschuldigen scheinet, um sie der italienischen Nation überhaupt zur Last zu legen, daß, sage ich, diese, und noch mehrere, und noch größere, sich in der Merope des Maffei befinden.

[424] Maffei hatte in seiner Jugend viel Neigung zur Poesie; er machte mit vieler Leichtigkeit Verse, in allen verschiednen Stilen der berühmtesten Dichter seines Landes: doch diese Neigung und diese Leichtigkeit beweisen für das eigentliche Genie, welches zur Tragödie erfodert wird, wenig oder nichts. Hernach legte er sich auf die Geschichte, auf Kritik und Altertümer; und ich zweifle, ob diese Studien die rechte Nahrung für das tragische Genie sind. Er war unter Kirchenväter und Diplomen vergraben, und schrieb wider die Pfaffe und Basnagen, als er, auf gesellschaftliche Veranlassung, seine Merope vor die Hand nahm, und sie in weniger als zwei Monaten zu Stande brachte. Wenn dieser Mann, unter solchen Beschäftigungen, in so kurzer Zeit, ein Meisterstück gemacht hätte, so müßte er der außerordentlichste Kopf gewesen sein; oder eine Tragödie überhaupt ist ein sehr geringfügiges Ding. Was indes ein Gelehrter, von gutem klassischen Geschmacke, der so etwas mehr für eine Erholung als für eine Arbeit ansieht, die seiner würdig wäre, leisten kann, das leistete auch er. Seine Anlage ist gesuchter und ausgedrechselter, als glücklich; seine Charaktere sind mehr nach den Zergliederungen des Moralisten, oder nach bekannten Vorbildern in Büchern, als nach dem Leben geschildert; sein Ausdruck zeigt von mehr Phantasie, als Gefühl; der Literator und der Versificateur läßt sich überall spüren, aber nur selten das Genie und der Dichter.

Als Versificateur läuft er den Beschreibungen und Gleichnissen zu sehr nach. Er hat verschiedene ganz vortreffliche, wahre Gemälde, die in seinem Munde nicht genug bewundert werden könnten; aber in dem Munde seiner Personen unerträglich sind, und in die lächerlichsten Ungereimtheiten ausarten. So ist es, z. E. zwar sehr schicklich, daß Aegisth seinen Kampf mit dem Räuber, den er umgebracht, umständlich beschreibet, denn auf diesen Umständen beruhet seine Verteidigung; daß er aber auch, wenn er den Leichnam in den Fluß geworfen zu haben bekennet, alle, selbst die allerkleinsten, Phänomena malet, die den Fall eines schweren Körpers ins Wasser begleiten, wie er hinein schießt, mit welchem Geräusche er das Wasser zerteilet, das hoch in die Luft spritzet, [425] und wie sich die Flut wieder über ihn zuschließt: 32 das würde man auch nicht einmal einem kalten geschwätzigen Advokaten, der für ihn spräche, verzeihen, geschweige ihm selbst. Wer vor seinem Richter stehet, und sein Leben zu verteidigen hat, dem liegen andere Dinge am Herzen, als daß er in seiner Erzählung so kindisch genau sein könnte.

Als Literator hat er zu viel Achtung für die Simplizität der alten griechischen Sitten, und für das Costume bezeigt, mit welchem wir sie bei dem Homer und Euripides geschildert finden, das aber allerdings um etwas, ich will nicht sagen veredelt, sondern unserm Costume näher gebracht werden muß, wenn es der Rührung im Trauerspiele nicht mehr schädlich, als zuträglich sein soll. Auch hat er zu geflissentlich schöne Stellen aus den Alten nachzuahmen gesucht, ohne zu unterscheiden, aus was für einer Art von Werken er sie entlehnt, und in was für eine Art von Werken er sie überträgt. Nestor ist in der Epopee ein gesprächiger freundlicher Alte; aber der nach ihm gebildete Polydor wird in der Tragödie ein alter ekler Salbader. Wenn Maffei dem vermeintlichen Plane des Euripides hätte folgen wollen: so würde uns der Literator vollends etwas zu lachen gemacht haben. Er hätte es sodann für seine Schuldigkeit geachtet, alle die kleinen Fragmente, die uns von dem Kresphontes übrig sind, zu nutzen, und seinem Werke getreulich einzuflechten. 33 Wo er also geglaubt hätte, daß sie sich hinpaßten, hätte er sie als [426] Pfähle aufgerichtet, nach welchen sich der Weg seines Dialogs richten und schlingen müssen. Welcher pedantische Zwang! Und wozu? Sind es nicht diese Sittensprüche, womit man seine Lücken füllet, so sind es andere.

Dem ohngeachtet möchten sich wiederum Stellen finden, wo man wünschen dürfte, daß sich der Literator weniger vergessen hätte. Z. E. Nachdem die Erkennung vorgegangen, und Merope einsieht, in welcher Gefahr sie zweimal gewesen sei, ihren eignen Sohn umzubringen, so läßt er die Ismene, voller Erstaunen ausrufen: »Welche wunderbare Begebenheit, wunderbarer, als sie jemals auf einer Bühne erdichtet worden!«


Con cosi strani avvenimenti uom forse
Non vide mai favoleggiar le scene.

Maffei hat sich nicht erinnert, daß die Geschichte seines Stücks in eine Zeit fällt, da noch an kein Theater gedacht war; in die Zeit vor dem Homer, dessen Gedichte den ersten Samen des Drama ausstreuten. Ich würde diese Unachtsamkeit niemanden als ihm aufmutzen, der sich in der Vorrede entschuldigen zu müssen glaubte, daß er den Namen Messene zu einer Zeit brauche, da ohne Zweifel noch keine Stadt dieses Namens gewesen, weil Homer keiner erwähne. Ein Dichter kann es mit solchen Kleinigkeiten halten, wie er will: nur verlangt man, daß er sich immer gleich bleibet, und daß er sich nicht einmal über etwas Bedenken macht, worüber er ein andermal kühnlich weggeht; wenn man nicht glauben soll, daß er den Anstoß vielmehr aus Unwissenheit nicht gesehen, als nicht sehen wollen. Überhaupt würden mir die angeführten Zeilen nicht gefallen, wenn sie auch keinen Anachronismus enthielten. Der tragische Dichter sollte alles vermeiden, was die Zuschauer an ihre Illusion erinnern kann; denn sobald sie daran erinnert sind, so ist sie weg. Hier scheinet es zwar, als ob Maffei die Illusion eher noch [427] bestärken wollen, indem er das Theater ausdrücklich außer dem Theater annehmen läßt; doch die bloßen Worte, Bühne und erdichten, sind der Sache schon nachteilig, und bringen uns geraden Weges dahin, wovon sie uns abbringen sollen. Dem komischen Dichter ist es eher erlaubt, auf diese Weise seiner Vorstellung Vorstellungen entgegen zu setzen; denn unser Lachen zu erregen, braucht es des Grades der Täuschung nicht, den unser Mitleiden erfordert.

Ich habe schon gesagt, wie hart de la Lindelle dem Maffei mitspielt. Nach seinem Urteile hat Maffei sich mit dem begnügt, was ihm sein Stoff von selbst anbot, ohne die geringste Kunst dabei anzuwenden; sein Dialog ist ohne alle Wahrscheinlichkeit, ohne allen Anstand und Würde; da ist so viel Kleines und Kriechendes, das kaum in einem Possenspiele, in der Bude des Harlekins zu dulden wäre; alles wimmelt von Ungereimtheiten und Schulschnitzern. »Mit einem Worte, schließt er, das Werk des Maffei enthält einen schönen Stoff, ist aber ein sehr elendes Stück. Alle Welt kömmt in Paris darin überein, daß man die Vorstellung desselben nicht würde haben aushalten können; und in Italien selbst wird von verständigen Leuten sehr wenig daraus gemacht. Vergebens hat der Verfasser auf seinen Reisen die elendesten Schriftsteller in Sold genommen, seine Tragödie zu übersetzen; er konnte leichter einen Übersetzer bezahlen, als sein Stück verbessern.«

So wie es selten Komplimente gibt, ohne alle Lügen, so finden sich auch selten Grobheiten ohne alle Wahrheit. Lindelle hat in vielen Stücken wider den Maffei Recht, und möchte er doch höflich oder grob sein, wenn er sich begnügte, ihn bloß zu tadeln. Aber er will ihn unter die Füße treten, vernichten, und gehet mit ihm so blind als treulos zu Werke. Er schämt sich nicht, offenbare Lügen zu sagen, augenscheinliche Verfälschungen zu begehen, um nur ein recht hämisches Gelächter aufschlagen zu können. Unter drei Streichen, die er tut, geht immer einer in die Luft, und von den andern zweien, die seinen Gegner streifen oder treffen, trifft einer unfehlbar den zugleich mit, dem seine Klopffechterei Platz machen soll, Voltairen selbst. Voltaire scheinet [428] dieses auch zum Teil gefühlt zu haben, und ist daher nicht saumselig, in der Antwort an Lindellen, den Maffei in allen den Stücken zu verteidigen, in welchen er sich zugleich mit verteidigen zu müssen glaubt. Dieser ganzen Korrespondenz mit sich selbst, dünkt mich, fehlt das interessanteste Stück; die Antwort des Maffei. Wenn uns doch auch diese der Hr. von Voltaire hätte mitteilen wollen. Oder war sie etwa so nicht, wie er sie durch seine Schmeichelei zu erschleichen hoffte? Nahm sich Maffei etwa die Freiheit, ihm hinwiederum die Eigentümlichkeiten des französischen Geschmacks ins Licht zu stellen? ihm zu zeigen, warum die französische Merope eben so wenig in Italien, als die italienische in Frankreich gefallen könne? –

Drei und vierzigstes Stück

Den 25sten September, 1767


So etwas läßt sich vermuten. Doch ich will lieber beweisen, was ich selbst gesagt habe, als vermuten, was andere gesagt haben könnten.

Lindern, vors erste, ließe sich der Tadel des Lindelle fast in allen Punkten. Wenn Maffei gefehlt hat, so hat er doch nicht immer so plump gefehlt, als uns Lindelle will glauben machen. Er sagt z. E., Aegisth, wenn ihn Merope nunmehr erstechen wolle, rufe aus: O mein alter Vater! und die Königin werde durch dieses Wort, alter Vater, so gerühret, daß sie von ihrem Vorsatze ablasse und auf die Vermutung komme, Aegisth könne wohl ihr Sohn sein. Ist das nicht, setzt er höhnisch hinzu, eine sehr gegründete Vermutung! Denn freilich ist es ganz etwas sonderbares, daß ein junger Mensch einen alten Vater hat! »Maffei, fährt er fort, hat mir diesem Fehler, diesem Mangel von Kunst und Genie, einen andern Fehler verbessern wollen, den er in der erstern Ausgabe seines Stückes begangen hatte. Aegisth rief da: Ach, Polydor, mein Vater! Und dieser Polydor war eben der Mann, dem Merope ihren Sohn anvertrauet hatte. Bei dem Namen Polydor hätte die Königin gar nicht mehr zweifeln [429] müssen, daß Aegisth ihr Sohn sei; und das Stück wäre aus gewesen. Nun ist dieser Fehler zwar weggeschafft; aber seine Stelle hat ein noch weit gröberer eingenommen.« Es ist wahr, in der ersten Ausgabe nennt Aegisth den Polydor seinen Vater; aber in den nachherigen Ausgaben ist von gar keinem Vater mehr die Rede. Die Königin stutzt bloß bei dem Namen Polydor, der den Aegisth gewarnet habe, ja keinen Fuß in das Messenische Gebiete zu setzen. Sie gibt auch ihr Vorhaben darum nicht auf; sie fodert bloß nähere Erklärung; und ehe sie diese erhalten kann, kömmt der König dazu. Der König läßt den Aegisth wieder los binden, und da er die Tat, weswegen Aegisth eingebracht worden, billiget und rühmet, und sie als eine wahre Heldentat zu belohnen verspricht: so muß wohl Merope in ihren ersten Verdacht wieder zurückfallen. Kann der ihr Sohn sein, den Polyphontes eben darum belohnen will, weil er ihren Sohn umgebracht habe? Dieser Schluß muß notwendig bei ihr mehr gelten, als ein bloßer Name. Sie bereuet es nunmehr auch, daß sie eines bloßen Namens wegen, den ja wohl mehrere führen können, mit der Vollziehung ihrer Rache gezaudert habe:


Che dubitar? misera, ed io da un nome
Trattener mi lasciai, quasi un tal nome
Altri aver non potesse –

und die folgenden Äußerungen des Tyrannen können sie nicht anders als in der Meinung vollends bestärken, daß er von dem Tode ihres Sohnes die allerzuverlässigste, gewisseste Nachricht haben müsse. Ist denn das also nun so gar abgeschmackt? Ich finde es nicht. Vielmehr muß ich gestehen, daß ich die Verbesserung des Maffei nicht einmal für sehr nötig halte. Laßt es den Aegisth immerhin sagen, daß sein Vater Polydor heiße! Ob es sein Vater oder sein Freund war, der so hieße, und ihn vor Messene warnte, das nimmt einander nicht viel. Genug, daß Merope, ohne alle Widerrede, das für wahrscheinlicher halten muß, was der Tyrann von ihm glaubet, da sie weiß, daß er ihrem Sohne so lange, so eifrig nachgestellt, als das, was sie aus der bloßen Übereinstimmung eines Namens schließen könnte. Freilich, wenn sie [430] wüßte, daß sich die Meinung des Tyrannen, Aegisth sei der Mörder ihres Sohnes, auf weiter nichts als ihre eigene Vermutung gründe: so wäre es etwas anders. Aber dieses weiß sie nicht; vielmehr hat sie allen Grund zu glauben, daß er seiner Sache werde gewiß sein. – Es versteht sich, daß ich das, was man zur Not entschuldigen kann, darum nicht für schön ausgebe; der Poet hätte unstreitig seine Anlage viel feiner machen können. Sondern ich will nur sagen, daß auch so, wie er sie gemacht hat, Merope noch immer nicht ohne zureichenden Grund handelt; und daß es gar wohl möglich und wahrscheinlich ist, daß Merope in ihrem Vorsatze der Rache verharren, und bei der ersten Gelegenheit einen neuen Versuch, sie zu vollziehen, wagen können. Worüber ich mich also beleidiget finden möchte, wäre nicht dieses, daß sie zum zweitenmale, ihren Sohn als den Mörder ihres Sohnes zu ermorden, kömmt: sondern dieses, daß sie zum zweitenmale durch einen glücklichen ungefähren Zufall daran verhindert wird. Ich würde es dem Dichter verzeihen, wenn er Meropen auch nicht eigentlich nach den Gründen der größern Wahrscheinlichkeit sich bestimmen ließe; denn die Leidenschaft, in der sie ist, könnte auch den Gründen der schwächern das Übergewicht erteilen. Aber das kann ich ihm nicht verzeihen, daß er sich so viel Freiheit mit dem Zufalle nimmt, und mit dem Wunderbaren desselben so verschwenderisch ist, als mit den gemeinsten ordentlichsten Begebenheiten. Daß der Zufall einmal der Mutter einen so frommen Dienst erweiset, das kann sein; wir wollen es um so viel lieber glauben, je mehr uns die Überraschung gefällt. Aber daß er zum zweitenmale die nämliche Übereilung, auf die nämliche Weise, verhindern werde, das sieht dem Zufalle nicht ähnlich; eben dieselbe Überraschung wiederholt, hört auf Überraschung zu sein; ihre Einförmigkeit beleidiget, und wir ärgern uns über den Dichter, der zwar eben so abenteurlich, aber nicht eben so mannichfaltig zu sein weiß, als der Zufall.

Von den augenscheinlichen und vorsetzlichen Verfälschungen des Lindelle, will ich nur zwei anführen. – »Der vierte Akt, sagt er, fängt mit einer kalten und unnötigen Szene zwischen dem Tyrannen und der Vertrauten der Merope an; [431] hierauf begegnet diese Vertraute, ich weiß selbst nicht wie, dem jungen Aegisth, und beredet ihn, sich in dem Vorhause zur Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeschlafen wäre, ihn die Königin mit aller Gemächlichkeit umbringen könne. Er schläft auch wirklich ein, so wie er es versprochen hat. O schön! und die Königin kömmt zum zweitenmale, mit einer Axt in der Hand, um den jungen Menschen umzubringen, der ausdrücklich deswegen schläft. Diese nämliche Situation, zweimal wiederholt, verrät die äußerste Unfruchtbarkeit; und dieser Schlaf des jungen Menschen ist so lächerlich, daß in der Welt nichts lächerlicher sein kann.« Aber ist es denn auch wahr, daß ihn die Vertraute zu diesem Schlafe beredet? Das lügt Lindelle. 34 Aegisth trifft die Vertraute und bittet sie, ihm doch die Ursache zu entdecken, warum die Königin so ergrimmt auf ihn sei. Die Vertraute antwortet, sie wolle ihm gern alles sagen; aber ein wichtiges Geschäfte rufe sie itzt wo anders hin; er solle einen Augenblick hier verziehen; sie wolle gleich wieder bei ihm sein. Allerdings hat die Vertraute die Absicht, ihn der Königin in die Hände zu liefern; sie beredet ihn zu bleiben, aber nicht zu schlafen: und Aegisth, welcher, seinem Versprechen nach, bleibet, schläft, nicht seinem Versprechen nach, sondern schläft, weil er müde ist, weil es Nacht ist, weil er nicht siehet, wo er die Nacht sonst werde zubringen können, als hier. 35 – Die zweite Lüge des Lindelle ist von eben dem Schlage. »Merope, sagt [432] er, nachdem sie der alte Polydor an der Ermordung ihres Sohnes verhindert, fragt ihn, was für eine Belohnung er dafür verlange; und der alte Narr bittet sie, ihn zu verjüngen.« Bittet sie, ihn zu verjüngen? »Die Belohnung meines Dienstes, antwortet der Alte, ist dieser Dienst selbst; ist dieses, daß ich dich vergnügt sehe. Was könntest du mir auch geben? Ich brauche nichts, ich verlange nichts. Eines möchte ich mir wünschen; aber das stehet weder in deiner, noch in irgend eines Sterblichen Gewalt, mir zu gewähren; daß mir die Last meiner Jahre, unter welcher ich erliege, erleichtert würde, u.s.w.« 36 Heißt das: erleichtere Du mir diese Last? gib Du mir Stärke und Jugend wieder? Ich will gar nicht sagen, daß eine solche Klage über die Ungemächlichkeiten des Alters hier an dem schicklichsten Orte stehe, ob sie schon vollkommen in dem Charakter des Polydors ist. Aber ist denn jede Unschicklichkeit, Wahnwitz? Und mußten nicht Polydor und sein Dichter, im eigentlichsten Verstande wahnwitzig sein, wenn dieser jenem die Bitte wirklich in den Mund legte, die Lindelle ihnen anlügt. – Anlügt! Lügen! Verdienen solche Kleinigkeiten wohl so harte Worte? – Kleinigkeiten? Was dem Lindelle wichtig genug war, darum zu lügen, soll das einem dritten nicht wichtig genug sein, ihm zu sagen, daß er gelogen hat? –

[433]
Vier und vierzigstes Stück

Den 29sten September, 1767


Ich komme auf den Tadel des Lindelle, welcher den Voltaire so gut als den Maffei trifft, dem er doch nur allein zugedacht war.

Ich übergehe die beiden Punkte, bei welchen es Voltaire selbst fühlte, daß der Wurf auf ihn zurückpralle. – Lindelle hatte gesagt, daß es sehr schwache und unedle Merkmale wären, aus welchen Merope bei dem Maffei schließe, daß Aegisth der Mörder ihres Sohnes sei. Voltaire antwortet: »Ich kann es Ihnen nicht bergen; ich finde, daß Maffei es viel künstlicher angelegt hat, als ich, Meropen glauben zu machen, daß ihr Sohn der Mörder ihres Sohnes sei. Er konnte sich eines Ringes dazu bedienen, und das durfte ich nicht; denn seit dem königlichen Ringe, über den Boileau in seinen Satiren spottet, würde das auf unserm Theater sehr klein scheinen.« Aber mußte denn Voltaire eben eine alte Rüstung anstatt des Ringes wählen? Als Narbas das Kind mit sich nahm, was bewog ihn denn, auch die Rüstung des ermordeten Vaters mitzunehmen? Damit Aegisth, wenn er erwachsen wäre, sich keine neue Rüstung kaufen dürfe, und sich mit der alten seines Vaters behelfen könne? Der vorsichtige Alte! Ließ er sich nicht auch ein Paar alte Kleider von der Mutter mitgeben? Oder geschah es, damit Aegisth einmal an dieser Rüstung erkannt werden könne? So eine Rüstung gab es wohl nicht mehr? Es war wohl eine Familienrüstung, die Vulkan selbst dem Großgroßvater gemacht hatte? Eine undurchdringliche Rüstung? Oder wenigstens mit schönen Figuren und Sinnbildern versehen, an welchen sie Eurikles und Merope nach funfzehn Jahren sogleich wieder erkannten? Wenn das ist: so mußte sie der Alte freilich mitnehmen; und der Hr. von Voltaire hat Ursache, ihm verbunden zu sein, daß er unter den blutigen Verwirrungen, bei welchen ein anderer nur an das Kind gedacht hätte, auch zugleich an eine so nützliche Möbel dachte. Wenn Aegisth schon das Reich seines Vaters verlor, so mußte er doch nicht auch die Rüstung seines Vaters verlieren, in der er jenes wieder erobern konnte.[434] – Zweitens hatte sich Lindelle über den Polyphont des Maffei aufgehalten, der die Merope mit aller Gewalt heiraten will. Als ob der Voltairische das nicht auch wollte! Voltaire antwortet ihm daher: »Weder Maffei, noch ich, haben die Ursachen dringend genug gemacht, warum Polyphont durchaus Meropen zu seiner Gemahlin verlangt. Das ist vielleicht ein Fehler des Stoffes; aber ich bekenne Ihnen, daß ich einen solchen Fehler für sehr gering halte, wenn das Interesse, welches er hervor bringt, beträchtlich ist.« Nein, der Fehler liegt nicht in dem Stoffe. Denn in diesem Umstande eben hat Maffei den Stoff verändert. Was brauchte Voltaire diese Veränderung anzunehmen, wenn er seinen Vorteil nicht dabei sahe? –

Der Punkte sind mehrere, bei welchen Voltaire eine ähnliche Rücksicht auf sich selbst hätte nehmen können: aber welcher Vater sieht alle Fehler seines Kindes? Der Fremde, dem sie in die Augen fallen, braucht darum gar nicht scharfsichtiger zu sein, als der Vater; genug, daß er nicht der Vater ist. Gesetzt also, ich wäre dieser Fremde!

Lindelle wirft dem Maffei vor, daß er seine Szenen oft nicht verbinde, daß er das Theater oft leer lasse, daß seine Personen oft ohne Ursache aufträten und abgingen; alles wesentliche Fehler, die man heut zu Tage auch dem armseligsten Poeten nicht mehr verzeihe. – Wesentliche Fehler dieses? Doch das ist die Sprache der französischen Kunstrichter überhaupt; die muß ich ihm schon lassen, wenn ich nicht ganz von vorne mit ihm anfangen will. So wesentlich oder unwesentlich sie aber auch sein mögen; wollen wir es Lindellen auf sein Wort glauben, daß sie bei den Dichtern seines Volks so selten sind? Es ist wahr, sie sind es, die sich der größten Regelmäßigkeit rühmen; aber sie sind es auch, die entweder diesen Regeln eine solche Ausdehnung geben, daß es sich kaum mehr der Mühe verlohnet, sie als Regeln vorzutragen, oder sie auf eine solche linke und gezwungene Art beobachten, daß es weit mehr beleidiget, sie so beobachtet zu sehen, als gar nicht. 37 Besonders ist Voltaire ein Meister, [435] sich die Fesseln der Kunst so leicht, so weit zu machen, daß er alle Freiheit behält, sich zu bewegen, wie er will; und doch bewegt er sich oft so plump und schwer, und macht so ängstliche Verdrehungen, daß man meinen sollte, jedes Glied von ihm sei an ein besonderes Klotz geschmiedet. Es kostet mir Überwindung, ein Werk des Genies aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten; doch da es, bei der gemeinen Klasse von Kunstrichtern, noch so sehr Mode ist, es fast aus keinem andern, als aus diesem, zu betrachten; da es der ist, aus welchem die Bewunderer des französischen Theaters, das lauteste Geschrei erheben: so will ich doch erst genauer hinsehen, ehe ich in ihr Geschrei mit einstimme.

1. Die Szene ist zu Messene, in dem Palaste der Merope. Das ist, gleich Anfangs, die strenge Einheit des Ortes nicht, welche, nach den Grundsätzen und Beispielen der Alten, ein Hedelin verlangen zu können glaubte. Die Szene muß kein ganzer Palast, sondern nur ein Teil des Palastes sein, wie ihn [436] das Auge aus einem und eben demselben Standorte zu übersehen fähig ist. Ob sie ein ganzer Palast, oder eine ganze Stadt, oder eine ganze Provinz ist, das macht im Grunde einerlei Ungereimtheit. Doch schon Corneille gab diesem Gesetze, von dem sich ohnedem kein ausdrückliches Gebot bei den Alten findet, die weitere Ausdehnung, und wollte, daß eine einzige Stadt zur Einheit des Ortes hinreichend sei. Wenn er seine besten Stücke von dieser Seite rechtfertigen wollte, so mußte er wohl so nachgebend sein. Was Corneillen aber erlaubt war, das muß Voltairen Recht sein. Ich sage also nichts dagegen, daß eigentlich die Szene bald in dem Zimmer der Königin, bald in dem oder jenem Saale, bald in dem Vorhofe, bald nach dieser bald nach einer andern Aussicht, muß gedacht werden. Nur hätte er bei diesen Abwechselungen auch die Vorsicht brauchen sollen, die Corneille dabei empfahl: sie müssen nicht in den nämlichen Akte, am wenigsten in der nämlichen Szene angebracht werden. Der Ort, welcher zu Anfange des Akts ist, muß durch diesen ganzen Akt dauern; und ihn vollends in eben derselben Szene abändern, oder auch nur erweitern oder verengern, ist die äußerste Ungereimtheit von der Welt. – Der dritte Akt der Merope mag auf einem freien Platze, unter einem Säulengange, oder in einem Saale spielen, in dessen Vertiefung das Grabmahl des Kresphontes zu sehen, an welchem die Königin den Aegisth mit eigner Hand hinrichten will: was kann man sich armseliger vorstellen, als daß, mitten in der vierten Szene, Eurikles, der den Aegisth wegführet, diese Vertiefung hinter sich zuschließen muß? Wie schließt er sie zu? Fällt ein Vorhang hinter ihm nieder? Wenn jemals auf einen Vorhang das, was Hedelin von dergleichen Vorhängen überhaupt sagt, gepaßt hat, so ist es auf diesen; 38 besonders wenn man zugleich die Ursache erwägt, warum Aegisth so plötzlich abgeführt, durch diese Maschinerie so augenblicklich aus dem Gesichte gebracht [437] werden muß, von der ich hernach reden will. – Eben so ein Vorhang wird in dem fünften Akte aufgezogen. Die ersten sechs Szenen spielen in einem Saale des Palastes: und mit der siebenden erhalten wir auf einmal die offene Aussicht in den Tempel, um einen toten Körper in einem blutigen Rocke sehen zu können. Durch welches Wunder? Und war dieser Anblick dieses Wunders wohl wert? Man wird sagen, die Türen dieses Tempels eröffnen sich auf einmal, Merope bricht auf einmal mit dem ganzen Volke heraus, und dadurch erlangen wir die Einsicht in denselben. Ich verstehe; dieser Tempel war Ihro verwitweten Königlichen Majestät Schloßkapelle, die gerade an den Saal stieß, und mit ihm Kommunikation hatte, damit Allerhöchstdieselben jederzeit trocknes Fußes zu dem Orte ihrer Andacht gelangen konnten. Nur sollten wir sie dieses Weges nicht allein herauskommen, sondern auch hereingehen sehen; wenigstens den Aegisth, der am Ende der vierten Szene zu laufen hat, und ja den kürzesten Weg nehmen muß, wenn er, acht Zeilen darauf, seine Tat schon vollbracht haben soll.

Fünf und vierzigstes Stück

Den 2ten Oktober, 1767


2. Nicht weniger bequem hat es sich der Herr von Voltaire mit der Einheit der Zeit gemacht. Man denke sich einmal alles das, was er in seiner Merope vorgehen läßt, an einem Tage geschehen; und sage, wie viel Ungereimtheiten man sich dabei denken muß. Man nehme immer einen völligen, natürlichen Tag; man gebe ihm immer die dreißig Stunden, auf die Corneille ihn auszudehnen erlauben will. Es ist wahr, ich sehe zwar keine physikalische Hindernisse, warum alle die Begebenheiten in diesem Zeitraume nicht hätten geschehen können; aber desto mehr moralische. Es ist freilich nicht unmöglich, daß man innerhalb zwölf Stunden um ein Frauenzimmer anhalten und mit ihr getrauet sein kann; besonders, wenn man es mit Gewalt vor den Priester schleppen darf. Aber wenn es geschieht, verlangt man nicht eine so [438] gewaltsame Beschleunigung durch die allertriftigsten und dringendsten Ursachen gerechtfertiget zu wissen? Findet sich hingegen auch kein Schatten von solchen Ursachen, wodurch soll uns, was bloß physikalischer Weise möglich ist, denn wahrscheinlich werden? Der Staat will sich einen König wählen; Polyphont und der abwesende Aegisth können allein dabei in Betrachtung kommen; um die Ansprüche des Aegisth zu vereiteln, will Polyphont die Mutter desselben heiraten; an eben demselben Tage, da die Wahl geschehen soll, macht er ihr den Antrag; sie weiset ihn ab; die Wahl geht vor sich, und fällt für ihn aus; Polyphont ist also König, und man sollte glauben, Aegisth möge nunmehr erscheinen, wenn er wolle, der neuerwählte König könne es, vors erste, mit ihm ansehen. Nichtsweniger; er bestehet auf der Heirat, und bestehet darauf, daß sie noch desselben Tages vollzogen werden soll; eben des Tages, an dem er Meropen zum erstenmale seine Hand angetragen; eben des Tages, da ihn das Volk zum Könige ausgerufen. Ein so alter Soldat, und ein so hitziger Freier! Aber seine Freierei ist nichts als Politik. Desto schlimmer; diejenige, die er in sein Interesse verwickeln will, so zu mißhandeln! Merope hatte ihm ihre Hand verweigert, als er noch nicht König war, als sie glauben mußte, daß ihn ihre Hand vornehmlich auf den Thron verhelfen sollte; aber nun ist er König, und ist es geworden, ohne sich auf den Titel ihres Gemahls zu gründen; er wiederhole seinen Antrag, und vielleicht gibt sie es näher; er lasse ihr Zeit, den Abstand zu vergessen, der sich ehedem zwischen ihnen befand, sich zu gewöhnen, ihn als ihres gleichen zu betrachten, und vielleicht ist nur kurze Zeit dazu nötig. Wenn er sie nicht gewinnen kann, was hilft es ihn, sie zu zwingen? Wird es ihren Anhängern unbekannt bleiben, daß sie gezwungen worden? Werden sie ihn nicht auch darum hassen zu müssen glauben? Werden sie nicht auch darum dem Aegisth, sobald er sich zeigt, beizutreten, und in seiner Sache zugleich die Sache seiner Mutter zu betreiben, sich für verbunden achten? Vergebens, daß das Schicksal dem Tyrannen, der ganzer funfzehn Jahr sonst so bedächtlich zu Werke gegangen, diesen Aegisth nun selbst in die Hände liefert, und ihm [439] dadurch ein Mittel, den Thron ohne alle Ansprüche zu besitzen, anbietet, das weit kürzer, weit unfehlbarer ist, als die Verbindung mit seiner Mutter: es soll und muß geheiratet sein, und noch heute, und noch diesen Abend; der neue König will bei der alten Königin noch diese Nacht schlafen, oder es geht nicht gut. Kann man sich etwas komischeres denken? In der Vorstellung, meine ich; denn daß es einem Menschen, der nur einen Funken von Verstande hat, einkommen könne, wirklich so zu handeln, widerlegt sich von selbst. Was hilft es nun also dem Dichter, daß die besondern Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen Eräugnung ungefähr nicht viel mehr Zeit brauchen würden, als auf die Vorstellung dieses Aktes geht; und daß diese Zeit mit der, welche auf die Zwischenakte gerechnet werden muß, noch lange keinen völligen Umlauf der Sonne erfodert: hat er darum die Einheit der Zeit beobachtet? Die Worte dieser Regel hat er erfüllt, aber nicht ihren Geist. Denn was er aneinem Tage tun läßt, kann zwar an einem Tage getan werden, aber kein vernünftiger Mensch wird es aneinem Tage tun. Es ist an der physischen Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die moralische dazu kommen, deren Verletzung allen und jeden empfindlich ist, anstatt daß die Verletzung der erstern, ob sie gleich meistens eine Unmöglichkeit involvieret, dennoch nicht immer so allgemein anstößig ist, weil diese Unmöglichkeit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z. E. in einem Stücke, von einem Orte zum andern gereiset wird, und diese Reise allein mehr als einen ganzen Tag erfodert, so ist der Fehler nur denen merklich, welche den Abstand des einen Ortes von dem andern wissen. Nun aber wissen nicht alle Menschen die geographischen Distanzen; aber alle Menschen können es an sich selbst merken, zu welchen Handlungen man sich einen Tag, und zu welchen man sich mehrere nehmen sollte. Welcher Dichter also die physische Einheit der Zeit nicht anders als durch Verletzung der moralischen zu beobachten verstehet, und sich kein Bedenken macht, diese jener aufzuopfern, der verstehet sich sehr schlecht auf seinem Vorteil, und opfert das Wesentlichere dem Zufälligen auf. – Maffei nimmt doch wenigstens noch eine Nacht zu [440] Hülfe; und die Vermählung, die Polyphont der Merope heute andeutet, wird erst den Morgen darauf vollzogen. Auch ist es bei ihm nicht der Tag, an welchem Polyphont den Thron besteiget; die Begebenheiten pressen sich folglich weniger; sie eilen, aber sie übereilen sich nicht. Voltairens Polyphont ist ein Ephemeron von einem Könige, der schon darum den zweiten Tag nicht zu regieren verdienet, weil er den ersten seine Sache so gar albern und dumm anfängt.

3. Maffei, sagt Lindelle, verbinde öfters die Szenen nicht, und das Theater bleibe leer; ein Fehler, den man heut zu Tage auch den geringsten Poeten nicht verzeihe. »Die Verbindung der Szenen, sagt Corneille, ist eine große Zierde eines Gedichts, und nichts kann uns von der Stetigkeit der Handlung besser versichern, als die Stetigkeit der Vorstellung. Sie ist aber doch nur eine Zierde, und keine Regel; denn die Alten haben sich ihr nicht immer unterworfen u.s.w.« Wie? ist die Tragödie bei den Franzosen seit ihrem großen Corneille so viel vollkommener geworden, daß das, was dieser bloß für eine mangelnde Zierde hielt, nunmehr ein unverzeihlicher Fehler ist? Oder haben die Franzosen seit ihm das Wesentliche der Tragödie noch mehr verkennen gelernt, daß sie auf Dinge einen so großen Wert legen, die im Grunde keinen haben? Bis uns diese Frage entschieden ist, mag Corneille immer wenigstens eben so glaubwürdig sein, als Lindelle; und was, nach jenem, also eben noch kein aus gemachter Fehler bei dem Maffei ist, mag gegen den minder streitigen des Voltaire aufgehen, nach welchem er das Theater öfters länger voll läßt, als es bleiben sollte. Wenn z. E., in dem ersten Akte, Polyphont zu der Königin kömmt, und die Königin mit der dritten Szene abgeht, mit was für Recht kann Polyphont in dem Zimmer der Königin verweilen? Ist dieses Zimmer der Ort, wo er sich gegen seinen Vertrauten so frei herauslassen sollte? Das Bedürfnis des Dichters verrät sich in der vierten Szene gar zu deutlich, in der wir zwar Dinge erfahren, die wir notwendig wissen müssen, nur daß wir sie an einem Orte erfahren, wo wir es nimmermehr erwartet hätten.

4. Maffei motiviert das Auftreten und Abgehen seiner Personen [441] oft gar nicht: – und Voltaire motiviert es eben so oft falsch; welches wohl noch schlimmer ist. Es ist nicht genug, daß eine Person sagt, warum sie kömmt, man muß auch aus der Verbindung einsehen, daß sie darum kommen müssen. Es ist nicht genug, daß sie sagt, warum sie abgeht, man muß auch in dem Folgenden sehen, daß sie wirklich darum abgegangen ist. Denn sonst ist das, was ihr der Dichter desfalls in den Mund legt, ein bloßer Vorwand, und keine Ursache. Wenn z. E. Eurikles in der dritten Szene des zweiten Akts abgeht, um, wie er sagt, die Freunde der Königin zu versammeln; so müßte man von diesen Freunden und von dieser ihrer Versammlung auch hernach etwas hören. Da wir aber nichts davon zu hören bekommen, so ist sein Vorgeben ein schülerhaftes Peto veniam exeundi, mit der ersten besten Lügen, die dem Knaben einfällt. Er geht nicht ab, um das zu tun, was er sagt, sondern um, ein Paar Zeilen darauf, mit einer Nachricht wiederkommen zu können, die der Poet durch keinen andern erteilen zu lassen wußte. Noch ungeschickter geht Voltaire mit dem Schlusse ganzer Akte zu Werke. Am Ende des dritten sagt Polyphont zu Meropen, daß der Altar ihrer erwarte, daß zu ihrer feierlichen Verbindung schon alles bereit sei; und so geht er mit einem Venez, Madame ab. Madame aber folgt ihm nicht, sondern geht mit einer Exklamation zu einer andern Coulisse hinein; worauf Polyphont den vierten Akt wieder anfängt, und nicht etwa seinen Unwillen äußert, daß ihm die Königin nicht in den Tempel gefolgt ist, (denn er irrte sich, es hat mit der Trauung noch Zeit,) sondern wiederum mit seinem Erox Dinge plaudert, über die er nicht hier, über die er zu Hause in seinem Gemache, mit ihm hätte schwatzen sollen. Nun schließt auch der vierte Akt, und schließt vollkommen wie der dritte. Polyphont zitiert die Königin nochmals nach dem Tempel, Merope selbst schreiet,


Courons tous vers le temple ou m'attend mon outrage;

und zu den Opferpriestern, die sie dahin abholen sollen, sagt sie,

Vous venez à l'autel entrainer la victime.


[442] Folglich werden sie doch gewiß zu Anfange des fünften Akts in dem Tempel sein, wo sie nicht schon gar wieder zurück sind? Keines von beiden; gut Ding will Weile haben; Polyphont hat noch etwas vergessen, und kömmt noch einmal wieder, und schickt auch die Königin noch einmal wieder. Vortrefflich! Zwischen dem dritten und vierten, und zwischen dem vierten und fünften Akte geschieht demnach nicht allein das nicht, was geschehen sollte; sondern es geschieht auch, platter Dings, gar nichts, und der dritte und vierte Akt schließen bloß, damit der vierte und fünfte wieder anfangen können.

Sechs und vierzigstes Stück

Den 6ten Oktober, 1767


Ein anderes ist, sich mit den Regeln abfinden; ein anderes, sie wirklich beobachten. Jenes tun die Franzosen; dieses scheinen nur die Alten verstanden zu haben.

Die Einheit der Handlung war das erste dramatische Gesetz der Alten; die Einheit der Zeit und die Einheit des Ortes waren gleichsam nur Folgen aus jener, die sie schwerlich strenger beobachtet haben würden, als es jene notwendig erfordert hätte, wenn nicht die Verbindung des Chors dazu gekommen wäre. Da nämlich ihre Handlungen eine Menge Volks zum Zeugen haben mußten, und diese Menge immer die nämliche blieb, welche sich weder weiter von ihren Wohnungen entfernen, noch länger aus denselben wegbleiben konnte, als man gewöhnlichermaßen der bloßen Neugierde wegen zu tun pflegt: so konnten sie fast nicht anders, als den Ort auf einen und eben denselben individuellen Platz, und die Zeit auf einen und eben denselben Tag einschränken. Dieser Einschränkung unterwarfen sie sich denn auch bona fide; aber mit einer Biegsamkeit, mit einem Verstande, daß sie, unter neunmalen, siebenmal weit mehr dabei gewannen, als verloren. Denn sie ließen sich diesen Zwang einen Anlaß sein, die Handlung selbst so zu simplifiieren, alles Überflüssige so sorgfältig von ihr abzusondern, daß sie, auf [443] ihre wesentlichsten Bestandteile gebracht, nichts als ein Ideal von dieser Handlung ward, welches sich gerade in derjenigen Form am glücklichsten ausbildete, die den wenigsten Zusatz von Umständen der Zeit und des Ortes verlangte.

Die Franzosen hingegen, die an der wahren Einheit der Handlung keinen Geschmack fanden, die durch die wilden Intriguen der spanischen Stücke schon verwöhnt waren, ehe sie die griechische Simplizität kennen lernten, betrachteten die Einheiten der Zeit und des Orts, nicht als Folgen jener Einheit, sondern als für sich zur Vorstellung einer Handlung unumgängliche Erfordernisse, welche sie auch ihren reichern und verwickeltern Handlungen in eben der Strenge anpassen müßten, als es nur immer der Gebrauch des Chors erfordern könnte, dem sie doch gänzlich entsagt hatten. Da sie aber fanden, wie schwer, ja wie unmöglich öfters, dieses sei: so trafen sie mit den tyrannischen Regeln, welchen sie ihren völligen Gehorsam aufzukündigen, nicht Mut genug hatten, ein Abkommen. Anstatt eines einzigen Ortes, führten sie einen unbestimmten Ort ein, unter dem man sich bald den, bald jenen, einbilden könne; genug, wenn diese Orte zu sammen nur nicht gar zu weit aus einander lägen, und keiner eine besondere Verzierung bedürfe, sondern die nämliche Verzierung ungefähr dem einen so gut als dem andern zukommen könne. Anstatt der Einheit des Tages schoben sie die Einheit der Dauer unter; und eine gewisse Zeit, in der man von keinem Aufgehen und Untergehen der Sonne hörte, in der niemand zu Bette ging, wenigstens nicht öfterer als einmal zu Bette ging, mochte sich doch sonst noch so viel und mancherlei darin eräugnen, ließen sie für einen Tag gelten.

Niemand würde ihnen dieses verdacht haben; denn unstreitig lassen sich auch so noch vortreffliche Stücke machen; und das Sprichwort sagt, bohre das Brett, wo es am dünnsten ist. – Aber ich muß meinen Nachbar nur auch da bohren lassen. Ich muß ihm nicht immer nur die dickeste Kante, den astigsten Teil des Brettes zeigen, und schreien: Da bohre mir durch! da pflege ich durchzubohren! – Gleichwohl schreien die französischen Kunstrichter alle so; besonders wenn sie auf die dramatischen Stücke der Engländer kommen. Was [444] für ein Aufhebens machen sie von der Regelmäßigkeit, die sie sich so unendlich erleichtert haben! – Doch mir ekelt, mich bei diesen Elementen länger aufzuhalten.

Möchten meinetwegen Voltairens und Maffeis Merope acht Tage dauern, und an sieben Orten in Griechenland spielen! Möchten sie aber auch nur die Schönheiten haben, die mich diese Pedanterien vergessen machen!

Die strengste Regelmäßigkeit kann den kleinsten Fehler in den Charakteren nicht aufwiegen. Wie abgeschmackt Polyphont bei dem Maffei öfters spricht und handelt, ist Lindellen nicht entgangen. Er hat Recht über die heillosen Maximen zu spotten, die Maffei seinem Tyrannen in den Mund legt. Die Edelsten und Besten des Staats aus dem Wege zu räumen; das Volk in alle die Wollüste zu versenken, die es entkräften und weibisch machen können; die größten Verbrechen, unter dem Scheine des Mitleids und der Gnade, ungestraft zu lassen u.s.w. wenn es einen Tyrannen gibt, der diesen unsinnigen Weg zu regieren einschlägt, wird er sich dessen auch rühmen? So schildert man die Tyrannen in einer Schulübung; aber so hat noch keiner von sich selbst gesprochen. 39 – Es ist wahr, so gar frostig und wahnwitzig läßt Voltaire seinen Polyphont nicht deklamieren; aber mit unter läßt er ihn doch auch Dinge sagen, die gewiß kein Mann von dieser Art über die Zunge bringt. Z. E.


[445]
– Des Dieux quelquefois la longue patience
Fait sur nous à pas lents descendre la vengence –

Ein Polyphont sollte diese Betrachtung wohl machen; aber er macht sie nie. Noch weniger wird er sie in dem Augenblicke machen, da er sich zu neuen Verbrechen aufmuntert:


Eh bien, encor ce crime! – –


Wie unbesonnen, und in den Tag hinein, er gegen Meropen handelt, habe ich schon berührt. Sein Betragen gegen den Aegisth sieht einem eben so verschlagnen als entschlossenen Manne, wie ihn uns der Dichter von Anfange schildert, noch weniger ähnlich. Aegisth hätte bei dem Opfer gerade nicht erscheinen müssen. Was soll er da? Ihm Gehorsam schwören? In den Augen des Volks? Unter dem Geschrei seiner verzweifelnden Mutter? Wird da nicht unfehlbar geschehen, was er zuvor selbst besorgte? 40 Er hat sich für seine Person alles von dem Aegisth zu versehen; Aegisth verlangt nur sein Schwert wieder, um den ganzen Streit zwischen ihnen mit eins zu entscheiden; und diesen tollkühnen Aegisth läßt er sich an dem Altare, wo das erste das beste, was ihm in die Hand fällt, ein Schwert werden kann, so nahe kommen? Der Polyphont des Maffei ist von diesen Ungereimtheiten frei; denn dieser kennt den Aegisth nicht, und hält ihn für seinen Freund. Warum hätte Aegisth sich ihm also bei dem Altare nicht nähern dürfen? Niemand gab auf seine Bewegungen Acht; der Streich [446] war geschehen, und er zu dem zweiten schon bereit, ehe es noch einem Menschen einkommen konnte, den ersten zu rächen.

»Merope, sagt Lindelle, wenn sie bei dem Maffei erfährt, daß ihr Sohn ermordet sei, will dem Mörder das Herz aus dem Leibe reißen, und es mit ihren Zähnen zerfleischen. 41 Das heißt, sich wie eine Kannibalin, und nicht wie eine betrübte Mutter ausdrücken; das Anständige muß überall beobachtet werden.« Ganz recht; aber obgleich die französische Merope delikater ist, als daß sie so in ein rohes Herz, ohne Salz und Schmalz, beißen sollte: so dünkt mich doch, ist sie im Grunde eben so gut Kannibalin, als die Italienische. –

Sieben und vierzigstes Stück

Den 9ten Oktober, 1767


Und wie das? – Wenn es unstreitig ist, daß man den Menschen mehr nach seinen Taten, als nach seinen Reden richten muß; daß ein rasches Wort, in der Hitze der Leidenschaft ausgestoßen, für seinen moralischen Charakter wenig, eine überlegte kalte Handlung aber alles beweiset: so werde ich wohl Recht haben. Merope, die sich in der Ungewißheit, in welcher sie von dem Schicksale ihres Sohnes ist, dem bangsten Kummer überläßt, die immer das Schrecklichste besorgt, und in der Vorstellung, wie unglücklich ihr abwesender Sohn vielleicht sei, ihr Mitleid über alle Unglückliche erstrecket: ist das schöne Ideal einer Mutter. Merope, die in dem Augenblicke, da sie den Verlust des Gegenstandes ihrer Zärtlichkeit erfährt, von ihrem Schmerze betäubt dahin sinkt, und plötzlich, sobald sie den Mörder in ihrer Gewalt höret, [447] wieder aufspringt, und tobet, und wütet, und die blutigste schrecklichste Rache an ihm zu vollziehen drohet, und wirklich vollziehen würde, wenn er sich eben unter ihren Händen befände: ist eben dieses Ideal, nur in dem Stande einer gewaltsamen Handlung, in welchem es an Ausdruck und Kraft gewinnet, was es an Schönheit und Rührung verloren hat. Aber Merope, die sich zu dieser Rache Zeit nimmt, Anstalten dazu vorkehret, Feierlichkeiten dazu anordnet, und selbst die Henkerin sein, nicht töten sondern martern, nicht strafen sondern ihre Augen an der Strafe weiden will: ist das auch noch eine Mutter? Freilich wohl; aber eine Mutter, wie wir sie uns unter den Kannibalinnen denken; eine Mutter, wie es jede Bärin ist. – Diese Handlung der Merope gefalle wem da will; mir sage er es nur nicht, daß sie ihm gefällt, wenn ich ihn nicht eben so sehr verachten, als verabscheuen soll.

Vielleicht dürfte der Herr von Voltaire auch dieses zu einem Fehler des Stoffes machen; vielleicht dürfte er sagen, Merope müsse ja wohl den Aegisth mit eigner Hand umbringen wollen, oder der ganze Coup de Théatre, den Aristoteles so sehr anpreise, der die empfindlichen Athenienser ehedem so sehr entzückt habe, falle weg. Aber der Herr von Voltaire würde sich wiederum irren, und die willkürlichen Abweichungen des Maffei abermals für den Stoff selbst nehmen. Der Stoff erfordert zwar, daß Merope den Aegisth mit eigner Hand ermorden will, allein er erfordert nicht, daß sie es mit aller Überlegung tun muß. Und so scheinet sie es auch bei dem Euripides nicht getan zu haben, wenn wir anders die Fabel des Hyginus für den Auszug seines Stücks annehmen dürfen. Der Alte kömmt und sagt der Königin weinend, daß ihm ihr Sohn weggekommen; eben hatte sie gehört, daß ein Fremder angelangt sei, der sich rühme, ihn umgebracht zu haben, und daß dieser Fremde ruhig unter ihrem Dache schlafe; sie ergreift das erste das beste, was ihr in die Hände fällt, eilet voller Wut nach dem Zimmer des Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Erkennung geschieht in dem Augenblicke, da das Verbrechen geschehen sollte. Das war sehr simpel und natürlich, sehr rührend und menschlich! Die Athenienser zitterten für den Aegisth, ohne Meropen verabscheuen [448] zu dürfen. Sie zitterten für Meropen selbst, die durch die gutartigste Übereilung Gefahr lief, die Mörderin ihres Sohnes zu werden. Maffei und Voltaire aber machen mich bloß für den Aegisth zittern; denn auf ihre Merope bin ich so ungehalten, daß ich es ihr fast gönnen möchte, sie vollführte den Streich. Möchte sie es doch haben! Kann sie sich Zeit zur Rache nehmen, so hätte sie sich auch Zeit zur Untersuchung nehmen sollen. Warum ist sie so eine blutdürstige Bestie? Er hat ihren Sohn umgebracht: gut; sie mache in der ersten Hitze mit dem Mörder was sie will, ich verzeihe ihr, sie ist Mensch und Mutter; auch will ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn sie finden sollte, wie sehr sie ihre erste rasche Hitze zu verwünschen habe. Aber, Madame, einen jungen Menschen, der Sie kurz zuvor so sehr interessierte, an dem Sie so viele Merkmale der Aufrichtigkeit und Unschuld erkannten, weil man eine alte Rüstung bei ihm findet, die nur Ihr Sohn tragen sollte, als den Mörder Ihres Sohnes, an dem Grabmale seines Vaters, mit eigner Hand abschlachten zu wollen, Leibwache und Priester dazu zu Hülfe zu nehmen – O pfui, Madame! Ich müßte mich sehr irren, oder Sie wären in Athen ausgepfiffen worden.

Daß die Unschicklichkeit, mit welcher Polyphont nach funfzehn Jahren die veraltete Merope zur Gemahlin verlangt, eben so wenig ein Fehler des Stoffes ist, habe ich schon berührt. 42 Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Polyphont Meropen gleich nach der Ermordung des Kresphonts geheiratet; und es ist sehr glaublich, daß selbst Euripides diesen Umstand so angenommen hatte. Warum sollte er auch nicht? Eben die Gründe, mit welchen Eurikles, beim Voltaire, Meropen itzt nach funfzehn Jahren bereden will, dem Tyrannen ihre Hand zu geben, 43 hätten sie auch vor funfzehn Jahren [449] dazu vermögen können. Es war sehr in der Denkungsart der alten griechischen Frauen, daß sie ihren Abscheu gegen die Mörder ihrer Männer überwanden und sie zu ihren zweiten Männern annahmen, wenn sie sahen, daß den Kindern ihrer ersten Ehe Vorteil daraus erwachsen könne. Ich erinnere mich etwas ähnliches in dem griechischen Roman des Charitons, den d'Orville herausgegeben, ehedem gelesen zu haben, wo eine Mutter das Kind selbst, welches sie noch unter ihrem Herzen trägt, auf eine sehr rührende Art darüber zum Richter nimmt. Ich glaube, die Stelle verdiente angeführt zu werden; aber ich habe das Buch nicht bei der Hand. Genug, daß das, was dem Eurikles Voltaire selbst in den Mund legt, hinreichend gewesen wäre, die Aufführung seiner Merope zu rechtfertigen, wenn er sie als die Gemahlin des Polyphonts eingeführet hätte. Die kalten Szenen einer politischen Liebe wären dadurch weggefallen; und ich sehe mehr als einen Weg, wie das Interesse durch diesen Umstand selbst noch weit lebhafter, und die Situationen noch weit intriguanter hätten werden können.

Doch Voltaire wollte durchaus auf dem Wege bleiben, den ihm Maffei gebahnet hatte, und weil es ihm gar nicht einmal einfiel, daß es einen bessern geben könne, daß dieser bessere eben der sei, der schon vor Alters befahren worden, so begnügte er sich auf jenem ein Paar Sandsteine aus dem Gleise [450] zu räumen, über die er meinet, daß sein Vorgänger fast umgeschmissen hätte. Würde er wohl sonst auch dieses von ihm beibehalten haben, daß Aegisth, unbekannt mit sich selbst, von ungefähr nach Messene geraten, und daselbst durch kleine zweideutige Merkmale in den Verdacht kommen muß, daß er der Mörder seiner selbst sei? Bei dem Euripides kannte sich Aegisth vollkommen, kam in dem ausdrücklichen Vorsatze, sich zu rächen, nach Messene, und gab sich selbst für den Mörder des Aegisth aus; nur daß er sich seiner Mutter nicht entdeckte, es sei aus Vorsicht, oder aus Mißtrauen, oder aus was sonst für Ursache, an der es ihm der Dichter gewiß nicht wird haben mangeln lassen. Ich habe zwar oben 44 dem Maffei einige Gründe zu allen den Veränderungen, die er mit dem Plane des Euripides gemacht hat, von meinem Eigenen geliehen. Aber ich bin weit entfernt, die Gründe für wichtig, und die Veränderungen für glücklich genug auszugeben. Vielmehr behaupte ich, daß jeder Tritt, den er aus den Fußtapfen des Griechen zu tun gewagt, ein Fehltritt geworden. Daß sich Aegisth nicht kennet, daß er von ungefähr nach Messene kömmt, und per combinazione d'accidenti (wie Maffei es ausdrückt) für den Mörder des Aegisth gehalten wird, gibt nicht allein der ganzen Geschichte ein sehr verwirrtes, zweideutiges und romanenhaftes Ansehen, sondern schwächt auch das Interesse ungemein. Bei dem Euripides wußte es der Zuschauer von dem Aegisth selbst, daß er Aegisth sei, und je gewisser er es wußte, daß Merope ihren eignen Sohn umzubringen kommt, desto größer mußte notwendig das Schrecken sein, das ihn darüber befiel, desto quälender das Mitleid, welches er voraus sahe, Falls Merope an der Vollziehung nicht zu rechter Zeit verhindert würde. Bei dem Maffei und Voltaire hingegen, vermuten wir es nur, daß der vermeinte Mörder des Sohnes der Sohn wohl selbst sein könne, und unser größtes Schrecken ist auf den einzigen Augenblick versparet, in welchem es Schrecken zu sein aufhöret. Das schlimmste dabei ist noch dieses, daß die Gründe, die uns in dem jungen Fremdlinge den Sohn der Merope vermuten [451] lassen, eben die Gründe sind, aus welchen es Merope selbst vermuten sollte; und daß wir ihn, besonders bei Voltairen, nicht in dem allergeringsten Stücke näher und zuverlässiger kennen, als sie ihn selbst kennen kann. Wir trauen also diesen Gründen entweder eben so viel, als ihnen Merope trauet, oder wir trauen ihnen mehr. Trauen wir ihnen eben so viel, so halten wir den Jüngling mit ihr für einen Betrieger, und das Schicksal, das sie ihm zugedacht, kann uns nicht sehr rühren. Trauen wir ihnen mehr, so tadeln wir Meropen, daß sie nicht besser darauf merket, und sich von weit seichtern Gründen hinreißen läßt. Beides aber taugt nicht.

Acht und vierzigstes Stück

Den 13ten Oktober, 1767


Es ist wahr, unsere Überraschung ist größer, wenn wir es nicht eher mit völliger Gewißheit erfahren, daß Aegisth Aegisth ist, als bis es Merope selbst erfährt. Aber das armselige Vergnügen einer Überraschung! Und was braucht der Dichter uns zu überraschen? Er überrasche seine Personen, so viel er will; wir werden unser Teil schon davon zu nehmen wissen, wenn wir, was sie ganz unvermutet treffen muß, auch noch so lange vorausgesehen haben. Ja, unser Anteil wird um so lebhafter und stärker sein, je länger und zuverlässiger wir es vorausgesehen haben.

Ich will, über diesen Punkt, den besten französischen Kunstrichter für mich sprechen lassen. »In den verwickelten Stücken, sagt Diderot, 45 ist das Interesse mehr die Wirkung des Plans, als der Reden; in den einfachen Stücken hingegen ist es mehr die Wirkung der Reden, als des Plans. Allein worauf muß sich das Interesse beziehen? Auf die Personen? Oder auf die Zuschauer? Die Zuschauer sind nichts als Zeugen, von welchen man nichts weiß. Folglich sind es die Personen, die man vor Augen haben muß. Ohnstreitig! Diese [452] lasse man den Knoten schürzen, ohne daß sie es wissen; für diese sei alles undurchdringlich; diese bringe man, ohne daß sie es merken, der Auflösung immer näher und näher. Sind diese nur in Bewegung, so werden wir Zuschauer den nämlichen Bewegungen schon auch nachgeben, sie schon auch empfinden müssen. – Weit gefehlt, daß ich mit den meisten, die von der dramatischen Dichtkunst geschrieben haben, glauben sollte, man müsse die Entwicklung vor dem Zuschauer verbergen. Ich dächte vielmehr, es sollte meine Kräfte nicht übersteigen, wenn ich mir ein Werk zu machen vorsetzte, wo die Entwicklung gleich in der ersten Szene verraten würde, und aus diesem Umstande selbst das allerstärkeste Interesse entspränge. – Für den Zuschauer muß alles klar sein. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiß alles was vorgeht, alles was vorgegangen ist; und es gibt hundert Augenblicke, wo man nichts bessers tun kann, als daß man ihm gerade voraussagt, was noch vorgehen soll. – O ihr Verfertiger allgemeiner Regeln, wie wenig versteht ihr die Kunst, und wie wenig besitzt ihr von dem Genie, das die Muster hervorgebracht hat, auf welche ihr sie bauet, und das sie übertreten kann, so oft es ihm beliebt! – Meine Gedanken mögen so paradox scheinen, als sie wollen: so viel weiß ich gewiß, daß für eine Gelegenheit, wo es nützlich ist, dem Zuschauer einen wichtigen Vorfall so lange zu verhehlen, bis er sich eräugnet, es immer zehn und mehrere gibt, wo das Interesse gerade das Gegenteil erfodert. – Der Dichter bewerkstelliget durch sein Geheimnis eine kurze Überraschung; und in welche anhaltende Unruhe hätte er uns stürzen können, wenn er uns kein Geheimnis daraus gemacht hätte! – Wer in einem Augenblicke getroffen und niedergeschlagen wird, den kann ich auch nur einen Augenblick betauern. Aber wie steht es alsdenn mit mir, wenn ich den Schlag erwarte, wenn ich sehe, daß sich das Ungewitter über meinem oder eines andern Haupte zusammenziehet, und lange Zeit darüber verweilet? – Meinetwegen mögen die Personen alle einander nicht kennen; wenn sie nur der Zuschauer alle kennet. – Ja, ich wollte fast behaupten, daß der Stoff, bei welchem die Verschweigungen notwendig sind, ein undankbarer Stoff ist; [453] daß der Plan, in welchem man seine Zuflucht zu ihnen nimmt, nicht so gut ist, als der, in welchem man sie hätte entübrigen können. Sie werden nie zu etwas Starkem Anlaß geben. Immer werden wir uns mit Vorbereitungen beschäftigen müssen, die entweder allzu dunkel oder allzu deutlich sind. Das ganze Gedicht wird ein Zusammenhang von kleinen Kunstgriffen werden, durch die man weiter nichts als eine kurze Überraschung hervorzubringen vermag. Ist hingegen alles, was die Personen angeht, bekannt: so sehe ich in dieser Voraussetzung die Quelle der allerheftigsten Bewegungen. – Warum haben gewisse Monologen eine so große Wirkung? Darum, weil sie mir die geheimen Anschläge einer Person vertrauen, und diese Vertraulichkeit mich den Augenblick mit Furcht oder Hoffnung erfüllet. – Wenn der Zustand der Personen unbekannt ist, so kann sich der Zuschauer für die Handlung nicht stärker interessieren, als die Personen. Das Interesse aber wird sich für den Zuschauer verdoppeln, wenn er Licht genug hat, und es fühlet, daß Handlung und Reden ganz anders sein würden, wenn sich die Personen kennten. Alsdenn nur werde ich es kaum erwarten können, was aus ihnen werden wird, wenn ich das, was sie wirklich sind, mit dem, was sie tun oder tun wollen, vergleichen kann.«

Dieses auf den Aegisth angewendet, ist es klar, für welchen von beiden Planen sich Diderot erklären würde: ob für den alten des Euripides, wo die Zuschauer gleich vom Anfange den Aegisth eben so gut kennen, als er sich selbst; oder für den neuern des Maffei, den Voltaire so blindlings angenommen, wo Aegisth sich und den Zuschauern ein Rätsel ist, und dadurch das ganze Stück »zu einem Zusammenhange von kleinen Kunstgriffen« macht die weiter nichts als eine kurze Überraschung hervorbringen.

Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, seine Gedanken über die Entbehrlichkeit und Geringfügigkeit aller ungewissen Erwartungen und plötzlichen Überraschungen, die sich auf den Zuschauer beziehen, für eben so neu als gegründet auszugeben. Sie sind neu, in Ansehung ihrer Abstraktion, aber sehr alt in Ansehung der Muster, aus welchen sie abstrahieret [454] worden. Sie sind neu, in Betrachtung, daß seine Vorgänger nur immer auf das Gegenteil gedrungen; aber unter diese Vorgänger gehört weder Aristoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts entfahren ist, was ihre Ausleger und Nachfolger in ihrer Prädilection für dieses Gegenteil hätte bestärken können, dessen gute Wirkung sie weder den meisten noch den besten Stücken der Alten abgesehen hatten.

Unter diesen war besonders Euripides seiner Sache so gewiß, daß er fast immer den Zuschauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er sie führen wollte. Ja, ich wäre sehr geneigt, aus diesem Gesichtspunkte die Verteidigung seiner Prologen zu übernehmen, die den neuern Kriticis so sehr mißfallen. »Nicht genug, sagt Hedelin, daß er meistenteils alles, was vor der Handlung des Stücks vorhergegangen, durch eine von seinen Hauptpersonen den Zuhörern geradezu erzählen läßt, um ihnen auf diese Weise das Folgende verständlich zu machen: er nimmt auch wohl öfters einen Gott dazu, von dem wir annehmen müssen, daß er alles weiß, und durch den er nicht allein was geschehen ist, sondern auch alles, was noch geschehen soll, uns kund macht. Wir erfahren sonach gleich Anfangs die Entwicklung und die ganze Katastrophe, und sehen jeden Zufall schon von weiten kommen. Dieses aber ist ein sehr merklicher Fehler, welcher der Ungewißheit und Erwartung, die auf dem Theater beständig herrschen sollen, gänzlich zuwider ist, und alle Annehmlichkeiten des Stückes vernichtet, die fast einzig und allein auf der Neuheit und Überraschung beruhen.« 46 Nein: der tragischste von allen tragischen Dichtern dachte so geringschätzig von seiner Kunst nicht; er wußte, daß sie einer weit höhern Vollkommenheit fähig wäre, und daß die Ergetzung einer kindischen Neugierde das geringste sei, worauf sie Anspruch mache. Er ließ seine Zuhörer also, ohne Bedenken, von der bevorstehenden Handlung eben so viel wissen, als nur immer ein Gott davon wissen konnte; und versprach sich die Rührung, die er hervorbringen wollte, nicht sowohl von dem, was geschehen sollte, als von der Art, wie [455] es geschehen sollte. Folglich müßte den Kunstrichtern hier eigentlich weiter nichts anstößig sein, als nur dieses, daß er uns die nötige Kenntis des Vergangnen und des Zukünftigen nicht durch einen feinern Kunstgriff beizubringen gesucht; daß er ein höheres Wesen, welches wohl noch dazu an der Handlung keinen Anteil nimmt, dazu gebrauchet; und daß er dieses höhere Wesen sich geradezu an die Zuschauer wenden lassen, wodurch die dramatische Gattung mit der erzählenden vermischt werde. Wenn sie aber ihren Tadel sodann bloß hierauf einschränkten, was wäre denn ihr Tadel? Ist uns das Nützliche und Notwendige niemals willkommen, als wenn es uns verstohlner Weise zugeschanzt wird? Gibt es nicht Dinge, besonders in der Zukunft, die durchaus niemand anders als ein Gott wissen kann? Und wenn das Interesse auf solchen Dingen beruht, ist es nicht besser, daß wir sie durch die Darzwischenkunft eines Gottes vorher erfahren, als gar nicht? Was will man endlich mit der Vermischung der Gattungen überhaupt? In den Lehrbüchern sondre man sie so genau von einander ab, als möglich; aber wenn ein Genie, höherer Absichten wegen, mehrere derselben in einem und eben demselben Werke zusammenfließen läßt, so vergesse man das Lehrbuch, und untersuche bloß, ob es diese höhere Absichten erreicht hat. Was geht mich es an, ob so ein Stück des Euripides weder ganz Erzählung, noch ganz Drama ist? Nennt es immerhin einen Zwitter; genug, daß mich dieser Zwitter mehr vergnügt, mehr erbauet, als die gesetzmäßigsten Geburten eurer korrekten Racinen, oder wie sie sonst heißen. Weil der Maulesel weder Pferd noch Esel ist, ist er darum weniger eines von den nutzbarsten lasttragenden Tieren?-

Neun und vierzigstes Stück

Den 16ten Oktober, 1767


Mit einem Worte; wo die Tadler des Euripides nichts als den Dichter zu sehen glauben, der sich aus Unvermögen, oder aus Gemächlichkeit, oder aus beiden Ursachen, seine [456] Arbeit so leicht machte, als möglich; wo sie die dramatische Kunst in ihrer Wiege zu finden vermeinen: da glaube ich diese in ihrer Vollkommenheit zu sehen, und bewundere in jenem den Meister, der im Grunde eben so regelmäßig ist, als sie ihn zu sein verlangen, und es nur dadurch weniger zu sein scheinet, weil er seinen Stücken eine Schönheit mehr erteilen wollen, von der sie keinen Begriff haben.

Denn es ist klar, daß alle die Stücke, deren Prologe ihnen so viel Ärgernis machen, auch ohne diese Prologe, vollkommen ganz, und vollkommen verständlich sind. Streichet z. E. vor dem Jon den Prolog des Merkurs, vor der Hekuba den Prolog des Polydors weg; laßt jenen sogleich mit der Morgenandacht des Jon, und diese mit den Klagen der Hekuba anfangen: sind beide darum im geringsten verstümmelt? Woher würdet ihr, was ihr weggestrichen habt, vermissen, wenn es gar nicht da wäre? Behält nicht alles den nämlichen Gang, den nämlichen Zusammenhang? Bekennet sogar, daß die Stücke, nach eurer Art zu denken, desto schöner sein würden, wenn wir aus den Prologen nicht wüßten, daß der Jon, welchen Kreusa will vergiften lassen, der Sohn dieser Kreusa ist; daß die Kreusa, welche Jon von dem Altar zu einem schmählichen Tode reißen will, die Mutter dieses Jon ist; wenn wir nicht wüßten, daß an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum Opfer hingeben muß, die alte unglückliche Frau auch den Tod ihres letzten einzigen Sohnes erfahren solle. Denn alles dieses würde die trefflichsten Überraschungen geben, und diese Überraschungen würden noch dazu vorbereitet genug sein: ohne daß ihr sagen könntet, sie brächen auf einmal gleich einem Blitze aus der hellesten Wolke hervor; sie erfolgten nicht, sondern sie entstünden; man wolle euch, nicht auf einmal etwas entdecken, sondern etwas aufheften. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Mangel der Kunst vor? Vergebt ihm doch immer einen Fehler, der mit einem einzigen Striche der Feder gut zu machen ist. Einen wollüstigen Schößling schneidet der Gärtner in der Stille ab, ohne auf den gesunden Baum zu schelten, der ihn getrieben hat. Wollt ihr aber einen Augenblick annehmen, – es ist wahr, es heißt[457] sehr viel annehmen, – daß Euripides vielleicht eben so viel Einsicht, eben so viel Geschmack könne gehabt haben, als ihr; und es wundert euch um so viel mehr, wie er bei dieser großen Einsicht, bei diesem feinen Geschmacke, dennoch einen so groben Fehler begehen können: so tretet zu mir her, und betrachtet, was ihr Fehler nennt, aus meinem Standorte. Euripides sahe es so gut, als wir, daß z. E. sein Jon ohne den Prolog bestehen könne; daß er, ohne denselben, ein Stück sei, welches die Ungewißheit und Erwartung des Zuschauers, bis an das Ende unterhalte: aber eben an dieser Ungewißheit und Erwartung war ihm nichts gelegen. Denn erfuhr es der Zuschauer erst in dem fünften Akte, daß Jon der Sohn der Kreusa sei: so ist es für ihn nicht ihr Sohn, sondern ein Fremder, ein Feind, den sie in dem dritten Akte aus dem Wege räumen will; so ist es für ihn nicht die Mutter des Jon, an welcher sich Jon in dem vierten Akte rächen will, sondern bloß die Meuchelmörderin. Wo sollten aber alsdenn Schrecken und Mitleid herkommen? Die bloße Vermutung, die sich etwa aus übereintreffenden Umständen hätte ziehen lassen, daß Jon und Kreusa einander wohl näher angehen könnten, als sie meinen, würde dazu nicht hinreichend gewesen sein. Diese Vermutung mußte zur Gewißheit werden; und wenn der Zuhörer diese Gewißheit nur von außen erhalten konnte, wenn es nicht möglich war, daß er sie einer von den handelnden Personen selbst zu danken haben konnte: war es nicht immer besser, daß der Dichter sie ihm auf die einzige mögliche Weise erteilte, als gar nicht? Sagt von dieser Weise, was ihr wollt: genug, sie hat ihn sein Ziel erreichen helfen; seine Tragödie ist dadurch, was eine Tragödie sein soll; und wenn ihr noch unwillig seid, daß er die Form dem Wesen nachgesetzet hat, so versorge euch eure gelehrte Kritik mit nichts als Stücken, wo das Wesen der Form aufgeopfert ist, und ihr seid belohnt! Immerhin gefalle euch Whiteheads Kreusa, wo euch kein Gott etwas voraussagt, wo ihr alles von einem alten plauderhaften Vertrauten erfahrt, den eine verschlagne Zigeunerin ausfragt, immerhin gefalle sie euch besser, als des Euripides Jon: und ich werde euch nie beneiden!

[458] Wenn Aristoteles den Euripides den tragischsten von allen tragischen Dichtern nennet, so sahe er nicht bloß darauf, daß die meisten seiner Stücke eine unglückliche Katastrophe haben; ob ich schon weiß, daß viele den Stagyriten so verstehen. Denn das Kunststück wäre ihm ja wohl bald abgelernt; und der Stümper, der brav würgen und morden, und keine von seinen Personen gesund oder lebendig von der Bühne kommen ließe, würde sich eben so tragisch dünken dürfen, als Euripides. Aristoteles hatte unstreitig mehrere Eigenschaften im Sinne, welchen zu Folge er ihm diesen Charakter erteilte; und ohne Zweifel, daß die eben berührte mit dazu gehörte, vermöge der er nämlich den Zuschauern alle das Unglück, welches seine Personen überraschen sollte, lange vorher zeigte, um die Zuschauer auch dann schon mit Mitleiden für die Personen einzunehmen, wenn diese Personen selbst sich noch weit entfernt glaubten, Mitleid zu verdienen. – Sokrates war der Lehrer und Freund des Euripides; und wie mancher dürfte der Meinung sein, daß der Dichter dieser Freundschaft des Philosophen weiter nichts zu danken habe, als den Reichtum von schönen Sittensprüchen, den er so verschwendrisch in seinen Stücken ausstreuet. Ich denke, daß er ihr weit mehr schuldig war; er hätte, ohne sie, eben so spruchreich sein können; aber vielleicht würde er, ohne sie, nicht so tragisch geworden sein. Schöne Sentenzen und Moralen sind überhaupt gerade das, was wir von einem Philosophen, wie Sokrates, am seltensten hören; sein Lebenswandel ist die einzige Moral, die er prediget. Aber den Menschen, und uns selbst kennen; auf unsere Empfindungen aufmerksam sein; in allen die ebensten und kürzesten Wege der Natur ausforschen und lieben; jedes Ding nach seiner Absicht beurteilen: das ist es, was wir in seinem Umgange lernen; das ist es, was Euripides von dem Sokrates lernte, und was ihn zu dem Ersten in seiner Kunst machte. Glücklich der Dichter, der so einen Freund hat, – und ihn alle Tage, alle Stunden zu Rate ziehen kann! –

Auch Voltaire scheinet es empfunden zu haben, daß es gut sein würde, wenn er uns mit dem Sohne der Merope gleich Anfangs bekannt machte; wenn er uns mit der Überzeugung, [459] daß der liebenswürdige unglückliche Jüngling, den Merope erst in Schutz nimmt, und den sie bald darauf als den Mörder ihres Aegisths hinrichten will, der nämliche Aegisth sei, sofort könne aussetzen lassen. Aber der Jüngling kennt sich selbst nicht; auch ist sonst niemand da, der ihn besser kennte, und durch den wir ihn könnten kennen lernen. Was tut also der Dichter? Wie fängt er es an, daß wir es gewiß wissen, Merope erhebe den Dolch gegen ihren eignen Sohn, noch ehe es ihr der alte Narbas zuruft? – O, das fängt er sehr sinnreich an! Auf so einen Kunstgriff konnte sich nur ein Voltaire besinnen! – Er läßt, sobald der unbekannte Jüngling auftritt, über das erste, was er sagt, mit großen, schönen, leserlichen Buchstaben, den ganzen, vollen Namen, Aegisth, setzen; und so weiter über jede seiner folgenden Reden. Nun wissen wir es; Merope hat in dem Vorhergehenden ihren Sohn schon mehr wie einmal bei diesem Namen genannt; und wenn sie das auch nicht getan hätte, so dürften wir ja nur das vorgedruckte Verzeichnis der Personen nachsehen; da steht es lang und breit! Freilich ist es ein wenig lächerlich, wenn die Person, über deren Reden wir nun schon zehnmal den Namen Aegisth gelesen haben, auf die Frage:


– – – Narbas vous est connu?
Le nom d'Egiste au moins jusqu' à vous est venu?
Quel était votre état, votre rang, votre père?
antwortet:
Mon père est un vieillard accablé de misère;
Policlete est son nom; mais Egiste, Narbas,
Ceux dont vous me parlez, je ne les connais pas.

Freilich ist es sehr sonderbar, daß wir von diesem Aegisth, der nicht Aegisth heißt, auch keinen andern Namen hören; daß, da er der Königin antwortet, sein Vater heiße Polyklet, er nicht auch hinzusetzt, er heiße so und so. Denn einen Namen muß er doch haben; und den hätte der Herr von Voltaire ja wohl schon mit erfinden können, da er so viel erfunden hat! Leser, die den Rummel einer Tragödie nicht [460] recht gut verstehen, können leicht darüber irre werden. Sie lesen, daß hier ein Bursche gebracht wird, der auf der Landstraße einen Mord begangen hat; dieser Bursche, sehen sie, heißt Aegisth, aber er sagt, er heiße nicht so, und sagt doch auch nicht, wie er heiße: o, mit dem Burschen, schließen sie, ist es nicht richtig; das ist ein abgefäumter Straßenräuber, so jung er ist, so unschuldig er sich stellt. So, sage ich, sind unerfahrne Leser zu denken in Gefahr; und doch glaube ich in allem Ernste, daß es für die erfahrnen Leser besser ist, auch so, gleich Anfangs, zu erfahren, wer der unbekannte Jüngling ist, als gar nicht. Nur daß man mir nicht sage, daß diese Art sie davon zu unterrichten, im geringsten künstlicher und feiner sei, als ein Prolog, im Geschmacke des Euripides! –

Funfzigstes Stück

Den 20ten Oktober, 1767


Bei dem Maffei hat der Jüngling seine zwei Namen, wie es sich gehört; Aegisth heißt er, als der Sohn des Polydor, und Kresphont, als der Sohn der Merope. In dem Verzeichnisse der handelnden Personen wird er auch nur unter jenem eingeführt; und Becelli rechnet es seiner Ausgabe des Stücks als kein geringes Verdienst an, daß dieses Verzeichnis den wahren Stand des Aegisth nicht voraus verrate. 47 Das ist, die Italiener sind von den Überraschungen noch größere Liebhaber, als die Franzosen. –

Aber noch immer Merope! – Wahrlich, ich betaure meine Leser, die sich an diesem Blatte eine theatralische Zeitung versprochen haben, so mancherlei und bunt, so unterhaltend und schnurrig, als eine theatralische Zeitung nur sein kann. Anstatt des Inhalts der hier gangbaren Stücke, in kleine lustige [461] oder rührende Romane gebracht; anstatt beiläufiger Lebensbeschreibungen drolliger, sonderbarer, närrischer Geschöpfe, wie die doch wohl sein müssen, die sich mit Komödienschreiben abgeben; anstatt kurzweiliger, auch wohl ein wenig skandalöser Anekdoten von Schauspielern und besonders Schauspielerinnen: anstatt aller dieser artigen Sächelchen, die sie erwarteten, bekommen sie lange, ernsthafte, trockne Kritiken über alte bekannte Stücke; schwerfällige Untersuchungen über das, was in einer Tragödie sein sollte und nicht sein sollte; mit unter wohl gar Erklärungen des Aristoteles. Und das sollen sie lesen? Wie gesagt, ich betauere sie; sie sind gewaltig angeführt! – Doch im Vertrauen: besser, daß sie es sind, als ich. Und ich würde es sehr sein, wenn ich mir ihre Erwartungen zum Gesetze machen müßte. Nicht daß ihre Erwartungen sehr schwer zu erfüllen wären; wirklich nicht; ich würde sie vielmehr sehr bequem finden, wenn sie sich mit meinen Absichten nur besser vertragen wollten.

Über die Merope indes muß ich freilich einmal wegzukommen suchen. – Ich wollte eigentlich nur erweisen, daß die Merope des Voltaire im Grunde nichts als die Merope des Maffei sei; und ich meine, dieses habe ich erwiesen. Nicht ebenderselbe Stoff, sagt Aristoteles, sondern ebendieselbe Verwicklung und Auflösung machen, daß zwei oder mehrere Stücke für ebendieselben Stücke zu halten sind. Also, nicht weil Voltaire mit dem Maffei einerlei Geschichte behandelt hat, sondern weil er sie mit ihm auf ebendieselbe Art behandelt hat, ist er hier für weiter nichts, als für den Übersetzer und Nachahmer desselben zu erklären. Maffei hat die Merope des Euripides nicht bloß wieder hergestellet; er hat eine eigene Merope gemacht: denn er ging völlig von dem Plane des Euripides ab; und in dem Vorsatze ein Stück ohne Galanterie zu machen, in welchem das ganze Interesse bloß aus der mütterlichen Zärtlichkeit entspringe, schuf er die ganze Fabel um; gut, oder übel, das ist hier die Frage nicht; genug, er schuf sie doch um. Voltaire aber entlehnte von Maffei die ganze so umgeschaffene Fabel; er entlehnte von ihm, daß Merope mit dem Polyphont nicht vermählt ist; er entlehnte von ihm die politischen Ursachen, aus welchen [462] der Tyrann, nun erst, nach funfzehn Jahren, auf diese Vermählung dringen zu müssen glaubet; er entlehnte von ihm, daß der Sohn der Merope sich selbst nicht kennet; er entlehnte von ihm, wie und warum dieser von seinem vermeinten Vater entkömmt; er entlehnte von ihm den Vorfall, der den Aegisth als einen Mörder nach Messene bringt; er entlehnte von ihm die Mißdeutung, durch die er für den Mörder seiner selbst gehalten wird; er entlehnte von ihm die dunkeln Regungen der mütterlichen Liebe, wenn Merope den Aegisth zum erstenmale erblickt; er entlehnte von ihm den Vorwand, warum Aegisth vor Meropens Augen, von ihren eignen Händen sterben soll, die Entdeckung seiner Mitschuldigen: mit einem Worte, Voltaire entlehnte vom Maffei die ganze Verwicklung. Und hat er nicht auch die ganze Auflösung von ihm entlehnt, indem er das Opfer, bei welchem Polyphont umgebracht werden sollte, von ihm mit der Handlung verbinden lernte? Maffei machte es zu einer hochzeitlichen Feier, und vielleicht, daß er, bloß darum, seinen Tyrannen itzt erst auf die Verbindung mit Meropen fallen ließ, um dieses Opfer desto natürlicher anzubringen. Was Maffei erfand, tat Voltaire nach.

Es ist wahr, Voltaire gab verschiedenen von den Umständen, die er vom Maffei entlehnte, eine andere Wendung. Z. E. Anstatt daß, beim Maffei, Polyphont bereits funfzehn Jahre regieret hat, läßt er die Unruhen in Messene ganzer funfzehn Jahre dauern, und den Staat so lange in der unwahrscheinlichsten Anarchie verharren. Anstatt daß, beim Maffei, Aegisth von einem Räuber auf der Straße angefallen wird, läßt er ihn in einem Tempel des Herkules von zwei Unbekannten überfallen werden, die es ihm übel nehmen, daß er den Herkules für die Herakliden, den Gott des Tempels für die Nachkommen desselben, anfleht. Anstatt daß, beim Maffei, Aegisth durch einen Ring in Verdacht gerät, läßt Voltaire diesen Verdacht durch eine Rüstung entstehen, u.s.w. Aber alle diese Veränderungen betreffen die unerheblichsten Kleinigkeiten, die fast alle außer dem Stücke sind, und auf die Ökonomie des Stückes selbst keinen Einfluß haben. Und doch wollte ich sie Voltairen noch gern als Äußerungen seines [463] schöpferischen Genies anrechnen, wenn ich nur fände, daß er das, was er ändern zu müssen vermeinte, in allen seinen Folgen zu ändern verstanden hätte. Ich will mich an dem mittelsten von den angeführten Beispielen erklären. Maffei läßt seinen Aegisth von einem Räuber angefallen werden, der den Augenblick abpaßt, da er sich mit ihm auf dem Wege allein sieht, ohnfern einer Brücke über die Pamise; Aegisth erlegt den Räuber, und wirft den Körper in den Fluß, aus Furcht, wenn der Körper auf der Straße gefunden würde, daß man den Mörder verfolgen und ihn dafür erkennen dürfte. Ein Räuber, dachte Voltaire, der einem Prinzen den Rock ausziehen und den Beutel nehmen will, ist für mein feines, edles Parterr ein viel zu niedriges Bild; besser, aus Aegisth als einem Anhänger der Herakliden zu Leibe will diesem Räuber einen Mißvergnügten gemacht, der dem Und warum nur einen? Lieber zwei; so ist die Heldentat des Aegisths desto größer, und der, welcher von diesen zweien entrinnt, wenn er zu dem ältrern gemacht wird, kann hernach für den Narbas genommen werden. Recht gut, mein lieber Johann Ballhorn; aber nun weiter. Wenn Aegisth den einen von diesen Mißvergnügten erlegt hat, was tut er alsdenn? Er trägt den toten Körper auch ins Wasser. Auch? Aber wie denn? warum denn? Von der leeren Landstraße in den nahen Fluß; das ist ganz begreiflich: aber aus dem Tempel in den Fluß, dieses auch? War denn außer ihnen niemand in diesem Tempel? Es sei so; auch ist das die größte Ungereimtheit noch nicht. Das Wie ließe sich noch denken: aber das Warum gar nicht. Maffeis Aegisth trägt den Körper in den Fluß, weil er sonst verfolgt und erkannt zu werden fürchtet; weil er glaubt, wenn der Körper bei Seite geschafft sei, daß sodann nichts seine Tat verraten könne; daß diese sodann, mit samt dem Körper, in der Flut begraben sei. Aber kann das Voltairens Aegisth auch glauben? Nimmermehr; oder der zweite hätte nicht entkommen müssen. Wird sich dieser begnügen, sein Leben davon getragen zu haben? Wird er ihn nicht, wenn er auch noch so furchtsam ist, von weiten beobachten? Wird er ihn nicht mit seinem Geschrei verfolgen, bis ihn andere festhalten? Wird er ihn nicht anklagen, und wider [464] ihn zeugen? Was hilft es dem Mörder also, das Corpus delicti weggebracht zu haben? Hier ist ein Zeuge, welcher es nachweisen kann. Diese vergebene Mühe hätte er sparen, und dafür eilen sollen, je eher je lieber über die Grenze zu kommen. Freilich mußte der Körper, des Folgenden wegen, ins Wasser geworfen werden; es war Voltairen eben so nötig als dem Maffei, daß Merope nicht durch die Besichtigung desselben aus ihrem Irrtume gerissen werden konnte; nur daß, was bei diesem Aegisth sich selber zum Besten tut, er bei jenem bloß dem Dichter zu gefallen tun muß. Denn Voltaire korrigierte die Ursache weg, ohne zu überlegen, daß er die Wirkung dieser Ursache brauche, die nunmehr von nichts, als von seiner Bedürfnis abhängt.

Eine einzige Veränderung, die Voltaire in dem Plane des Maffei gemacht hat, verdient den Namen einer Verbesserung. Die nämlich, durch welche er den wiederholten Versuch der Merope, sich an dem vermeinten Mörder ihres Sohnes zu rächen, unterdrückt, und dafür die Erkennung von Seiten des Aegisth, in Gegenwart des Polyphonts, geschehen läßt. Hier erkenne ich den Dichter, und besonders ist die zweite Szene des vierten Akts ganz vortrefflich. Ich wünschte nur, daß die Erkennung überhaupt, die in der vierten Szene des dritten Akts von beiden Seiten erfolgen zu müssen das Ansehen hat, mit mehrerer Kunst hätte geteilet werden können. Denn daß Aegisth mit einmal von dem Eurikles weggeführet wird, und die Vertiefung sich hinter ihm schließt, ist ein sehr gewaltsames Mittel. Es ist nicht ein Haar besser, als die übereilte Flucht, mit der sich Aegisth bei dem Maffei rettet, und über die Voltaire seinen Lindelle so spotten läßt. Oder vielmehr, diese Flucht ist um vieles natürlicher; wenn der Dichter nur hernach Sohn und Mutter einmal zusammen gebracht, und uns nicht gänzlich die ersten rührenden Ausbrüche ihrer beiderseitigen Empfindungen gegen einander, vorenthalten hätte. Vielleicht würde Voltaire die Erkennung überhaupt nicht geteilet haben, wenn er seine Materie nicht hätte dehnen müssen, um fünf Akte damit vollzumachen. Er jammert mehr als einmal über cette longue carrière de cinq actes qui est prodigieusement [465] difficile à remplir sans episodes – Und nun für diesesmal genug von der Merope!

Ein und funfzigstes Stück

Den 23sten Oktober, 1767


Den neun und dreißigsten Abend (Mittewochs, den 8ten Julius,) wurden der verheiratete Philosoph und die neue Agnese, wiederholt. 48

Chevrier sagt, 49 daß Destouches sein Stück aus einem Lustspiele des Campistron geschöpft habe, und daß, wenn dieser nicht seinen Jaloux desabusé geschrieben hätte, wir wohl schwerlich einen verheirateten Philosophen haben würden. Die Komödie des Campistron ist unter uns wenig bekannt; ich wüßte nicht, daß sie auf irgend einem deutschen Theater wäre gespielt worden; auch ist keine Übersetzung davon vorhanden. Man dürfte also vielleicht um so viel lieber wissen wollen, was eigentlich an dem Vorgeben des Chevrier sei.

Die Fabel des Campistronschen Stücks ist kurz diese: Ein Bruder hat das ansehnliche Vermögen seiner Schwester in Händen, und um dieses nicht herausgeben zu dürfen, möchte er sie lieber gar nicht verheiraten. Aber die Frau dieses Bruders denkt besser, oder wenigstens anders, und um ihren Mann zu vermögen, seine Schwester zu versorgen, sucht sie ihn auf alle Weise eifersüchtig zu machen, indem sie verschiedne junge Mannspersonen sehr gütig aufnimmt, die alle Tage unter dem Vorwande, sich um ihre Schwägerin zu bewerben, zu ihr ins Haus kommen. Die List gelingt; der Mann wird eifersüchtig; und williget endlich, um seiner Frau den vermeinten Vorwand, ihre Anbeter um sich zu haben, zu benehmen, in die Verbindung seiner Schwester mit Clitandern, einem Anverwandten seiner Frau, dem zu gefallen sie die Rolle der Coquette gespielt hatte. Der Mann [466] sieht sich berückt, ist aber sehr zufrieden, weil er zugleich von dem Ungrunde seiner Eifersucht überzeugt wird.

Was hat diese Fabel mit der Fabel des verheirateten Philosophen ähnliches? Die Fabel nicht das geringste. Aber hier ist eine Stelle aus dem zweiten Akte des Campistronschen Stücks, zwischen Dorante, so heißt der Eifersüchtige, und Dubois, seinem Sekretär. Diese wird gleich zeigen, was Chevrier gemeinet hat.


DUBOIS. Und was fehlt Ihnen denn?

DORANTE. Ich bin verdrüßlich, ärgerlich; alle meine ehemalige Heiterkeit ist weg; alle meine Freude hat ein Ende. Der Himmel hat mir einen Tyrannen, einen Henker gegeben, der nicht aufhören wird, mich zu martern, zu peinigen –

DUBOIS. Und wer ist denn dieser Tyrann, dieser Henker?

DORANTE. Meine Frau.

DUBOIS. Ihre Frau, mein Herr?

DORANTE. Ja, meine Frau, meine Frau. – Sie bringt mich zur Verzweiflung.

DUBOIS. Hassen Sie sie denn?

DORANTE. Wollte Gott! So wäre ich ruhig. – Aber ich liebe sie, und liebe sie so sehr – Verwünschte Qual!

DUBOIS. Sie sind doch wohl nicht eifersüchtig?

DORANTE. Bis zur Raserei.

DUBOIS. Wie? Sie, mein Herr? Sie eifersüchtig? Sie, der Sie von je her über alles, was Eifersucht heißt, –

DORANTE. Gelacht, und gespottet. Desto schlimmer bin ich nun daran! Ich Geck, mich von den elenden Sitten der großen Welt so hinreißen zu lassen! In das Geschrei der Narren einzustimmen, die sich über die Ordnung und Zucht unserer ehrlichen Vorfahren so lustig machen! Und ich stimmte nicht bloß ein; es währte nicht lange, so gab ich den Ton. Um Witz, um Lebensart zu zeigen, was für albernes Zeug habe ich nicht gesprochen! Eheliche Treue, beständige Liebe, pfui, wie schmeckt das nach dem kleinstädtischen Bürger! Der Mann, der seiner Frau nicht allen Willen läßt, ist ein Bär! Der es ihr übel nimmt, wenn sie [467] auch andern gefällt und zu gefallen sucht, gehört ins Tollhaus. So sprach ich, und mich hätte man da sollen ins Tollhaus schicken. –

DUBOIS. Aber warum sprachen Sie so?

DORANTE. Hörst du nicht? Weil ich ein Geck war, und glaubte, es ließe noch so galant und weise. – Inzwischen wollte mich meine Familie verheiratet wissen. Sie schlugen mir ein junges, unschuldiges Mädchen vor; und ich nahm es. Mit der, dachte ich, soll es gute Wege haben; die soll in meiner Denkungsart nicht viel ändern; ich liebe sie itzt nicht besonders, und der Besitz wird mich noch gleichgültiger gegen sie machen. Aber wie sehr habe ich mich betrogen! Sie ward täglich schöner, täglich reizender. Ich sah es und entbrannte, und entbrannte je mehr und mehr; und itzt bin ich so verliebt, so verliebt in sie –

DUBOIS. Nun, das nenne ich gefangen werden!

DORANTE. Denn ich bin so eifersüchtig! – Daß ich mich schäme, es auch nur dir zu bekennen. – Alle meine Freunde sind mir zuwider – und verdächtig; die ich sonst nicht ofte genug um mich haben konnte, sehe ich itzt lieber gehen als kommen. Was haben sie auch in meinem Hause zu suchen? Was wollen die Müßiggänger? Wozu alle die Schmeicheleien, die sie meiner Frau machen? Der eine lobt ihren Verstand; der andere erhebt ihr gefälliges Wesen bis in den Himmel. Den entzücken ihre himmlischen Augen, und den ihre schönen Zähne. Alle finden sie höchst reizend, höchst anbetenswürdig; und immer schließt sich ihr verdammtes Geschwätze mit der verwünschten Betrachtung, was für ein glücklicher, was für ein beneidenswürdiger Mann ich bin.

DUBOIS. Ja, ja, es ist wahr, so geht es zu.

DORANTE. O, sie treiben ihre unverschämte Kühnheit wohl noch weiter! Kaum ist sie aus dem Bette, so sind sie um ihre Toilette. Da solltest du erst sehen und hören! Jeder will da seine Aufmerksamkeit und seinen Witz mit dem andern um die Wette zeigen. Ein abgeschmackter Einfall jagt den andern, eine boshafte Spötterei die andere, ein kützelndes Histörchen das andere. Und das alles mit Zeichen, [468] mit Mienen, mit Liebäugeleien, die meine Frau so leutselig annimmt, so verbindlich erwidert, daß – daß mich der Schlag oft rühren möchte! Kannst du glauben, Dubois? ich muß es wohl mit ansehen, daß sie ihr die Hand küssen.

DUBOIS. Das ist arg!

DORANTE. Gleichwohl darf ich nicht muchsen. Denn was würde die Welt dazu sagen? Wie lächerlich würde ich mich machen, wenn ich meinen Verdruß auslassen wollte? Die Kinder auf der Straße würden mit Fingern auf mich weisen. Alle Tage würde ein Epigramm, ein Gassenhauer auf mich zum Vorscheine kommen u.s.w.


Diese Situation muß es sein, in welcher Chevrier das Ähnliche mit dem verheirateten Philosophen gefunden hat. So wie der Eifersüchtige des Campistron sich schämet, seine Eifersucht auszulassen, weil er sich ehedem über diese Schwachheit allzulustig gemacht hat: so schämt sich auch der Philosoph des Destouches, seine Heirat bekannt zu machen, weil er ehedem über alle ernsthafte Liebe gespottet, und den ehelosen Stand für den einzigen erklärt hatte, der einem freien und weisen Manne anständig sei. Es kann auch nicht fehlen, daß diese ähnliche Scham sie nicht beide in mancherlei ähnliche Verlegenheiten bringen sollte. So ist, z. E., die, in welcher sich Dorante beim Campistron siehet, wenn er von seiner Frau verlangt, ihm die überlästigen Besucher von Halse zu schaffen, diese aber ihn bedeutet, daß das eine Sache sei, die er selbst bewerkstelligen müsse, fast die nämliche mit der bei dem Destouches, in welcher sich Arist befindet, wenn er es selbst dem Marquis sagen soll, daß er sich auf Meliten keine Rechnung machen könne. Auch leidet dort der Eifersüchtige, wenn seine Freunde in seiner Gegenwart über die Eifersüchtigen spotten, und er selbst sein Wort dazu geben muß, ungefähr auf gleiche Weise, als hier der Philosoph, wenn er sich muß sagen lassen, daß er ohne Zweifel viel zu klug und vorsichtig sei, als daß er sich zu so einer Torheit, wie das Heiraten, sollte haben verleiten lassen.

[469] Dem ohngeachtet aber sehe ich nicht, warum Destouches bei seinem Stücke notwendig das Stück des Campistron vor Augen gehabt haben müßte; und mir ist es ganz begreiflich, daß wir jenes haben könnten, wenn dieses auch nicht vorhanden wäre. Die verschiedensten Charaktere können in ähnliche Situationen geraten; und da in der Komödie die Charaktere das Hauptwerk, die Situationen aber nur die Mittel sind, jene sich äußern zu lassen, und ins Spiel zu setzen: so muß man nicht die Situationen, sondern die Charaktere in Betrachtung ziehen, wenn man bestimmen will, ob ein Stück Original oder Kopie genennt zu werden verdiene. Umgekehrt ist es in der Tragödie, wo die Charaktere weniger wesentlich sind, und Schrecken und Mitleid vornehmlich aus den Situationen entspringt. Ähnliche Situationen geben also ähnliche Tragödien, aber nicht ähnliche Komödien. Hingegen geben ähnliche Charaktere ähnliche Komödien, anstatt daß sie in den Tragödien fast gar nicht in Erwägung kommen.

Der Sohn unsers Dichters, welcher die prächtige Ausgabe der Werke seines Vaters besorgt hat, die vor einigen Jahren in vier Quartbänden aus der Königlichen Druckerei zu Paris erschien, meldet uns, in der Vorrede zu dieser Ausgabe, eine besondere dieses Stück betreffende Anekdote. Der Dichter nämlich habe sich in England verheiratet, und aus gewissen Ursachen seine Verbindung geheim halten müssen. Eine Person aus der Familie seiner Frau aber habe das Geheimnis früher ausgeplaudert, als ihm lieb gewesen; und dieses habe Gelegenheit zu dem verheirateten Philosophen gegeben. Wenn dieses wahr ist, – und warum sollten wir es seinem Sohne nicht glauben? – so dürfte die vermeinte Nachahmung des Campistron um so eher wegfallen.

[470]
Zwei und funfzigstes Stück

Den 27sten Oktober, 1767


Den vierzigsten Abend (Donnerstags, den 9ten Julius,) ward Schlegels Triumph der guten Frauen, aufgeführet.

Dieses Lustspiel ist unstreitig eines der besten deutschen Originale. Es war, so viel ich weiß, das letzte komische Werk des Dichters, das seine frühern Geschwister unendlich übertrifft, und von der Reife seines Urhebers zeiget. Der geschäftige Müßiggänger war der erste jugendliche Versuch, und fiel aus, wie alle solche jugendliche Versuche ausfallen. Der Witz verzeihe es denen, und räche sich nie an ihnen, die allzuviel Witz darin gefunden haben! Er enthält das kalteste, langweiligste Alltagsgewäsche, das nur immer in dem Hause eines Meißnischen Pelzhändlers vorfallen kann. Ich wüßte nicht, daß er jemals wäre aufgeführt worden, und ich zweifle, daß seine Vorstellung dürfte auszuhalten sein. Der Geheimnisvolle ist um vieles besser; ob es gleich der Geheimnisvolle gar nicht geworden ist, den Moliere in der Stelle geschildert hat, aus welcher Schlegel den Anlaß zu diesem Stücke wollte genommen haben. 50 Molieres Geheimnisvoller ist ein Geck, der sich ein wichtiges Ansehen geben will; Schlegels Geheimnisvoller aber ein gutes ehrliches Schaf, das den Fuchs spielen will, um von den Wölfen nicht gefressen zu werden. Daher kömmt es auch, daß er so viel ähnliches mit dem Charakter des Mißtrauischen hat, den Cronegk hernach auf die Bühne brachte. Beide Charaktere aber, oder vielmehr beide Nuancen des nämlichen Charakters, können nicht anders als in einer so kleinen und armseligen, oder so menschenfeindlichen [471] und häßlichen Seele sich finden, daß ihre Vorstellungen notwendig mehr Mitleiden oder Abscheu erwecken müssen, als Lachen. Der Geheimnisvolle ist wohl sonst hier aufgeführet worden; man versichert mich aber auch durchgängig, und aus der eben gemachten Betrachtung ist mir es sehr begreiflich, daß man ihn läppischer gefunden habe, als lustig.

Der Triumph der guten Frauen hingegen hat, wo er noch aufgeführet worden, und so oft er noch aufgeführet worden, überall und jederzeit, einen sehr vorzüglichen Beifall erhalten; und daß sich dieser Beifall auf wahre Schönheiten gründen müsse, daß er nicht das Werk einer überraschenden blendenden Vorstellung sei, ist daher klar, weil ihn noch niemand, nach Lesung des Stücks, zurückgenommen. Wer es zuerst gelesen, dem gefällt es um so viel mehr, wenn er es spielen sieht: und wer es zuerst spielen gesehen, dem gefällt es um so viel mehr, wenn er es lieset. Auch haben es die strengesten Kunstrichter eben so sehr seinen übrigen Lustspielen, als diese überhaupt dem gewöhnlichen Prasse deutscher Komödien vorgezogen.

»Ich las, sagt einer von ihnen, 51 den geschäftigen Müßiggänger: die Charaktere schienen mir vollkommen nach dem Leben; solche Müßiggänger, solche in ihre Kinder vernarrte Mütter, solche schalwitzige Besuche, und solche dumme Pelzhändler sehen wir alle Tage. So denkt, so lebt, so handelt der Mittelstand unter den Deutschen. Der Dichter hat seine Pflicht getan, er hat uns geschildert, wie wir sind. Allein ich gähnte vor Langeweile. – Ich las darauf den Triumph der guten Frauen. Welcher Unterschied! Hier finde ich Leben in den Charakteren, Feuer in ihren Handlungen, echten Witz in ihren Gesprächen, und den Ton einer feinen Lebensart in ihrem ganzen Umgange.«

Der vornehmste Fehler, den ebenderselbe Kunstrichter daran bemerkt hat, ist der, daß die Charaktere an sich selbst nicht deutsch sind. Und leider, muß man diesen zugestehen. Wir sind aber in unsern Lustspielen schon zu sehr an fremde, [472] und besonders an französische Sitten gewöhnt, als daß er eine besonders üble Wirkung auf uns haben könnte.

»Nikander, heißt es, ist ein französischer Abenteurer, der auf Eroberungen ausgeht, allem Frauenzimmer nachstellt, keinem im Ernste gewogen ist, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit zu stürzen, aller Frauen Verführer und aller Männer Schrecken zu werden sucht, und der bei allem diesen kein schlechtes Herz hat. Die herrschende Verderbnis der Sitten und Grundsätze scheinet ihn mit fortgerissen zu haben. Gottlob! daß ein Deutscher, der so leben will, das verderbteste Herz von der Welt haben muß. – Hilaria, des Nikanders Frau, die er vier Wochen nach der Hochzeit verlassen, und nunmehr in zehn Jahren nicht gesehen hat, kömmt auf den Einfall ihn aufzusuchen. Sie kleidet sich als eine Mannsperson, und folgt ihm, unter dem Namen Philint, in alle Häuser nach, wo er Avanturen sucht. Philint ist witziger, flatterhafter und unverschämter als Nikander. Das Frauenzimmer ist dem Philint mehr gewogen, und sobald er mit seinem frechen aber doch artigen Wesen sich sehen läßt, stehet Nikander da wie verstummt. Dieses gibt Gelegenheit zu sehr lebhaften Situationen. Die Erfindung ist artig, der zweifache Charakter wohl gezeichnet, und glücklich in Bewegung gesetzt; aber das Original zu diesem nachgeahmten Petitmaitre ist gewiß kein Deutscher.«

»Was mir, fährt er fort, sonst an diesem Lustspiele mißfällt, ist der Charakter des Agenors. Den Triumph der guten Frauen vollkommen zu machen, zeigt dieser Agenor den Ehemann von einer gar zu häßlichen Seite. Er tyrannisieret seine unschuldige Juliane auf das unwürdigste, und hat recht seine Lust sie zu quälen. Grämlich, so oft er sich sehen läßt, spöttisch bei den Tränen seiner gekränkten Frau, argwöhnisch bei ihren Liebkosungen, boshaft genug, ihre unschuldigsten Reden und Handlungen durch eine falsche Wendung zu ihrem Nachteile auszulegen, eifersüchtig, hart, unempfindlich, und, wie Sie sich leicht einbilden können, in seiner Frauen Kammermädchen verliebt. – Ein solcher Mann ist gar zu verderbt, als daß wir ihm eine schleunige Besserung zutrauen könnten. Der Dichter gibt ihm eine Nebenrolle, in [473] welcher sich die Falten seines nichtswürdigen Herzens nicht genug entwickeln können. Er tobt, und weder Juliane noch die Leser wissen recht, was er will. Eben so wenig hat der Dichter Raum gehabt, seine Besserung gehörig vorzubereiten und zu veranstalten. Er mußte sich begnügen, dieses gleichsam im Vorbeigehen zu tun, weil die Haupthandlung mit Nikander und Philinten zu schaffen hatte. Kathrine, dieses edelmütige Kammermädchen der Juliane, das Agenor verfolgt hatte, sagt gar recht am Ende des Lustspiels: Die geschwindesten Bekehrungen sind nicht allemal die aufrichtigsten! Wenigstens so lange dieses Mädchen im Hause ist, möchte ich nicht für die Aufrichtigkeit stehen.«

Ich freue mich, daß die beste deutsche Komödie dem richtigsten deutschen Beurteiler in die Hände gefallen ist. Und doch war es vielleicht die erste Komödie, die dieser Mann beurteilte.


Ende des ersten Bandes [474]

Zweiter Band

Drei und funfzigstes Stück

Den 3ten November, 1767


Den ein und vierzigsten Abend (Freitags, den 10ten Julius,) wurden Cenie und der Mann nach der Uhr, wiederholt. 52

»Cenie, sagt Chevrier gerade heraus, 53 führet den Namen der Frau von Graffigni, ist aber ein Werk des Abts von Voisenon. Es war Anfangs in Versen; weil aber die Frau von Graffigni, der es erst in ihrem vier und funfzigsten Jahre einfiel, die Schriftstellerin zu spielen, in ihrem Leben keinen Vers gemacht hatte, so ward Cenie in Prosa gebracht. Mais l'Auteur, fügt er hinzu, y a laissé 81 vers qui y existent dans leur entier.« Das ist, ohne Zweifel, von einzeln hin und wieder zerstreuten Zeilen zu verstehen, die den Reim verloren, aber die Sylbenzahl beibehalten haben. Doch wenn Chevrier keinen andern Beweis hatte, daß das Stück in Versen gewesen: so ist es sehr erlaubt, daran zu zweifeln. Die französischen Verse kommen überhaupt der Prosa so nahe, daß es Mühe kosten soll, nur in einem etwas gesuchteren Stile zu schreiben, ohne daß sich nicht von selbst ganze Verse zusammen finden, denen nichts wie der Reim mangelt. Und gerade denjenigen, die gar keine Verse machen, können der gleichen Verse am ersten entwischen; eben weil sie gar kein Ohr für das Metrum haben, und es also eben so wenig zu vermeiden, als zu beobachten verstehen.

Was hat Cenie sonst für Merkmale, daß sie nicht aus der Feder eines Frauenzimmers könne geflossen sein? »Das Frauenzimmer überhaupt, sagt Rousseau, 54 liebt keine einzige Kunst, versteht sich auf eine einzige, und an Genie fehlt es ihm ganz und gar. Es kann in kleinen Werken glücklich sein, [475] die nichts als leichten Witz, nichts als Geschmack, nichts als Anmut, höchstens Gründlichkeit und Philosophie verlangen. Es kann sich Wissenschaft, Gelehrsamkeit und alle Talente erwerben, die sich durch Mühe und Arbeit erwerben lassen. Aber jenes himmlische Feuer, welches die Seele erhitzet und entflammet, jenes um sich greifende verzehrende Genie, jene brennende Beredsamkeit, jene erhabene Schwünge, die ihr Entzückendes dem Innersten unseres Herzens mitteilen, werden den Schriften des Frauenzimmers allezeit fehlen.«

Also fehlen sie wohl auch der Cenie? Oder, wenn sie ihr nicht fehlen, so muß Cenie notwendig das Werk eines Mannes sein? Rousseau selbst würde so nicht schließen. Er sagt vielmehr, was er dem Frauenzimmer überhaupt absprechen zu müssen glaube, wolle er darum keiner Frau insbesondere streitig machen. (Ce n'est pas à une femme, mais aux femmes que je refuse les talens des hommes 55.) Und dieses sagt er eben auf Veranlassung der Cenie; eben da, wo er die Graffigni als die Verfasserin derselben anführt. Dabei merke man wohl, daß Graffigni seine Freundin nicht war, daß sie übels von ihm gesprochen hatte, daß er sich an eben der Stelle über sie beklagt. Dem ohngeachtet erklärt er sie lieber für eine Ausnahme seines Satzes, als daß er im geringsten auf das Vorgeben des Chevrier anspielen sollte, welches er zu tun, ohne Zweifel, Freimütigkeit genug gehabt hätte, wenn er nicht von dem Gegenteile überzeugt gewesen wäre.

Chevrier hat mehr solche verkleinerliche geheime Nachrichten. Eben dieser Abt, wie Chevrier wissen will, hat für die Favart gearbeitet. Er hat die komische Oper, Annette und Lubin, gemacht; und nicht sie, die Aktrice, von der er sagt, daß sie kaum lesen könne. Sein Beweis ist ein Gassenhauer, der in Paris darüber herumgegangen; und es ist allerdings wahr, daß die Gassenhauer in der französischen Geschichte überhaupt unter die glaubwürdigsten Dokumente gehören.

Warum ein Geistlicher ein sehr verliebtes Singspiel unter fremdem Namen in die Welt schicke, ließe sich endlich noch begreifen. Aber warum er sich zu einer Cenie nicht bekennen [476] wolle, der ich nicht viele Predigten vorziehen möchte, ist schwerlich abzusehen. Dieser Abt hat ja sonst mehr als ein Stück aufführen und drucken lassen, von welchen ihn jedermann als den Verfasser kennet, und die der Cenie bei weiten nicht gleich kommen. Wenn er einer Frau von vier und funfzig Jahren eine Galanterie machen wollte, ist es wahrscheinlich, daß er es gerade mit seinem besten Werke würde getan haben? –

Den zwei und vierzigsten Abend (Montags, den 13ten Julius,) ward die Frauenschule von Moliere aufgeführt.

Moliere hatte bereits seine Männerschule gemacht, als er im Jahre 1662 diese Frauenschule darauf folgen ließ. Wer beide Stücke nicht kennet, würde sich sehr irren, wenn er glaubte, daß hier den Frauen, wie dort den Männern, ihre Schuldigkeit geprediget würde Es sind beides witzige Possenspiele, in welchen ein Paar junge Mädchen, wovon das eine in aller Strenge erzogen und das andere in aller Einfalt aufgewachsen, ein Paar alte Laffen hintergehen; und die beide die Männerschule heißen müßten, wenn Moliere weiter nichts darin hätte lehren wollen, als daß das dümmste Mädchen noch immer Verstand genug habe zu betrügen, und daß Zwang und Aufsicht weit weniger fruchte und nutze, als Nachsicht und Freiheit. Wirklich ist für das weibliche Geschlecht in der Frauenschule nicht viel zu lernen; es wäre denn, daß Moliere mit diesem Titel auf die Ehestandsregeln, in der zweiten Szene des dritten Akts, gesehen hätte, mit welchen aber die Pflichten der Weiber eher lächerlich gemacht werden.

»Die zwei glücklichsten Stoffe zur Tragödie und Komödie, sagt Trublet, 56 sind der Cid und die Frauenschule. Aber beide sind vom Corneille und Moliere bearbeitet worden, als diese Dichter ihre völlige Stärke noch nicht hätten. Diese Anmerkung, fügt er hinzu, habe ich von dem Hrn. von Fontenelle.«

Wenn doch Trublet den Hrn. von Fontenelle gefragt hätte, wie er dieses meine. Oder Falls es ihm so schon verständlich genug war, wenn er es doch auch seinen Lesern mit ein Paar [477] Worten hätte verständlich machen wollen. Ich wenigstens bekenne, daß ich gar nicht absehe, wo Fontenelle mit diesem Rätsel hingewollt. Ich glaube, er hat sich versprochen; oder Trublet hat sich verhört.

Wenn indes, nach der Meinung dieser Männer, der Stoff der Frauenschule so besonders glücklich ist, und Moliere in der Ausführung desselben nur zu kurz gefallen: so hätte sich dieser auf das ganze Stück eben nicht viel einzubilden gehabt. Denn der Stoff ist nicht von ihm; sondern Teils aus einer Spanischen Erzählung, die man bei dem Scarron, unter dem Titel, die vergebliche Vorsicht, findet, Teils aus den spaßhaften Nächten des Straparolle genommen, wo ein Liebhaber einem seiner Freunde alle Tage vertrauet, wie weit er mit seiner Geliebten gekommen, ohne zu wissen, daß dieser Freund sein Nebenbuhler ist.

»Die Frauenschule, sagt der Herr von Voltaire, war ein Stück von einer ganz neuen Gattung, worin zwar alles nur Erzählung, aber doch so künstliche Erzählung ist, daß alles Handlung zu sein scheinet.«

Wenn das Neue hierin bestand, so ist es sehr gut, daß man die neue Gattung eingehen lassen. Mehr oder weniger künstlich, Erzählung bleibt immer Erzählung, und wir wollen auf dem Theater wirkliche Handlungen sehen. – Aber ist es denn auch wahr, daß alles darin erzählt wird? daß alles nur Handlung zu sein scheint? Voltaire hätte diesen alten Einwurf nicht wieder aufwärmen sollen; oder, anstatt ihn in ein anscheinendes Lob zu verkehren, hätte er wenigstens die Antwort beifügen sollen, die Moliere selbst darauf erteilte, und die sehr passend ist. Die Erzählungen nämlich sind in diesem Stücke, vermöge der innern Verfassung desselben, wirkliche Handlung; sie haben alles, was zu einer komischen Handlung erforderlich ist; und es ist bloße Wortklauberei, ihnen diesen Namen hier streitig zu machen. 57 Denn es kömmt ja weit weniger auf die Vorfälle an, welche erzählt werden, als auf den Eindruck, welchen diese Vorfälle auf den betrognen Alten [478] machen, wenn er sie erfährt. Das Lächerliche dieses Alten wollte Moliere vornehmlich schildern; ihn müssen wir also vornehmlich sehen, wie er sich bei dem Unfalle, der ihm drohet, gebärdet; und dieses hätten wir so gut nicht gesehen, wenn der Dichter das, was er erzählen läßt, vor unsern Augen hätte vorgehen lassen, und das, was er vorgehen läßt, dafür hätte erzählen lassen. Der Verdruß, den Arnolph empfindet; der Zwang, den er sich antut, diesen Verdruß zu verbergen; der höhnische Ton, den er annimmt, wenn er den weitern Progressen des Horaz nun vorgebauet zu haben glaubet; das Erstaunen, die stille Wut, in der wir ihn sehen, wenn er vernimmt, daß Horaz dem ohngeachtet sein Ziel glücklich verfolgt: das sind Handlungen, und weit komischere Handlungen, als alles, was außer der Szene vorgeht. Selbst in der Erzählung der Agnese, von ihrer mit dem Horaz gemachten Bekanntschaft, ist mehr Handlung, als wir finden würden, wenn wir diese Bekanntschaft auf der Bühne wirklich machen sähen.

Also, anstatt von der Frauenschule zu sagen, daß alles darin Handlung scheine, obgleich alles nur Erzählung sei, glaubte ich mit mehrerm Rechte sagen zu können, daß alles Handlung darin sei, obgleich alles nur Erzählung zu sein scheine.

Vier und funfzigstes Stück

Den 6ten November, 1767


Den drei und vierzigsten Abend (Dienstags, den 14ten Julius,) ward die Mütterschule des La Chaussee, und den vier und vierzigsten Abend (als den 15ten,) der Graf von Essex wiederholt. 58

Da die Engländer von je her so gern domestica facta auf ihre Bühne gebracht haben, so kann man leicht vermuten, daß es ihnen auch an Trauerspielen über diesen Gegenstand nicht fehlen wird. Das älteste ist das von Joh. Banks, unter dem Titel, der unglückliche Liebling, oder Graf von Essex. [479] Es kam 1682 aufs Theater, und erhielt allgemeinen Beifall. Damals aber hatten die Franzosen schon drei Essexe: des Calpronede von 1638; des Beyer von 1678, und des jüngern Corneille, von eben diesem Jahre. Wollten indes die Engländer, daß ihnen die Franzosen auch hierin nicht möchten zuvorgekommen sein, so würden sie sich vielleicht auf Daniels Philotas beziehen können; ein Trauerspiel von 1611, in welchem man die Geschichte und den Charakter des Grafen, unter fremden Namen, zu finden glaubte. 59

Banks scheinet keinen von seinen französischen Vorgängern gekannt zu haben. Er ist aber einer Novelle gefolgt, die den Titel, Geheime Geschichte der Königin Elisabeth und des Grafen von Essex, führet, 60 wo er den ganzen Stoff sich so in die Hände gearbeitet fand, daß er ihn bloß zu dialogieren, ihm bloß die äußere dramatische Form zu erteilen brauchte. Hier ist der ganze Plan, wie er von dem Verfasser der unten angeführten Schrift, zum Teil, ausgezogen worden. Vielleicht, daß es meinen Lesern nicht unangenehm ist, ihn gegen das Stück des Corneille halten zu können.

»Um unser Mitleid gegen den unglücklichen Grafen desto lebhafter zu machen, und die heftige Zuneigung zu entschuldigen, welche die Königin für ihn äußert, werden ihm alle die erhabensten Eigenschaften eines Helden beigelegt; und es fehlt ihm zu einem vollkommenen Charakter weiter nichts, als daß er seine Leidenschaften nicht besser in seiner Gewalt hat. Burleigh, der erste Minister der Königin, der auf ihre Ehre sehr eifersüchtig ist, und den Grafen wegen der Gunstbezeigungen beneidet, mit welchen sie ihn überhäuft, bemüht sich unablässig, ihn verdächtig zu machen. Hierin steht ihm Sir Walter Raleigh, welcher nicht minder des Grafen Feind ist, treulich bei; und beide werden von der boshaften Gräfin von Nottingham noch mehr verhetzt, die den Grafen sonst geliebt hatte, nun aber, weil sie keine Gegenliebe von ihm erhalten können, was sie nicht besitzen kann, zu verderben sucht. Die ungestüme Gemütsart des Grafen macht ihnen [480] nur allzugutes Spiel, und sie erreichen ihre Absicht auf folgende Weise.

Die Königin hatte den Grafen, als ihren Generalissimus, mit einer sehr ansehnlichen Armee gegen den Tyrone geschickt, welcher in Irland einen gefährlichen Aufstand erregt hatte. Nach einigen nicht viel bedeutenden Scharmützeln sahe sich der Graf genötiget, mit dem Feinde in Unterhandlung zu treten, weil seine Truppen durch Strabazen und Krankheiten sehr abgemattet waren, Tyrone aber mit seinen Leuten sehr vorteilhaft postieret stand. Da diese Unterhandlung zwischen den Anführern mündlich betrieben ward, und kein Mensch dabei zugegen sein durfte: so wurde sie der Königin als ihrer Ehre höchst nachteilig, und als ein gar nicht zweideutiger Beweis vorgestellet, daß Essex mit den Rebellen in einem heimlichen Verständnisse stehen müsse. Burleigh und Raleigh, mit einigen andern Parlamentsgliedern, treten sie daher um Erlaubnis an, ihn des Hochverrats anklagen zu dürfen, welches sie aber so wenig zu verstatten geneigt ist, daß sie sich vielmehr über ein dergleichen Unternehmen sehr aufgebracht bezeiget. Sie wiederholt die vorigen Dienste, welche der Graf der Nation erwiesen, und erklärt, daß sie die Undankbarkeit und den boshaften Neid seiner Ankläger verabscheue. Der Graf von Southampton, ein aufrichtiger Freund des Essex, nimmt sich zugleich seiner auf das lebhafteste an; er erhebt die Gerechtigkeit der Königin, einen solchen Mann nicht unterdrücken zu lassen; und seine Feinde müssen vor diesesmal schweigen. (Erster Akt.)

Indes ist die Königin mit der Aufführung des Grafen nichts weniger, als zufrieden, sondern läßt ihm befehlen, seine Fehler wieder gut zu machen, und Irland nicht eher zu verlassen, als bis er die Rebellen völlig zu Paaren getrieben, und alles wieder beruhiget habe. Doch Essex, dem die Beschuldigungen nicht unbekannt geblieben, mit welchen ihn seine Feinde bei ihr anzuschwärzen suchen, ist viel zu ungeduldig, sich zu rechtfertigen, und kömmt, nachdem er den Tyrone zu Niederlegung der Waffen vermocht, des ausdrücklichen Verbots der Königin ungeachtet, nach England über. Dieser unbedachtsame Schritt macht seinen Feinden eben so viel Vergnügen, [481] als seinen Freunden Unruhe; besonders zittert die Gräfin von Rutland, mit welcher er insgeheim verheiratet ist, vor den Folgen. Am meisten aber betrübt sich die Königin, da sie sieht, daß ihr durch dieses rasche Betragen aller Vorwand benommen ist, ihn zu vertreten, wenn sie nicht eine Zärtlichkeit verraten will, die sie gern vor der ganzen Welt verbergen möchte. Die Erwägung ihrer Würde, zu welcher ihr natürlicher Stolz kömmt, und die heimliche Liebe, die sie zu ihm trägt, erregen in ihrer Brust den grausamsten Kampf. Sie streitet lange mit sich selbst, ob sie den verwegnen Mann nach dem Tower schicken, oder den geliebten Verbrecher vor sich lassen und ihm erlauben soll, sich gegen sie selbst zu rechtfertigen. Endlich entschließt sie sich zu dem letztern, doch nicht ohne alle Einschränkung; sie will ihn sehen, aber sie will ihn auf eine Art empfangen, daß er die Hoffnung wohl verlieren soll, für seine Vergehungen so bald Vergebung zu erhalten. Burleigh, Raleigh und Nottingham sind bei dieser Zusammenkunft gegenwärtig. Die Königin ist auf die letztere gelehnet, und scheinet tief im Gespräche zu sein, ohne den Grafen nur ein einzigesmal anzusehen. Nachdem sie ihn eine Weile vor sich knien lassen, verläßt sie auf einmal das Zimmer, und gebietet allen, die es redlich mit ihr meinen, ihr zu folgen, und den Verräter allein zu lassen. Niemand darf es wagen, ihr ungehorsam zu sein; selbst Southampton gehet mit ihr ab, kömmt aber bald, mit der trostlosen Rutland, wieder, ihren Freund bei seinem Unfalle zu beklagen. Gleich darauf schicket die Königin den Burleigh und Raleigh zu dem Grafen, ihm den Kommandostab abzunehmen; er weigert sich aber, ihn in andere, als in der Königin eigene Hände, zurück zu liefern, und beiden Ministern wird, sowohl von ihm, als von dem Southampton, sehr verächtlich begegnet. (Zweiter Akt.)

Die Königin, der dieses sein Betragen sogleich hinterbracht wird, ist äußerst gereizt, aber doch in ihren Gedanken noch immer uneinig. Sie kann weder die Verunglimpfungen, deren sich die Nottingham gegen ihn erkühnt, noch die Lobsprüche vertragen, die ihm die unbedachtsame Rutland aus der Fülle ihres Herzens erteilet; ja, diese sind ihr noch mehr zuwider [482] als jene, weil sie daraus entdeckt, daß die Rutland ihn liebet. Zuletzt befiehlt sie, dem ohngeachtet, daß er vor sie gebracht werden soll. Er kömmt, und versucht es, seine Aufführung zu verteidigen. Doch die Gründe, die er desfalls beibringt, scheinen ihr viel zu schwach, als daß sie ihren Verstand von seiner Unschuld überzeugen sollten. Sie verzeihet ihm, um der geheimen Neigung, die sie für ihn hegt, eine Genüge zu tun; aber zugleich entsetzt sie ihn aller seiner Ehrenstellen, in Betrachtung dessen, was sie sich selbst, als Königin, schuldig zu sein glaubt. Und nun ist der Graf nicht länger vermögend, sich zu mäßigen; seine Ungestümheit bricht los; er wirft den Stab zu ihren Füßen, und bedient sich verschiedner Ausdrücke, die zu sehr wie Vorwürfe klingen, als daß sie den Zorn der Königin nicht aufs höchste treiben sollten. Auch antwortet sie ihm darauf, wie es Zornigen sehr natürlich ist; ohne sich um Anstand und Würde, ohne sich um die Folgen zu bekümmern: nämlich, anstatt der Antwort, gibt sie ihm eine Ohrfeige. Der Graf greift nach dem Degen; und nur der einzige Gedanke, daß es seine Königin, daß es nicht sein König ist, der ihn geschlagen, mit einem Worte, daß es eine Frau ist, von der er die Ohrfeige hat, hält ihn zurück, sich tätlich an ihr zu vergehen. Southampton beschwört ihn, sich zu fassen; aber er wiederholt seine ihr und dem Staate geleisteten Dienste nochmals, und wirft dem Burleigh und Raleigh ihren niederträchtigen Neid, so wie der Königin ihre Ungerechtigkeit vor. Sie verläßt ihn in der äußersten Wut; und niemand als Southampton bleibt bei ihm, der Freundschaft genug hat, sich itzt eben am wenigsten von ihm trennen zu lassen. (Dritter Akt.)

Der Graf gerät über sein Unglück in Verzweiflung; er läuft wie unsinnig in der Stadt herum, schreiet über das ihm angetane Unrecht, und schmähet auf die Regierung. Alles das wird der Königin, mit vielen Übertreibungen, wiedergesagt, und sie gibt Befehl, sich der beiden Grafen zu versichern. Es wird Mannschaft gegen sie ausgeschickt, sie werden gefangen genommen, und in den Tower in Verhaft gesetzt, bis daß ihnen der Prozeß kann gemacht werden. Doch indes hat sich der Zorn der Königin gelegt, und günstigern Gedanken für [483] den Essex wiederum Raum gemacht. Sie will ihn also, ehe er zum Verhöre geht, allem, was man ihr darwider sagt, ungeachtet, nochmals sehen; und da sie besorgt, seine Verbrechen möchten zu strafbar befunden werden, so gibt sie ihm, um sein Leben wenigstens in Sicherheit zu setzen, einen Ring, mit dem Versprechen, ihm gegen diesen Ring, sobald er ihn ihr zuschicke, alles, was er verlangen würde, zu gewähren. Fast aber bereuet sie es wieder, daß sie so gütig gegen ihn gewesen, als sie gleich darauf erfährt, daß er mit der Rutland vermählt ist; und es von der Rutland selbst erfährt, die für ihn um Gnade zu bitten kömmt. (Vierter Akt.)

Fünf und funfzigstes Stück

Den 10ten November, 1767


Was die Königin gefürchtet hatte, geschieht; Essex wird nach den Gesetzen schuldig befunden und verurteilet, den Kopf zu verlieren; sein Freund Southampton desgleichen. Nun weiß zwar Elisabeth, daß sie, als Königin, den Verbrecher begnadigen kann; aber sie glaubt auch, daß eine solche freiwillige Begnadigung auf ihrer Seite eine Schwäche verraten würde, die keiner Königin gezieme; und also will sie so lange warten, bis er ihr den Ring senden, und selbst um sein Leben bitten wird. Voller Ungeduld indes, daß es je eher je lieber geschehen möge, schickt sie die Nottingham zu ihm, und läßt ihn erinnern, an seine Rettung zu denken. Nottingham stellt sich, das zärtlichste Mitleid für ihn zu fühlen; und er vertrauet ihr das kostbare Unterpfand seines Lebens, mit der demütigsten Bitte an die Königin, es ihm zu schenken. Nun hat Nottingham alles, was sie wünschet; nun steht es bei ihr, sich wegen ihrer verachteten Liebe an dem Grafen zu rächen. Anstatt also das auszurichten, was er ihr aufgetragen, verleumdet sie ihn auf das boshafteste, und malt ihn so stolz, so trotzig, so fest entschlossen ab, nicht um Gnade zu bitten, sondern es auf das Äußerste ankommen zu lassen, daß die Königin dem Berichte kaum glauben kann, nach wiederholter Versicherung aber, voller Wut und Verzweiflung den Befehl [484] erteilet, das Urteil ohne Anstand an ihm zu vollziehen. Dabei gibt ihr die boshafte Nottingham ein, den Grafen von Southampton zu begnadigen, nicht weil ihr das Unglück desselben wirklich nahe geht, sondern weil sie sich einbildet, daß Essex die Bitterkeit seiner Strafe um so vielmehr empfinden werde, wenn er sieht, daß die Gnade, die man ihm verweigert, seinem mitschuldigen Freunde nicht entstehe. In eben dieser Absicht rät sie der Königin auch, seiner Gemahlin, der Gräfin von Rutland, zu erlauben, ihn noch vor seiner Hinrichtung zu sehen. Die Königin williget in beides, aber zum Unglücke für die grausame Ratgeberin; denn der Graf gibt seiner Gemahlin einen Brief an die Königin, die sich eben in dem Tower befindet, und ihn kurz darauf, als man den Grafen abgeführet, erhält. Aus diesem Briefe ersieht sie, daß der Graf der Nottingham den Ring gegeben, und sie durch diese Verräterin um sein Leben bitten lassen. Sogleich schickt sie, und läßt die Vollstreckung des Urteils untersagen; doch Burleigh und Raleigh, dem sie aufgetragen war, hatten so sehr damit geeilet, daß die Botschaft zu spät kömmt. Der Graf ist bereits tot. Die Königin gerät vor Schmerz außer sich, verbannt die abscheuliche Nottingham auf ewig aus ihren Augen, und gibt allen, die sich als Feinde des Grafen erwiesen hatten, ihren bittersten Unwillen zu erkennen.«

Aus diesem Plane ist genugsam abzunehmen, daß der Essex des Banks ein Stück von weit mehr Natur, Wahrheit und Übereinstimmung ist, als sich in dem Essex des Corneille findet. Banks hat sich ziemlich genau an die Geschichte gehalten, nur daß er verschiedne Begebenheiten näher zusammen gerückt, und ihnen einen unmittelbarern Einfluß auf das endliche Schicksal seines Helden gegeben hat. Der Vorfall mit der Ohrfeige ist eben so wenig erdichtet, als der mit dem Ringe; beide finden sich, wie ich schon angemerkt, in der Histoire, nur jener weit früher und bei einer ganz andern Gelegenheit; so wie es auch von diesem zu vermuten. Denn es ist begreiflicher, daß die Königin dem Grafen den Ring zu einer Zeit gegeben, da sie mit ihm vollkommen zufrieden war, als daß sie ihm dieses Unterpfand ihrer Gnade itzt erst sollte geschenkt haben, da er sich ihrer eben am meisten verlustig [485] gemacht hatte, und der Fall, sich dessen zu gebrauchen, schon wirklich da war. Dieser Ring sollte sie erinnern, wie teuer ihr der Graf damals gewesen, als er ihn von ihr erhalten; und diese Erinnerung sollte ihm alsdann alle das Verdienst wiedergeben, welches er unglücklicher Weise in ihren Augen etwa könnte verloren haben. Aber was braucht es dieses Zeichens, dieser Erinnerung von heute bis auf morgen? Glaubt sie ihrer günstigen Gesinnungen auch auf so wenige Stunden nicht mächtig zu sein, daß sie sich mit Fleiß auf eine solche Art fesseln will? Wenn sie ihm in Ernste vergeben hat, wenn ihr wirklich an seinem Leben gelegen ist: wozu das ganze Spiegelgefechte? Warum konnte sie es bei den mündlichen Versicherungen nicht bewenden lassen? Gab sie den Ring, bloß um den Grafen zu beruhigen; so verbindet er sie, ihm ihr Wort zu halten, er mag wieder in ihre Hände kommen, oder nicht. Gab sie ihn aber, um durch die Wiedererhaltung desselben von der fortdauernden Reue und Unterwerfung des Grafen versichert zu sein: wie kann sie in einer so wichtigen Sache seiner tödlichsten Feindin glauben? Und hatte sich die Nottingham nicht kurz zuvor gegen sie selbst als eine solche bewiesen?

So wie Banks also den Ring gebraucht hat, tut er nicht die beste Wirkung. Mich dünkt, er würde eine weit bessere tun, wenn ihn die Königin ganz vergessen hätte, und er ihr plötzlich, aber auch zu spät, eingehändiget würde, indem sie eben von der Unschuld, oder wenigstens geringern Schuld des Grafen, noch aus andern Gründen überzeugt würde. Die Schenkung des Ringes hätte vor der Handlung des Stücks lange müssen vorhergegangen sein, und bloß der Graf hätte darauf rechnen müssen, aber aus Edelmut nicht eher Gebrauch davon machen wollen, als bis er gesehen, daß man auf seine Rechtfertigung nicht achte, daß die Königin zu sehr wider ihn eingenommen sei, als daß er sie zu überzeugen hoffen könne, daß er sie also zu bewegen suchen müsse. Und indem sie so bewegt würde, müßte die Überzeugung dazu kommen; die Erkennung seiner Unschuld und die Erinnerung ihres Versprechens, ihn auch dann, wenn er schuldig sein sollte, für unschuldig gelten zu lassen, müßten sie auf[486] einmal überraschen, aber nicht eher überraschen, als bis es nicht mehr in ihrem Vermögen stehet, gerecht und erkenntlich zu sein.

Viel glücklicher hat Banks die Ohrfeige in sein Stück eingeflochten. – Aber eine Ohrfeige in einem Trauerspiele! Wie englisch, wie unanständig! – Ehe meine feinern Leser zu sehr darüber spotten, bitte ich sie, sich der Ohrfeige im Cid zu erinnern. Die Anmerkung, die der Hr. von Voltaire darüber gemacht hat, ist in vielerlei Betrachtung merkwürdig. »Heut zu Tage, sagt er, dürfte man es nicht wagen, einem Helden eine Ohrfeige geben zu lassen. Die Schauspieler selbst wissen nicht, wie sie sich dabei anstellen sollen; sie tun nur, als ob sie eine gäben. Nicht einmal in der Komödie ist so etwas mehr erlaubt; und dieses ist das einzige Exempel, welches man auf der tragischen Bühne davon hat. Es ist glaublich, daß man unter andern mit deswegen den Cid eine Tragikomödie betitelte; und damals waren fast alle Stücke des Scuderi und des Boisrobert Tragikomödien. Man war in Frankreich lange der Meinung gewesen, daß sich das ununterbrochne Tragische, ohne alle Vermischung mit gemeinen Zügen, gar nicht aushalten lasse. Das Wort Tragikomödie selbst, ist sehr alt; Plautus braucht es, seinen Amphitruo damit zu bezeichnen, weil das Abenteuer des Sosias zwar komisch, Amphitruo selbst aber in allem Ernste betrübt ist.« – Was der Herr von Voltaire nicht alles schreibt! Wie gern er immer ein wenig Gelehrsamkeit zeigen will, und wie sehr er meistenteils damit verunglückt!

Es ist nicht wahr, daß die Ohrfeige im Cid die einzige auf der tragischen Bühne ist. Voltaire hat den Essex des Banks entweder nicht gekannt, oder vorausgesetzt, daß die tragische Bühne seiner Nation allein diesen Namen verdiene. Unwissenheit verrät beides; und nur das letztere noch mehr Eitelkeit, als Unwissenheit. Was er von dem Namen der Tragikomödie hinzufügt, ist eben so unrichtig. Tragikomödie hieß die Vorstellung einer wichtigen Handlung unter vornehmen Personen, die einen vergnügten Ausgang hat; das ist der Cid, und die Ohrfeige kam dabei gar nicht in Betrachtung; denn dieser Ohrfeige ungeachtet, nannte Corneille hernach sein [487] Stück eine Tragödie, sobald er das Vorurteil abgelegt hatte, daß eine Tragödie notwendig eine unglückliche Katastrophe haben müsse. Plautus braucht zwar das Wort Tragicocomoedia: aber er braucht es bloß im Scherze; und gar nicht, um eine besondere Gattung damit zu bezeichnen. Auch hat es ihm in diesem Verstande kein Mensch angeborgt, bis es in dem sechzehnten Jahrhunderte den Spanischen und Italienischen Dichtern einfiel, gewisse von ihren dramatischen Mißgeburten so zu nennen. 61 Wenn aber auch Plautus seinen Amphitruo im Ernste so genannt hätte, so wäre es doch nicht aus der Ursache geschehen, die ihm Voltaire andichtet. Nicht weil der Anteil, den Sosias an der Handlung nimmt, komisch, und der, den Amphitruo daran nimmt, tragisch ist: nicht darum hätte Plautus sein Stück lieber eine Tragikomödie nennen wollen. Denn sein Stück ist ganz komisch, und wir belustigen uns an der Verlegenheit des Amphitruo eben so sehr, als an des Sosias seiner. Sondern darum, weil diese komische Handlung größtenteils unter höhern Personen vorgehet, als man in der Komödie zu sehen gewohnt ist. Plautus selbst erklärt sich darüber deutlich genug:


Faciam ut commixta sit Tragico-comoedia:
Nam me perpetuo facere ut sit Comoedia
Reges quo veniant et di, non par arbitror.
[488]
Quid igitur? quoniam hic servus quoque partes habet,
Faciam hanc, proinde ut dixi, Tragico-comoediam.
Sechs und funfzigstes Stück

Den 13ten November, 1767


Aber wiederum auf die Ohrfeige zu kommen. – Einmal ist es doch nun so, daß eine Ohrfeige, die ein Mann von Ehre von seines Gleichen oder von einem Höhern bekömmt, für eine so schimpfliche Beleidigung gehalten wird, daß alle Genugtuung, die ihm die Gesetze dafür verschaffen können, vergebens ist. Sie will nicht von einem dritten bestraft, sie will von dem Beleidigten selbst gerächet, und auf eine eben so eigenmächtige Art gerächet sein, als sie erwiesen worden. Ob es die wahre oder die falsche Ehre ist, die dieses gebietet, davon ist hier die Rede nicht. Wie gesagt, es ist nun einmal so.

Und wenn es nun einmal in der Welt so ist: warum soll es nicht auch auf dem Theater so sein? Wenn die Ohrfeigen dort im Gange sind: warum nicht auch hier?

»Die Schauspieler, sagt der Herr von Voltaire, wissen nicht, wie sie sich dabei anstellen sollen.« Sie wüßten es wohl; aber man will eine Ohrfeige auch nicht einmal gern im fremden Namen haben. Der Schlag setzt sie in Feuer; die Person erhält ihn, aber sie fühlen ihn; das Gefühl hebt die Verstellung auf; sie geraten aus ihrer Fassung; Scham und Verwirrung äußert sich wider Willen auf ihrem Gesichte; sie sollten zornig aussehen, und sie sehen albern aus; und jeder Schauspieler, dessen eigene Empfindungen mit seiner Rolle in Kollision kommen, macht uns zu lachen.

Es ist dieses nicht der einzige Fall, in welchem man die Abschaffung der Masken betauern möchte. Der Schauspieler kann ohnstreitig unter der Maske mehr Contenance halten; seine Person findet weniger Gelegenheit auszubrechen; und wenn sie ja ausbricht, so werden wir diesen Ausbruch weniger gewahr.

Doch der Schauspieler verhalte sich bei der Ohrfeige, wie [489] er will: der dramatische Dichter arbeitet zwar für den Schauspieler, aber er muß sich darum nicht alles versagen, was diesem weniger tulich und bequem ist. Kein Schauspieler kann rot werden, wenn er will: aber gleichwohl darf es ihm der Dichter vorschreiben; gleichwohl darf er den einen sagen lassen, daß er es den andern werden sieht. Der Schauspieler will sich nicht ins Gesichte schlagen lassen; er glaubt, es mache ihn verächtlich; es verwirrt ihn; es schmerzt ihn: recht gut! Wenn er es in seiner Kunst so weit noch nicht gebracht hat, daß ihn so etwas nicht verwirret; wenn er seine Kunst so sehr nicht liebet, daß er sich, ihr zum Besten, eine kleine Kränkung will gefallen lassen: so suche er über die Stelle so gut wegzukommen, als er kann; er weiche dem Schlage aus; er halte die Hand vor; nur verlange er nicht, daß sich der Dichter seinetwegen mehr Bedenklichkeiten machen soll, als er sich der Person wegen macht, die er ihn vorstellen läßt. Wenn der wahre Diego, wenn der wahre Essex eine Ohrfeige hinnehmen muß: was wollen ihre Repräsentanten dawider einzuwenden haben?

Aber der Zuschauer will vielleicht keine Ohrfeige geben sehen? Oder höchstens nur einem Bedienten, den sie nicht besonders schimpft, für den sie eine seinem Stande angemessene Züchtigung ist? Einem Helden hingegen, einem Helden eine Ohrfeige! wie klein, wie unanständig! – Und wenn sie das nun eben sein soll? Wenn eben diese Unanständigkeit die Quelle der gewaltsamsten Entschließungen, der blutigsten Rache werden soll, und wird? Wenn jede geringere Beleidigung diese schreckliche Wirkungen nicht hätte haben können? Was in seinen Folgen so tragisch werden kann, was unter gewissen Personen notwendig so tragisch werden muß, soll dennoch aus der Tragödie ausgeschlossen sein, weil es auch in der Komödie, weil es auch in dem Possenspiele Platz findet? Worüber wir einmal lachen, sollen wir ein andermal nicht erschrecken können?

Wenn ich die Ohrfeige aus einer Gattung des Drama verbannt wissen möchte, so wäre es aus der Komödie. Denn was für Folgen kann sie da haben? Traurige? die sind über ihrer Sphäre. Lächerliche? die sind unter ihr, und gehören dem [490] Possenspiele. Gar keine? so verlohnte es nicht der Mühe, sie geben zu lassen. Wer sie gibt, wird nichts als pöbelhafte Hitze, und wer sie bekömmt, nichts als knechtische Kleinmut verraten. Sie verbleibt also den beiden Extremis, der Tragödie und dem Possenspiele; die mehrere dergleichen Dinge gemein haben, über die wir entweder spotten oder zittern wollen.

Und ich frage jeden, der den Cid vorstellen sehen, oder ihn mit einiger Aufmerksamkeit auch nur gelesen, ob ihn nicht ein Schauder überlaufen, wenn der großsprecherische Gormas den alten würdigen Diego zu schlagen sich erdreistet? Ob er nicht das empfindlichste Mitleid für diesen, und den bittersten Unwillen gegen jenen empfunden? Ob ihm nicht auf einmal alle die blutigen und traurigen Folgen, die diese schimpfliche Begegnung nach sich ziehen müsse, in die Gedanken geschossen, und ihn mit Erwartung und Furcht erfüllet? Gleichwohl soll ein Vorfall, der alle diese Wirkung auf ihn hat, nicht tragisch sein?

Wenn jemals bei dieser Ohrfeige gelacht worden, so war es sicherlich von einem auf der Galerie, der mit den Ohrfeigen zu bekannt war, und eben itzt eine von seinem Nachbar verdient hätte. Wen aber die ungeschickte Art, mit der sich der Schauspieler etwa dabei betrug, wider Willen zu lächeln machte, der biß sich geschwind in die Lippe, und eilte, sich wieder in die Täuschung zu versetzen, aus der fast jede gewaltsamere Handlung den Zuschauer mehr oder weniger zu bringen pflegt.

Auch frage ich, welche andere Beleidigung wohl die Stelle der Ohrfeige vertreten könnte? Für jede andere würde es in der Macht des Königs stehen, dem Beleidigten Genugtuung zu schaffen; für jede andere würde sich der Sohn weigern dürfen, seinem Vater den Vater seiner Geliebten aufzuopfern. Für diese einzige läßt das Pundonor weder Entschuldigung noch Abbitte gelten; und alle gütliche Wege, die selbst der Monarch dabei einleiten will, sind fruchtlos. Corneille ließ nach dieser Denkungsart den Gormas, wenn ihn der König andeuten läßt, den Diego zufrieden zu stellen, sehr wohl antworten:


[491]
Ces satisfactions n'appaisent point une ame:
Qui les reçoit n'a rien, qui les fait se diffame.
Et de tous ces accords l'effet le plus commun,
C'est de deshonorer deux hommes au lieu d'un.

Damals war in Frankreich das Edikt wider die Duelle nicht lange ergangen, dem dergleichen Maximen schnurstracks zuwider liefen. Corneille erhielt also zwar Befehl, die ganzen Zeilen wegzulassen; und sie wurden aus dem Munde der Schauspieler verbannt. Aber jeder Zuschauer ergänzte sie aus dem Gedächtnisse, und aus seiner Empfindung.

In dem Essex wird die Ohrfeige dadurch noch kritischer, daß sie eine Person gibt, welche die Gesetze der Ehre nicht verbinden. Sie ist Frau und Königin: was kann der Beleidigte mit ihr anfangen? Über die handfertige wehrhafte Frau würde er spotten; denn eine Frau kann weder schimpfen, noch schlagen. Aber diese Frau ist zugleich der Souverain, dessen Beschimpfungen unauslöschlich sind, da sie von seiner Würde eine Art von Gesetzmäßigkeit erhalten. Was kann also natürlicher scheinen, als daß Essex sich wider diese Würde selbst auflehnet, und gegen die Höhe tobet, die den Beleidiger seiner Rache entzieht? Ich wüßte wenigstens nicht, was seine letzten Vergehungen sonst wahrscheinlich hätte machen können. Die bloße Ungnade, die bloße Entsetzung seiner Ehrenstellen konnte und durfte ihn so weit nicht treiben. Aber durch eine so knechtische Behandlung außer sich gebracht, sehen wir ihn alles, was ihm die Verzweiflung eingibt, zwar nicht mit Billigung, doch mit Entschuldigung unternehmen. Die Königin selbst muß ihn aus diesem Gesichtspunkte ihrer Verzeihung würdig erkennen; und wir haben so ungleich mehr Mitleid mit ihm, als er uns in der Geschichte zu verdienen scheinet, wo das, was er hier in der ersten Hitze der gekränkten Ehre tut, aus Eigennutz und an dern niedrigen Absichten geschieht.

Der Streit, sagt die Geschichte, bei welchem Essex die Ohrfeige erhielt, war über die Wahl eines Königs von Irland. Als er sahe, daß die Königin auf ihrer Meinung beharrte, wandte er ihr mit einer sehr verächtlichen Gebärde den [492] Rücken. In dem Augenblicke fühlte er ihre Hand, und seine fuhr nach dem Degen. Er schwur, daß er diesen Schimpf weder leiden könne noch wolle; daß er ihn selbst von ihrem Vater Heinrich nicht würde erduldet haben: und so begab er sich vom Hofe. Der Brief, den er an den Kanzler Egerton über diesen Vorfall schrieb, ist mit dem würdigsten Stolze abgefaßt; und er schien fest entschlossen, sich der Königin nie wieder zu nähern. Gleichwohl finden wir ihn bald darauf wieder in ihrer völligen Gnade, und in der völligen Wirksamkeit eines ehrgeizigen Lieblings. Diese Versöhnlichkeit, wenn sie ernstlich war, macht uns eine sehr schlechte Idee von ihm; und keine viel bessere, wenn sie Verstellung war. In diesem Falle war er wirklich ein Verräter, der sich alles gefallen ließ, bis er den rechten Zeitpunkt gekommen zu sein glaubte. Ein elender Weinpacht, den ihm die Königin nahm, brachte ihn am Ende weit mehr auf, als die Ohrfeige; und der Zorn über diese Verschmälerung seiner Einkünfte, verblendete ihn so, daß er ohne alle Überlegung losbrach. So finden wir ihn in der Geschichte, und verachten ihn. Aber nicht so bei dem Banks, der seinen Aufstand zu der unmittelbaren Folge der Ohrfeige macht, und ihm weiter keine treulosen Absichten gegen seine Königin beilegt. Sein Fehler ist der Fehler einer edeln Hitze, den er bereuet, der ihm vergeben wird, und der bloß durch die Bosheit seiner Feinde der Strafe nicht entgeht, die ihm geschenkt war.

Sieben und funfzigstes Stück

Den 17ten November, 1767


Banks hat die nämlichen Worte beibehalten, die Essex über die Ohrfeige ausstieß. Nur daß er ihn dem einen Heinriche noch alle Heinriche in der Welt, mit samt Alexandern, beifügen läßt. 62 Sein Essex ist überhaupt zu viel Prahler; und es [493] fehlet wenig, daß er nicht ein eben so großer Gasconier ist, als der Essex des Gasconiers Calprenede. Dabei erträgt er sein Unglück viel zu kleinmütig, und ist bald gegen die Königin eben so kriechend, als er vorher vermessen gegen sie war. Banks hat ihn zu sehr nach dem Leben geschildert. Ein Charakter, der sich so leicht vergißt, ist kein Charakter, und eben daher der dramatischen Nachahmung unwürdig. In der Geschichte kann man dergleichen Widersprüche mit sich selbst, für Verstellung halten, weil wir in der Geschichte doch selten das Innerste des Herzens kennen lernen: aber in dem Drama werden wir mit dem Helden allzuvertraut, als daß wir nicht gleich wissen sollten, ob seine Gesinnungen wirklich mit den Handlungen, die wir ihm nicht zugetrauet hätten, übereinstimmen, oder nicht. Ja, sie mögen es, oder sie mögen es nicht: der tragische Dichter kann ihn in beiden Fällen nicht recht nutzen. Ohne Verstellung fällt der Charakter weg: bei der Verstellung die Würde desselben.

Mit der Elisabeth hat er in diesen Fehler nicht fallen können. Diese Frau bleibt sich in der Geschichte immer so vollkommen gleich, als es wenige Männer bleiben. Ihre Zärtlichkeit selbst, ihre heimliche Liebe zu dem Essex, hat er mit vieler Anständigkeit behandelt; sie ist auch bei ihm gewissermaßen noch ein Geheimnis. Seine Elisabeth klagt nicht, wie die Elisabeth des Corneille, über Kälte und Verachtung, über Glut und Schicksal; sie spricht von keinem Gifte, das sie verzehre; sie jammert nicht, daß ihr der Undankbare eine Suffolk vorziehe, nachdem sie ihm doch deutlich genug zu verstehen gegeben, daß er um sie allein seufzen solle, u.s.w. Keine von diesen Armseligkeiten kömmt über ihre Lippen. Sie spricht nie, als eine Verliebte; aber sie handelt so. Man hört es nie, aber man sieht es, wie teuer ihr Essex ehedem gewesen, und noch ist. Einige Funken Eifersucht verraten sie; [494] sonst würde man sie schlechterdings für nichts, als für seine Freundin halten können.

Mit welcher Kunst aber Banks ihre Gesinnungen gegen den Grafen in Aktion zu setzen gewußt, das können folgende Szenen des dritten Aufzuges zeigen. – Die Königin glaubt sich allein, und überlegt den unglücklichen Zwang ihres Standes, der ihr nicht erlaube, nach der wahren Neigung ihres Herzens zu handeln. Indem wird sie die Nottingham gewahr, die ihr nachgekommen. –


DIE KÖNIGIN. Du hier, Nottingham? Ich glaubte, ich sei allein.

NOTTINGHAM. Verzeihe, Königin, daß ich so kühn bin. Und doch befiehlt mir meine Pflicht, noch kühner zu sein. – Dich bekümmert etwas. Ich muß fragen, – aber erst auf meinen Knien Dich um Verzeihung bitten, daß ich es frage – Was ists, das Dich bekümmert? Was ist es, das diese erhabene Seele so tief herab beuget? – Oder ist Dir nicht wohl?

DIE KÖNIGIN. Steh auf; ich bitte dich. – Mir ist ganz wohl. – Ich danke dir für deine Liebe. – Nur unruhig, ein wenig unruhig bin ich, – meines Volkes wegen. Ich habe lange regiert, und ich fürchte, ihm nur zu lange. Es fängt an, meiner überdrüssig zu werden. – Neue Kronen sind wie neue Kränze; die frischesten, sind die lieblichsten. Meine Sonne neiget sich; sie hat in ihrem Mittage zu sehr gewärmet; man fühlet sich zu heiß; man wünscht, sie wäre schon untergegangen. – Erzähle mir doch, was sagt man von der Überkunft des Essex?

NOTTINGHAM. – Von seiner Überkunft – sagt man – nicht das Beste. Aber von ihm – er ist für einen so tapfern Mann bekannt –

DIE KÖNIGIN. Wie? tapfer? da er mir so dienet? – Der Verräter!

NOTTINGHAM. Gewiß, es war nicht gut –

DIE KÖNIGIN. Nicht gut! nicht gut? – Weiter nichts?

NOTTINGHAM. Es war eine verwegene, frevelhafte Tat.

DIE KÖNIGIN. Nicht wahr, Nottingham? – Meinen Befehl [495] so gering zu schätzen! Er hätte den Tod dafür verdient. – Weit geringere Verbrechen haben hundert weit geliebtern Lieblingen den Kopf gekostet. –

NOTTINGHAM. Ja wohl. – Und doch sollte Essex, bei so viel größerer Schuld, mit geringerer Strafe davon kommen? Er sollte nicht sterben?

DIE KÖNIGIN. Er soll! – Er soll sterben, und in den empfindlichsten Martern soll er sterben! – Seine Pein sei, wie seine Verräterei, die größte von allen! – Und dann will ich seinen Kopf und seine Glieder, nicht unter den finstern Toren, nicht auf den niedrigen Brücken, auf den höchsten Zinnen will ich sie aufgesteckt wissen, damit jeder, der vorübergeht, sie erblicke und ausrufe: Siehe da, den stolzen undankbaren Essex! Diesen Essex, welcher der Gerechtigkeit seiner Königin trotzte! – Wohl getan! Nicht mehr, als er verdiente! – Was sagst du, Nottingham? Meinest du nicht auch? – Du schweigst? Warum schweigst du? Willst du ihn noch vertreten?

NOTTINGHAM. Weil Du es denn befiehlst, Königin, so will ich Dir alles sagen, was die Welt von diesem stolzen, undankbaren Manne spricht. –

DIE KÖNIGIN. Tu das! – Laß hören: was sagt die Welt von ihm und mir?

NOTTINGHAM. Von Dir, Königin? – Wer ist es, der von Dir nicht mit Entzücken und Bewunderung spräche? Der Nachruhm eines verstorbenen Heiligen ist nicht lauterer, als Dein Lob, von dem aller Zungen ertönen. Nur dieses einzige wünschet man, und wünschet es mit den heißesten Tränen, die aus der reinsten Liebe gegen Dich entspringen, – dieses einzige, daß Du geruhen möchtest, ihren Beschwerden gegen diesen Essex abzuhelfen, einen solchen Verräter nicht länger zu schützen, ihn nicht länger der Gerechtigkeit und der Schande vorzuenthalten, ihn endlich der Rache zu überliefern –

DIE KÖNIGIN. Wer hat mir vorzuschreiben?

NOTTINGHAM. Dir vorzuschreiben! – Schreibet man dem Himmel vor, wenn man ihn in tiefester Unterwerfung anflehet? – Und so flehet Dich alles wider den Mann an, dessen [496] Gemütsart so schlecht, so boshaft ist, daß er es auch nicht der Mühe wert achtet, den Heuchler zu spielen. – Wie stolz! wie aufgeblasen! Und wie unartig, pöbelhaft stolz; nicht anders als ein elender Lakei auf seinen bunten verbrämten Rock! – Daß er tapfer ist, räumt man ihm ein; aber so, wie es der Wolf oder der Bär ist, blind zu, ohne Plan und Vorsicht. Die wahre Tapferkeit, welche eine edle Seele über Glück und Unglück erhebt, ist fern von ihm. Die geringste Beleidigung bringt ihn auf; er tobt und raset über ein Nichts; alles soll sich vor ihm schmiegen; überall will er allein glänzen, allein hervorragen. Luzifer selbst, der den ersten Samen des Lasters in dem Himmel ausstreuete, war nicht ehrgeiziger und herrschsüchtiger, als er. Aber, so wie dieser aus dem Himmel stürzte – –

DIE KÖNIGIN. Gemach, Nottingham, gemach! – Du eiferst dich ja ganz aus dem Aten. – Ich will nichts mehr hören – Bei Seite. Gift und Blattern auf ihre Zunge! – Gewiß, Nottingham, du solltest dich schämen, so etwas auch nur nachzusagen; dergleichen Niederträchtigkeiten des boshaften Pöbels zu wiederholen. Und es ist nicht einmal wahr, daß der Pöbel das sagt. Er denkt es auch nicht. Aber ihr, ihr wünscht, daß er es sagen möchte.

NOTTINGHAM. Ich erstaune, Königin –

DIE KÖNIGIN. Worüber?

NOTTINGHAM. Du gebotest mir selbst, zu reden –

DIE KÖNIGIN. Ja, wenn ich es nicht bemerkt hätte, wie gewünscht dir dieses Gebot kam! wie vorbereitet du darauf warest! Auf einmal glühte dein Gesicht, flammte dein Auge; das volle Herz freute sich, überzufließen, und jedes Wort, jede Gebärde hatte seinen längst abgezielten Pfeil, deren jeder mich mit trifft.

NOTTINGHAM. Verzeihe, Königin, wenn ich in dem Ausdrucke meine Schuldigkeit gefehlet habe. Ich maß ihn nach Deinem ab.

DIE KÖNIGIN. Nach meinem? – Ich bin seine Königin. Mir steht es frei, dem Dinge, das ich geschaffen habe, mitzuspielen, wie ich will. – Auch hat er sich der gräßlichsten Verbrechen gegen meine Person schuldig gemacht. Mich [497] hat er beleidiget; aber nicht dich. – Womit könnte dich der arme Mann beleidiget haben? Du hast keine Gesetze, die er übertreten, keine Untertanen, die er bedrücken, keine Krone, nach der er streben könnte. Was findest du denn also für ein grausames Vergnügen, einen Elenden, der ertrinken will, lieber noch auf den Kopf zu schlagen, als ihm die Hand zu reichen?

NOTTINGHAM. Ich bin zu tadeln –

DIE KÖNIGIN. Genug davon! – Seine Königin, die Welt, das Schicksal selbst erklärt sich wider diesen Mann, und doch scheinet er dir kein Mitleid, keine Entschuldigung zu verdienen? –

NOTTINGHAM. Ich bekenne es, Königin, –

DIE KÖNIGIN. Geh, es sei dir vergeben! – Rufe mir gleich die Rutland her. –

Acht und funfzigstes Stück

Den 20sten November, 1767


Nottingham geht, und bald darauf erscheinet Rutland. Man erinnere sich, daß Rutland, ohne Wissen der Königin, mit dem Essex vermählt ist.


DIE KÖNIGIN. Kömmst du, liebe Rutland? Ich habe nach dir geschickt. – Wie ists? Ich finde dich, seit einiger Zeit, so traurig. Woher diese trübe Wolke, die dein holdes Auge umziehet? Sei munter, liebe Rutland; ich will dir einen wackern Mann suchen.

RUTLAND. Großmütige Frau! – Ich verdiene es nicht, daß meine Königin so gnädig auf mich herabsiehet.

DIE KÖNIGIN. Wie kannst du so reden? – Ich liebe dich; ja wohl liebe ich dich. – Du sollst es daraus schon sehen! – Eben habe ich mit der Nottingham, der widerwärtigen! – einen Streit gehabt; und zwar – über Mylord Essex.

RUTLAND. Ha!

DIE KÖNIGIN. Sie hat mich recht sehr geärgert. Ich konnte sie nicht länger vor Augen sehen.

RUTLAND bei Seite. Wie fahre ich bei diesem teuern Namen [498] zusammen! Mein Gesicht wird mich verraten. Ich fühl es; ich werde blaß – und wieder rot. –

DIE KÖNIGIN. Was ich dir sage, macht dich erröten? –

RUTLAND. Dein so überraschendes, gütiges Vertrauen, Königin, –

DIE KÖNIGIN. Ich weiß, daß du mein Vertrauen verdienest. – Komm, Rutland, ich will dir alles sagen. Du sollst mir raten. – Ohne Zweifel, liebe Rutland, wirst du es auch gehört haben, wie sehr das Volk wider den armen, unglücklichen Mann schreiet; was für Verbrechen es ihm zu Last leget. Aber das Schlimmste weißt du vielleicht noch nicht? Er ist heute aus Irland angekommen; wider meinen ausdrücklichen Befehl; und hat die dortigen Angelegenheiten in der größten Verwirrung gelassen.

RUTLAND. Darf ich Dir, Königin, wohl sagen, was ich denke? – Das Geschrei des Volkes, ist nicht immer die Stimme der Wahrheit. Sein Haß ist öfters so ungegründet –

DIE KÖNIGIN. Du sprichst die wahren Gedanken meiner Seele. – Aber, liebe Rutland, er ist dem ohngeachtet zu tadeln. – Komm her, meine Liebe; laß mich an deinen Busen mich lehnen. – O gewiß, man legt mir es zu nahe! Nein, so will ich mich nicht unter ihr Joch bringen lassen. Sie vergessen, daß ich ihre Königin bin. – Ah, Liebe; so ein Freund hat mir längst gefehlt, gegen den ich so meinen Kummer ausschütten kann! –

RUTLAND. Siehe meine Tränen, Königin – Dich so leiden zu sehen, die ich so bewundere! – O, daß mein guter Engel Gedanken in meine Seele, und Worte auf meine Zunge legen wollte, den Sturm in Deiner Brust zu beschwören, und Balsam in Deine Wunden zu gießen!

DIE KÖNIGIN. O, so wärest du mein guter Engel, mitleidige, beste Rutland! – Sage, ist es nicht Schade, daß so ein braver Mann ein Verräter sein soll? daß so ein Held, der wie ein Gott verehret ward, sich so erniedrigen kann, mich um einen kleinen Thron bringen zu wollen?

RUTLAND. Das hätte er gewollt? das könnte er wollen? Nein, Königin, gewiß nicht, gewiß nicht! Wie oft habe ich [499] ihn von Dir sprechen hören! mit welcher Ergebenheit, mit welcher Bewunderung, mit welchem Entzücken habe ich ihn von Dir sprechen hören!

DIE KÖNIGIN. Hast du ihn wirklich von mir sprechen hören?

RUTLAND. Und immer als einen Begeisterten, aus dem nicht kalte Überlegung, aus dem ein inneres Gefühl spricht, dessen er nicht mächtig ist. Sie ist, sagte er, die Göttin ihres Geschlechts, so weit über alle andere Frauen erhaben, daß das, was wir in diesen am meisten bewundern, Schönheit und Reiz, in ihr nur die Schatten sind, ein größeres Licht dagegen abzusetzen. Jede weibliche Vollkommenheit verliert sich in ihr, wie der schwache Schimmer eines Sternes in dem alles überströmenden Glanze des Sonnenlichts. Nichts übersteigt ihre Güte; die Huld selbst beherrschet, in ihrer Person, diese glückliche Insel; ihre Gesetze sind aus dem ewigen Gesetzbuche des Himmels gezogen, und werden dort von Engeln wieder aufgezeichnet. – O, unterbrach er sich dann mit einem Seufzer, der sein ganzes getreues Herz ausdrückte, o, daß sie nicht unsterblich sein kann! Ich wünsche ihn nicht zu erleben, den schrecklichen Augenblick, wenn die Gottheit diesen Abglanz von sich zurückruft, und mit eins sich Nacht und Verwirrung über Britannien verbreiten.

DIE KÖNIGIN. Sagte er das, Rutland?

RUTLAND. Das, und weit mehr. Immer so neu, als wahr in Deinem Lobe, dessen unversiegene Quelle von den lautersten Gesinnungen gegen Dich überströmte –

DIE KÖNIGIN. O, Rutland, wie gern glaube ich dem Zeugnisse, das du ihm gibst!

RUTLAND. Und kannst ihn noch für einen Verräter halten?

DIE KÖNIGIN. Nein; – aber doch hat er die Gesetze übertreten. – Ich muß mich schämen, ihn länger zu schützen. – Ich darf es nicht einmal wagen, ihn zu sehen.

RUTLAND. Ihn nicht zu sehen, Königin? nicht zu sehen? – Bei dem Mitleid, das seinen Thron in Deiner Seele aufgeschlagen, beschwöre ich Dich, – Du mußt ihn sehen! Schämen? wessen? daß Du mit einem Unglücklichen Erbarmen [500] hast? – Gott hat Erbarmen: und Erbarmen sollte Könige schimpfen? – Nein, Königin; sei auch hier Dir selbst gleich. Ja, Du wirst es; Du wirst ihn sehen, wenigstens einmal sehen –

DIE KÖNIGIN. Ihn, der meinen ausdrücklichen Befehl so geringschätzen können? Ihn, der sich so eigenmächtig vor meine Augen drängen darf? Warum blieb er nicht, wo ich ihm zu bleiben befahl?

RUTLAND. Rechne ihm dieses zu keinem Verbrechen! Gib die Schuld der Gefahr, in der er sich sahe. Er hörte, was hier vorging; wie sehr man ihn zu verkleinern, ihn Dir verdächtig zu machen suche. Er kam also, zwar ohne Erlaubnis, aber in der besten Absicht; in der Absicht, sich zu rechtfertigen, und Dich nicht hintergehen zu lassen.

DIE KÖNIGIN. Gut; so will ich ihn denn sehen, und will ihn gleich sehen. – O, meine Rutland, wie sehr wünsche ich es, ihn noch immer eben so recht schaffen zu finden, als tapfer ich ihn kenne!

RUTLAND. O, nähre diese günstige Gedanke! Deine königliche Seele kann keine gerechtere hegen. – Rechtschaffen! So wirst Du ihn gewiß finden. Ich wollte für ihn schwören; bei aller Deiner Herrlichkeit für ihn schwören, daß er es nie aufgehöret zu sein. Seine Seele ist reiner als die Sonne, die Flecken hat, und irdische Dünste an sich ziehet, und Geschmeiß ausbrütet. – Du sagst, er ist tapfer; und wer sagt es nicht? Aber ein tapferer Mann ist keiner Niederträchtigkeit fähig. Bedenke, wie er die Rebellen gezüchtiget; wie furchtbar er Dich dem Spanier gemacht, der vergebens die Schätze seiner Indien wider Dich verschwendete. Sein Name floh vor Deinen Flotten und Völkern vorher, und ehe diese noch eintrafen, hatte öfters schon sein Name gesiegt.

DIE KÖNIGIN bei Seite. Wie beredt sie ist! – Ha! dieses Feuer, diese Innigkeit, – das bloße Mitleid gehet so weit nicht. – Ich will es gleich hören! – Zu ihr. Und dann, Rutland, seine Gestalt –

RUTLAND. Recht, Königin; seine Gestalt. – Nie hat eine Gestalt den innern Vollkommenheiten mehr entsprochen! – [501] Bekenn es, Du, die Du selbst so schön bist, daß man nie einen schönern Mann gesehen! So würdig, so edel, so kühn und gebieterisch die Bildung! Jedes Glied, in welcher Harmonie mit dem andern! Und doch das Ganze von einem so sanften lieblichen Umrisse! Das wahre Modell der Natur, einen vollkommenen Mann zu bilden! Das seltene Muster der Kunst, die aus hundert Gegenständen zusammen suchen muß, was sie hier bei einander findet!

DIE KÖNIGIN bei Seite. Ich dacht es! – Das ist nicht länger auszuhalten. – Zu ihr. Wie ist dir, Rutland? Du gerätst außer dir. Ein Wort, ein Bild überjagt das andere. Was spielt so den Meister über dich? Ist es bloß deine Königin, ist es Essex selbst, was diese wahre, oder diese erzwungene Leidenschaft wirket? – Bei Seite. Sie schweigt; – ganz gewiß, sie liebt ihn. – Was habe ich getan? Welchen neuen Sturm habe ich in meinem Busen erregt? u.s.w.


Hier erscheinen Burleigh und die Nottingham wieder, der Königin zu sagen, daß Essex ihren Befehl erwarte. Er soll vor sie kommen. »Rutland, sagt die Königin, wir sprechen einander schon weiter; geh nur. – Nottingham, tritt du näher.« Dieser Zug der Eifersucht ist vortrefflich. Essex kömmt; und nun erfolgt die Szene mit der Ohrfeige. Ich wüßte nicht, wie sie verständiger und glücklicher vorbereitet sein könnte. Essex anfangs, scheinet sich völlig unterwerfen zu wollen; aber, da sie ihm befiehlt, sich zu rechtfertigen, wird er nach und nach hitzig; er prahlt, er pocht, er trotzt. Gleichwohl hätte alles das die Königin so weit nicht aufbringen können, wenn ihr Herz nicht schon durch Eifersucht erbittert gewesen wäre. Es ist eigentlich die eifersüchtige Liebhaberin, welche schlägt, und die sich nur der Hand der Königin bedienet. Eifersucht überhaupt schlägt gern. –

Ich, meines Teils, möchte diese Szenen lieber auch nur gedacht, als den ganzen Essex des Corneille gemacht haben. Sie sind so charakteristisch, so voller Leben und Wahrheit, daß das Beste des Franzosen eine sehr armselige Figur dagegen macht.

[502]
Neun und funfzigstes Stück

Den 24sten November, 1767


Nur den Stil des Banks muß man aus meiner Übersetzung nicht beurteilen. Von seinem Ausdrucke habe ich gänzlich abgehen müssen. Er ist zugleich so gemein und so kostbar, so kriechend und so hochtrabend, und das nicht von Person zu Person, sondern ganz durchaus, daß er zum Muster dieser Art von Mißhelligkeit dienen kann. Ich habe mich zwischen beide Klippen, so gut als möglich, durchzuschleichen gesucht; dabei aber doch an der einen lieber, als an der andern, scheitern wollen.

Ich habe mich mehr vor dem Schwülstigen gehütet, als vor dem Platten. Die mehresten hätten vielleicht gerade das Gegenteil getan; denn schwülstig und tragisch, halten viele so ziemlich für einerlei. Nicht nur viele, der Leser: auch viele, der Dichter selbst. Ihre Helden sollten wie andere Menschen sprechen? Was wären das für Helden? Ampullae et sesquipedalia verba, Sentenzen und Blasen und ellenlange Worte: das macht ihnen den wahren Ton der Tragödie.

»Wir haben es an nichts fehlen lassen,« sagt Diderot, 63 (man merke, daß er vornehmlich von seinen Landsleuten spricht,) »das Drama aus dem Grunde zu verderben. Wir haben von den Alten die volle prächtige Versifikation beibehalten, die sich doch nur für Sprachen von sehr abgemessenen Quantitäten, und sehr merklichen Akzenten, nur für weitläufige Bühnen, nur für eine in Noten gesetzte und mit Instrumenten begleitete Deklamation so wohl schickt: ihre Einfalt aber in der Verwickelung und dem Gespräche, und die Wahrheit ihrer Gemälde haben wir fahren lassen.«

Diderot hätte noch einen Grund hinzufügen können, warum wir uns den Ausdruck der alten Tragödien nicht durchgängig zum Muster nehmen dürfen. Alle Personen sprechen und unterhalten sich da auf einem freien, öffentlichen Platze, in Gegenwart einer neugierigen Menge Volks. Sie müssen [503] also fast immer mit Zurückhaltung, und Rücksicht auf ihre Würde, sprechen; sie können sich ihrer Gedanken und Empfindungen nicht in den ersten den besten Worten entladen; sie müssen sie abmessen und wählen. Aber wir Neuern, die wir den Chor abgeschafft, die wir unsere Personen größtenteils zwischen ihren vier Wänden lassen: was können wir für Ursache haben, sie dem ohngeachtet immer eine so geziemende, so ausgesuchte, so rhetorische Sprache führen zu lassen? Sie hört niemand, als dem sie es erlauben wollen, sie zu hören; mit ihnen spricht niemand als Leute, welche in die Handlung wirklich mit verwickelt, die also selbst im Affekte sind, und weder Lust noch Muße haben, Ausdrücke zu kontrollieren. Das war nur von dem Chore zu besorgen, der, so genau er auch in das Stück eingeflochten war, dennoch niemals mit handelte, und stets die handelnden Personen mehr richtete, als an ihrem Schicksale wirklichen Anteil nahm. Umsonst beruft man sich desfalls auf den höhern Rang der Personen. Vornehme Leute haben sich besser ausdrücken gelernt, als der gemeine Mann: aber sie affektieren nicht unaufhörlich, sich besser auszudrücken, als er. Am wenigsten in Leidenschaften; deren jeder seine eigene Beredsamkeit hat, mit der allein die Natur begeistert, die in keiner Schule gelernt wird, und auf die sich der Unerzogenste so gut verstehet, als der Polierteste.

Bei einer gesuchten, kostbaren, schwülstigen Sprache kann niemals Empfindung sein. Sie zeigt von keiner Empfindung, und kann keine hervorbringen. Aber wohl verträgt sie sich mit den simpelsten, gemeinsten, plattesten Worten und Redensarten.

Wie ich Banks Elisabeth sprechen lasse, weiß ich wohl, hat noch keine Königin auf dem französischen Theater gesprochen. Den niedrigen vertraulichen Ton, in dem sie sich mit ihren Frauen unterhält, würde man in Paris kaum einer guten adlichen Landfrau angemessen finden. »Ist dir nicht wohl? – Mir ist ganz wohl. Steh auf, ich bitte dich. – Nur unruhig; ein wenig unruhig bin ich. – Erzähle mir doch. – Nicht wahr, Nottingham? Tu das! Laß hören! – Gemach, gemach! – Du eiferst dich aus dem Atem. – Gift und Blattern [504] auf ihre Zunge! – Mir steht es frei, dem Dinge, das ich geschaffen habe, mitzuspielen, wie ich will. – Auf den Kopf schlagen. – Wie ists? Sei munter, liebe Rutland; ich will dir einen wackern Mann suchen. – Wie kannst du so reden? – Du sollst es schon sehen. – Sie hat mich recht sehr geärgert. Ich konnte sie nicht länger vor Augen sehen. – Komm her, meine Liebe; laß mich an deinen Busen mich lehnen. – Ich dacht es! – Das ist nicht länger auszuhalten.« – Ja wohl ist es nicht auszuhalten! würden die feinen Kunstrichter sagen –

Werden vielleicht auch manche von meinen Lesern sagen. – Denn leider gibt es Deutsche, die noch weit französischer sind, als die Franzosen. Ihnen zu gefallen, habe ich diese Brocken auf einen Haufen getragen. Ich kenne ihre Art zu kritisieren. Alle die kleinen Nachlässigkeiten, die ihr zärtliches Ohr so unendlich beleidigen, die dem Dichter so schwer zu finden waren, die er mit so vieler Überlegung dahin und dorthin streuete, um den Dialog geschmeidig zu machen, und den Reden einen wahrern Anschein der augenblicklichen Eingebung zu erteilen, reihen sie sehr witzig zusammen auf einen Faden, und wollen sich krank darüber lachen. Endlich folgt ein mitleidiges Achselzucken: »man hört wohl, daß der gute Mann die große Welt nicht kennet; daß er nicht viele Königinnen reden gehört; Racine verstand das besser; aber Racine lebte auch bei Hofe.«

Dem ohngeachtet würde mich das nicht irre machen. Desto schlimmer für die Königinnen, wenn sie wirklich nicht so sprechen, nicht so sprechen dürfen. Ich habe es lange schon geglaubt, daß der Hof der Ort eben nicht ist, wo ein Dichter die Natur studieren kann. Aber wenn Pomp und Etiquette aus Menschen Maschinen macht, so ist es das Werk des Dichters, aus diesen Maschinen wieder Menschen zu machen. Die wahren Königinnen mögen so gesucht und affektiert sprechen, als sie wollen: seine Königinnen müssen natürlich sprechen. Er höre der Hekuba des Euripides nur fleißig zu; und tröste sich immer, wenn er schon sonst keine Königinnen gesprochen hat.

Nichts ist züchtiger und anständiger als die simple Natur. Grobheit und Wust ist eben so weit von ihr entfernt, als [505] Schwulst und Bombast von dem Erhabnen. Das nämliche Gefühl, welches die Grenzscheidung dort wahrnimmt, wird sie auch hier bemerken. Der schwülstigste Dichter ist daher unfehlbar auch der pöbelhafteste. Beide Fehler sind unzertrennlich; und keine Gattung gibt mehrere Gelegenheit in beide zu verfallen, als die Tragödie.

Gleichwohl scheinet die Engländer vornehmlich nur der eine, in ihrem Banks beleidiget zu haben. Sie tadelten weniger seinen Schwulst, als die pöbelhafte Sprache, die er so edle und in der Geschichte ihres Landes so glänzende Personen führen lasse; und wünschten lange, daß sein Stück von einem Manne, der den tragischen Ausdruck mehr in seiner Gewalt habe, möchte umgearbeitet werden. 64 Dieses geschah endlich auch. Fast zu gleicher Zeit machten sich Jones und Brook darüber. Heinrich Jones, von Geburt ein Irländer, war seiner Profession nach ein Maurer, und vertauschte, wie der alte Ben Jonson, seine Kelle mit der Feder. Nachdem er schon einen Band Gedichte auf Subskription drucken lassen, die ihn als einen Mann von großem Genie bekannt machten, brachte er seinen Essex 1753 aufs Theater. Als dieser zu London gespielt ward, hatte man bereits den von Heinrich Brook in Dublin gespielt. Aber Brook ließ seinen erst einige Jahre hernach drucken; und so kann es wohl sein, daß er, wie man ihm Schuld gibt, eben sowohl den Essex des Jones, als den vom Banks, genutzt hat. Auch muß noch ein Essex von einem James Ralph vorhanden sein. Ich gestehe, daß ich keinen gelesen habe, und alle drei nur aus den gelehrten Tagebüchern kenne. Von dem Essex des Brook, sagt ein französischer Kunstrichter, daß er das Feuer und das Pathetische des Banks mit der schönen Poesie des Jones zu verbinden [506] gewußt habe. Was er über die Rolle der Rutland, und über derselben Verzweiflung bei der Hinrichtung ihres Gemahls, hinzufügt, 65 ist merkwürdig; man lernt auch daraus das Pariser Parterr auf einer Seite kennen, die ihm wenig Ehre macht.

Aber einen spanischen Essex habe ich gelesen, der viel zu sonderbar ist, als daß ich nicht im Vorbeigehen etwas davon sagen sollte. –

Sechzigstes Stück

Den 27sten November, 1767


Er ist von einem Ungenannten, und führet den Titel: Für seine Gebieterin sterben. 66 Ich finde ihn in einer Sammlung von Komödien, die Joseph Padrino zu Sevillien gedruckt hat, und in der er das vier und siebzigste Stück ist. Wenn er verfertiget worden, weiß ich nicht; ich sehe auch nichts, woraus es sich ungefähr abnehmen ließe. Das ist klar, daß sein Verfasser weder die französischen und englischen Dichter, welche die nämliche Geschichte bearbeitet haben, gebraucht hat, noch von ihnen gebraucht worden. Er ist ganz original. Doch ich will dem Urteile meiner Leser nicht vorgreifen.

Essex kömmt von seiner Expedition wider die Spanier zurück, und will der Königin in London Bericht davon abstatten. Wie er anlangt, hört er, daß sie sich zwei Meilen von der Stadt auf dem Landgute einer ihrer Hofdamen, Namens Blanca, befinde. Diese Blanca ist die Geliebte des Grafen, und auf diesem Landgute hat er, noch bei Lebszeiten ihres Vaters, viele heimliche Zusammenkünfte mit ihr gehabt. Sogleich [507] begibt er sich dahin, und bedient sich des Schlüssels, den er noch von der Gartentüre bewahret, durch die er ehedem zu ihr gekommen. Es ist natürlich, daß er sich seiner Geliebten eher zeigen will, als der Königin. Als er durch den Garten nach ihren Zimmern schleichet, wird er, an dem schattichten Ufer eines durch denselben geleiteten Armes der Themse, ein Frauenzimmer gewahr, (es ist ein schwüler Sommerabend,) das mit den bloßen Füßen in dem Wasser sitzt, und sich abkühlet. Er bleibt voller Verwunderung über ihre Schönheit stehen, ob sie schon das Gesicht mit einer halben Maske bedeckt hat, um nicht erkannt zu werden. (Diese Schönheit, wie billig, wird weitläuftig beschrieben, und besonders werden über die allerliebsten weißen Füße in dem klaren Wasser, sehr spitzfindige Dinge gesagt. Nicht genug, daß der entzückte Graf zwei kristallene Säulen in einem fließenden Kristalle stehen sieht; er weiß vor Erstaunen nicht, ob das Wasser der Kristall ihrer Füße ist, welcher in Fluß geraten, oder ob ihre Füße der Kristall des Wassers sind, der sich in diese Form kondensiert hat. 67) Noch verwirrter [508] macht ihn die halbe schwarze Maske auf dem weißen Gesichte: er kann nicht begreifen, in welcher Absicht die Natur ein so göttliches Monstrum gebildet, und auf seinem Gesichte so schwarzen Basalt mit so glänzendem Helfenbeine gepaaret habe; ob mehr zur Bewunderung, oder mehr zur Verspottung? 68 Kaum hat sich das Frauenzimmer wieder angekleidet, als, unter der Ausrufung: Stirb Tyrannin! ein Schuß auf sie geschieht, und gleich darauf zwei maskierte Männer mit bloßem Degen auf sie los gehen, weil der Schuß sie nicht getroffen zu haben scheinet. Essex besinnt sich nicht lange, ihr zu Hülfe zu eilen. Er greift die Mörder an, und sie entfliehen. Er will ihnen nach; aber die Dame ruft ihn zurück, und bittet ihn, sein Leben nicht in Gefahr zu setzen. Sie sieht, daß er verwundet ist, knüpft ihre Schärpe los, und gibt sie ihm, sich die Wunde damit zu verbinden. Zugleich, sagt sie, soll diese Schärpe dienen, mich Euch zu seiner Zeit zu erkennen zu geben; itzt muß ich mich entfernen, ehe über den Schuß mehr Lärmen entsteht; ich möchte nicht gern, daß die Königin den Zufall erführe, und ich beschwöre Euch daher um Eure Verschwiegenheit. Sie geht, und Essex bleibt voller Erstaunen über diese sonderbare Begebenheit, über die er mit seinem Bedienten, Namens Cosme, allerlei Betrachtungen anstellt. Dieser Cosme ist die lustige Person des Stücks; er war vor dem Garten geblieben, als sein Herr hereingegangen, und hatte den Schuß zwar gehört, aber ihm doch nicht zu Hülfe kommen dürfen. Die Furcht hielt an der Türe Schildwache, und versperrte ihm den Eingang. Furchtsam ist Cosme für viere; 69 und das sind die spanischen[509] Narren gemeiniglich alle. Essex bekennt, daß er sich unfehlbar in die schöne Unbekannte verliebt haben würde, wenn Blanca nicht schon so völlig Besitz von seinem Herzen genommen hätte, daß sie durchaus keiner andern Leidenschaft darin Raum lasse. Aber, sagt er, wer mag sie wohl gewesen sein? Was dünkt dich, Cosme? – Wer wirds gewesen sein, antwortet Cosme, als des Gärtners Frau, die sich die Beine gewaschen? – 70 Aus diesem Zuge, kann man leicht auf das Übrige schließen. Sie gehen endlich beide wieder fort; es ist zu spät geworden; das Haus könnte über den Schuß in Bewegung geraten sein; Essex getraut sich daher nicht, unbemerkt zur Blanca zu kommen, und verschiebt seinen Besuch auf ein andermal.

Nun tritt der Herzog von Alanzon auf, mit Flora, der Blanca Kammermädchen. (Die Szene ist noch auf dem Landgute, in einem Zimmer der Blanca; die vorigen Auftritte waren in dem Garten. Es ist des folgenden Tages.) Der König von Frankreich hatte der Elisabeth eine Verbindung mit seinem jüngsten Bruder vorgeschlagen. Dieses ist der Herzog von Alanzon. Er ist, unter dem Vorwande einer Gesandtschaft, nach England gekommen, um diese Verbindung zu Stande zu bringen. Es läßt sich alles, sowohl von Seiten des Parlaments als der Königin, sehr wohl dazu an; aber indes erblickt er die Blanca, und verliebt sich in sie. Itzt kömmt er, und bittet Floren, ihm in seiner Liebe behülflich zu sein. Flora verbirgt ihm nicht, wie wenig er zu erwarten habe; doch ohne ihm das geringste von der Vertraulichkeit, in welcher der Graf mit ihr stehet, zu entdecken. Sie sagt bloß, Blanca suche sich zu verheiraten, und da sie hierauf sich mit [510] einem Manne, dessen Stand so weit über den ihrigen erhaben sei, doch keine Rechnung machen könne, so dürfte sie schwerlich seiner Liebe Gehör geben. – (Man erwartet, daß der Herzog auf diesen Einwurf die Lauterkeit seiner Absichten beteuern werde; aber davon kein Wort! Die Spanier sind in diesem Punkte lange so strenge und delikat nicht, als die Franzosen.) Er hat einen Brief an die Blanca geschrieben, den Flora übergeben soll. Er wünscht, es selbst mit anzusehen, was dieser Brief für Eindruck auf sie machen werde. Er schenkt Floren eine güldne Kette, und Flora versteckt ihn in eine anstoßende Galerie, indem Blanca mit Cosme hereintritt, welcher ihr die Ankunft seines Herrn meldet.

Essex kömmt. Nach den zärtlichsten Bewillkommungen der Blanca, nach den teuersten Versicherungen des Grafen, wie sehr er ihrer Liebe sich würdig zu zeigen wünsche, müssen sich Flora und Cosme entfernen, und Blanca bleibt mit dem Grafen allein. Sie erinnert ihn, mit welchem Eifer und mit welcher Standhaftigkeit er sich um ihre Liebe beworben habe. Nachdem sie ihm drei Jahre widerstanden, habe sie endlich sich ihm ergeben, und ihn, unter Versicherung sie zu heiraten, zum Eigentümer ihrer Ehre gemacht. (Te hice dueño de mi honor: der Ausdruck sagt im Spanischen ein wenig viel.) Nur die Feindschaft, welche unter ihren beiderseitigen Familien obgewaltet, habe nicht erlaubt, ihre Verbindung zu vollziehen. Essex ist nichts in Abrede, und fügt hinzu, daß, nach dem Tode ihres Vaters und Bruders, nur die ihm aufgetragene Expedition wider die Spanier dazwischen gekommen sei. Nun aber habe er diese glücklich vollendet; nun wolle er unverzüglich die Königin um Erlaubnis zu ihrer Vermählung antreten. – Und so kann ich dir denn, sagt Blanca, als meinem Geliebten, als meinem Bräutigam, als meinem Freunde, alle meine Geheimnisse sicher anvertrauen. 71

[511]
Ein und sechzigstes Stück

Den 1sten Dezember, 1767


Hierauf beginnt sie eine lange Erzählung von dem Schicksale der Maria von Schottland. Wir erfahren, (denn Essex selbst muß alles das, ohne Zweifel, längst wissen,) daß ihr Vater und Bruder dieser unglücklichen Königin sehr zugetan gewesen; daß sie sich geweigert, an der Unterdrückung der Unschuld Teil zu nehmen; daß Elisabeth sie daher gefangen setzen, und in dem Gefängnisse heimlich hinrichten lassen. Kein Wunder, daß Blanca die Elisabeth haßt; daß sie fest entschlossen ist, sich an ihr zu rächen. Zwar hat Elisabeth nachher sie unter ihre Hofdamen aufgenommen, und sie ihres ganzen Vertrauens gewürdiget. Aber Blanca ist unversöhnlich. Umsonst wählte die Königin, nur kürzlich, vor allen andern das Landgut der Blanca, um die Jahreszeit einige Tage daselbst ruhig zu genießen. – Diesen Vorzug selbst wollte Blanca ihr zum Verderben gereichen lassen. Sie hatte an ihren Oheim geschrieben, welcher, aus Furcht, es möchte ihm wie seinem Bruder, ihrem Vater, ergehen, nach Schottland geflohen war, wo er sich im Verborgnen aufhielt. Der Oheim war gekommen; und kurz, dieser Oheim war es gewesen, welcher die Königin in dem Garten ermorden wollen. Nun weiß Essex, und wir mit ihm, wer die Person ist, der er das Leben gerettet hat. Aber Blanca weiß nicht, daß es Essex ist, welcher ihren Anschlag vereiteln müssen. Sie rechnet vielmehr auf die unbegrenzte Liebe, deren sie Essex versichert, und wagt es, ihn nicht bloß zum Mitschuldigen machen zu wollen, sondern ihm völlig die glücklichere Vollziehung ihrer Rache zu übertragen. Er soll sogleich an ihren Oheim, der wieder nach Schottland geflohen ist, schreiben, und gemeinschaftliche Sache mit ihm machen. Die Tyrannin müsse sterben; ihr Name sei allgemein verhaßt; ihr Tod sei eine Wohltat für das Vaterland, und niemand verdiene es mehr als Essex, dem Vaterlande diese Wohltat zu verschaffen.

Essex ist über diesen Antrag äußerst betroffen. Blanca, seine teure Blanca, kann ihm eine solche Verräterei zumuten? [512] Wie sehr schämt er sich, in diesem Augenblicke, seiner Liebe! Aber was soll er tun? Soll er ihr, wie es billig wäre, seinen Unwillen zu erkennen geben? Wird sie darum weniger bei ihren schändlichen Gesinnungen bleiben? Soll er der Königin die Sache hinterbringen? Das ist unmöglich: Blanca, seine ihm noch immer teure Blanca, läuft Gefahr. Soll er sie, durch Bitten und Vorstellungen, von ihrem Entschlusse abzubringen suchen? Er müßte nicht wissen, was für ein rachsüchtiges Geschöpf eine beleidigte Frau ist; wie wenig es sich durch Flehen erweichen, und durch Gefahr abschrecken läßt. Wie leicht könnte sie seine Abratung, sein Zorn, zur Verzweiflung bringen, daß sie sich einem andern entdeckte, der so gewissenhaft nicht wäre, und ihr zu Liebe alles unternähme? 72 – Dieses in der Geschwindigkeit überlegt, faßt er [513] den Vorsatz, sich zu verstellen, um den Roberto, so heißt der Oheim der Blanca, mit allen seinen Anhängern, in die Falle zu locken.

Blanca wird ungeduldig, daß ihr Essex nicht sogleich antwortet. »Graf, sagt sie, wenn Du erst lange mit Dir zu Rate gehst, so liebst Du mich nicht. Auch nur zweifeln, ist Verbrechen. Undankbarer! – 73 Sei ruhig, Blanca! erwidert Essex: ich bin entschlossen. – Und wozu? – Gleich will ich Dir es schriftlich geben.«

Essex setzt sich nieder, an ihren Oheim zu schreiben, und indem tritt der Herzog aus der Galerie näher. Er ist neugierig zu sehen, wer sich mit der Blanca so lange unterhält; und erstaunt, den Grafen von Essex zu erblicken. Aber noch mehr erstaunt er über das, was er gleich darauf zu hören bekömmt. Essex hat an den Roberto geschrieben, und sagt der Blanca den Inhalt seines Schreibens, das er sofort durch den Cosme abschicken will. Roberto soll mit allen seinen Freunden einzeln nach London kommen; Essex will ihn mit seinen Leuten unterstützen; Essex hat die Gunst des Volks; nichts wird leichter sein, als sich der Königin zu bemächtigen; sie ist schon so gut, als tot. – Erst müßt ich sterben! ruft auf einmal der Herzog, und kömmt auf sie los. Blanca und der Graf erstaunen über diese plötzliche Erscheinung: und das Erstaunen des letztern ist nicht ohne Eifersucht. Er glaubt, daß Blanca den Herzog bei sich verborgen gehalten. Der Herzog rechtfertiget die Blanca, und versichert, daß sie von seiner Anwesenheit nichts gewußt; er habe die Galerie offen gefunden, und sei von selbst hereingegangen, die Gemälde darin zu betrachten. 74


[514] DER HERZOG. Bei dem Leben meines Bruders, bei dem mir noch kostbarern Leben der Königin, bei – Aber genug, daß ich es sage: Blanca ist unschuldig. Und nur ihr, Mylord, haben Sie diese Erklärung zu danken. Auf Sie, ist im geringsten nicht dabei gesehen. Denn mit Leuten, wie Sie, machen Leute, wie ich –

[515] DER GRAF. Prinz, Sie kennen mich ohne Zweifel nicht recht? –

DER HERZOG. Freilich habe ich Sie nicht recht gekannt. Aber ich kenne Sie nun. Ich hielt Sie für einen ganz andern Mann: und ich finde, Sie sind ein Verräter.

DER GRAF, Wer darf das sagen?

DER HERZOG. Ich! – Nicht ein Wort mehr! Ich will kein Wort mehr hören, Graf!

DER GRAF. Meine Absicht mag auch gewesen sein –

DER HERZOG. Denn kurz: ich bin überzeugt, daß ein Verräter kein Herz hat. Ich treffe Sie als einen Verräter: ich muß Sie für einen Mann ohne Herz halten. Aber um so weniger darf ich mich dieses Vorteils über Sie bedienen. Meine Ehre verzeiht Ihnen, weil Sie der Ihrigen verlustig sind. Wären Sie so unbescholten, als ich Sie sonst geglaubt, so würde ich Sie zu züchtigen wissen.

DER GRAF. Ich bin der Graf von Essex. So hat mir noch niemand begegnen dürfen, als der Bruder des Königs von Frankreich.

DER HERZOG. Wenn ich auch der nicht wäre, der ich bin; wenn nur Sie der wären, der Sie nicht sind, ein Mann von Ehre: so sollten Sie wohl empfinden, mit wem Sie zu tun hätten. – Sie, der Graf von Essex? Wenn Sie dieser berufene Krieger sind: wie können Sie so viele große Taten durch eine so unwürdige Tat vernichten wollen? –

Zwei und sechzigstes Stück

Den 4ten Dezember, 1767


Der Herzog fährt hierauf fort, ihm sein Unrecht, in einem etwas gelindern Tone, vorzuhalten. Er ermahnt ihn, sich [516] eines bessern zu besinnen; er will es vergessen, was er gehört habe; er ist versichert, daß Blanca mit dem Grafen nicht einstimme, und daß sie selbst ihm eben das würde gesagt haben, wenn er, der Herzog, ihr nicht zuvorgekommen wäre. Er schließt endlich: »Noch einmal, Graf; gehen Sie in sich! Stehen Sie von einem so schändlichen Vorhaben ab! Werden Sie wieder Sie selbst! Wollen Sie aber meinem Rate nicht folgen: so erinnern Sie sich, daß Sie einen Kopf haben, und London einen Henker!« 75 – Hiermit entfernt sich der Herzog. Essex ist in der äußersten Verwirrung; es schmerzt ihn, sich für einen Verräter gehalten zu wissen; gleichwohl darf er es itzt nicht wagen, sich gegen den Herzog zu rechtfertigen; er muß sich gedulden, bis es der Ausgang lehre, daß er da seiner Königin am getreuesten gewesen sei, als er es am wenigsten zu sein geschienen. 76 So spricht er mit sich selbst: zur Blanca aber sagt er, daß er den Brief sogleich an ihren Oheim senden wolle, und geht ab. Blanca desgleichen; nachdem sie ihren Unstern verwünscht, sich aber noch damit getröstet, daß es kein Schlimmerer als der Herzog sei, welcher von dem Anschlage des Grafen wisse.

Die Königin erscheinet mit ihrem Kanzler, dem sie es vertrauet hat, was ihr in dem Garten begegnet. Sie befiehlt, daß ihre Leibwache alle Zugänge wohl besetze; und morgen will sie nach London zurückkehren. Der Kanzler ist der Meinung, die Meuchelmörder aufsuchen zu lassen, und durch ein öffentliches Edikt demjenigen, der sie anzeigen werde, eine ansehnliche Belohnung zu verheißen, sollte er auch [517] selbst ein Mitschuldiger sein. »Denn da es ihrer zwei waren,« sagt er, »die den Anfall taten, so kann leicht einer davon ein eben so treuloser Freund sein, als er ein treuloser Untertan ist.« 77 – Aber die Königin mißbilliget diesen Rat; sie hält es für besser, den ganzen Vorfall zu unterdrücken, und es gar nicht bekannt werden zu lassen, daß es Menschen gegeben, die sich einer solchen Tat erkühnen dürfen. »Man muß, sagt sie, die Welt glauben machen, daß die Könige so wohl bewacht werden, daß es der Verräterei unmöglich ist, an sie zu kommen. Außerordentliche Verbrechen werden besser verschwiegen, als bestraft. Denn das Beispiel der Strafe ist von dem Beispiele der Sünde unzertrennlich; und dieses kann oft eben so sehr anreizen, als jenes abschrecken.« 78

Indem wird Essex gemeldet, und vorgelassen. Der Bericht, den er von dem glücklichen Erfolge seiner Expedition abstattet, ist kurz. Die Königin sagt ihm, auf eine sehr verbindliche Weise: »Da ich Euch wieder erblicke, weiß ich von dem Ausgange des Krieges schon genug.« 79 Sie will von keinen nähern Umständen hören, bevor sie seine Dienste nicht belohnt, und befiehlt dem Kanzler, dem Grafen sogleich das Patent als Admiral von England auszufertigen. Der Kanzler geht; die Königin und Essex sind allein; das Gespräch wird vertraulicher; Essex hat die Schärpe um; die Königin bemerkt [518] sie, und Essex würde es aus dieser bloßen Bemerkung schließen, daß er sie von ihr habe, wenn er es aus den Reden der Blanca nicht schon geschlossen hätte. Die Königin hat den Grafen schon längst heimlich geliebt; und nun ist sie ihm sogar das Leben schuldig. 80 Es kostet ihr alle Mühe, ihre Neigung zu verbergen. Sie tut verschiedne Fragen, ihn auszulocken und zu hören, ob sein Herz schon eingenommen, und ob er es vermute, wem er das Leben in dem Garten gerettet. Das letzte gibt er ihr durch seine Antworten gewissermaßen zu verstehen, und zugleich, daß er für eben diese Person mehr empfinde, als er derselben zu entdecken sich erkühnen dürfe. Die Königin ist auf dem Punkte, sich ihm zu erkennen zu geben: doch siegt noch ihr Stolz über ihre Liebe. Eben so sehr hat der Graf mit seinem Stolze zu kämpfen: er kann sich des Gedankens nicht entwehren, daß ihn die Königin liebe, ob er schon die Vermessenheit dieses Gedankens erkennet. (Daß diese Szene größtenteils aus Reden bestehen müsse, die jedes seitab führet, ist leicht zu erachten.) Sie heißt ihn gehen, und heißt ihn wieder so lange warten, bis der Kanzler ihm das Patent bringe. Er bringt es; sie überreicht es ihm; er bedankt sich, und das Seitab fängt mit neuem Feuer an.


DIE KÖNIGIN. Törichte Liebe! –
ESSEX. Eitler Wahnsinn! –
DIE KÖNIGIN. Wie blind! –
ESSEX. Wie verwegen! –
DIE KÖNIGIN. So tief willst du, daß ich mich herabsetze? –
ESSEX. So hoch willst du, daß ich mich versteige?
DIE KÖNIGIN. Bedenke, daß ich Königin bin!
ESSEX. Bedenke, daß ich Untertan bin!
DIE KÖNIGIN. Du stürzest mich bis in den Abgrund, –
ESSEX. Du erhebest mich bis zur Sonne, –
DIE KÖNIGIN. Ohne auf meine Hoheit zu achten.
[519] ESSEX. Ohne meine Niedrigkeit zu erwägen.
DIE KÖNIGIN. Aber, weil du meines Herzens dich bemeistert: –
ESSEX. Aber, weil Du meiner Seele Dich bemächtiget: –
DIE KONIGIN. So stirb da, und komm nie auf die Zunge!
ESSEX. So stirb da, und komm nie über die Lippen! 81

(Ist das nicht eine sonderbare Art von Unterhaltung? Sie reden mit einander; und reden auch nicht mit einander. Der eine hört, was der andere nicht sagt, und antwortet auf das, was er nicht gehört hat. Sie nehmen einander die Worte nicht aus dem Munde, sondern aus der Seele. Man sage jedoch nicht, daß man ein Spanier sein muß, um an solchen unnatürlichen Künsteleien Geschmack zu finden. Noch vor einige dreißig Jahren fanden wir Deutsche eben so viel Geschmack daran; denn unsere Staats- und Helden-Aktionen wimmelten davon, die in allem nach den spanischen Mustern zugeschnitten waren.)

Nachdem die Königin den Essex beurlaubet und ihm befohlen, ihr bald wieder aufzuwarten, gehen beide auf verschiedene Seiten ab, und machen dem ersten Aufzuge ein Ende. – Die Stücke der Spanier, wie bekannt, haben deren nur drei, welche sie Jornadas, Tagewerke, nennen. Ihre allerältesten [520] Stücke hatten viere: sie krochen, sagt Lope de Vega, auf allen vieren, wie Kinder; denn es waren auch wirklich noch Kinder von Komödien. Virues war der erste, welcher die vier Aufzüge auf drei brachte; und Lope folgte ihm darin, ob er schon die ersten Stücke seiner Jugend, oder vielmehr seiner Kindheit, ebenfalls in vieren gemacht hatte. Wir lernen dieses aus einer Stelle in des letztern Neuen Kunst, Komödien zu machen; 82 mit der ich aber eine Stelle des Cervantes in Widerspruch finde, 83 wo sich dieser den Ruhm anmaßt, die spanische Komödie von fünf Akten, aus welchen sie sonst bestanden, auf drei gebracht zu haben. Der spanische Litterator mag diesen Widerspruch entscheiden; ich will mich dabei nicht aufhalten.

Drei und sechzigstes Stück

Den 8ten Dezember, 1767


Die Königin ist von dem Landgute zurückgekommen; und Essex gleichfalls. Sobald er in London angelangt, eilte er nach Hofe, um sich keinen Augenblick vermissen zu lassen. Er eröffnet mit seinem Cosme den zweiten Akt, der in dem Königlichen Schlosse spielt. Cosme hat, auf Befehl des Grafen, sich mit Pistolen versehen müssen; der Graf hat heimliche Feinde; er besorgt, wenn er des Nachts spät vom Schlosse gehe, überfallen zu werden. Er heißt den Cosme, die Pistolen nur indes in das Zimmer der Blanca zu tragen, und sie von Floren aufheben zu lassen. Zugleich bindet er[521] die Schärpe los, weil er zur Blanca gehen will. Blanca ist eifersüchtig; die Schärpe könnte ihr Gedanken machen; sie könnte sie haben wollen; und er würde sie ihr abschlagen müssen. Indem er sie dem Cosme zur Verwahrung übergibt, kömmt Blanca dazu. Cosme will sie geschwind verstecken; aber es kann so geschwind nicht geschehen, daß es Blanca nicht merken sollte. Blanca nimmt den Grafen mit sich zur Königin; und Essex ermahnt im Abgehen den Cosme, wegen der Schärpe reinen Mund zu halten, und sie niemanden zu zeigen.

Cosme hat, unter seinen andern guten Eigenschaften, auch diese, daß er ein Erzplauderer ist. Er kann kein Geheimnis eine Stunde bewahren; er fürchtet ein Geschwär im Leibe davon zu bekommen; und das Verbot des Grafen hat ihn zu rechter Zeit erinnert, daß er sich dieser Gefahr bereits sechs und dreißig Stunden ausgesetzt habe. 84 Er gibt Floren die Pistolen, und hat den Mund schon auf, ihr auch die ganze Geschichte, von der maskierten Dame und der Schärpe, zu erzählen. Doch eben besinnt er sich, daß es wohl eine würdigere Person sein müsse, der er sein Geheimnis zuerst mitteile. Es würde nicht lassen, wenn sich Flora rühmen könnte, ihn dessen defloriert zu haben. 85 (Ich muß von allerlei Art des spanischen Witzes eine kleine Probe einzuflechten suchen.)

Cosme darf auf diese würdigere Person nicht lange warten. Blanca wird von ihrer Neugierde viel zu sehr gequält, daß sie sich nicht, sobald als möglich, von dem Grafen losmachen sollen, um zu erfahren, was Cosme vorhin so hastig von ihr [522] zu verbergen gesucht. Sie kömmt also sogleich zurück, und nachdem sie ihn zuerst gefragt, warum er nicht schon nach Schottland abgegangen, wohin ihn der Graf schicken wollen, und er ihr geantwortet, daß er mit anbrechendem Tage abreisen werde: verlangt sie zu wissen, was er da versteckt halte? Sie dringt in ihn: doch Cosme läßt nicht lange in sich dringen. Er sagt ihr alles, was er von der Schärpe weiß; und Blanca nimmt sie ihm ab. Die Art, mit der er sich seines Geheimnisses entlediget, ist äußerst ekel. Sein Magen will es nicht länger bei sich behalten; es stößt ihm auf; es kneipt ihn; er steckt den Finger in den Hals; er gibt es von sich; und um einen bessern Geschmack wieder in den Mund zu bekommen, läuft er geschwind ab, eine Quitte oder Olive darauf zu kauen. 86 Blanca kann aus seinem verwirrten Geschwätze zwar nicht recht klug werden: sie versteht aber doch so viel daraus, daß die Schärpe das Geschenk einer Dame ist, in die Essex verliebt werden könnte, wenn er es nicht schon sei. »Denn er ist doch nur ein Mann; sagt sie. Und wehe der, die ihre Ehre einem Manne anvertrauet hat! Der beste, ist noch so schlimm!« 87 – Um seiner Untreue also zuvorzukommen, will sie ihn je eher je lieber heiraten.

Die Königin tritt herein, und ist äußerst niedergeschlagen. Blanca fragt, ob sie die übrigen Hofdamen rufen soll; aber [523] die Königin will lieber allein sein; nur Irene soll kommen, und vor dem Zimmer singen. Blanca geht auf der einen Seite nach Irenen ab, und von der andern kömmt der Graf.

Essex liebt die Blanca; aber er ist ehrgeizig genug, auch der Liebhaber der Königin sein zu wollen. Er wirft sich diesen Ehrgeiz selbst vor; er bestraft sich deswegen; sein Herz gehört der Blanca; eigennützige Absichten müssen es ihr nicht entziehen wollen; un echte Convenienz muß keinen echten Affekt besiegen. 88 Er will sich also lieber wieder entfernen, als er die Königin gewahr wird: und die Königin, als sie ihn erblickt, will ihm gleichfalls ausweichen. Aber sie bleiben beide. Indem fängt Irene vor dem Zimmer an zu singen. Sie singt eine Redondilla, ein kleines Lied von vier Zeilen, dessen Sinn dieser ist: »Sollten meine verliebten Klagen zu deiner Kenntnis gelangen: o so laß das Mitleid, welches sie verdienen, den Unwillen überwältigen, den du darüber empfindest, daß ich es bin, der sie führet.« Der Königin gefällt das Lied; und Essex findet es bequem, ihr durch dasselbe, auf eine versteckte Weise, seine Liebe zu erklären. Er sagt, er habe es glossieret, 89 und bittet um Erlaubnis, ihr seine Glosse vorsagen zu dürfen. In dieser Glosse beschreibt er sich als den zärtlichsten Liebhaber, dem es aber die Ehrfurcht verbiete, sich dem geliebten Gegenstande zu entdecken. Die Königin [524] lobt seine Poesie; aber sie mißbilliget seine Art zu lieben. »Eine Liebe, sagt sie unter andern, die man verschweigt, kann nicht groß sein; denn Liebe wächst nur durch Gegenliebe, und der Gegenliebe macht man sich durch das Schweigen mutwillig verlustig.«

[525]
Vier und sechzigstes Stück

Den 11ten Dezember, 1767


Der Graf versetzt, daß die vollkommenste Liebe die sei, welche keine Belohnung erwarte; und Gegenliebe sei Belohnung. Sein Stillschweigen selbst mache sein Glück: denn so lange er seine Liebe verschweige, sei sie noch unverworfen, könne er sich noch von der süßen Vorstellung täuschen lassen, daß sie vielleicht dürfe genehmiget werden. Der Unglückliche sei glücklich, so lange er noch nicht wisse, wie unglücklich er sei. 90 Die Königin widerlegt diese Sophistereien [526] als eine Person, der selbst daran gelegen ist, daß Essex nicht länger darnach handle: und Essex, durch diese Widerlegung erdreistet, ist im Begriff, das Bekenntnis zu wagen, von welchem die Königin behauptet, daß es ein Liebhaber auf alle Weise wagen müsse; als Blanca hereintritt, den Herzog anzumelden. Diese Erscheinung der Blanca bewirkt einen von den sonderbarsten Theaterstreichen. Denn Blanca hat die Schärpe um, die sie dem Cosme abgenommen, welches zwar die Königin, aber nicht Essex gewahr wird. 91


[527] ESSEX. So sei es gewagt! – Frisch! Sie ermuntert mich selbst. Warum will ich an der Krankheit sterben, wenn ich an dem Hülfsmittel sterben kann? Was fürchte ich noch? – Königin, wann denn also. –

BLANCA. Der Herzog, Ihro Majestät, –

ESSEX. Blanca könnte nicht ungelegener kommen.

BLANCA. Wartet in dem Vorzimmer, –

DIE KÖNIGIN. Ah! Himmel!

BLANCA. Auf Erlaubnis, –

DIE KÖNIGIN. Was erblicke ich?

BLANCA. Hereintreten zu dürfen.

DIE KÖNIGIN. Sag ihm – Was seh ich! – Sag ihm, er soll warten. – Ich komme von Sinnen! – Geh, sag ihm das.

BLANCA. Ich gehorche.

DIE KÖNIGIN. Bleib! Komm her! näher! –

[528] BLANCA. Was befehlen Ihro Majestät? –

DIE KÖNIGIN. O, ganz gewiß! – Sage ihm – Es ist kein Zweifel mehr! – Geh, unterhalte ihn einen Augenblick, – Weh mir! Bis ich selbst zu ihm herauskomme. Geh, laß mich!

BLANCA, Was ist das? – Ich gehe.

ESSEX. Blanca ist weg. Ich kann nun wieder fortfahren, –

DIE KÖNIGIN. Ha, Eifersucht!

ESSEX. Mich zu erklären. – Was ich wage, wage ich auf ihre eigene Überredung.

DIE KÖNIGIN. Mein Geschenk in fremden Händen! Bei Gott! – Aber ich muß mich schämen, daß eine Leidenschaft so viel über mich vermag!

ESSEX. Wenn denn also, – wie Ihre Majestät gesagt, – und wie ich einräumen muß, – das Glück, welches man durch Furcht erkauft, – sehr teuer zu stehen kömmt; – wenn man viel edler stirbt: – so will auch ich, –

DIE KÖNIGIN. Warum sagen Sie das, Graf?

ESSEX. Weil ich hoffe, daß, wann ich – Warum fürchte ich mich noch? – wann ich Ihro Majestät meine Leidenschaft bekennte, – daß einige Liebe –

DIE KÖNIGIN. Was sagen Sie da, Graf? An mich richtet sich das? Wie? Tor! Unsinniger! Kennen Sie mich auch? Wissen Sie, wer ich bin? Und wer Sie sind? Ich muß glauben, daß Sie den Verstand verloren. –


Und so fahren Ihro Majestät fort, den armen Grafen auszufenstern, daß es eine Art hat! Sie fragt ihn, ob er nicht wisse, wie weit der Himmel über alle menschliche Erfrechungen erhaben sei? Ob er nicht wisse, daß der Sturmwind, der in den Olymp dringen wolle, auf halbem Wege zurückbrausen müsse? Ob er nicht wisse, daß die Dünste, welche sich zur Sonne erhieben, von ihren Strahlen zerstreuet würden? – Wer vom Himmel gefallen zu sein glaubt, ist Essex. Er zieht sich beschämt zurück, und bittet um Verzeihung. Die Königin befiehlt ihm, ihr Angesicht zu meiden, nie ihren Palast wieder zu betreten, und sich glücklich zu schätzen, daß sie ihm den Kopf lasse, in welchem sich so eitle Gedanken erzeugen können. 92 [529] Er entfernt sich; und die Königin geht gleichfalls ab, nicht ohne uns merken zu lassen, wie wenig ihr Herz mit ihren Reden übereinstimme.

Blanca und der Herzog kommen an ihrer Statt, die Bühne zu füllen. Blanca hat dem Herzoge es frei gestanden, auf welchem Fuße sie mit dem Grafen stehe; daß er notwendig ihr Gemahl werden müsse, oder ihre Ehre sei verloren. Der Herzog faßt den Entschluß, den er wohl fassen muß; er will sich seiner Liebe entschlagen: und ihr Vertrauen zu vergelten, verspricht er sogar, sich bei der Königin ihrer anzunehmen, wenn sie ihr die Verbindlichkeit, die der Graf gegen sie habe, entdecken wolle.

Die Königin kömmt bald, in tiefen Gedanken, wieder zurück. Sie ist mit sich selbst im Streit, ob der Graf auch wohl so schuldig sei, als er scheine. Vielleicht, daß es eine andere Schärpe war, die der ihrigen nur so ähnlich ist. – Der Herzog tritt sie an. Er sagt, er komme, sie um eine Gnade zu bitten, um welche sie auch zugleich Blanca bitte. Blanca werde sich näher darüber erklären; er wolle sie zusammen allein lassen: und so läßt er sie.

Die Königin wird neugierig, und Blanca verwirrt. Endlich entschließt sich Blanca, zu reden. Sie will nicht länger von dem veränderlichen Willen eines Mannes abhangen; sie will es seiner Rechtschaffenheit nicht länger anheim stellen, was sie durch Gewalt erhalten kann. Sie flehet die Elisabeth um Mitleid an: die Elisabeth, die Frau; nicht die Königin. Denn da sie eine Schwachheit ihres Geschlechts bekennen müsse: so suche sie in ihr nicht die Königin, sondern nur die Frau. 93

[530]
Fünf und sechzigstes Stück

Den 15ten Dezember, 1767


Du? mir eine Schwachheit? fragt die Königin.

BLANCA. Schmeicheleien, Seufzer, Liebkosungen, und besonders Tränen, sind vermögend, auch die reinste Tugend zu untergraben. Wie teuer kömmt mir diese Erfahrung zu stehen! Der Graf –

DIE KÖNIGIN. Der Graf? Was für ein Graf? –

BLANCA. Von Essex.

DIE KÖNIGIN. Was höre ich?

BLANCA. Seine verführerische Zärtlichkeit –

DIE KÖNIGIN. Der Graf von Essex?

BLANCA. Er selbst, Königin. –

DIE KÖNIGIN bei Seite. Ich bin des Todes! – Nun? weiter!

BLANCA. Ich zittere. – Nein, ich darf es nicht wagen –


Die Königin macht ihr Mut, und lockt ihr nach und nach mehr ab, als Blanca zu sagen brauchte; weit mehr, als sie selbst zu hören wünscht. Sie höret, wo und wie der Graf glücklich gewesen; 94 und als sie endlich auch höret, daß er [531] ihr die Ehe versprochen, und daß Blanca auf die Erfüllung dieses Versprechens dringe: so bricht der so lange zurückgehaltene Sturm auf einmal aus. Sie verhöhnet das leichtgläubige Mädchen auf das empfindlichste, und verbietet ihr schlechterdings, an den Grafen weiter zu denken. Blanca errät ohne Mühe, daß dieser Eifer der Königin, Eifersucht sein müsse: und gibt es ihr zu verstehen.


DIE KÖNIGIN. Eifersucht? – Nein; bloß deine Aufführung entrüstet mich. – Und gesetzt, – ja gesetzt, ich liebte den Grafen. Wenn ich, – Ich ihn liebte, und eine andere wäre so vermessen, so töricht, ihn neben mir zu lieben, – was sage ich, zu lieben? – ihn nur anzusehen, – was sage ich, anzusehen? – sich nur einen Gedanken von ihm in den Sinn kommen zu lassen: das sollte dieser andern nicht das Leben kosten? – Du siehest, wie sehr mich eine bloß vorausgesetzte, erdichtete Eifersucht aufbringt: urteile daraus, was ich bei einer wahren tun würde. Itzt stelle ich mich nur eifersüchtig: hüte dich, mich es wirklich zu machen! 95


[532] Mit dieser Drohung geht die Königin ab, und läßt Blanca in der äußersten Verzweiflung. Dieses fehlte noch zu den Beleidigungen, über die sich Blanca bereits zu beklagen hatte. Die Königin hat ihr Vater und Bruder und Vermögen genommen: und nun will sie ihr auch den Grafen nehmen. Die Rache war schon beschlossen; aber warum soll Blanca noch erst warten, bis sie ein anderer für sie vollzieht? Sie will sie selbst bewerkstelligen, und noch diesen Abend. Als Kammerfrau der Königin, muß sie sie auskleiden helfen; da ist sie mit ihr allein; und es kann ihr an Gelegenheit nicht fehlen. – Sie sieht die Königin mit dem Kanzler wiederkommen, und geht, sich zu ihrem Vorhaben gefaßt zu machen.

Der Kanzler hält verschiedne Briefschaften, die ihm die Königin nur auf einen Tisch zu legen befiehlt; sie will sie vor Schlafengehen noch durchsehen. Der Kanzler erhebt die außerordentliche Wachsamkeit, mit der sie ihren Reichsgeschäften obliege; die Königin erkennt es für ihre Pflicht, und beurlaubet den Kanzler. Nun ist sie allein, und setzt sich zu den Papieren. Sie will sich ihres verliebten Kummers entschlagen, und anständigern Sorgen überlassen. Aber das erste Papier, was sie in die Hände nimmt, ist die Bittschrift eines Grafen Felix. Eines Grafen! »Muß es denn eben, sagt sie, von einem Grafen sein, was mir zuerst vorkömmt!« Dieser Zug ist vortrefflich. Auf einmal ist sie wieder mit ihrer ganzen Seele bei demjenigen Grafen, an den sie itzt nicht denken wollte. Seine Liebe zur Blanca ist ein Stachel in ihrem Herzen, der ihr das Leben zur Last macht. Bis sie der Tod von dieser Marter befreie, will sie bei dem Bruder des Todes Linderung suchen: und so fällt sie in Schlaf.

Indem tritt Blanca herein, und hat eine von den Pistolen [533] des Grafen, die sie in ihrem Zimmer gefunden. (Der Dichter hatte sie, zu Anfange dieses Akts, nicht vergebens dahin tragen lassen.) Sie findet die Königin allein und entschlafen: was für einen bequemern Augenblick könnte sie sich wünschen? Aber eben hat der Graf die Blanca gesucht, und sie in ihrem Zimmer nicht getroffen. Ohne Zweifel errät man, was nun geschieht. Er kömmt also, sie hier zu suchen; und kömmt eben noch zurecht, der Blanca in den mörderischen Arm zu fallen, und ihr die Pistole, die sie auf die Königin schon gespannt hat, zu entreißen. Indem er aber mit ihr ringt, geht der Schuß los: die Königin erwacht, und alles kömmt aus dem Schlosse herzugelaufen.


DIE KÖNIGIN im Erwachen. Ha! Was ist das?

DER KANZLER. Herbei, herbei! Was war das für ein Knall, in dem Zimmer der Königin? Was geschieht hier?

ESSEX mit der Pistole in der Hand. Grausamer Zufall!

DIE KÖNIGIN. Was ist das, Graf?

ESSEX. Was soll ich tun?

DIE KÖNIGIN. Blanca, was ist das?

BLANCA. Mein Tod ist gewiß!

ESSEX. In welcher Verwirrung befinde ich mich!

DER KANZLER. Wie? der Graf ein Verräter?

ESSEX bei Seite. Wozu soll ich mich entschließen? Schweige ich: so fällt das Verbrechen auf mich. Sage ich die Wahrheit: so werde ich der nichtswürdige Verkläger meiner Geliebten, meiner Blanca, meiner teuersten Blanca.

DIE KÖNIGIN. Sind Sie der Verräter, Graf? Bist du es, Blanca? Wer von euch war mein Retter? wer mein Mörder? Mich dünkt, ich hörte im Schlafe euch beide rufen: Verräterin! Verräter! Und doch kann nur eines von euch diesen Namen verdienen. Wenn eines von euch mein Leben suchte, so bin ich es dem andern schuldig. Wem bin ich es schuldig, Graf? Wer suchte es, Blanca? Ihr schweigt? – Wohl, schweigt nur! Ich will in dieser Ungewißheit bleiben; ich will den Unschuldigen nicht wissen, um den Schuldigen nicht zu kennen. Vielleicht dürfte es mich eben so sehr schmerzen, meinen Beschützer zu erfahren, als meinen [534] Feind. Ich will der Blanca gern ihre Verräterei vergeben, ich will sie ihr verdanken: wenn dafür der Graf nur unschuldig war. 96


Aber der Kanzler sagt: wenn es die Königin schon hierbei wolle bewenden lassen, so dürfe er es doch nicht; das Verbrechen sei zu groß; sein Amt erfodere, es zu ergründen; besonders da aller Anschein sich wider den Grafen erkläre.


DIE KÖNIGIN. Der Kanzler hat Recht; man muß es untersuchen. – Graf, –

ESSEX. Königin! –

DIE KÖNIGIN. Bekennen Sie die Wahrheit. – Bei Seite. Aber wie sehr fürchtet meine Liebe, sie zu hören! – War es Blanca?

ESSEX. Ich Unglücklicher!

[535] DIE KÖNIGIN. War es Blanca, die meinen Tod wollte?

ESSEX. Nein, Königin; Blanca war es nicht.

DIE KÖNIGIN. Sie waren es also?

ESSEX. Schreckliches Schicksal! – Ich weiß nicht.

DIE KÖNIGIN. Sie wissen es nicht? – Und wie kömmt dieses mörderische Werkzeug in Ihre Hand? –


Der Graf schweigt, und die Königin befiehlt, ihn nach dem Tower zu bringen. Blanca, bis sich die Sache mehr aufhellet, soll in ihrem Zimmer bewacht werden. Sie werden abgeführt, und der zweite Aufzug schließt.

Sechs und sechzigstes Stück

Den 18ten Dezember, 1767


Der dritte Aufzug fängt sich mit einer langen Monologe der Königin an, die allen Scharfsinn der Liebe aufbietet, den Grafen unschuldig zu finden. Die Vielleicht werden nicht gespart, um ihn weder als ihren Mörder, noch als den Liebhaber der Blanca denken zu dürfen. Besonders geht sie mit den Voraussetzungen wider die Blanca ein wenig sehr weit; sie denkt über diesen Punkt überhaupt lange so zärtlich und sittsam nicht, als wir es wohl wünschen möchten, und als sie auf unsern Theatern denken müßte. 97

Es kommen der Herzog, und der Kanzler: jener, ihr seine [536] Freude über die glückliche Erhaltung ihres Lebens zu bezeigen; dieser, ihr einen neuen Beweis, der sich wider den Essex äußert, vorzulegen. Auf der Pistole, die man ihm aus der Hand genommen, steht sein Name; sie gehört ihm; und wem sie gehört, der hat sie unstreitig auch brauchen wollen.

Doch nichts scheinet den Essex unwidersprechlicher zu verdammen, als was nun erfolgt. Cosme hat, bei anbrechendem Tage, mit dem bewußten Briefe nach Schottland abgehen wollen, und ist angehalten worden. Seine Reise sieht einer Flucht sehr ähnlich, und eine solche Flucht läßt vermuten, daß er an dem Verbrechen seines Herrn Anteil könne gehabt haben. Er wird also vor den Kanzler gebracht, und die Königin befiehlt, ihn in ihrer Gegenwart zu verhören. Den Ton, in welchem sich Cosme rechtfertiget, kann man leicht erraten. Er weiß von nichts; und als er sagen soll, wo er hingewollt, läßt er sich um die Wahrheit nicht lange nötigen. Er zeigt den Brief, den ihm sein Graf, an einen andern Grafen nach Schottland zu überbringen befohlen: und man weiß, was dieser Brief enthält. Er wird gelesen, und Cosme erstaunt nicht wenig, als er hört, wohin es damit abgesehen gewesen. Aber noch mehr erstaunt er über den Schluß desselben, worin der Überbringer ein Vertrauter heißt, durch den Roberto seine Antwort sicher bestellen könne. »Was höre ich? ruft Cosme. Ich ein Vertrauter? Bei diesem und jenem! ich bin kein Vertrauter; ich bin niemals einer gewesen, und will auch in meinem Leben keiner sein. – Habe ich wohl das Ansehen zu einem Vertrauten? Ich möchte doch wissen, was mein Herr an mir gefunden hätte, um mich dafür zu nehmen. Ich, ein Vertrauter, ich, dem das geringste Geheimnis zur Last wird? Ich weiß, zum Exempel, daß Blanca und mein Herr einander lieben, und daß sie heimlich mit einander verheiratet sind: es hat mir schon lange das Herz abdrücken wollen; und nun will ich es nur sagen, damit Sie hübsch sehen, meine Herren, was für ein Vertrauter ich bin. Schade, daß es nicht etwas viel wichtigeres ist: ich würde es eben so wohl sagen.« 98 Diese Nachricht schmerzt die Königin [537] nicht weniger, als die Überzeugung, zu der sie durch den unglücklichen Brief von der Verräterei des Grafen gelangt. Der Herzog glaubt, nun auch sein Stillschweigen brechen zu müssen, und der Königin nicht länger zu verbergen, was er in dem Zimmer der Blanca zufälliger Weise angehört habe. Der Kanzler dringt auf die Bestrafung des Verräters, und sobald die Königin wieder allein ist, reizen sie sowohl beleidigte Majestät, als gekränkte Liebe, des Grafen Tod zu beschließen.

Nunmehr bringt uns der Dichter zu ihm, in das Gefängnis. Der Kanzler kömmt und eröffnet dem Grafen, daß ihn das Parlament für schuldig erkannt, und zum Tode verurteilet habe, welches Urteil morgen des Tages vollzogen werden solle. Der Graf beteuert seine Unschuld.


DER KANZLER. Ihre Unschuld, Mylord, wollte ich gern glauben; aber so viele Beweise wider Sie! – Haben Sie den Brief an den Roberto nicht geschrieben? Ist es nicht Ihr eigenhändiger Name?

ESSEX. Allerdings ist er es.

DER KANZLER. Hat der Herzog von Alanzon Sie, in dem Zimmer der Blanca, nicht ausdrücklich den Tod der Königin beschließen hören?

ESSEX. Was er gehört hat, hat er freilich gehört.

DER KANZLER. Sahe die Königin, als sie erwachte, nicht die [538] Pistole in Ihrer Hand? Gehört die Pistole, auf der Ihr Name gestochen, nicht Ihnen?

ESSEX. Ich kann es nicht leugnen.

DER KANZLER. So sind Sie ja schuldig.

ESSEX. Das leugne ich.

DER KANZLER. Nun, wie kamen Sie denn dazu, daß Sie den Brief an Roberto schrieben?

ESSEX. Ich weiß nicht.

DER KANZLER. Wie kam es denn, daß der Herzog den verräterischen Vorsatz aus Ihrem eignen Munde vernehmen mußte?

ESSEX. Weil es der Himmel so wollte.

DER KANZLER. Wie kam es denn, daß sich das mörderische Werkzeug in Ihren Händen fand?

ESSEX. Weil ich viel Unglück habe.

DER KANZLER. Wenn alles das Unglück, und nicht Schuld ist: wahrlich, Freund, so spielet Ihnen Ihr Schicksal einen harten Streich. Sie werden ihn mit Ihrem Kopfe bezahlen müssen.

ESSEX. Schlimm genug. 99


[539] »Wissen Ihro Gnaden nicht,« fragt Cosme, der dabei ist, »ob sie mich etwa mit hängen werden?« Der Kanzler antwortet Nein, weil ihn sein Herr hinlänglich gerechtfertiget habe; und der Graf ersucht den Kanzler, zu verstatten, daß er die Blanca noch vor seinem Tode sprechen dürfe. Der Kanzler betauert, daß er, als Richter, ihm diese Bitte versagen müsse; weil beschlossen worden, seine Hinrichtung so heimlich als möglich, geschehen zu lassen, aus Furcht vor den Mitverschwornen, die er vielleicht sowohl unter den Großen, als unter dem Pöbel in Menge haben möchte. Er ermahnt ihn, sich zum Tode zu bereiten, und geht ab. Der Graf wünschte bloß deswegen die Blanca noch einmal zu sprechen, um sie zu ermahnen, von ihrem Vorhaben abzustehen. Da er es nicht mündlich tun dürfen, so will er es schriftlich tun. Ehre und Liebe verbinden ihn, sein Leben für sie hinzugeben; bei diesem Opfer, das die Verliebten alle auf der Zunge führen, das aber nur bei ihm zur Wirklichkeit gelangt, will er sie beschwören, [540] es nicht fruchtlos bleiben zu lassen. Es ist Nacht; er setzt sich nieder zu schreiben, und befiehlt Cosmen, den Brief, den er ihm hernach geben werde, sogleich nach seinem Tode der Blanca einzuhändigen. Cosme geht ab, um indes erst auszuschlafen.

Sieben und sechzigstes Stück

Den 22sten Dezember, 1767


Nun folgt eine Szene, die man wohl schwerlich erwartet hätte. Alles ist ruhig und stille, als auf einmal eben die Dame, welcher Essex in dem ersten Akte das Leben rettete, in eben dem Anzuge, die halbe Maske auf dem Gesichte, mit einem Lichte in der Hand, zu dem Grafen in das Gefängnis hereintritt. Es ist die Königin. »Der Graf,« sagt sie vor sich im Hereintreten, »hat mir das Leben erhalten: ich bin ihm dafür verpflichtet. Der Graf hat mir das Leben nehmen wollen: das schreiet um Rache. Durch seine Verurteilung ist der Gerechtigkeit ein Genüge geschehen: nun geschehe es auch der Dankbarkeit und Liebe!« 100 Indem sie näher kömmt, wird sie gewahr, daß der Graf schreibt. »Ohne Zweifel.« sagt sie, »an seine Blanca! Was schadet das? Ich komme aus Liebe, aus der feurigsten, uneigennützigsten Liebe: itzt schweige die Eifersucht! – Graf!« – Der Graf hört sich rufen, sieht hinter sich, springt voller Erstaunen auf. »Was seh ich!« – »Keinen Traum«, fährt die Königin fort, »sondern die Wahrheit. Eilen Sie, sich davon zu überzeugen, und lassen Sie uns kostbare Augenblicke nicht mit Zweifeln verlieren. – Sie erinnern sich doch meiner? Ich bin die, der Sie das Leben gerettet. Ich höre, [541] daß Sie morgen sterben sollen; und ich komme, Ihnen meine Schuld abzutragen, Ihnen Leben für Leben zu geben. Ich habe den Schlüssel des Gefängnisses zu bekommen gewußt. Fragen Sie mich nicht, wie? Hier ist er; nehmen Sie; er wird Ihnen die Pforte in den Park eröffnen; fliehen Sie, Graf, und erhalten Sie ein Leben, das mir so teuer ist.« –


ESSEX. Teuer? Ihnen, Madame?

DIE KÖNIGIN. Würde ich sonst so viel gewagt haben, als ich wage?

ESSEX. Wie sinnreich ist das Schicksal, das mich verfolgt! Es findet einen Weg, mich durch mein Glück selbst unglücklich zu machen. Ich scheine glücklich, weil die mich zu befreien kömmt, die meinen Tod will; aber ich bin um so viel unglücklicher, weil die meinen Tod will, die meine Freiheit mir anbietet. – 101


Die Königin verstehet hieraus genugsam, daß sie Essex kennet. Er verweigert sich der Gnade, die sie ihm angetragen, gänzlich; aber er bittet, sie mit einer andern zu vertauschen.


DIE KÖNIGIN. Und mit welcher?

ESSEX. Mit der, Madame, von der ich weiß, daß sie in Ihrem Vermögen steht, – mit der Gnade, mir das Angesicht meiner Königin sehen zu lassen. Es ist die einzige, um die ich es nicht zu klein halte, Sie an das zu erinnern, was ich für Sie getan habe. Bei dem Leben, das ich Ihnen gerettet, beschwöre ich Sie, Madame, mir diese Gnade zu erzeigen.

DIE KÖNIGIN vor sich. Was soll ich tun? Vielleicht, wenn er mich sieht, daß er sich rechtfertiget! Das wünsche ich ja nur.

ESSEX. Verzögern Sie mein Glück nicht, Madame.

[542] DIE KÖNIGIN. Wenn Sie es denn durchaus wollen, Graf; wohl: aber nehmen Sie erst diesen Schlüssel; von ihm hängt Ihr Leben ab. Was ich itzt für Sie tun darf, könnte ich hernach vielleicht nicht dürfen. Nehmen Sie; ich will Sie gesichert wissen. 102

ESSEX indem er den Schlüssel nimmt. Ich erkenne diese Vorsicht mit Dank. – Und nun, Madame, – ich brenne, mein Schicksal auf dem Angesichte der Königin, oder dem Ihrigen zu lesen.

DIE KÖNIGIN. Graf, ob beide gleich eines sind, so gehört doch nur das, welches Sie noch sehen, mir ganz allein; denn das, welches Sie nun erblicken,Indem sie die Maske abnimmt. ist der Königin. Jenes, mit welchem ich Sie erst sprach, ist nicht mehr.

ESSEX. Nun sterbe ich zufrieden! Zwar ist es das Vorrecht des königlichen Antlitzes, daß es jeden Schuldigen begnadigen muß, der es erblickt; und auch mir müßte diese Wohltat des Gesetzes zu Statten kommen. Doch ich will weniger hierzu, als zu mir selbst, meine Zuflucht nehmen. Ich will es wagen, meine Königin an die Dienste zu erinnern, die ich ihr und dem Staate geleistet – 103

[543] DIE KÖNIGIN. An diese habe ich mich schon selbst erinnert. Aber Ihr Verbrechen, Graf, ist größer als Ihre Dienste.

ESSEX. Und ich habe mir nichts von der Huld meiner Königin zu versprechen?

DIE KÖNIGIN. Nichts.

ESSEX. Wenn die Königin so streng ist, so rufe ich die Dame an, der ich das Leben gerettet. Diese wird doch wohl gütiger mit mir verfahren?

DIE KÖNIGIN. Diese hat schon mehr getan, als sie sollte: sie hat Ihnen den Weg geöffnet, der Gerechtigkeit zu entfliehen.

ESSEX. Und mehr habe ich um Sie nicht verdient, um Sie, die mir Ihr Leben schuldig ist?

DIE KÖNIGIN. Sie haben schon gehört, daß ich diese Dame nicht bin. Aber gesetzt ich wäre es: gebe ich Ihnen nicht eben so viel wieder, als ich von Ihnen empfangen habe?

ESSEX. Wo das? Dadurch doch wohl nicht, daß Sie mir den Schlüssel gegeben?

DIE KÖNIGIN. Dadurch allerdings.

ESSEX. Der Weg, den mir dieser Schlüssel eröffnen kann, ist weniger der Weg zum Leben, als zur Schande. Was meine Freiheit bewirken soll, muß nicht meiner Furchtsamkeit zu dienen scheinen. Und doch glaubt die Königin, mich mit diesem Schlüssel, für die Reiche, die ich ihr erfochten, für das Blut, das ich um sie vergossen, für das Leben, das ich ihr erhalten, mich mit diesem elenden Schlüssel für alles das abzulohnen? 104 Ich will mein Leben einem anständigern [544] Mittel zu danken haben, oder sterben. Indem er nach dem Fenster geht.

DIE KÖNIGIN. Wo gehen Sie hin?

ESSEX. Nichtswürdiges Werkzeug meines Lebens, und meiner Entehrung! Wenn bei dir alle meine Hoffnung beruhet, so empfange die Flut, in ihrem tiefsten Abgrunde, alle meine Hoffnung! Er eröffnet das Fenster, und wirft den Schlüssel durch das Gitter in den Kanal. Durch die Flucht, wäre mein Leben viel zu teuer erkauft. 105

DIE KÖNIGIN. Was haben Sie getan, Graf? – Sie haben sehr übel getan.

ESSEX. Wann ich sterbe: so darf ich wenigstens laut sagen, daß ich eine undankbare Königin hinterlasse. – Will sie aber diesen Vorwurf nicht: so denke sie auf ein anderes Mittel, mich zu retten. Dieses unanständigere habe ich ihr genommen. Ich berufe mich nochmals auf meine Dienste: es steht bei ihr sie zu belohnen, oder mit dem Andenken derselben ihren Undank zu verewigen.

DIE KÖNIGIN. Ich muß das letztere Gefahr laufen. – Denn wahrlich, mehr konnte ich, ohne Nachteil meiner Würde, für Sie nicht tun.

ESSEX. So muß ich dann sterben?

DIE KÖNIGIN. Ohnfehlbar. Die Frau wollte Sie retten; die Königin muß dem Rechte seinen Lauf lassen. Morgen müssen Sie sterben; und es ist schon morgen. Sie haben mein ganzes Mitleid; die Wehmut bricht mir das Herz; aber es [545] ist nun einmal das Schicksal der Könige, daß sie viel weniger nach ihren Empfindungen handeln können, als andere. – Graf, ich empfehle Sie der Vorsicht!

Acht und sechzigstes Stück

Den 25sten Dezember, 1767


Noch einiger Wortwechsel zum Abschiede, noch einige Ausrufungen in der Stille: und beide, der Graf und die Königin, gehen ab; jedes von einer besondern Seite. Im Herausgehen, muß man sich einbilden, hat Essex Cosmen den Brief gegeben, den er an die Blanca geschrieben. Denn den Augenblick darauf kömmt dieser damit herein, und sagt, daß man seinen Herrn zum Tode führe; sobald es damit vorbei sei, wolle er den Brief, so wie er es versprochen, übergeben. Indem er ihn aber ansieht, erwacht seine Neugierde »Was mag dieser Brief wohl enthalten? Eine Eheverschreibung? die käme ein wenig zu spät. Die Abschrift von seinem Urteile? die wird er doch nicht der schicken, die es zur Witwe macht. Sein Testament? auch wohl nicht. Nun was denn?« Er wird immer begieriger; zugleich fällt ihm ein, wie es ihm schon einmal fast das Leben gekostet hätte, daß er nicht gewußt, was in dem Briefe seines Herrn stünde. »Wäre ich nicht, sagt er, bei einem Haare zum Vertrauten darüber geworden? Hohl der Geier die Vertrautschaft! Nein, das muß mir nicht wieder begegnen!« Kurz, Cosme beschließt, den Brief zu erbrechen; und erbricht ihn. Natürlich, daß ihn der Inhalt äußerst betroffen macht; er glaubt, ein Papier, das so wichtige und gefährliche Dinge enthalte, nicht geschwind genug los werden zu können; er zittert über den bloßen Gedanken, daß man es in seinen Händen finden könne, ehe er es freiwillig abgeliefert; und eilet, es geraden Weges der Königin zu bringen.

Eben kömmt die Königin mit dem Kanzler heraus. Cosme will sie den Kanzler nur erst abfertigen lassen; und tritt bei Seite. Die Königin erteilt dem Kanzler den letzten Befehl zur Hinrichtung des Grafen; sie soll sogleich, und ganz in der [546] Stille vollzogen werden; das Volk soll nichts davon erfahren, bis der geköpfte Leichnam ihm mit stummer Zunge Treue und Gehorsam zurufe. 106 Den Kopf soll der Kanzler in den Saal bringen, und, nebst dem blutigen Beile, unter einen Teppich legen lassen; hierauf die Großen des Reichs versammeln, um ihnen mit eins Verbrechen und Strafe zu zeigen, zugleich sie an diesem Beispiele ihrer Pflicht zu erinnern, und ihnen einzuschärfen, daß ihre Königin eben so strenge zu sein wisse, als sie gnädig sein zu können wünsche: und das alles, wie sie der Dichter sagen läßt, nach Gebrauch und Sitte des Landes. 107

Der Kanzler geht mit diesen Befehlen ab, und Cosme tritt die Königin an. »Diesen Brief, sagte er, hat mir mein Herr gegeben, ihn nach seinem Tode der Blanca einzuhändigen. Ich habe ihn aufgemacht, ich weiß selbst nicht warum; und da ich Dinge darin finde, die Ihro Majestät wissen müssen, und die dem Grafen vielleicht noch zu Statten kommen können: so bringe ich ihn Ihro Majestät, und nicht der Blanca.« Die Königin nimmt den Brief, und lieset: »Blanca, ich nahe mich meinem letzten Augenblicke; man will mir nicht vergönnen, mit dir zu sprechen: empfange also meine Ermahnung [547] schriftlich. Aber vors erste lerne mich kennen; ich bin nie der Verräter gewesen, der ich dir vielleicht geschienen; ich versprach, dir in der bewußten Sache behülflich zu sein, bloß um der Königin desto nachdrücklicher zu dienen, und den Roberto, nebst seinen Anhängern, nach London zu locken. Urteile, wie groß meine Liebe ist, da ich dem ohngeachtet eher selbst sterben, als dein Leben in Gefahr setzen will. Und nun die Ermahnung: stehe von dem Vorhaben ab, zu welchem dich Roberto anreizet; du hast mich nun nicht mehr; und es möchte sich nicht alle Tage einer finden, der dich so sehr liebte, daß er den Tod des Verräters für dich sterben wollte.« 108

Mensch! ruft die bestürzte Königin, was hast du mir da gebracht? Nun? sagt Cosme, bin ich noch ein Vertrauter? – »Eile, fliehe, deinen Herrn zu retten! Sage dem Kanzler, einzuhalten! – Holla, Wache! bringt ihn augenblicklich vor mich, – den Grafen, – geschwind!« – Und eben wird er gebracht: [548] sein Leichnam nämlich. So groß die Freude war, welche die Königin auf einmal überströmte, ihren Grafen unschuldig zu wissen: so groß sind nunmehr Schmerz und Wut, ihn hingerichtet zu sehen. Sie verflucht die Eilfertigkeit, mit der man ihren Befehl vollzogen: und Blanca mag zittern! –

So schließt sich dieses Stück, bei welchem ich meine Leser vielleicht zu lange aufgehalten habe. Vielleicht auch nicht. Wir sind mit den dramatischen Werken der Spanier so wenig bekannt; ich wüßte kein einziges, welches man uns übersetzt, oder auch nur Auszugsweise mitgeteilet hätte. Denn die Virginia des Augustino de Montiano y Luyando ist zwar spanisch geschrieben; aber kein spanisches Stück: ein bloßer Versuch in der korrekten Manier der Franzosen, regelmäßig aber frostig. Ich bekenne sehr gern, daß ich bei weiten so vorteilhaft nicht mehr davon denke, als ich wohl ehedem muß gedacht haben. 109 Wenn das zweite Stück des nämlichen Verfassers nicht besser geraten ist; wenn die neueren Dichter der Nation, welche eben diesen Weg betreten wollen, ihn nicht glücklicher betreten haben: so mögen sie mir es nicht übel nehmen, wenn ich noch immer lieber nach ihrem alten Lope und Calderon greife, als nach ihnen.

Die echten spanischen Stücke sind vollkommen nach der Art dieses Essex. In allen einerlei Fehler, und einerlei Schönheiten: mehr oder weniger; das versteht sich. Die Fehler springen in die Augen: aber nach den Schönheiten dürfte man mich fragen. – Eine ganz eigne Fabel; eine sehr sinnreiche Verwicklung; sehr viele, und sonderbare, und immer neue Theaterstreiche; die ausgespartesten Situationen; meistens sehr wohl angelegte und bis ans Ende erhaltene Charaktere; nicht selten viel Würde und Stärke im Ausdrucke. –

Das sind allerdings Schönheiten: ich sage nicht, daß es die höchsten sind; ich leugne nicht, daß sie zum Teil sehr leicht bis in das Romanenhafte, Abenteuerliche, Unnatürliche, können getrieben werden, daß sie bei den Spaniern von dieser Übertreibung selten frei sind. Aber man nehme den meisten französischen Stücken ihre mechanische Regelmäßigkeit: und[549] sage mir, ob ihnen andere, als Schönheiten solcher Art, übrig bleiben? Was haben sie sonst noch viel Gutes, als Verwicklung, und Theaterstreiche und Situationen?

Anständigkeit: wird man sagen. – Nun ja; Anständigkeit. Alle ihre Verwicklungen sind anständiger, und einförmiger; alle ihre Theaterstreiche anständiger, und abgedroschner; alle ihre Situationen anständiger, und gezwungner. Das kömmt von der Anständigkeit!

Aber Cosme, dieser spanische Hanswurst; diese ungeheure Verbindung der pöbelhaftesten Possen mit dem feierlichsten Ernste; diese Vermischung des Komischen und Tragischen, durch die das spanische Theater so berüchtiget ist? Ich bin weit entfernt, diese zu verteidigen. Wenn sie zwar bloß mit der Anständigkeit stritte, – man versteht schon, welche Anständigkeit ich meine; – wenn sie weiter keinen Fehler hätte, als daß sie die Ehrfurcht beleidigte, welche die Großen verlangen, daß sie der Lebensart, der Etiquette, dem Zeremoniell, und allen den Gaukeleien zuwiderlief, durch die man den größern Teil der Menschen bereden will, daß es einen kleinern gäbe, der von weit besserm Stoffe sei, als er: so würde mir die unsinnigste Abwechslung von Niedrig auf Groß, von Aberwitz auf Ernst, von Schwarz auf Weiß, willkommner sein, als die kalte Einförmigkeit, durch die mich der gute Ton, die feine Welt, die Hofmanier, und wie dergleichen Armseligkeiten mehr heißen, unfehlbar einschläfert. Doch es kommen ganz andere Dinge hier in Betrachtung.

Neun und sechzigstes Stück

Den 29sten Dezember, 1767


Lope de Vega, ob er schon als der Schöpfer des spanischen Theaters betrachtet wird, war es indes nicht, der jenen Zwitterton einführte. Das Volk war bereits so daran gewöhnt, daß er ihn wider Willen mit anstimmen mußte. In seinem Lehrgedichte, über die Kunst, neue Komödien zu machen, dessen ich oben schon gedacht, jammert er genug darüber. Da er sahe, daß es nicht möglich sei, nach den Regeln und Mustern [550] der Alten für seine Zeitgenossen mit Beifall zu arbeiten: so suchte er der Regellosigkeit wenigstens Grenzen zu setzen; das war die Absicht dieses Gedichts. Er dachte, so wild und barbarisch auch der Geschmack der Nation sei, so müsse er doch seine Grundsätze haben; und es sei besser, auch nur nach diesen mit einer beständigen Gleichförmigkeit zu handeln, als nach gar keinen. Stücke, welche die klassischen Regeln nicht beobachten, können doch noch immer Regeln beobachten, und müssen dergleichen beobachten, wenn sie gefallen wollen. Diese also, aus dem bloßen Nationalgeschmacke hergenommen, wollte er festsetzen; und so ward die Verbindung des Ernsthaften und Lächerlichen die erste.

»Auch Könige, sagt er, könnet ihr in euern Komödien auftreten lassen. Ich höre zwar, daß unser weiser Monarch (Philipp der zweite) dieses nicht gebilliget; es sei nun, weil er einsahe, daß es wider die Regeln laufe, oder weil er es der Würde eines Königes zuwider glaubte, so mit unter den Pöbel gemengt zu werden. Ich gebe auch gern zu, daß dieses wieder zur ältesten Komödie zurückkehren heißt, die selbst Götter einführte; wie unter andern in dem Amphitruo des Plautus zu sehen: und ich weiß gar wohl, daß Plutarch, wenn er von Menandern redet, die älteste Komödie nicht sehr lobt. Es fällt mir also freilich schwer, unsere Mode zu billigen. Aber da wir uns nun einmal in Spanien so weit von der Kunst entfernen: so müssen die Gelehrten schon auch hierüber schweigen. Es ist wahr, das Komische mit dem Tragischen vermischet, Seneca mit dem Terenz zusammengeschmolzen, gibt kein geringeres Ungeheuer, als der Minotaurus der Pasiphae war. Doch diese Abwechselung gefällt nun einmal; man will nun einmal keine andere Stücke sehen, als die halb ernsthaft und halb lustig sind; die Natur selbst lehrt uns diese Mannigfaltigkeit, von der sie einen Teil ihrer Schönheit entlehnet.« 110 [551] Die letzten Worte sind es, weswegen ich diese Stelle anführe. Ist es wahr, daß uns die Natur selbst, in dieser Vermengung des Gemeinen und Erhabnen, des Possierlichen und Ernsthaften, des Lustigen und Traurigen, zum Muster dienet? Es scheinet so. Aber wenn es wahr ist, so hat Lope mehr getan, als er sich vornahm; er hat nicht bloß die Fehler seiner Bühne beschöniget; er hat eigentlich erwiesen, daß wenigstens dieser Fehler keiner ist; denn nichts kann ein Fehler sein, was eine Nachahmung der Natur ist.

»Man tadelt,« sagt einer von unsern neuesten Skribenten, »an Shakespeare, – demjenigen unter allen Dichtern seit Homer, der die Menschen, vom Könige bis zum Bettler, und von Julius Cäsar bis zu Jak Fallstaff, am besten gekannt, und mit einer Art von unbegreiflicher Intuition durch und durch gesehen hat, – daß seine Stücke keinen, oder doch nur einen sehr fehlerhaften unregelmäßigen und schlecht ausgesonnenen Plan haben; daß komisches und tragisches darin auf die seltsamste Art durch einander geworfen ist, und oft eben dieselbe Person, die uns durch die rührende Sprache der Natur, Tränen in die Augen gelockt hat, in wenigen Augenblicken darauf uns durch irgend einen seltsamen Einfall oder [552] barockischen Ausdruck ihrer Empfindungen, wo nicht zu lachen macht, doch dergestalt abkühlt, daß es ihm hernach sehr schwer wird, uns wieder in die Fassung zu setzen, worin er uns haben möchte. – Man tadelt das, und denkt nicht daran, daß seine Stücke eben darin natürliche Abbildungen des menschlichen Lebens sind.

Das Leben der meisten Menschen, und (wenn wir es sagen dürfen) der Lebenslauf der großen Staatskörper selbst, in so fern wir sie als eben so viel moralische Wesen betrachten, gleicht den Haupt- und Staats-Aktionen im alten gotischen Geschmacke in so vielen Punkten, daß man beinahe auf die Gedanken kommen möchte, die Erfinder dieser letztern wären klüger gewesen, als man gemeiniglich denkt, und hätten, wofern sie nicht gar die heimliche Absicht gehabt, das menschliche Leben lächezlich zu machen, wenigstens die Natur eben so getreu nachahmen wollen, als die Griechen sich angelegen sein ließen, sie zu verschönern. Um itzt nichts von der zufälligen Ähnlichkeit zu sagen, daß in diesen Stücken, so wie im Leben, die wichtigsten Rollen sehr oft gerade durch die schlechtesten Acteurs gespielt werden, – was kann ähnlicher sein, als es beide Arten der Haupt- und Staats-Aktionen einander in der Anlage, in der Abteilung und Disposition der Szenen, im Knoten und in der Entwicklung zu sein pflegen. Wie selten fragen die Urheber der einen und der andern sich selbst, warum sie dieses oder jenes gerade so und nicht anders gemacht haben? Wie oft überraschen sie uns durch Begebenheiten, zu denen wir nicht im mindesten vorbereitet waren? Wie oft sehen wir Personen kommen und wieder abtreten, ohne daß sich begreifen läßt, warum sie kamen, oder warum sie wieder verschwinden? Wie viel wird in beiden dem Zufall überlassen? Wie oft sehen wir die größesten Wirkungen durch die armseligsten Ursachen hervorgebracht? Wie oft das Ernsthafte und Wichtige mit einer leichtsinnigen Art, und das Nichtsbedeutende mit lächerlicher Gravität behandelt? Und wenn in beiden endlich alles so kläglich verworren und durch einander geschlungen ist, daß man an der Möglichkeit der Entwicklung zu verzweifeln anfängt: wie glücklich sehen wir durch irgend einen unter Blitz und Donner [553] aus papiernen Wolken herabspringenden Gott, oder durch einen frischen Degenhieb, den Knoten auf einmal zwar nicht aufgelöset, aber doch aufgeschnitten, welches in so fern auf eines hinauslauft, daß auf die eine oder die andere Art das Stück ein Ende hat, und die Zuschauer klatschen oder zischen können, wie sie wollen oder – dürfen. Übrigens weiß man, was für eine wichtige Person in den komischen Tragödien, wovon wir reden, der edle Hanswurst vorstellt, der sich, vermutlich zum ewigen Denkmal des Geschmacks unserer Voreltern, auf dem Theater der Hauptstadt des deutschen Reiches erhalten zu wollen scheinet. Wollte Gott, daß er seine Person allein auf dem Theater vorstellte! Aber wie viel große Aufzüge auf dem Schauplatze der Welt hat man nicht in allen Zeiten mit Hanswurst, – oder, welches noch ein wenig ärger ist, durch Hanswurst, – aufführen gesehen? Wie oft haben die größesten Männer, dazu geboren, die schützenden Genii eines Throns, die Wohltäter ganzer Völker und Zeitalter zu sein, alle ihre Weisheit und Tapferkeit durch einen kleinen schnakischen Streich von Hanswurst, oder solchen Leuten vereitelt sehen müssen, welche, ohne eben sein Wams und seine gelben Hosen zu tragen, doch gewiß seinen ganzen Charakter an sich trugen? Wie oft entsteht in beiden Arten der Tragi-Komödien die Verwicklung selbst lediglich daher, daß Hanswurst durch irgend ein dummes und schelmisches Stückchen von seiner Arbeit den gescheiten Leuten, eh sie sichs versehen können, ihr Spiel verderbt?« –

Wenn in dieser Vergleichung des großen und kleinen, des ursprünglichen und nachgebildeten, heroischen Possenspiels – (die ich mit Vergnügen aus einem Werke abgeschrieben, welches unstreitig unter die vortrefflichsten unsers Jahrhunderts gehört, aber für das deutsche Publikum noch viel zu früh geschrieben zu sein scheinet. In Frankreich und England würde es das äußerste Aufsehen gemacht haben; der Name seines Verfassers würde auf aller Zungen sein. Aber bei uns? Wir haben es, und damit gut. Unsere Großen lernen vors erste an den *** kauen; und freilich ist der Saft aus einem französischen Roman lieblicher und verdaulicher. Wenn ihr Gebiß schärfer und ihr Magen stärker geworden, wenn sie [554] indes Deutsch gelernt haben, so kommen sie auch wohl einmal über den – Agathon. 111 Dieses ist das Werk von welchem ich rede, von welchem ich es lieber nicht an dem schicklichsten Orte, lieber hier als gar nicht, sagen will, wie sehr ich es bewundere: da ich mit der äußersten Befremdung wahrnehme, welches tiefe Stillschweigen unsere Kunstrichter darüber beobachten, oder in welchem kalten und gleichgültigen Tone sie davon sprechen. Es ist der erste und einzige Roman für den denkenden Kopf, von klassischem Geschmacke. Roman? Wir wollen ihm diesen Titel nur geben, vielleicht, daß es einige Leser mehr dadurch bekömmt. Die wenigen, die es darüber verlieren möchte, an denen ist ohnedem nichts gelegen.)

Siebzigstes Stück

Den 1sten Januar, 1768


Wenn in dieser Vergleichung, sage ich, die satyrische Laune nicht zu sehr vorstäche: so würde man sie für die beste Schutzschrift des komisch tragischen, oder tragisch komischen Drama, (Mischspiel habe ich es einmal auf irgend einem Titel genannt gefunden) für die geflissendlichste Ausführung des Gedankens beim Lope halten dürfen. Aber zugleich würde sie auch die Widerlegung desselben sein. Denn sie würde zeigen, daß eben das Beispiel der Natur, welches die Verbindung des feierlichen Ernstes mit der possenhaften Lustigkeit rechtfertigen soll, eben so gut jedes dramatische Ungeheuer, das weder Plan, noch Verbindung, noch Menschenverstand hat, rechtfertigen könne. Die Nachahmung der Natur müßte folglich entweder gar kein Grundsatz der Kunst sein; oder, wenn sie es doch bliebe, würde durch ihn selbst die Kunst, Kunst zu sein aufhören; wenigstens keine höhere Kunst sein, als etwa die Kunst, die bunten Adern des Marmors in Gips nachzuahmen; ihr Zug und Lauf mag geraten, wie er will, der seltsamste kann so seltsam nicht sein, daß er nicht natürlich scheinen könnte; bloß und allein der [555] scheinet es nicht, bei welchem sich zu viel Symmetrie, zu viel Ebenmaß und Verhältnis, zu viel von dem zeiget, was in jeder andern Kunst die Kunst ausmacht; der künstlichste in diesem Verstande ist hier der schlechteste, und der wildeste der beste.

Als Kriticus dürfte unser Verfasser ganz anders sprechen. Was er hier so sinnreich aufstützen zu wollen scheinet, würde er ohne Zweifel als eine Mißgeburt des barbarischen Geschmacks verdammen, wenigstens als die ersten Versuche der unter ungeschlachteten Völkern wieder auflebenden Kunst vorstellen, an deren Form irgend ein Zusammenfluß gewisser äußerlichen Ursachen, oder das Ohngefähr, den meisten, Vernunft und Überlegung aber den wenigsten, auch wohl ganz und gar keinen Anteil hatte. Er würde schwerlich sagen, daß die ersten Erfinder des Mischspiels (da das Wort einmal da ist, warum soll ich es nicht brauchen?) »die Natur eben so getreu nachahmen wollen, als die Griechen sich angelegen sein lassen, sie zu verschönern.«

Die Worte getreu und verschönert, von der Nachahmung und der Natur, als dem Gegenstande der Nachahmung, gebraucht, sind vielen Mißdeutungen unterworfen. Es gibt Leute, die von keiner Natur wissen wollen, welche man zu getreu nachahmen könne; selbst was uns in der Natur mißfalle, gefalle in der getreuen Nachahmung, vermöge der Nachahmung. Es gibt andere, welche die Verschönerung der Natur für eine Grille halten; eine Natur, die schöner sein wolle, als die Natur, sei eben darum nicht Natur. Beide erklären sich für Verehrer der einzigen Natur, so wie sie ist: jene finden in ihr nichts zu vermeiden; diese nichts hinzuzusetzen. Jenen also müßte notwendig das gotische Mischspiel gefallen; so wie diese Mühe haben würden, an den Meisterstücken der Alten Geschmack zu finden.

Wann dieses nun aber nicht erfolgte? Wann jene, so große Bewunderer sie auch von der gemeinsten und alltäglichsten Natur sind, sich dennoch wider die Vermischung des Possenhaften und Interessanten erklärten? Wann diese, so ungeheuer sie auch alles finden, was besser und schöner sein will, als die Natur, dennoch das ganze griechische Theater, ohne [556] den geringsten Anstoß von dieser Seite, durchwandelten? Wie wollten wir diesen Widerspruch erklären?

Wir würden notwendig zurückkommen, und das, was wir von beiden Gattungen erst behauptet, widerrufen müssen. Aber wie müßten wir widerrufen, ohne uns in neue Schwierigkeiten zu verwickeln? Die Vergleichung einer solchen Haupt- und Staats-Aktion, über deren Güte wir streiten, mit dem menschlichen Leben, mit dem gemeinen Laufe der Welt, ist doch so richtig!

Ich will einige Gedanken herwerfen, die, wenn sie nicht gründlich genug sind, doch gründlichere veranlassen können. – Der Hauptgedanke ist dieser: es ist wahr, und auch nicht wahr, daß die komische Tragödie, gotischer Erfindung, die Natur getreu nachahmet; sie ahmet sie nur in einer Hälfte getreu nach, und vernachlässiget die andere Hälfte gänzlich; sie ahmet die Natur der Erscheinungen nach, ohne im geringsten auf die Natur unserer Empfindungen und Seelenkräfte dabei zu achten.

In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere. Aber nach dieser unendlichen Mannichfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern, und ihre Aufmerksamkeit nach Gutdünken lenken zu können.

Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger Raub des gegenwärtigen Eindruckes sein; wir würden träumen, ohne zu wissen, was wir träumten.

Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schönen dieser Absonderung zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande, oder einer Verbindung verschiedener Gegenstände, es sei der Zeit oder dem Raume [557] nach, in unsern Gedanken absondern, oder absondern zu können wünschen, sondert sie wirklich ab, und gewährt uns diesen Gegenstand, oder diese Verbindung verschiedener Gegenstände, so lauter und bündig, als es nur immer die Empfindung, die sie erregen sollen, verstattet.

Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und rührenden Begebenheit sind, und eine andere von nichtigem Belange läuft quer ein: so suchen wir der Zerstreuung, die diese uns drohet, möglichst auszuweichen. Wir abstrahieren von ihr; und es muß uns notwendig ekeln, in der Kunst das wieder zu finden, was wir aus der Natur wegwünschten.

Nur wenn eben dieselbe Begebenheit in ihrem Fortgange alle Schattierungen des Interesse annimmt, und eine nicht bloß auf die andere folgt, sondern so notwendig aus der andern entspringt; wenn der Ernst das Lachen, die Traurigkeit die Freude, oder umgekehrt, so unmittelbar erzeugt, daß uns die Abstraktion des einen oder des andern unmöglich fällt: nur alsdenn verlangen wir sie auch in der Kunst nicht, und die Kunst weiß aus dieser Unmöglichkeit selbst Vorteil zu ziehen. –

Aber genug hiervon: man sieht schon, wo ich hin aus will. –

Den fünf und vierzigsten Abend (Freitags, den 17ten Julius,) wurden die Brüder des Hrn. Romanus, und das Orakel vom Saint-Foix gespielt.

Das erstere Stück kann für ein deutsches Original gelten, ob es schon, größten Teils, aus den Brüdern des Terenz genommen ist. Man hat gesagt, daß auch Moliere aus dieser Quelle geschöpft habe; und zwar seine Männerschule. Der Herr von Voltaire macht seine Anmerkungen über dieses Vorgeben: und ich führe Anmerkungen von dem Herrn von Voltaire so gern an! Aus seinen geringsten ist noch immer etwas zu lernen: wenn schon nicht allezeit das, was er darin sagt: wenigstens das, was er hätte sagen sollen. Primus sapientiae gradus est, falsa intelligere; (wo dieses Sprüchelchen steht, will mir nicht gleich beifallen) und ich wüßte keinen Schriftsteller in der Welt, an dem man es so gut versuchen könnte, ob man auf dieser ersten Stufe der Weisheit stehe, als an dem Herrn von Voltaire; aber daher auch keinen, der [558] uns die zweite zu ersteigen, weniger behülflich sein könnte; secundus, vera cognoscere. Ein kritischer Schriftsteller, dünkt mich, richtet seine Methode auch am besten nach diesem Sprüchelchen ein. Er suche sich nur erst jemanden, mit dem er streiten kann: so kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige findet sich. Hierzu habe ich mir in diesem Werke, ich bekenne es aufrichtig, nun einmal die französischen Skribenten vornehmlich erwählet, und unter diesen besonders den Hrn. von Voltaire. Also auch itzt, nach einer kleinen Verbeugung, nur darauf zu! Wem diese Methode aber etwan mehr mutwillig als gründlich scheinen wollte: der soll wissen, daß selbst der gründliche Aristoteles sich ihrer fast immer bedient hat. Solet Aristoteles, sagt einer von seinen Auslegern, der mir eben zur Hand liegt, quaerere pugnam in suis libris. Atque hoc facit non temere, et casu, sed certa ratione atque consilio: nam labefactatis aliorum opinionibus, u.s.w. O des Pedanten! würde der Herr von Voltaire rufen. – Ich bin es bloß aus Mißtrauen in mich selbst.

»Die Brüder des Terenz, sagt der Herr von Voltaire, können höchstens die Idee zu der Männerschule gegeben haben. In den Brüdern sind zwei Alte von verschiedner Gemütsart, die ihre Söhne ganz verschieden erziehen; eben so sind in der Männerschule zwei Vormünder, ein sehr strenger und ein sehr nachsehender: das ist die ganze Ähnlichkeit. In den Brüdern ist fast ganz und gar keine Intrigue: die Intrigue in der Männerschule hingegen ist fein, und unterhaltend und komisch. Eine von den Frauenzimmern des Terenz, welche eigentlich die interessanteste Rolle spielen müßte, erscheinet bloß auf dem Theater, um nieder zu kommen. Die Isabelle des Moliere ist fast immer auf der Szene, und zeigt sich immer witzig und reizend, und verbindet sogar die Streiche, die sie ihrem Vormunde spielt, noch mit Anstand. Die Entwicklung in den Brüdern ist ganz unwahrscheinlich; es ist wider die Natur, daß ein Alter, der sechzig Jahre ärgerlich und streng und geizig gewesen, auf einmal lustig und höflich und freigebig werden sollte. Die Entwicklung in der Männerschule aber, ist die beste von allen Entwicklungen des Moliere; [559] wahrscheinlich, natürlich, aus der Intrigue selbst hergenommen, und was ohnstreitig nicht das schlechteste daran ist, äußerst komisch.«

Ein und siebzigstes Stück

Den 5ten Januar, 1768


Es scheinet nicht, daß der Herr von Voltaire, seit dem er aus der Klasse bei den Jesuiten gekommen, den Terenz viel wieder gelesen habe. Er spricht ganz so davon, als von einem alten Traume; es schwebt ihm nur noch so was davon im Gedächtnisse; und das schreibt er auf gut Glück so hin, unbekümmert, ob es gehauen oder gestochen ist. Ich will ihm nicht aufmutzen, was er von der Pamphila des Stücks sagt, »daß sie bloß auf dem Theater erscheine, um nieder zu kommen.« Sie erscheinet gar nicht auf dem Theater; sie kömmt nicht auf dem Theater nieder; man vernimmt bloß ihre Stimme aus dem Hause; und warum sie eigentlich die interessanteste Rolle spielen müßte, das läßt sich auch gar nicht absehen. Den Griechen und Römern war nicht alles interessant, was es den Franzosen ist. Ein gutes Mädchen, das mit ihrem Liebhaber zu tief in das Wasser gegangen, und Gefahr läuft, von ihm verlassen zu werden, war zu einer Hauptrolle ehedem sehr ungeschickt. –

Der eigentliche und grobe Fehler, den der Herr von Voltaire macht, betrifft die Entwicklung und den Charakter des Demea. Demea ist der mürrische strenge Vater, und dieser soll seinen Charakter auf einmal völlig verändern. Das ist, mit Erlaubnis des Herrn von Voltaire, nicht wahr. Demea behauptet seinen Charakter bis ans Ende. Donatus sagt: Servatur autem per totam fabulam mitis Micio, saevus Demea, Leno avarus u.s.w. Was geht mich Donatus an? dürfte der Herr von Voltaire sagen. Nach Belieben; wenn wir Deutsche nur glauben dürfen, daß Donatus den Terenz fleißiger gelesen und besser verstanden, als Voltaire. Doch es ist ja von keinem verlornen Stücke die Rede; es ist noch da; man lese selbst.

Nachdem Micio den Demea durch die triftigsten Vorstellungen [560] zu besänftigen gesucht, bittet er ihn, wenigstens auf heute sich seines Ärgernisses zu entschlagen, wenigstens heute lustig zu sein. Endlich bringt er ihn auch so weit; heute will Demea alles gut sein lassen; aber morgen, bei früher Tageszeit, muß der Sohn wieder mit ihm aufs Land; da will er ihn nicht gelinder halten, da will er es wieder mit ihm anfangen, wo er es heute gelassen hat; die Sängerin, die diesem der Vetter gekauft, will er zwar mitnehmen, denn es ist doch immer eine Sklavin mehr, und eine, die ihm nichts kostet; aber zu singen wird sie nicht viel bekommen, sie soll kochen und backen. In der darauf folgenden vierten Szene des fünften Akts, wo Demea allein ist, scheint es zwar, wenn man seine Worte nur so obenhin nimmt, als ob er völlig von seiner alten Denkungsart abgehen, und nach den Grundsätzen des Micio zu handeln anfangen wolle. 112 Doch die Folge zeigt es, daß man alles das nur von dem heutigen Zwange, den er sich antun soll, verstehen muß. Denn auch diesen Zwang weiß er hernach so zu nutzen, daß er zu der förmlichsten hämischsten Verspottung seines gefälligen Bruders ausschlägt. Er stellt sich lustig, um die andern wahre Ausschweifungen und Tollheiten begehen zu lassen; er macht in dem verbindlichsten Tone die bittersten Vorwürfe; er wird nicht freigebig, sondern er spielt den Verschwender; und wohl zu merken, weder von dem Seinigen, noch in einer andern Absicht, als um alles, was er Verschwenden nennt, lächerlich zu machen. Dieses erhellet unwidersprechlich aus dem, was er dem Micio antwortet, der sich durch den Anschein betriegen läßt, und ihn wirklich verändert glaubt. 113 [561] Hic ostendit Terentius, sagt Donatus, magis Demeam simulasse mutatos mores, quam mutavisse.

Ich will aber nicht hoffen, daß der Herr von Voltaire meinet, selbst diese Verstellung laufe wider den Charakter des Demea, der vorher nichts als geschmählt und gepoltert habe: denn eine solche Verstellung erfodere mehr Gelassenheit und Kälte, als man dem Demea zutrauen dürfe. Auch hierin ist Terenz ohne Tadel, und er hat alles so vortrefflich motivieret, bei jedem Schritte Natur und Wahrheit so genau beobachtet, bei dem geringsten Übergange so feine Schattierungen in Acht genommen, daß man nicht aufhören kann, ihn zu bewundern.

Nur ist öfters, um hinter alle Feinheiten des Terenz zu kommen, die Gabe sehr nötig, sich das Spiel des Akteurs dabei zu denken; denn dieses schrieben die alten Dichter nicht bei. Die Deklamation hatte ihren eignen Künstler, und in dem Übrigen konnten sie sich ohne Zweifel auf die Einsicht der Spieler verlassen, die aus ihrem Geschäfte ein sehr ernstliches Studium machten. Nicht selten befanden sich unter diesen die Dichter selbst; sie sagten, wie sie es haben wollten; und da sie ihre Stücke überhaupt nicht eher bekannt werden ließen, als bis sie gespielt waren, als bis man sie gesehen und gehört hatte: so konnten sie es um so mehr überhoben sein, den geschriebenen Dialog durch Einschiebsel zu unterbrechen, in welchen sich der beschreibende Dichter gewissermaßen mit unter die handelnden Personen zu mischen scheinet. Wenn man sich aber einbildet, daß die alten Dichter, um sich diese Einschiebsel zu ersparen, in den Reden selbst, jede Bewegung, jede Gebärde, jede Miene, jede besondere Abänderung der Stimme, die dabei zu beobachten, mit anzudeuten gesucht: so irret man sich. In dem Terenz allein kommen unzählige Stellen vor, in welchen von einer solchen Andeutung sich nicht die geringste Spur zeiget, und wo gleichwohl der wahre Verstand nur durch die Erratung der wahren Aktion kann getroffen werden; ja in vielen scheinen die Worte gerade das Gegenteil von dem zu sagen, was der Schauspieler durch jene ausdrücken muß.

[562] Selbst in der Szene, in welcher die vermeinte Sinnesänderung des Demea vorgeht, finden sich dergleichen Stellen, die ich anführen will, weil auf ihnen gewissermaßen die Mißdeutung beruhet, die ich bestreite. – Demea weiß nunmehr alles, er hat es mit seinen eignen Augen gesehen, daß es sein ehrbarer frommer Sohn ist, für den die Sängerin entführet worden, und stürzt mit dem unbändigsten Geschrei heraus. Er klagt es dem Himmel und der Erde und dem Meere; und eben bekömmt er den Micio zu Gesicht.


DEMEA. Ha! da ist er, der mir sie beide verdirbt – meine Söhne, mir sie beide zu Grunde richtet! –

MICIO. O so mäßige dich, und komm wieder zu dir!

DEMEA. Gut, ich mäßige mich, ich bin bei mir, es soll mir kein hartes Wort entfahren. Laß uns bloß bei der Sache bleiben. Sind wir nicht eins geworden, warest du es nicht selbst, der es zuerst auf die Bahn brachte, daß sich ein jeder nur um den seinen bekümmern sollte? Antworte. 114

u.s.w.


Wer sich hier nur an die Worte hält, und kein so richtiger Beobachter ist, als es der Dichter war, kann leicht glauben, daß Demea viel zu geschwind austobe, viel zu geschwind diesen gelassenern Ton anstimme. Nach einiger Überlegung wird ihm zwar vielleicht beifallen, daß jeder Affekt, wenn er aufs äußerste gekommen, notwendig wieder sinken müsse; daß Demea, auf den Verweis seines Bruders, sich des ungestümen Jachzorns nicht anders als schämen könne: das alles ist auch ganz gut, aber es ist doch noch nicht das rechte. Dieses lasse er sich also vom Donatus lehren, der hier zwei vortreffliche Anmerkungen hat. Videtur, sagt er, [563] paulo citius destomachatus, quam res etiam incertae poscebant. Sed et hoc morale: nam juste irati, omissa saevitia ad ratiocinationes saepe festinant. Wenn der Zornige ganz offenbar Recht zu haben glaubt, wenn er sich einbildet, daß sich gegen seine Beschwerden durchaus nichts einwenden lasse: so wird er sich bei dem Schelten gerade am wenigsten aufhalten, sondern zu den Beweisen eilen, um seinen Gegner durch eine so sonnenklare Überzeugung zu demütigen. Doch da er über die Wallungen seines kochenden Geblüts nicht so unmittelbar gebieten kann, da der Zorn, der überführen will, doch noch immer Zorn bleibt: so macht Donatus die zweite Anmerkung; non quid dicatur, sed quo gestu dicatur, specta: et videbis neque adhuc repressisse iracundiam, neque ad se rediisse Demeam. Demea sagt zwar, ich mäßige mich, ich bin wieder bei mir: aber Gesicht und Gebärde und Stimme verraten genugsam, daß er sich noch nicht gemäßiget hat, daß er noch nicht wieder bei sich ist. Er bestürmt den Micio mit einer Frage über die andere, und Micio hat alle seine Kälte und gute Laune nötig, um nur zum Worte zu kommen.

Zwei und siebzigstes Stück

Den 8ten Januar, 1768


Als er endlich dazu kömmt, wird Demea zwar eingetrieben, aber im geringsten nicht überzeugt. Aller Vorwand, über die Lebensart seiner Kinder, unwillig zu sein, ist ihm benommen: und doch fängt er wieder von vorne an, zu nerrgeln. Micio muß auch nur abbrechen, und sich begnügen, daß ihm die mürrische Laune, die er nicht ändern kann, wenigstens auf heute Frieden lassen will. Die Wendungen, die ihn Terenz dabei nehmen läßt, sind meisterhaft. 115


[564] DEMEA. Nun gib nur Acht, Micio, wie wir mit diesen schönen Grundsätzen, mit dieser deiner lieben Nachsicht, am Ende fahren werden.

MICIO. Schweig doch! Besser, als du glaubest. – Und nun genug davon! Heute schenke dich mir. Komm, kläre dich auf.

DEMEA. Mags doch nur heute sein! Was ich muß, das muß ich. – Aber morgen, sobald es Tag wird, geh ich wieder aufs Dorf, und der Bursche geht mit. –

MICIO. Lieber, noch ehe es Tag wird; dächte ich. Sei nur heute lustig!

DEMEA. Auch das Mensch von einer Sängerin muß mit heraus.

MICIO. Vortrefflich! So wird sich der Sohn gewiß nicht weg wünschen. Nur halte sie auch gut.

DEMEA. Da laß mich vor sorgen! Sie soll, in der Mühle und [565] vor dem Ofenloche, Mehlstaubs und Kohlstaubs und Rauchs genug kriegen. Dazu soll sie mir am heißen Mittage stoppeln gehn, bis sie so trocken, so schwarz geworden, als ein Löschbrand.

MICIO. Das gefällt mir! Nun bist du auf dem rechten Wege! – Und alsdenn, wenn ich wie du wäre, müßte mir der Sohn bei ihr schlafen, er möchte wollen oder nicht.

DEMEA. Lachst du mich aus? – Bei so einer Gemütsart, freilich, kannst du wohl glücklich sein. Ich fühl es, leider –

MICIO. Du fängst doch wieder an?

DEMEA. Nu, nu; ich höre ja auch schon wieder auf.


Bei dem »Lachst du mich aus?« des Demea, merkt Donatus an: Hoc verbum vultu Demeae sic profertur, ut subrisisse videatur invitus. Sed rursus EGO SENTIO, amare severeque dicit. Unvergleichlich! Demea, dessen voller Ernst es war, daß er die Sängerin, nicht als Sängerin, sondern als eine gemeine Sklavin halten und nutzen wollte, muß über den Einfall des Micio lachen. Micio selbst braucht nicht zu lachen: je ernsthafter er sich stellt, desto besser. Demea kann darum doch sagen: Lachst du mich aus? und muß sich zwingen wollen, sein eignes Lachen zu verbeißen. Er verbeißt es auch bald, denn das »Ich fühl es leider« sagt er wieder in einem ärgerlichen und bittern Tone. Aber so ungern, so kurz das Lachen auch ist: so große Wirkung hat es gleichwohl. Denn einen Mann, wie Demea, hat man wirklich vors erste gewonnen, wenn man ihn nur zu lachen machen kann. Je seltner ihm diese wohltätige Erschütterung ist, desto länger hält sie innerlich an; nachdem er längst alle Spur derselben auf seinem Gesichte vertilgt, dauert sie noch fort, ohne daß er es selbst weiß, und hat auf sein nächstfolgendes Betragen einen gewissen Einfluß. –

Aber wer hätte wohl bei einem Grammatiker so feine Kenntnisse gesucht? Die alten Grammatiker waren nicht das, was wir itzt bei dem Namen denken. Es waren Leute von vieler Einsicht; das ganze weite Feld der Kritik war ihr Gebiete. Was von ihren Auslegungen klassischer Schriften auf uns gekommen, verdient daher nicht bloß wegen der Sprache [566] studiert zu werden. Nur muß man die neuern Interpolationen zu unterscheiden wissen. Daß aber dieser Donatus (Aelius) so vorzüglich reich an Bemerkungen ist, die unsern Geschmack bilden können, daß er die verstecktesten Schönheiten seines Autors mehr als irgend ein anderer zu enthüllen weiß: das kömmt vielleicht weniger von seinen größern Gaben, als von der Beschaffenheit seines Autors selbst. Das römische Theater war, zur Zeit des Donatus, noch nicht gänzlich verfallen; die Stücke des Terenz wurden noch gespielt, und ohne Zweifel noch mit vielen von den Überlieferungen gespielt, die sich aus den bessern Zeiten des römischen Geschmacks herschrieben: er durfte also nur anmerken, was er sahe und hörte; er brauchte also nur Aufmerksamkeit und Treue, um sich das Verdienst zu machen, daß ihm die Nachwelt Feinheiten zu verdanken hat, die er selbst schwerlich dürfte ausgegrübelt haben. Ich wüßte daher auch kein Werk, aus welchem ein angehender Schauspieler mehr lernen könnte, als diesen Kommentar des Donatus über den Terenz: und bis das Latein unter unsern Schauspielern üblicher wird, wünschte ich sehr, daß man ihnen eine gute Übersetzung davon in die Hände geben wollte. Es versteht sich, daß der Dichter dabei sein, und aus dem Kommentar alles wegbleiben müßte, was die bloße Worterklärung betrifft. Die Dacier hat in dieser Absicht den Donatus nur schlecht genutzt, und ihre Übersetzung des Textes ist wäßrig und steif. Eine neuere deutsche, die wir haben, hat das Verdienst der Richtigkeit so so, aber das Verdienst der komischen Sprache fehlt ihr gänzlich; 116 und Donatus ist auch[567] nicht weiter gebraucht, als ihn die Dacier zu brauchen für gut befunden. Es wäre also keine getane Arbeit, was ich vorschlage; aber wer soll sie tun? Die nichts bessers tun könnten, können auch dieses nicht: und die etwas bessers tun könnten, werden sich bedanken.

Doch endlich vom Terenz auf unsern Nachahmer zu kommen – Es ist doch sonderbar, daß auch Herr Romanus den falschen Gedanken des Voltaire gehabt zu haben scheinet. Auch er hat geglaubt, daß am Ende mit dem Charakter des Demea eine gänzliche Veränderung vorgehe; wenigstens läßt er sie mit dem Charakter seines Lysimons vorgehen. »Je Kinder, läßt er ihn rufen, schweigt doch! Ihr überhäuft mich ja mit Liebkosungen. Sohn, Bruder, Vetter, Diener, alles schmeichelt mir, bloß weil ich einmal ein bißchen freundlich aussehe. Bin ichs denn, oder bin ichs nicht? Ich werde wieder recht jung, Bruder! Es ist doch hübsch, wenn man geliebt wird. Ich will auch gewiß so bleiben. Ich wüßte nicht, wenn ich so eine vergnügte Stunde gehabt hätte.« Und Frontin [568] sagt: »Nun unser Alter stirbt gewiß bald. 117 Die Veränderung ist gar zu plötzlich.« Ja wohl; aber das Sprüchwort, und der gemeine Glaube, von den unvermuteten Veränderungen, die einen nahen Tod vorbedeuten, soll doch wohl nicht im Ernste hier etwas rechtfertigen?

Drei und siebzigstes Stück

Den 12ten Januar, 1768


Die Schlußrede des Demea bei dem Terenz, geht aus einem ganz andern Tone. »Wenn euch nur das gefällt: nun so macht, was ihr wollt, ich will mich um nichts mehr bekümmern!« Er ist es ganz und gar nicht, der sich nach der Weise der andern, sondern die andern sind es, die sich nach seiner Weise künftig zu bequemen versprechen. – Aber wie kömmt es, dürfte man fragen, daß die letzten Szenen mit dem Lysimon in unsern deutschen Brüdern, bei der Vorstellung gleichwohl immer so wohl aufgenommen werden? Der beständige Rückfall des Lysimon in seinen alten Charakter macht sie komisch; aber bei diesem hätte es auch bleiben müssen. – Ich verspare das Weitere, bis zu einer zweiten Vorstellung des Stücks.

Das Orakel vom Saint-Foix, welches diesen Abend den Beschluß machte, ist allgemein bekannt, und allgemein beliebt.

Den sechs und vierzigsten Abend (Montags, den 20sten Julius,) ward Miß Sara, 118 und den sieben und vierzigsten, Tages darauf, Nanine 119 wiederholt. Auf die Nanine folgte, der unvermutete Ausgang, vom Marivaux, in einem Akte.

Oder, wie es wörtlicher und besser heißen würde: die unvermutete Entwicklung. Denn es ist einer von denen Titeln, die nicht sowohl den Inhalt anzeigen, als vielmehr gleich [569] Anfangs gewissen Einwendungen vorbauen sollen, die der Dichter gegen seinen Stoff, oder dessen Behandlung, vorher sieht. Ein Vater will seine Tochter an einen jungen Menschen verheiraten, den sie nie gesehen hat. Sie ist mit einem andern schon halb richtig, aber dieses auch schon seit so langer Zeit, daß es fast gar nicht mehr richtig ist. Unterdessen möchte sie ihn doch noch lieber, als einen ganz Unbekannten, und spielt sogar, auf sein Angeben, die Rolle einer Wahnwitzigen, um den neuen Freier abzuschrecken. Dieser kömmt; aber zum Glücke ist es ein so schöner liebenswürdiger Mann, daß sie gar bald ihre Verstellung vergißt, und in aller Geschwindigkeit mit ihm einig wird. Man gebe dem Stücke einen andern Titel, und alle Leser und Zuschauer werden ausrufen: das ist auch sehr unerwartet! Einen Knoten, den man in zehn Szenen so mühsam geschürzt hat, in einer einzigen nicht zu lösen, sondern mit eins zu zerhauen! Nun aber ist dieser Fehler in dem Titel selbst angekündiget, und durch diese Ankündigung gewissermaßen gerechtfertiget. Denn, wenn es nun wirklich einmal so einen Fall gegeben hat: warum soll er nicht auch vorgestellt werden können? Er sahe ja in der Wirklichkeit einer Komödie so ähnlich: und sollte er denn eben deswegen um so unschicklicher zur Komödie sein? – Nach der Strenge, allerdings: denn alle Begebenheiten, die man im gemeinen Leben wahre Komödien nennet, findet man in der Komödie wahren Begebenheiten nicht sehr gleich; und darauf käme es doch eigentlich an.

Aber Ausgang und Entwicklung, laufen beide Worte nicht auf eins hinaus? Nicht völlig. Der Ausgang ist, daß Jungfer Argante den Erast und nicht den Dorante heiratet, und dieser ist hinlänglich vorbereitet. Denn ihre Liebe gegen Doranten ist so lau, so wetterläunisch; sie liebt ihn, weil sie seit vier Jahren niemanden gesehen hat, als ihn; manchmal liebt sie ihn mehr, manchmal weniger, manchmal gar nicht, so wie es kömmt; hat sie ihn lange nicht gesehen, so kömmt er ihr liebenswürdig genug vor; sieht sie ihn alle Tage, so macht er ihr Langeweile; besonders stoßen ihr dann und wann Gesichter auf, gegen welche sie Dorantens Gesicht so kahl, so unschmackhaft, so ekel findet! Was brauchte es also [570] weiter, um sie ganz von ihm abzubringen, als daß Erast, den ihr ihr Vater bestimmte, ein solches Gesicht ist? Daß sie diesen also nimmt, ist so wenig unerwartet, daß es vielmehr sehr unerwartet sein würde, wenn sie bei jenem bliebe. Entwicklung hingegen ist ein mehr relatives Wort; und eine unerwartete Entwicklung involvieret eine Verwicklung, die ohne Folgen bleibt, von der der Dichter auf einmal abspringt, ohne sich um die Verlegenheit zu bekümmern, in der er einen Teil seiner Personen läßt. Und so ist es hier: Peter wird es mit Doranten schon ausmachen; der Dichter empfiehlt sich ihm.

Den acht und vierzigsten Abend (Mittewochs, den 22sten Julius,) ward das Trauerspiel des Herrn Weiß, Richard der Dritte, aufgeführt: zum Beschlusse, Herzog Michel.

Dieses Stück ist ohnstreitig eines von unsern beträchtlichsten Originalen; reich an großen Schönheiten, die genugsam zeigen, daß die Fehler, mit welchen sie verwebt sind, zu vermeiden, im geringsten nicht über die Kräfte des Dichters gewesen wäre, wenn er sich diese Kräfte nur selbst hätte zutrauen wollen.

Schon Shakespeare hatte das Leben und den Tod des dritten Richards auf die Bühne gebracht; aber Herr Weiß erinnerte sich dessen nicht eher, als bis sein Werk bereits fertig war. »Sollte ich also, sagt er, bei der Vergleichung schon viel verlieren: so wird man doch wenigstens finden, daß ich kein Plagium begangen habe; – aber vielleicht wäre es ein Verdienst gewesen, an dem Shakespeare ein Plagium zu begehen.«

Vorausgesetzt, daß man eines an ihm begehen kann. Aber was man von dem Homer gesagt hat, es lasse sich dem Herkules eher seine Keule, als ihm ein Vers abringen, das läßt sich vollkommen auch vom Shakespeare sagen. Auf die geringste von seinen Schönheiten ist ein Stempel gedruckt, welcher gleich der ganzen Welt zuruft: ich bin Shakespeare! Und wehe der fremden Schönheit, die das Herz hat, sich neben ihr zu stellen!

Shakespeare will studiert, nicht geplündert sein. Haben wir Genie, so muß uns Shakespeare das sein, was dem Landschaftsmaler [571] die Camera obscura ist: er sehe fleißig hinein, um zu lernen, wie sich die Natur in allen Fällen auf eine Fläche projektieret; aber er borge nichts daraus.

Ich wüßte auch wirklich in dem ganzen Stücke des Shakespeares keine einzige Szene, sogar keine einzige Tirade, die Herr Weiß so hätte brauchen können, wie sie dort ist. Alle, auch die kleinsten Teile beim Shakespeare, sind nach den großen Maßen des historischen Schauspiels zugeschnitten, und dieses verhält sich zu der Tragödie französischen Geschmacks, ungefähr wie ein weitläuftiges Frescogemälde gegen ein Migniaturbildchen für einen Ring. Was kann man zu diesem aus jenem nehmen, als etwa ein Gesicht, eine einzelne Figur, höchstens eine kleine Gruppe, die man sodann als ein eigenes Ganze ausführen muß? Eben so würden aus einzeln Gedanken beim Shakespeare ganze Szenen, und aus einzeln Szenen ganze Aufzüge werden müssen. Denn wenn man den Ärmel aus dem Kleide eines Riesen für einen Zwerg recht nutzen will, so muß man ihm nicht wieder einen Ärmel, sondern einen ganzen Rock daraus machen.

Tut man aber auch dieses, so kann man wegen der Beschuldigung des Plagiums ganz ruhig sein. Die meisten werden in dem Faden die Flocke nicht erkennen, woraus er gesponnen ist. Die wenigen, welche die Kunst verstehen, verraten den Meister nicht, und wissen, daß ein Goldkorn so künstlich kann getrieben sein, daß der Wert der Form den Wert der Materie bei weitem übersteiget.

Ich für mein Teil betauere es also wirklich, daß unserm Dichter Shakespeares Richard so spät beigefallen. Er hätte ihn können gekannt haben, und doch eben so original geblieben sein, als er itzt ist: er hätte ihn können genutzt haben, ohne daß eine einzige übergetragene Gedanke davon gezeugt hätte.

Wäre mir indes eben das begegnet, so würde ich Shakespeares Werk wenigstens nachher als einen Spiegel genutzt haben, um meinem Werke alle die Flecken abzuwischen, die mein Auge unmittelbar darin zu erkennen, nicht vermögend gewesen wäre. – Aber woher weiß ich, daß Herr Weiß dieses nicht getan? Und warum sollte er es nicht getan haben?

[572] Kann es nicht eben so wohl sein, daß er das, was ich für dergleichen Flecken halte, für keine hält? Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß er mehr Recht hat, als ich? Ich bin überzeugt, daß das Auge des Künstlers größtenteils viel scharfsichtiger ist, als das scharfsichtigste seiner Betrachter. Unter zwanzig Einwürfen, die ihm diese machen, wird er sich von neunzehn erinnern, sie während der Arbeit sich selbst gemacht, und sie auch schon sich selbst beantwortet zu haben.

Gleichwohl wird er nicht ungehalten sein, sie auch von andern machen zu hören: denn er hat es gern, daß man über sein Werk urteilet; schal oder gründlich, links oder rechts, gutartig oder hämisch, alles gilt ihm gleich; und auch das schalste, linkste, hämischste Urteil, ist ihm lieber, als kalte Bewunderung. Jenes wird er auf die eine oder die andre Art in seinen Nutzen zu verwenden wissen: aber was fängt er mit dieser an? Verachten möchte er die guten ehrlichen Leute nicht gern, die ihn für so etwas außerordentliches halten: und doch muß er die Achseln über sie zucken. Er ist nicht eitel, aber er ist gemeiniglich stolz; und aus Stolz möchte er zehnmal lieber einen unverdienten Tadel, als ein unverdientes Lob, auf sich sitzen lassen. –

Man wird glauben, welche Kritik ich hiermit vorbereiten will. – Wenigstens nicht bei dem Verfasser, – höchstens nur bei einem oder dem andern Mitsprecher. Ich weiß nicht, wo ich es jüngst gedruckt lesen mußte, daß ich die Amalia meines Freundes auf Unkosten seiner übrigen Lustspiele gelobt hätte. 120 – Auf Unkosten? aber doch wenigstens der frühern? Ich gönne es Ihnen, mein Herr, daß man niemals Ihre ältern Werke so möge tadeln können. Der Himmel bewahre Sie vor dem tückischen Lobe: daß Ihr letztes immer Ihr bestes ist! –

[573]
Vier und siebzigstes Stück

Den 15ten Januar 1768


Zur Sache. – Es ist vornehmlich der Charakter des Richards, worüber ich mir die Erklärung des Dichters wünschte.

Aristoteles würde ihn schlechterdings verworfen haben; zwar mit dem Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur auch mit seinen Gründen zu werden wüßte.

Die Tragödie, nimmt er an, soll Mitleid und Schrecken erregen: und daraus folgert er, daß der Held derselben weder ein ganz tugendhafter Mann, noch ein völliger Bösewicht sein müsse. Denn weder mit des einen noch mit des andern Unglücke, lasse sich jener Zweck erreichen.

Räume ich dieses ein: so ist Richard der Dritte eine Tragödie, die ihres Zweckes verfehlt. Räume ich es nicht ein: so weiß ich gar nicht mehr, was eine Tragödie ist.

Denn Richard der Dritte, so wie ihn Herr Weiß geschildert hat, ist unstreitig das größte, abscheulichste Ungeheuer, das jemals die Bühne getragen. Ich sage, die Bühne: daß es die Erde wirklich getragen habe, daran zweifle ich.

Was für Mitleid kann der Untergang dieses Ungeheuers erwecken? Doch, das soll er auch nicht; der Dichter hat es darauf nicht angelegt; und es sind ganz andere Personen in seinem Werke, die er zu Gegenständen unsers Mitleids gemacht hat.

Aber Schrecken? – Sollte dieser Bösewicht, der die Kluft, die sich zwischen ihm und dem Throne befunden, mit lauter Leichen gefüllet, mit den Leichen derer, die ihm das Liebste in der Welt hätten sein müssen; sollte dieser blutdürstige, seines Blutdurstes sich rühmende, über seine Verbrechen sich kitzelnde Teufel, nicht Schrecken in vollem Maße erwecken?

Wohl erweckt er Schrecken: wenn unter Schrecken das Erstaunen über unbegreifliche Missetaten, das Entsetzen über Bosheiten, die unsern Begriff übersteigen, wenn darunter der Schauder zu verstehen ist, der uns bei Erblickung vorsetzlicher Greuel, die mit Lust begangen werden, überfällt. [574] Von diesem Schrecken hat mich Richard der Dritte mein gutes Teil empfinden lassen.

Aber dieses Schrecken ist so wenig eine von den Absichten des Trauerspiels, daß es vielmehr die alten Dichter auf alle Weise zu mindern suchten, wenn ihre Personen irgend ein großes Verbrechen begehen mußten. Sie schoben öfters lieber die Schuld auf das Schicksal, machten das Verbrechen lieber zu einem Verhängnisse einer rächenden Gottheit, verwandelten lieber den freien Menschen in eine Maschine: ehe sie uns bei der gräßlichen Idee wollten verweilen lassen, daß der Mensch von Natur einer solchen Verderbnis fähig sei.

Bei den Franzosen führt Crebillon den Beinamen des Schrecklichen. Ich fürchte sehr, mehr von diesem Schrecken, welches in der Tragödie nicht sein sollte, als von dem echten, das der Philosoph zu dem Wesen der Tragödie rechnet.

Und dieses – hätte man gar nicht Schrecken nennen sollen. Das Wort, welches Aristoteles braucht, heißt Furcht: Mitleid und Furcht, sagt er, soll die Tragödie erregen; nicht, Mitleid und Schrecken. Es ist wahr, das Schrecken ist eine Gattung der Furcht; es ist eine plötzliche, überraschende Furcht. Aber eben dieses Plötzliche, dieses Überraschende, welches die Idee desselben einschließt, zeiget deutlich, daß die, von welchen sich hier die Einführung des Wortes Schrecken, anstatt des Wortes Furcht, herschreibet, nicht eingesehen haben, was für eine Furcht Aristoteles meine. – Ich möchte dieses Weges sobald nicht wieder kommen: man erlaube mir also einen kleinen Ausschweif.

»Das Mitleid, sagt Aristoteles, verlangt einen, der unverdient leidet: und die Furcht einen unsers gleichen. Der Bösewicht ist weder dieses, noch jenes: folglich kann auch sein Unglück, weder das erste noch das andere erregen.« 121

Diese Furcht, sage ich, nennen die neuern Ausleger und Übersetzer Schrecken, und es gelingt ihnen, mit Hülfe dieses Worttausches, dem Philosophen die seltsamsten Händel von der Welt zu machen.

»Man hat sich, sagt einer aus der Menge, 122 über die Erklärung [575] des Schreckens nicht vereinigen können; und in der Tat enthält sie in jeder Betrachtung ein Glied zu viel, welches sie an ihrer Allgemeinheit hindert, und sie allzusehr einschränkt. Wenn Aristoteles durch den Zusatz ›unsers gleichen,‹ nur bloß die Ähnlichkeit der Menschheit verstanden hat, weil nämlich der Zuschauer und die handelnde Person beide Menschen sind, gesetzt auch, daß sich unter ihrem Charakter, ihrer Würde und ihrem Range ein unendlicher Abstand befände: so war dieser Zusatz überflüssig; denn er verstand sich von selbst. Wenn er aber die Meinung hatte, daß nur tugendhafte Personen, oder solche, die einen vergeblichen Fehler an sich hätten, Schrecken erregen könnten: so hatte er Unrecht; denn die Vernunft und die Erfahrung ist ihm sodann entgegen. Das Schrecken entspringt ohnstreitig aus einem Gefühl der Menschlichkeit: denn jeder Mensch ist ihm unterworfen, und jeder Mensch erschüttert sich, vermöge dieses Gefühls, bei dem widrigen Zufalle eines andern Menschen. Es ist wohl möglich, daß irgend jemand einfallen könnte, dieses von sich zu leugnen: allein dieses würde allemal eine Verleugnung seiner natürlichen Empfindungen, und also eine bloße Prahlerei aus verderbten Grundsätzen, und kein Einwurf sein. – Wenn nun auch einer lasterhaften Person, auf die wir eben unsere Aufmerksamkeit wenden, unvermutet ein widriger Zufall zustößt, so verlieren wir den Lasterhaften aus dem Gesichte, und sehen bloß den Menschen. Der Anblick des menschlichen Elendes überhaupt, macht uns traurig, und die plötzliche traurige Empfindung, die wir sodann haben, ist das Schrecken.«

Ganz recht; aber nur nicht an der rechten Stelle! Denn was sagt das wider den Aristoteles? Nichts. Aristoteles denkt an dieses Schrecken nicht, wenn er von der Furcht redet, in die uns nur das Unglück unsers gleichen setzen könne. Dieses Schrecken, welches uns bei der plötzlichen Erblickung eines Leidens befällt, das einem andern bevorstehet, ist ein mitleidiges Schrecken, und also schon unter dem Mitleide begriffen. Aristoteles würde nicht sagen, Mitleiden und Furcht; wenn er unter der Furcht weiter nichts als eine bloße Modifikation des Mitleids verstünde.

[576] »Das Mitleid,« sagt der Verfasser der Briefe über die Empfindungen, 123 »ist eine vermischte Empfindung, die aus der Liebe zu einem Gegenstande, und aus der Unlust über dessen Unglück zusammengesetzt ist. Die Bewegungen, durch welche sich das Mitleid zu erkennen gibt, sind von den einfachen Symptomen der Liebe, sowohl als der Unlust, unterschieden, denn das Mitleid ist eine Erscheinung. Aber wie vielerlei kann diese Erscheinung werden! Man ändre nur in dem betauerten Unglück die einzige Bestimmung der Zeit: so wird sich das Mitleiden durch ganz andere Kennzeichen zu erkennen geben. Mit der Elektra, die über die Urne ihres Bruders weinet, empfinden wir ein mitleidiges Trauern, denn sie hält das Unglück für geschehen, und bejammert ihren gehabten Verlust. Was wir bei den Schmerzen des Philoktets fühlen, ist gleichfalls Mitleiden, aber von einer etwas andern Natur; denn die Qual, die dieser Tugendhafte auszustehen hat, ist gegenwärtig, und überfällt ihn vor unsern Augen. Wenn aber Ödip sich entsetzt, indem das große Geheimnis sich plötzlich entwickelt; wenn Monime erschrickt, als sie den eifersüchtigen Mithridates sich entfärben sieht; wenn die tugendhafte Desdemona sich fürchtet, da sie ihren sonst zärtlichten Othello so drohend mit ihr reden höret: was empfinden wir da? Immer noch Mitleiden! Aber mitleidiges Entsetzen, mitleidige Furcht, mitleidiges Schrecken. Die Bewegungen sind verschieden, allein das Wesen der Empfindungen ist in allen diesen Fällen einerlei. Denn, da jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden ist, uns an die Stelle des Geliebten zu setzen: so müssen wir alle Arten von Leiden mit der geliebten Person teilen, welches man sehr nachdrücklich Mitleiden nennet. Warum sollten also nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Eifersucht, Rachbegier, und überhaupt alle Arten von unangenehmen Empfindungen, sogar den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden entstehen können? – Man sieht hieraus, wie gar ungeschickt der größte Teil der Kunstrichter die tragischen Leidenschaften in Schrecken und Mitleiden [577] einteilet. Schrecken und Mitleiden! Ist denn das theatralische Schrecken kein Mitleiden? Für wen erschrickt der Zuschauer, wenn Merope auf ihren eignen Sohn den Dolch ziehet? Gewiß nicht für sich, sondern für den Aegisth, dessen Erhaltung man so sehr wünschet, und für die betrogne Königin, die ihn für den Mörder ihres Sohnes ansiehet. Wollen wir aber nur die Unlust über das gegenwärtige Übel eines andern, Mitleiden nennen: so müssen wir nicht nur das Schrecken, sondern alle übrige Leidenschaften, die uns von einem andern mitgeteilet werden, von dem eigentlichen Mitleiden unterscheiden.« –

Fünf und siebzigstes Stück

Den 19ten Januar, 1768


Diese Gedanken sind so richtig, so klar, so einleuchtend, daß uns dünkt, ein jeder hätte sie haben können und haben müssen. Gleichwohl will ich die scharfsinnigen Bemerkungen des neuen Philosophen dem alten nicht unterschieben; ich kenne jenes Verdienste um die Lehre von den vermischten Empfindungen zu wohl; die wahre Theorie derselben haben wir nur ihm zu danken. Aber was er so vortrefflich auseinandergesetzt hat, das kann doch Aristoteles im Ganzen ungefähr empfunden haben: wenigstens ist es unleugbar, daß Aristoteles entweder muß geglaubt haben, die Tragödie könne und solle nichts als das eigentliche Mitleid, nichts als die Unlust über das gegenwärtige Übel eines andern, erwecken, welches ihm schwerlich zuzutrauen; oder er hat alle Leidenschaften überhaupt, die uns von einem andern mitgeteilet werden, unter dem Worte Mitleid begriffen.

Denn er, Aristoteles, ist es gewiß nicht, der die mit Recht getadelte Einteilung der tragischen Leidenschaften in Mitleid und Schrecken gemacht hat. Man hat ihn falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines andern, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die[578] Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.

Aristoteles will überall aus sich selbst erklärt werden. Wer uns einen neuen Kommentar über seine Dichtkunst liefern will, welcher den Dacierschen weit hinter sich läßt, dem rate ich, vor allen Dingen die Werke des Philosophen vom Anfange bis zum Ende zu lesen. Er wird Aufschlüsse für die Dichtkunst finden, wo er sich deren am wenigsten vermutet; besonders muß er die Bücher der Rhetorik und Moral studieren. Man sollte zwar denken, diese Aufschlüsse müßten die Scholastiker, welche die Schriften des Aristoteles an den Fingern wußten, längst gefunden haben. Doch die Dichtkunst war gerade diejenige von seinen Schriften, um die sie sich am wenigsten bekümmerten. Dabei fehlten ihnen andere Kenntnisse, ohne welche jene Aufschlüsse wenigstens nicht fruchtbar werden konnten: sie kannten das Theater und die Meisterstücke desselben nicht.

Die authentische Erklärung dieser Furcht, welche Aristoteles dem tragischen Mitleid beifüget, findet sich in dem fünften und achten Kapitel des zweiten Buchs seiner Rhetorik. Es war gar nicht schwer, sich dieser Kapitel zu erinnern; gleichwohl hat sich vielleicht keiner seiner Ausleger ihrer erinnert, wenigstens hat keiner den Gebrauch davon gemacht, der sich davon machen läßt. Denn auch die, welche ohne sie einsahen, daß diese Furcht nicht das mitleidige Schrecken sei, hätten noch ein wichtiges Stück aus ihnen zu lernen gehabt: die Ursache nämlich, warum der Stagirit dem Mitleid hier die Furcht, und warum nur die Furcht, warum keine andere Leidenschaft, und warum nicht mehrere Leidenschaften, beigesellet habe. Von dieser Ursache wissen sie nichts, und ich möchte wohl hören, was sie aus ihrem Kopfe antworten würden, wenn man sie fragte: warum z. E. die Tragödie nicht eben so wohl Mitleid und Bewunderung, als Mitleid und Furcht, erregen könne und dürfe?

[579] Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem Mitleiden gemacht hat. Er glaubte nämlich, daß das Übel, welches der Gegenstand unsers Mitleidens werden solle, notwendig von der Beschaffenheit sein müsse, daß wir es auch für uns selbst, oder für eines von den Unsrigen, zu befürchten hätten. Wo diese Furcht nicht sei, könne auch kein Mitleiden Statt finden. Denn weder der, den das Unglück so tief herabgedrückt habe, daß er weiter nichts für sich zu fürchten sähe, noch der, welcher sich so vollkommen glücklich glaube, daß er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglück zustoßen könne, weder der Verzweifelnde noch der Übermütige, pflege mit andern Mitleid zu haben. Er erkläret daher auch das Fürchterliche und das Mitleidswürdige, eines durch das andere. Alles das, sagt er, ist uns fürchterlich, was, wenn es einem andern begegnet wäre, oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken würde: 124 und alles das finden wir mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns selbst bevorstünde. Nicht genug also, daß der Unglückliche, mit dem wir Mitleiden haben sollen, sein Unglück nicht verdiene, ob er es sich schon durch irgend eine Schwachheit zugezogen: seine gequälte Unschuld, oder vielmehr seine zu hart heimgesuchte Schuld, sei für uns verloren, sei nicht vermögend, unser Mitleid zu erregen, wenn wir keine Möglichkeit sähen, daß uns sein Leiden auch treffen könne. Diese Möglichkeit aber finde sich alsdenn, und könne zu einer großen Wahrscheinlichkeit erwachsen, wenn ihn der Dichter nicht schlimmer mache, als wir gemeiniglich zu sein pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken und handeln lasse, als wir in seinen Umständen würden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, daß wir hätten den ken und handeln müssen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem [580] Schrot und Korne schildere. Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, daß unser Schicksal gar leicht dem seinigen eben so ähnlich werden könne, als wir ihm zu sein uns selbst fühlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringe.

So dachte Aristoteles von dem Mitleiden, und nur hieraus wird die wahre Ursache begreiflich, warum er in der Erklärung der Tragödie, nächst dem Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte. Nicht als ob diese Furcht hier eine besondere, von dem Mitleiden unabhängige Leidenschaft sei, welche bald mit bald ohne dem Mitleid, so wie das Mitleid bald mit bald ohne ihr, erreget werden könne; welches die Mißdeutung des Corneille war: sondern weil, nach seiner Erklärung des Mitleids, dieses die Furcht notwendig einschließt; weil nichts unser Mitleid erregt, als was zugleich unsere Furcht erwecken kann.

Corneille hatte seine Stücke schon alle geschrieben, als er sich hinsetzte, über die Dichtkunst des Aristoteles zu kommentieren. 125 Er hatte funfzig Jahre für das Theater gearbeitet: und nach dieser Erfahrung würde er uns unstreitig vortreffliche Dinge über den alten dramatischen Kodex haben sagen können, wenn er ihn nur auch während der Zeit seiner Arbeit fleißiger zu Rate gezogen hätte. Allein dieses scheinet er, höchstens nur in Absicht auf die mechanischen Regeln der Kunst, getan zu haben. In den wesentlichern ließ er sich um ihn unbekümmert, und als er am Ende fand, daß er wider ihn verstoßen, gleichwohl nicht wider ihn verstoßen haben wollte: so suchte er sich durch Auslegungen zu helfen, und ließ seinen vorgeblichen Lehrmeister Dinge sagen, an die er offenbar nie gedacht hatte.

Corneille hatte Märtyrer auf die Bühne gebracht, und sie als die vollkommensten untadelhaftesten Personen geschildert; [581] er hatte die abscheulichsten Ungeheuer in dem Prusias, in dem Phokas, in der Kleopatra aufgeführt: und von beiden Gattungen behauptet Aristoteles, daß sie zur Tragödie unschicklich wären, weil beide weder Mitleid noch Furcht erwecken könnten. Was antwortet Corneille hierauf? Wie fängt er es an, damit bei diesem Widerspruche weder sein Ansehen, noch das Ansehen des Aristoteles leiden möge? »O, sagt er, mit dem Aristoteles können wir uns hier leicht vergleichen. 126 Wir dürfen nur annehmen, er habe eben nicht behaupten wollen, daß beide Mittel zugleich, sowohl Furcht als Mitleid, nötig wären, um die Reinigung der Leidenschaften zu bewirken, die er zu dem letzten Endzwecke der Tragödie macht: sondern nach seiner Meinung sei auch eines zureichend. – Wir können diese Erklärung, fährt er fort, aus ihm selbst bekräftigen, wenn wir die Gründe recht erwägen, welche er von der Ausschließung derjenigen Begebenheiten, die er in den Trauerspielen mißbilliget, gibt. Er sagt niemals: dieses oder jenes schickt sich in die Tragödie nicht, weil es bloß Mitleiden und keine Furcht erweckt; oder dieses ist daselbst unerträglich, weil es bloß die Furcht erweckt, ohne das Mitleid zu erregen. Nein; sondern er verwirft sie deswegen, weil sie, wie er sagt, weder Mitleid noch Furcht zuwege bringen, und gibt uns dadurch zu erkennen, daß sie ihm deswegen nicht gefallen, weil ihnen sowohl das eine als das andere fehlet, und daß er ihnen seinen Beifall nicht versagen würde, wenn sie nur eines von beiden wirkten.«

Sechs und siebzigstes Stück

Den 22sten Januar, 1768


Aber das ist grundfalsch! – Ich kann mich nicht genug wundern, wie Dacier, der doch sonst auf die Verdrehungen ziemlich aufmerksam war, welche Corneille von dem Texte des Aristoteles zu seinem Besten zu machen suchte, diese größte von allen übersehen können. Zwar, wie konnte er sie nicht [582] übersehen, da es ihm nie einkam, des Philosophen Erklärung vom Mitleid zu Rate zu ziehen? – Wie gesagt, es ist grundfalsch, was sich Corneille einbildet. Aristoteles kann das nicht gemeint haben, oder man müßte glauben, daß er seine eigene Erklärungen vergessen können, man müßte glauben, daß er sich auf die handgreiflichste Weise widersprechen können. Wenn, nach seiner Lehre, kein Übel eines andern unser Mitleid erreget, was wir nicht für uns selbst fürchten: so konnte er mit keiner Handlung in der Tragödie zufrieden sein, welche nur Mitleid und keine Furcht erreget; denn er hielt die Sache selbst für unmöglich; dergleichen Handlungen existierten ihm nicht; sondern sobald sie unser Mitleid zu erwecken fähig wären, glaubte er, müßten sie auch Furcht für uns erwecken; oder vielmehr, nur durch diese Furcht erweckten sie Mitleid. Noch weniger konnte er sich die Handlung einer Tragödie vorstellen, welche Furcht für uns erregen könne, ohne zugleich unser Mitleid zu erwecken: denn er war überzeugt, daß alles, was uns Furcht für uns selbst errege, auch unser Mitleid erwecken müsse, sobald wir andere damit bedrohet, oder betroffen erblickten; und das ist eben der Fall der Tragödie, wo wir alle das Übel, welches wir fürchten, nicht uns, sondern anderen begegnen sehen.

Es ist wahr, wenn Aristoteles von den Handlungen spricht, die sich in die Tragödie nicht schicken, so bedient er sich mehrmalen des Ausdrucks von ihnen, daß sie weder Mitleid noch Furcht erwecken. Aber desto schlimmer, wenn sich Corneille durch diesesweder noch verführen lassen. Diese disjunktive Partikeln involvieren nicht immer, was er sie involvieren läßt. Denn wenn wir zwei oder mehrere Dinge von einer Sache durch sie verneinen, so kömmt es darauf an, ob sich diese Dinge eben so wohl in der Natur von einander trennen lassen, als wir sie in der Abstraktion und durch den symbolischen Ausdruck trennen können, wenn die Sache dem ohngeachtet noch bestehen soll, ob ihr schon das eine oder das andere von diesen Dingen fehlt. Wenn wir z. E. von einem Frauenzimmer sagen, sie sei weder schön noch witzig: so wollen wir allerdings sagen, wir würden zufrieden sein, wenn sie auch nur eines von beiden wäre; denn [583] Witz und Schönheit lassen sich nicht bloß in Gedanken trennen, sondern sie sind wirklich getrennet. Aber wenn wir sagen, dieser Mensch glaubt weder Himmel noch Hölle: wollen wir damit auch sagen, daß wir zufrieden sein würden, wenn er nur eines von beiden glaubte, wenn er nur den Himmel und keine Hölle, oder nur die Hölle und keinen Himmel glaubte? Gewiß nicht: denn wer das eine glaubt, muß notwendig auch das andere glauben; Himmel und Hölle, Strafe und Belohnung sind relativ; wenn das eine ist, ist auch das andere. Oder, um mein Exempel aus einer verwandten Kunst zu nehmen; wenn wir sagen, dieses Gemälde taugt nichts, denn es hat weder Zeichnung noch Kolorit: wollen wir damit sagen, daß ein gutes Gemälde sich mit einem von beiden begnügen könne? – Das ist so klar!

Allein, wie, wenn die Erklärung, welche Aristoteles von dem Mitleiden gibt, falsch wäre? Wie, wenn wir auch mit Übeln und Unglücksfällen Mitleid fühlen könnten, die wir für uns selbst auf keine Weise zu besorgen haben?

Es ist wahr: es braucht unserer Furcht nicht, um Unlust über das physikalische Übel eines Gegenstandes zu empfinden, den wir lieben. Diese Unlust entstehet bloß aus der Vorstellung der Unvollkommenheit, so wie unsere Liebe aus der Vorstellung der Vollkommenheiten desselben; und aus dem Zusammenflusse dieser Lust und Unlust entspringet die vermischte Empfindung, welche wir Mitleid nennen.

Jedoch auch so nach glaube ich nicht, die Sache des Aristoteles notwendig aufgeben zu müssen.

Denn wenn wir auch schon, ohne Furcht für uns selbst, Mitleid für andere empfinden können: so ist es doch unstreitig, daß unser Mitleid, wenn jene Furcht dazu kömmt, weit lebhafter und stärker und anzüglicher wird, als es ohne sie sein kann. Und was hindert uns, anzunehmen, daß die vermischte Empfindung über das physikalische Übel eines geliebten Gegenstandes, nur allein durch die dazu kommende Furcht für uns, zu dem Grade erwächst, in welchem sie Affekt genannt zu werden verdienet?

Aristoteles hat es wirklich angenommen. Er betrachtet das Mitleid nicht nach seinen primitiven Regungen, er betrachtet [584] es bloß als Affekt. Ohne jene zu verkennen, verweigert er nur dem Funke den Namen der Flamme. Mitleidige Regungen, ohne Furcht für uns selbst, nennt er Philanthropie: und nur den stärkern Regungen dieser Art, welche mit Furcht für uns selbst verknüpft sind, gibt er den Namen des Mitleids. Also behauptet er zwar, daß das Unglück eines Bösewichts weder unser Mitleid noch unsere Furcht errege; aber er spricht ihm darum nicht alle Rührung ab. Auch der Bösewicht ist noch Mensch, ist noch ein Wesen, das bei allen seinen moralischen Unvollkommenheiten, Vollkommenheiten genug behält, um sein Verderben, seine Zernichtung lieber nicht zu wollen, um bei dieser etwas mitleidähnliches, die Elemente des Mitleids gleichsam, zu empfinden. Aber, wie schon gesagt, diese mitleidähnliche Empfindung nennt er nicht Mitleid, sondern Philanthropie. »Man muß, sagt er, keinen Bösewicht aus unglücklichen in glückliche Umstände gelangen lassen; denn das ist das untragischste, was nur sein kann; es hat nichts von allem, was es haben sollte; es erweckt weder Philanthropie, noch Mitleid, noch Furcht. Auch muß es kein völliger Bösewicht sein, der aus glücklichen Umständen in unglückliche verfällt; denn eine dergleichen Begebenheit kann zwar Philanthropie, aber weder Mitleid noch Furcht erwecken.« Ich kenne nichts kahleres und abgeschmackteres, als die gewöhnlichen Übersetzungen dieses Wortes Philanthropie. Sie geben nämlich das Adjectivum davon im Lateinischen durch hominibus gratum; im Französischen durch ce que peut faire quelque plaisir; und im Deutschen durch »was Vergnügen machen kann.« Der einzige Goulston, so viel ich finde, scheinet den Sinn des Philosophen nicht verfehlt zu haben; indem er das φιλανϑρωπον durch quod humanitatis sensu tangat übersetzt. Denn allerdings ist unter dieser Philanthropie, auf welche das Unglück auch eines Bösewichts Anspruch macht, nicht die Freude über seine verdiente Bestrafung, sondern das sympathetische Gefühl der Menschlichkeit zu verstehen, welches, Trotz der Vorstellung, daß sein Leiden nichts als Verdienst sei, dennoch in dem Augenblicke des Leidens, in uns sich für ihn reget. Herr Curtius will zwar diese mitleidige Regungen für [585] einen unglücklichen Bösewicht, nur auf eine gewisse Gattung der ihn treffenden Übel einschränken. »Solche Zufälle des Lasterhaften, sagt er, die weder Schrecken noch Mitleid in uns wirken, müssen Folgen seines Lasters sein: denn treffen sie ihn zufällig, oder wohl gar unschuldig, so behält er in dem Herzen der Zuschauer die Vorrechte der Menschlichkeit, als welche auch einem unschuldig leidenden Gottlosen ihr Mitleid nicht versagt.« Aber er scheinet dieses nicht genug überlegt zu haben. Denn auch dann noch, wenn das Unglück, welches den Bösewicht befällt, eine unmittelbare Folge seines Verbrechens ist, können wir uns nicht entwehren, bei dem Anblicke dieses Unglücks mit ihm zu leiden.

»Seht jene Menge,« sagt der Verfasser der Briefe über die Empfindungen, »die sich um einen Verurteilten in dichte Haufen dränget. Sie haben alle Greuel vernommen, die der Lasterhafte begangen; sie haben seinen Wandel, und vielleicht ihn selbst verabscheuet. Itzt schleppt man ihn entstellt und ohnmächtig auf das entsetzliche Schaugerüste. Man arbeitet sich durch das Gewühl, man stellt sich auf die Zähen, man klettert die Dächer hinan, um die Züge des Todes sein Gesicht entstellen zu sehen. Sein Urteil ist gesprochen; sein Henker naht sich ihm: ein Augenblick wird sein Schicksal entscheiden. Wie sehnlich wünschen itzt aller Herzen, daß ihm verziehen würde! Ihm? dem Gegenstande ihres Abscheues, den sie einen Augenblick vorher selbst zum Tode verurteilet haben würden? Wodurch wird itzt ein Strahl der Menschenliebe wiederum bei ihnen rege? Ist es nicht die Annäherung der Strafe, der Anblick der entsetzlichsten physikalischen Übel, die uns sogar mit einem Ruchlosen gleichsam aussöhnen, und ihm unsere Liebe erwerben? Ohne Liebe könnten wir unmöglich mitleidig mit seinem Schicksale sein.«

Und eben diese Liebe, sage ich, die wir gegen unsern Nebenmenschen unter keinerlei Umständen ganz verlieren können, die unter der Asche, mit welcher sie andere stärkere Empfindungen überdecken, unverlöschlich fortglimmet, und gleichsam nur einen günstigen Windstoß von Unglück und Schmerz und Verderben erwartet, um in die Flamme des [586] Mitleids auszubrechen; eben diese Liebe ist es, welche Aristoteles unter dem Namen der Philanthropie verstehet. Wir haben Recht, wenn wir sie mit unter dem Namen des Mitleids begreifen. Aber Aristoteles hatte auch nicht Unrecht, wenn er ihr einen eigenen Namen gab, um sie, wie gesagt, von dem höchsten Grade der mitleidigen Empfindungen, in welchem sie, durch die Dazukunft einer wahrscheinlichen Furcht für uns selbst, Affekt werden, zu unterscheiden.

Sieben und siebzigstes Stück

Den 26sten Januar, 1768


Einem Einwurfe ist hier noch vorzukommen. Wenn Aristoteles diesen Begriff von dem Affekte des Mitleids hatte, daß er notwendig mit der Furcht für uns selbst verknüpft sein müsse: was war es nötig, der Furcht noch insbesondere zu erwähnen? Das Wort Mitleid schloß sie schon in sich, und es wäre genug gewesen, wenn er bloß gesagt hätte: die Tragödie soll durch Erregung des Mitleids die Reinigung unserer Leidenschaft bewirken. Denn der Zusatz der Furcht sagt nichts mehr, und macht das, was er sagen soll, noch dazu schwankend und ungewiß.

Ich antworte: wenn Aristoteles uns bloß hätte lehren wollen, welche Leidenschaften die Tragödie erregen könne und solle, so würde er sich den Zusatz der Furcht allerdings haben ersparen können, und ohne Zweifel sich wirklich ersparet haben; denn nie war ein Philosoph ein größerer Wortsparer, als er. Aber er wollte uns zugleich lehren, welche Leidenschaften, durch die in der Tragödie erregten, in uns gereiniget werden sollten; und in dieser Absicht mußte er der Furcht insbesondere gedenken. Denn obschon, nach ihm, der Affekt des Mitleids, weder in noch außer dem Theater, ohne Furcht für uns selbst sein kann; ob sie schon ein notwendiges Ingredienz des Mitleids ist: so gilt dieses doch nicht auch umgekehrt, und das Mitleid für andere ist kein Ingredienz der Furcht für uns selbst. Sobald die Tragödie aus ist, höret unser Mitleid auf, und nichts bleibt von allen den [587] empfundenen Regungen in uns zurück, als die wahrscheinliche Furcht, die uns das bemitleidete Übel für uns selbst schöpfen lassen. Diese nehmen wir mit; und so wie sie, als Ingredienz des Mitleids, das Mitleid reinigen helfen, so hilft sie nun auch, als eine vor sich fortdauernde Leidenschaft, sich selbst reinigen. Folglich, um anzuzeigen, daß sie dieses tun könne und wirklich tue, fand es Aristoteles für nötig, ihrer insbesondere zu gedenken.

Es ist unstreitig, daß Aristoteles überhaupt keine strenge logische Definition von der Tragödie geben wollen. Denn ohne sich auf die bloß wesentlichen Eigenschaften derselben einzuschränken, hat er verschiedene zufällige hineingezogen, weil sie der damalige Gebrauch notwendig gemacht hatte. Diese indes abgerechnet, und die übrigen Merkmale in einander reduzieret, bleibt eine vollkommen genaue Erklärung übrig: die nämlich, daß die Tragödie, mit einem Worte, ein Gedicht ist, welches Mitleid erreget. Ihrem Geschlechte nach, ist sie die Nachahmung einer Handlung; so wie die Epopee und die Komödie: ihrer Gattung aber nach, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung. Aus diesen beiden Begriffen lassen sich vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und sogar ihre dramatische Form ist daraus zu bestimmen.

An dem letztern dürfte man vielleicht zweifeln. Wenigstens wüßte ich keinen Kunstrichter zu nennen, dem es nur eingekommen wäre, es zu versuchen. Sie nehmen alle die dramatische Form der Tragödie als etwas Hergebrachtes an, das nun so ist, weil es einmal so ist, und das man so läßt, weil man es gut findet. Der einzige Aristoteles hat die Ursache ergründet, aber sie bei seiner Erklärung mehr vorausgesetzt, als deutlich angegeben. »Die Tragödie, sagt er, ist die Nachahmung einer Handlung, – die nicht vermittelst der Erzählung, sondern vermittelst des Mitleids und der Furcht, die Reinigung dieser und dergleichen Leidenschaften bewirket.« So drückt er sich von Wort zu Wort aus. Wem sollte hier nicht der sonderbare Gegensatz, »nicht vermittelst der Erzählung, sondern vermittelst des Mitleids und der Furcht,« befremden? Mitleid und Furcht sind die Mittel, welche die [588] Tragödie braucht, um ihre Absicht zu erreichen: und die Erzählung kann sich nur auf die Art und Weise beziehen, sich dieser Mittel zu bedienen, oder nicht zu bedienen. Scheinet hier also Aristoteles nicht einen Sprung zu machen? Scheinet hier nicht offenbar der eigentliche Gegensatz der Erzählung, welches die dramatische Form ist, zu fehlen? Was tun aber die Übersetzer bei dieser Lücke? Der eine umgeht sie ganz behutsam: und der andere füllt sie, aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts darin, als eine vernachlässigte Wortfügung, an die sie sich nicht halten zu dürfen glauben, wenn sie nur den Sinn des Philosophen liefern. Dacier übersetzt: d'une action – qui, sans le secours de la narration, par le moyen de la compassion et de la terreur u.s.w.; und Curtius: »einer Handlung, welche nicht durch die Erzählung des Dichters, sondern (durch Vorstellung der Handlung selbst) uns, vermittelst des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reiniget.« O, sehr recht! Beide sagen, was Aristoteles sagen will, nur daß sie es nicht so sagen, wie er es sagt. Gleichwohl ist auch an diesem Wie gelegen; denn es ist wirklich keine bloß vernachlässigte Wortfügung. Kurz, die Sache ist diese: Aristoteles bemerkte, daß das Mitleid notwendig ein vorhandenes Übel erfodere; daß wir längst vergangene oder fern in der Zukunft bevorstehende Übel entweder gar nicht, oder doch bei weitem nicht so stark bemitleiden können, als ein anwesendes; daß es folglich notwendig sei, die Handlung, durch welche wir Mitleid erregen wollen, nicht als vergangen, das ist, nicht in der erzählenden Form, sondern als gegenwärtig, das ist, in der dramatischen Form, nachzuahmen. Und nur dieses, daß unser Mitleid durch die Erzählung wenig oder gar nicht, sondern fast einzig und allein durch die gegenwärtige Anschauung erreget wird, nur dieses berechtigte ihn, in der Erklärung anstatt der Form der Sache, die Sache gleich selbst zu setzen, weil diese Sache nur dieser einzigen Form fähig ist. Hätte er es für möglich gehalten, daß unser Mitleid auch durch die Erzählung erreget werden könne: so würde es allerdings ein sehr fehlerhafter Sprung gewesen sein, wenn er gesagt hätte, »nicht durch die Erzählung, sondern durch [589] Mitleid und Furcht.« Da er aber überzeugt war, daß Mitleid und Furcht in der Nachahmung nur durch die einzige dramatische Form zu erregen sei: so konnte er sich diesen Sprung, der Kürze wegen, erlauben. – Ich verweise desfalls auf das nämliche neunte Kapitel des zweiten Buchs seiner Rhetorik. 127

Was endlich den moralischen Endzweck anbelangt, welchen Aristoteles der Tragödie gibt, und den er mit in die Erklärung derselben bringen zu müssen glaubte: so ist bekannt, wie sehr, besonders in den neuern Zeiten, darüber gestritten worden. Ich getraue mich aber zu erweisen, daß alle, die sich dawider erklärt, den Aristoteles nicht verstanden haben. Sie haben ihm alle ihre eigene Gedanken untergeschoben, ehe sie gewiß wußten, welches seine wären. Sie bestreiten Grillen, die sie selbst gefangen, und bilden sich ein, wie unwidersprechlich sie den Philosophen widerlegen, indem sie ihr eigenes Hirngespinste zu Schanden machen. Ich kann mich in die nähere Erörterung dieser Sache hier nicht einlassen. Damit ich jedoch nicht ganz ohne Beweis zu sprechen scheine, will ich zwei Anmerkungen machen.

1. Sie lassen den Aristoteles sagen, »die Tragödie solle uns, vermittelst des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reinigen.« Der vorgestellten? Also, wenn der Held durch Neugierde, oder Ehrgeiz, oder Liebe, oder Zorn unglücklich wird: so ist es unsere Neugierde, unser Ehrgeiz, unsere Liebe, unser Zorn, welchen die Tragödie reinigen soll? Das ist dem Aristoteles nie in den Sinn gekommen. Und so haben die Herren gut streiten; ihre Einbildung verwandelt Windmühlen in Riesen; sie jagen, in der gewissen Hoffnung des Sieges, darauf los, und kehren sich an keinen Sancho, der weiter nichts als gesunden Menschenverstand hat, und ihnen auf seinem bedächtlichern Pferde hinten nach ruft, sich nicht zu übereilen, und doch [590] nur erst die Augen recht aufzusperren.

Των τοιουτων παϑηματων, sagt Aristoteles: und das heißt nicht, der vorgestellten Leidenschaften; das hätten sie übersetzen müssen durch, dieser und dergleichen, oder, der erweckten Leidenschaften. Das τοιουτων bezieht sich lediglich auf das vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragödie soll unser Mitleid und unsere Furcht erregen, bloß um diese und dergleichen Leidenschaften, nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen. Er sagt aber τοιουτων und nicht τουτων; er sagt, dieser und dergleichen, und nicht bloß, dieser: um anzuzeigen, daß er unter dem Mitleid, nicht bloß das eigentlich sogenannte Mitleid, sondern überhaupt alle philanthropische Empfindungen, so wie unter der Furcht nicht bloß die Unlust über ein uns bevorstehendes Übel, sondern auch jede damit verwandte Unlust, auch die Unlust über ein gegenwärtiges, auch die Unlust über ein vergangenes Übel, Betrübnis und Gram, verstehe. In diesem ganzen Umfange soll das Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie erweckt, unser Mitleid und unsere Furcht reinigen; aber auch nur diese reinigen, und keine andere Leidenschaften. Zwar können sich in der Tragödie auch zur Reinigung der andern Leidenschaften, nützliche Lehren und Beispiele finden; doch sind diese nicht ihre Absicht; diese hat sie mit der Epopee und Komödie gemein, in so fern sie ein Gedicht, die Nachahmung einer Handlung überhaupt ist, nicht aber in so fern sie Tragödie, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung insbesondere ist. Bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie: es ist kläglich, wenn man dieses erst beweisen muß; noch kläglicher ist es, wenn es Dichter gibt, die selbst daran zweifeln. Aber alle Gattungen können nicht alles bessern; wenigstens nicht jedes so vollkommen, wie das andere; was aber jede am vollkommensten bessern kann, worin es ihr keine andere Gattung gleich zu tun vermag, das allein ist ihre eigentliche Bestimmung.

[591]
Acht und siebzigstes Stück

Den 29sten Januar, 1768


2. Da die Gegner des Aristoteles nicht in Acht nahmen, was für Leidenschaften er eigentlich, durch das Mitleid und die Furcht der Tragödie, in uns gereiniget haben wollte: so war es natürlich, daß sie sich auch mit der Reinigung selbst irren mußten. Aristoteles verspricht am Ende seiner Politik, wo er von der Reinigung der Leidenschaften durch die Musik redet, von dieser Reinigung in seiner Dichtkunst weitläuftiger zu handeln. »Weil man aber, sagt Corneille, ganz und gar nichts von dieser Materie darin findet, so ist der größte Teil seiner Ausleger auf die Gedanken geraten, daß sie nicht ganz auf uns gekommen sei.« Gar nichts? Ich meines Teils glaube, auch schon in dem, was uns von seiner Dichtkunst noch übrig, es mag viel oder wenig sein, alles zu finden, was er einem, der mit seiner Philosophie sonst nicht ganz unbekannt ist, über diese Sache zu sagen für nötig halten konnte. Corneille selbst bemerkte eine Stelle, die uns, nach seiner Meinung, Licht genug geben könne, die Art und Weise zu entdecken, auf welche die Reinigung der Leidenschaften in der Tragödie geschehe: nämlich die, wo Aristoteles sagt, »das Mitleid verlange einen, der unverdient leide, und die Furcht einen unsers gleichen.« Diese Stelle ist auch wirklich sehr wichtig, nur daß Corneille einen falschen Gebrauch davon machte, und nicht wohl anders als machen konnte, weil er einmal die Reinigung der Leidenschaften überhaupt im Kopfe hatte. »Das Mitleid mit dem Unglücke, sagt er, von welchem wir unsers gleichen befallen sehen, erweckt in uns die Furcht, daß uns ein ähnliches Unglück treffen könne; diese Furcht erweckt die Begierde, ihm auszuweichen; und diese Begierde ein Bestreben, die Leidenschaft, durch welche die Person, die wir betauern, sich ihr Unglück vor unsern Augen zuziehet, zu reinigen, zu mäßigen, zu bessern, ja gar auszurotten; indem einem jeden die Vernunft sagt, daß man die Ursache abschneiden müsse, wenn man die Wirkung vermeiden wolle.« Aber dieses Raisonnement, welches die Furcht bloß zum Werkzeuge macht, durch welches das Mitleid [592] die Reinigung der Leidenschaften bewirkt, ist falsch, und kann unmöglich die Meinung des Aristoteles sein; weil so nach die Tragödie gerade alle Leidenschaften reinigen könnte, nur nicht die zwei, die Aristoteles ausdrücklich durch sie gereiniget wissen will. Sie könnte unsern Zorn, unsere Neugierde, unsern Neid, unsern Ehrgeiz, unsern Haß und unsere Liebe reinigen, so wie es die eine oder die andere Leidenschaft ist, durch die sich die bemitleidete Person ihr Unglück zugezogen. Nur unser Mitleid und unsere Furcht müßte sie ungereiniget lassen. Denn Mitleid und Furcht sind die Leidenschaften, die in der Tragödie wir, nicht aber die handelnden Personen empfinden; sind die Leidenschaften, durch welche die handelnden Personen uns rühren, nicht aber die, durch welche sie sich selbst ihre Unfälle zuziehen. Es kann ein Stück geben, in welchem sie beides sind: das weiß ich wohl. Aber noch kenne ich kein solches Stück: ein Stück nämlich, in welchem sich die bemitleidete Person durch ein übelverstandenes Mitleid, oder durch eine übelverstandene Furcht ins Unglück stürze. Gleichwohl würde dieses Stück das einzige sein, in welchem, so wie es Corneille versteht, das geschehe, was Aristoteles will, daß es in allen Tragödien geschehen soll: und auch in diesem einzigen würde es nicht auf die Art geschehen, auf die es dieser verlangt. Dieses einzige Stück würde gleichsam der Punkt sein, in welchem zwei gegen einander sich neigende gerade Linien zusammentreffen, um sich in alle Unendlichkeit nicht wieder zu begegnen. – So gar sehr konnte Dacier den Sinn des Aristoteles nicht verfehlen. Er war verbunden, auf die Worte seines Autors aufmerksamer zu sein, und diese besagen es zu positiv, daß unser Mitleid und unsere Furcht, durch das Mitleid und die Furcht der Tragödie, gereiniget werden sollen. Weil er aber ohne Zweifel glaubte, daß der Nutzen der Tragödie sehr gering sein würde, wenn er bloß hierauf eingeschränkt wäre: so ließ er sich verleiten, nach der Erklärung des Corneille, ihr die ebenmäßige Reinigung auch aller übrigen Leidenschaften beizulegen. Wie nun Corneille diese für sein Teil leugnete, und in Beispielen zeigte, daß sie mehr ein schöner Gedanke, als eine Sache sei, die gewöhnlicher [593] Weise zur Wirklichkeit gelange: so mußte er sich mit ihm in diese Beispiele selbst einlassen, wo er sich denn so in der Enge fand, daß er die gewaltsamsten Drehungen und Wendungen machen mußte, um seinen Aristoteles mit sich durch zu bringen. Ich sage, seinen Aristoteles: denn der rechte ist weit entfernt, solcher Drehungen und Wendungen zu bedürfen. Dieser, um es abermals und abermals zu sagen, hat an keine andere Leidenschaften gedacht, welche das Mitleid und die Furcht der Tragödie reinigen solle, als an unser Mitleid und unsere Furcht selbst; und es ist ihm sehr gleichgültig, ob die Tragödie zur Reinigung der übrigen Leidenschaften viel oder wenig beiträgt. An jene Reinigung hätte sich Dacier allein halten sollen: aber freilich hätte er sodann auch einen vollständigern Begriff damit verbinden müssen. »Wie die Tragödie, sagt er, Mitleid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen, das ist nicht schwer zu erklären. Sie erregt sie, indem sie uns das Unglück vor Augen stellet, in das unsers gleichen durch nicht vorsetzliche Fehler gefallen sind; und sie reiniget sie, indem sie uns mit diesem nämlichen Unglücke bekannt macht, und uns dadurch lehret, es weder allzusehr zu fürchten, noch allzusehr davon gerührt zu werden, wann es uns wirklich selbst treffen sollte. – Sie bereitet die Menschen, die allerwidrigsten Zufälle mutig zu ertragen, und macht die Allerelendesten geneigt, sich für glücklich zu halten, indem sie ihre Unglücksfälle mit weit größern vergleichen, die ihnen die Tragödie vorstellet. Denn in welchen Umständen kann sich wohl ein Mensch finden, der bei Erblickung eines Ödips, eines Philoktets, eines Orests, nicht erkennen müßte, daß alle Übel, die er zu erdulden, gegen die, welche diese Männer erdulden müssen, gar nicht in Vergleichung kommen?« Nun das ist wahr; diese Erklärung kann dem Dacier nicht viel Kopfbrechens gemacht haben. Er fand sie fast mit den nämlichen Worten bei einem Stoiker, der immer ein Auge auf die Apathie hatte. Ohne ihm indes einzuwenden, daß das Gefühl unsers eigenen Elendes nicht viel Mitleid neben sich duldet; daß folglich bei dem Elenden, dessen Mitleid nicht zu erregen ist, die Reinigung oder Linderung seiner Betrübnis durch das Mitleid [594] nicht erfolgen kann: will ich ihm alles, so wie er es sagt, gelten lassen. Nur fragen muß ich: wie viel er nun damit gesagt? Ob er im geringsten mehr damit gesagt, als, daß das Mitleid unsere Furcht reinige? Gewiß nicht: und das wäre doch nur kaum der vierte Teil der Foderung des Aristoteles. Denn wenn Aristoteles behauptet, daß die Tragödie Mitleid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen: wer sieht nicht, daß dieses weit mehr sagt, als Dacier zu erklären für gut befunden? Denn, nach den verschiedenen Kombinationen der hier vorkommenden Begriffe, muß der, welcher den Sinn des Aristoteles ganz erschöpfen will, stückweise zeigen, 1. wie das tragische Mitleid unser Mitleid, 2. wie die tragische Furcht unsere Furcht, 3. wie das tragische Mitleid unsere Furcht, und 4. wie die tragische Furcht unser Mitleid reinigen könne und wirklich reinige. Dacier aber hat sich nur an den dritten Punkt gehalten, und auch diesen nur sehr schlecht, und auch diesen nur zur Hälfte erläutert. Denn wer sich um einen richtigen und vollständigen Begriff von der Aristotelischen Reinigung der Leidenschaften bemüht hat, wird finden, daß jeder von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in sich schließet. Da nämlich, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruhet, als in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, bei jeder Tugend aber, nach unserm Philosophen, sich diesseits und jenseits ein Extremum findet, zwischen welchem sie inne stehet: so muß die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches auch von der Furcht zu verstehen. Das tragische Mitleid muß nicht allein, in Ansehung des Mitleids, die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fühlet, sondern auch desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragische Furcht muß nicht allein, in Ansehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher sich ganz und gar keines Unglücks befürchtet, sondern auch desjenigen, den ein jedes Unglück, auch das entfernteste, auch das unwahrscheinlichste, in Angst setzet. Gleichfalls muß das tragische Mitleid, in Ansehung der Furcht, dem was zu viel, und dem was zu wenig, steuern: so wie hinwiederum die [595] tragische Furcht, in Ansehung des Mitleids. Dacier aber, wie gesagt, hat nur gezeigt, wie das tragische Mitleid unsere allzu große Furcht mäßige: und noch nicht einmal, wie es den gänzlichen Mangel derselben abhelfe, oder sie in dem, welcher allzu wenig von ihr empfindet, zu einem heilsamern Grade erhöhe; geschweige, daß er auch das Übrige sollte gezeigt haben. Die nach ihm gekommen, haben, was er unterlassen, auch im geringsten nicht ergänzet; aber wohl sonst, um nach ihrer Meinung, den Nutzen der Tragödie völlig außer Streit zu setzen, Dinge dahin gezogen, die dem Gedichte überhaupt, aber keinesweges der Tragödie, als Tragödie, insbesondere zukommen; z. E. daß sie die Triebe der Menschlichkeit nähren und stärken; daß sie Liebe zur Tugend und Haß gegen das Laster wirken solle u.s.w. 128 Lieber! welches Gedicht sollte das nicht? Soll es aber ein jedes: so kann es nicht das unterscheidende Kennzeichen der Tragödie sein; so kann es nicht das sein, was wir suchten.

Neun und siebzigstes Stück

Den 2ten Februar, 1768


Und nun wieder auf unsern Richard zu kommen. – Richard also erweckt eben so wenig Schrecken, als Mitleid: weder Schrecken in dem gemißbrauchten Verstande, für die plötzliche Überraschung des Mitleids; noch in dem eigentlichen Verstande des Aristoteles, für heilsame Furcht, daß uns ein ähnliches Unglück treffen könne. Denn wenn er diese erregte, würde er auch Mitleid erregen; so gewiß er hinwiederum Furcht erregen würde, wenn wir ihn unsers Mitleids nur im geringsten würdig fänden. Aber er ist so ein abscheulicher Kerl, so ein eingefleischter Teufel, in dem wir so völlig keinen einzigen ähnlichen Zug mit uns selbst finden, daß ich glaube, wir könnten ihn vor unsern Augen den Martern der Hölle übergeben sehen, ohne das geringste für ihn zu empfinden, [596] ohne im geringsten zu fürchten, daß, wenn solche Strafe nur auf solche Verbrechen folge, sie auch unsrer erwarte. Und was ist endlich das Unglück, die Strafe, die ihn trifft? Nach so vielen Missetaten, die wir mit ansehen müssen, hören wir, daß er mit dem Degen in der Faust gestorben. Als der Königin dieses erzählt wird, läßt sie der Dichter sagen:


Dies ist etwas! –


Ich habe mich nie enthalten können, bei mir nachzusprechen: nein, das ist gar nichts! Wie mancher gute König ist so geblieben, indem er seine Krone wider einen mächtigen Rebellen behaupten wollen? Richard stirbt doch, als ein Mann, auf dem Bette der Ehre. Und so ein Tod sollte mich für den Unwillen schadlos halten, den ich das ganze Stück durch, über den Triumph seiner Bosheiten empfunden? (Ich glaube, die griechische Sprache ist die einzige, welche ein eigenes Wort hat, diesen Unwillen über das Glück eines Bösewichts, auszudrücken: νεμεσις, νεμεσαν. 129) Sein Tod selbst, welcher wenigstens meine Gerechtigkeitsliebe befriedigen sollte, unterhält noch meine Nemesis. Du bist wohlfeil weggekommen! denke ich: aber gut, daß es noch eine andere Gerechtigkeit gibt, als die poetische!

Man wird vielleicht sagen: nun wohl! wir wollen den Richard aufgeben; das Stück heißt zwar nach ihm; aber er ist darum nicht der Held desselben, nicht die Person, durch welche die Absicht der Tragödie erreicht wird; er hat nur das Mittel sein sollen, unser Mitleid für andere zu erregen. Die Königin, Elisabeth, die Prinzen, erregen diese nicht Mitleid?

Um allem Wortstreite auszuweichen: ja. Aber was ist es für eine fremde, herbe Empfindung, die sich in mein Mitleid für diese Personen mischt? die da macht, daß ich mir dieses Mitleid ersparen zu können wünschte? Das wünsche ich mir bei dem tragischen Mitleid doch sonst nicht; ich verweile gern dabei; und danke dem Dichter für eine so süße Qual.

Aristoteles hat es wohl gesagt, und das wird es ganz gewiß sein! Er spricht von einem μιαρον, von einem Gräßlichen, [597] daß sich bei dem Unglücke ganz guter, ganz unschuldiger Personen finde. Und sind nicht die Königin, Elisabeth, die Prinzen, vollkommen solche Personen? Was haben sie getan? wodurch haben sie es sich zugezogen, daß sie in den Klauen dieser Bestie sind? Ist es ihre Schuld, daß sie ein näheres Recht auf den Thron haben, als er? Besonders die kleinen wimmernden Schlachtopfer, die noch kaum rechts und links unterscheiden können! Wer wird leugnen, daß sie unsern ganzen Jammer verdienen? Aber ist dieser Jammer, der mich mit Schaudern an die Schicksale der Menschen denken läßt, dem Murren wider die Vorsehung sich zugesellet, und Verzweiflung von weiten nachschleicht, ist dieser Jammer – ich will nicht fragen Mitleid? – Er heiße, wie er wolle – Aber ist er das, was eine nachahmende Kunst erwecken sollte?

Man sage nicht: erweckt ihn doch die Geschichte; gründet er sich doch auf etwas, das wirklich geschehen ist. – Das wirklich geschehen ist? es sei: so wird es seinen guten Grund in dem ewigen unendlichen Zusammenhange aller Dinge haben. In diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. Aus diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem andern sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, derenwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge, suchen müssen; das Ganze dieses sterblichen Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein; sollte uns an den Gedanken gewöhnen, wie sich in ihm alles zum Besten auflöse, werde es auch in jenem geschehen: und er vergißt diese seine edelste Bestimmung so sehr, daß er die unbegreiflichen Wege der Vorsicht mit in seinen kleinen Zirkel flicht, und geflissendlich unsern Schauder darüber erregt? – O verschonet uns damit, ihr, die ihr unser Herz in eurer Gewalt habt! Wozu diese traurige Empfindung? Uns Unterwerfung zu lehren? Diese kann uns nur die kalte Vernunft lehren; und wenn die Lehre der Vernunft in uns bekleiben soll, wenn wir, bei unserer Unterwerfung, noch Vertrauen und fröhlichen Mut behalten[598] sollen: so ist es höchst nötig, daß wir an die verwirrenden Beispiele solcher unverdienten schrecklichen Verhängnisse so wenig, als möglich, erinnert werden. Weg mit ihnen von der Bühne! Weg, wenn es sein könnte, aus allen Büchern mit ihnen! –

Wenn nun aber der Personen des Richards keine einzige, die erforderlichen Eigenschaften hat, die sie haben müßten, Falls er wirklich das sein sollte, was er heißt: wodurch ist er gleichwohl ein so interessantes Stück geworden, wofür ihn unser Publikum hält? Wenn er nicht Mitleid und Furcht erregt: was ist denn seine Wirkung? Wirkung muß er doch haben, und hat sie. Und wenn er Wirkung hat: ist es nicht gleichviel, ob er diese, oder ob er jene hat? Wenn er die Zuschauer beschäftiget, wenn er sie vergnügt: was will man denn mehr? Müssen sie denn, notwendig nur nach den Regeln des Aristoteles, beschäftiget und vergnügt werden?

Das klingt so unrecht nicht; aber es ist darauf zu antworten. Überhaupt: wenn Richard schon keine Tragödie wäre, so bleibt er doch ein dramatisches Gedicht; wenn ihm schon die Schönheiten der Tragödie mangelten, so könnte er doch sonst Schönheiten haben. Poesie des Ausdrucks; Bilder; Tiraden; kühne Gesinnungen; einen feurigen hinreißenden Dialog; glückliche Veranlassungen für den Akteur, den ganzen Umfang seiner Stimme mit den mannichfaltigsten Abwechselungen zu durchlaufen, seine ganze Stärke in der Pantomime zu zeigen u.s.w.

Von diesen Schönheiten hat Richard viele, und hat auch noch andere, die den eigentlichen Schönheiten der Tragödie näher kommen.

Richard ist ein abscheulicher Bösewicht; aber auch die Beschäftigung unsers Abscheues ist nicht ganz ohne Vergnügen; besonders in der Nachahmung.

Auch das Ungeheuere in den Verbrechen partizipieret von den Empfindungen, welche Größe und Kühnheit in uns erwecken.

Alles, was Richard tut, ist Greuel; aber alle diese Greuel geschehen in Absicht auf etwas; Richard hat einen Plan; und überall, wo wir einen Plan wahrnehmen, wird unsere Neugierde [599] rege; wir warten gern mit ab, ob er ausgeführt wird werden, und wie er es wird werden; wir lieben das Zweckmäßige so sehr, daß es uns, auch unabhängig von der Moralität des Zwecks, Vergnügen gewähret.

Wir wollten, daß Richard seinen Zweck erreichte: und wir wollten, daß er ihn auch nicht erreichte. Das Erreichen erspart uns das Mißvergnügen, über ganz vergebens angewandte Mittel: wenn er ihn nicht erreicht, so ist so viel Blut völlig umsonst vergossen worden; da es einmal vergossen ist, möchten wir es nicht gern, auch noch bloß vor langer Weile, vergossen finden. Hinwiederum wäre dieses Erreichen das Frohlocken der Bosheit; nichts hören wir ungerner; die Absicht interessierte uns, als zu erreichende Absicht; wenn sie aber nun erreicht wäre, würden wir nichts als das Abscheuliche derselben erblicken, würden wir wünschen, daß sie nicht erreicht wäre; diesen Wunsch sehen wir voraus, und uns schaudert vor der Erreichung.

Die guten Personen des Stücks lieben wir; eine so zärtliche feurige Mutter, Geschwister, die so ganz eines in dem andern leben; diese Gegenstände gefallen immer, erregen immer die süßesten sympathetischen Empfindungen, wir mögen sie finden, wo wir wollen. Sie ganz ohne Schuld leiden zu sehen, ist zwar herbe, ist zwar für unsere Ruhe, zu unserer Besserung, kein sehr ersprießliches Gefühl: aber es ist doch immer Gefühl.

Und so nach beschäftiget uns das Stück durchaus, und vergnügt durch diese Beschäftigung unserer Seelenkräfte. Das ist wahr; nur die Folge ist nicht wahr, die man daraus zu ziehen meinet: nämlich, daß wir also damit zufrieden sein können.

Ein Dichter kann viel getan, und doch noch nichts damit vertan haben. Nicht genug, daß sein Werk Wirkungen auf uns hat: es muß auch die haben, die ihm, vermöge der Gattung, zukommen; es muß diese vornehmlich haben, und alle andere können den Mangel derselben auf keine Weise ersetzen; besonders wenn die Gattung von der Wichtigkeit und Schwierigkeit, und Kostbarkeit ist, daß alle Mühe und aller Aufwand vergebens wäre, wenn sie weiter nichts als solche[600] Wirkungen hervorbringen wollte, die durch eine leichtere und weniger Anstalten erfordernde Gattung eben sowohl zu erhalten wären. Ein Bund Stroh aufzuheben, muß man keine Maschinen in Bewegung setzen; was ich mit dem Fuße umstoßen kann, muß ich nicht mit einer Mine sprengen wollen; ich muß keinen Scheiterhaufen anzünden, um eine Mücke zu verbrennen.

Achtzigstes Stück

Den 5ten Februar, 1768


Wozu die sauere Arbeit der dramatischen Form? wozu ein Theater erbauet, Männer und Weiber verkleidet, Gedächtnisse gemartert, die ganze Stadt auf einen Platz geladen? wenn ich mit meinem Werke, und mit der Aufführung desselben, weiter nichts hervorbringen will, als einige von den Regungen, die eine gute Erzählung, von jedem zu Hause in seinem Winkel gelesen, ungefähr auch hervorbringen würde.

Die dramatische Form ist die einzige, in welcher sich Mitleid und Furcht erregen läßt; wenigstens können in keiner andern Form diese Leidenschaften auf einen so hohen Grad erreget werden: und gleichwohl will man lieber alle andere darin erregen, als diese; gleichwohl will man sie lieber zu allem andern brauchen, als zu dem, wozu sie so vorzüglich geschickt ist.

Das Publikum nimmt vorlieb. – Das ist gut, und auch nicht gut. Denn man sehnt sich nicht sehr nach der Tafel, an der man immer vorlieb nehmen muß.

Es ist bekannt, wie erpicht das griechische und römische Volk auf die Schauspiele waren; besonders jenes, auf das tragische. Wie gleichgültig, wie kalt ist dagegen unser Volk für das Theater! Woher diese Verschiedenheit, wenn sie nicht daher kömmt, daß die Griechen vor ihrer Bühne sich mit so starken, so außerordentlichen Empfindungen begeistert fühlten, daß sie den Augenblick nicht erwarten konnten, sie abermals und abermals zu haben: dahingegen wir uns vor unserer Bühne so schwacher Eindrücke bewußt sind, daß wir es selten der Zeit und des Geldes wert halten, sie uns zu verschaffen? [601] Wir gehen, fast alle, fast immer, aus Neugierde, aus Mode, aus Langerweile, aus Gesellschaft, aus Begierde zu begaffen und begafft zu werden, ins Theater: und nur wenige, und diese wenige nur sparsam, aus anderer Absicht.

Ich sage, wir, unser Volk, unsere Bühne: ich meine aber nicht bloß, uns Deutsche. Wir Deutsche bekennen es treuherzig genug, daß wir noch kein Theater haben. Was viele von unsern Kunstrichtern, die in dieses Bekenntnis mit einstimmen, und große Verehrer des französischen Theaters sind, dabei denken: das kann ich so eigentlich nicht wissen. Aber ich weiß wohl, was ich dabei denke. Ich denke nämlich dabei: daß nicht allein wir Deutsche; sondern, daß auch die, welche sich seit hundert Jahren ein Theater zu haben rühmen, ja das beste Theater von ganz Europa zu haben prahlen, – daß auch die Franzosen noch kein Theater haben.

Kein Tragisches gewiß nicht! Denn auch die Eindrücke, welche die französische Tragödie macht, sind so flach, so kalt! – Man höre einen Franzosen selbst, davon sprechen.

»Bei den hervorstechenden Schönheiten unsers Theaters,« sagt der Herr von Voltaire, »fand sich ein verborgner Fehler, den man nicht bemerkt hatte, weil das Publikum von selbst keine höhere Ideen haben konnte, als ihm die großen Meister durch ihre Muster beibrachten. Der einzige Saint-Evremont hat diesen Fehler aufgemutzt; er sagt nämlich, daß unsere Stücke nicht Eindruck genug machten, daß das, was Mitleid erwecken solle, aufs höchste Zärtlichkeit errege, daß Rührung die Stelle der Erschütterung, und Erstaunen die Stelle des Schreckens vertrete; kurz, daß unsere Empfindungen nicht tief genug gingen. Es ist nicht zu leugnen: Saint-Evremont hat mit dem Finger gerade auf die heimliche Wunde des französischen Theaters getroffen. Man sage immerhin, daß Saint-Evremont der Verfasser der elenden Komödie Sir Politik Wouldbe, und noch einer andern eben so elenden, die Opern genannt, ist; daß seine kleinen gesellschaftlichen Gedichte das kahlste und gemeinste sind, was wir in dieser Gattung haben; daß er nichts als ein Phrasesdrechsler war: man kann keinen Funken Genie haben, und gleichwohl viel [602] Witz und Geschmack besitzen. Sein Geschmack aber war unstreitig sehr fein, da er die Ursache, warum die meisten von unsern Stücken so matt und kalt sind, so genau traf. Es hat uns immer an einem Grade von Wärme gefehlt: das andere hatten wir alles.«

Das ist: wir hatten alles, nur nicht das, was wir haben sollten; unsere Tragödien waren vortrefflich, nur daß es keine Tragödien waren. Und woher kam es, daß sie das nicht waren?

»Diese Kälte aber, fährt er fort, diese einförmige Mattigkeit, entsprang zum Teil von dem kleinen Geiste der Galanterie, der damals unter unsern Hofleuten und Damen so herrschte, und die Tragödie in eine Folge von verliebten Gesprächen verwandelte, nach dem Geschmacke des Cyrus und der Clelie. Was für Stücke sich hiervon noch etwa ausnahmen, die bestanden aus langen politischen Raisonnements, dergleichen den Sertorius so verdorben, den Otho so kalt, und den Surena und Attila so elend gemacht haben. Noch fand sich aber auch eine andere Ursache, die das hohe Pathetische von unserer Szene zurückhielt, und die Handlung wirklich tragisch zu machen verhinderte: und diese war, das enge schlechte Theater mit seinen armseligen Verzierungen. – Was ließ sich auf einem Paar Dutzend Brettern, die noch dazu mit Zuschauern angefüllt waren, machen? Mit welchem Pomp, mit welchen Zurüstungen konnte man da die Augen der Zuschauer bestechen, fesseln, täuschen? Welche große tragische Aktion ließ sich da aufführen? Welche Freiheit konnte die Einbildungskraft des Dichters da haben? Die Stücke mußten aus langen Erzählungen bestehen, und so wurden sie mehr Gespräche als Spiele. Jeder Akteur wollte in einer langen Monologe glänzen, und ein Stück, das dergleichen nicht hatte, ward verworfen. – Bei dieser Form fiel alle theatralische Handlung weg; fielen alle die großen Ausdrücke der Leidenschaften, alle die kräftigen Gemälde der menschlichen Unglücksfälle, alle die schrecklichen bis in das Innerste der Seele dringende Züge weg; man rührte das Herz nur kaum, anstatt es zu zerreißen.«

Mit der ersten Ursache hat es seine gute Richtigkeit. Galanterie [603] und Politik läßt immer kalt; und noch ist es keinem Dichter in der Welt gelungen, die Erregung des Mitleids und der Furcht damit zu verbinden. Jene lassen uns nichts als den Fat, oder den Schulmeister hören: und diese fodern, daß wir nichts als den Menschen hören sollen.

Aber die zweite Ursache? – Sollte es möglich sein, daß der Mangel eines geräumlichen Theaters und guter Verzierungen, einen solchen Einfluß auf das Genie der Dichter gehabt hätte? Ist es wahr, daß jede tragische Handlung Pomp und Zurüstungen erfodert? Oder sollte der Dichter nicht viel mehr sein Stück so einrichten, daß es auch ohne diese Dinge seine völlige Wirkung hervorbrächte?

Nach dem Aristoteles, sollte er es allerdings. »Furcht und Mitleid, sagt der Philosoph, läßt sich zwar durchs Gesicht erregen; es kann aber auch aus der Verknüpfung der Begebenheiten selbst entspringen, welches letztere vorzüglicher, und die Weise des bessern Dichters ist. Denn die Fabel muß so eingerichtet sein, daß sie, auch ungesehen, den, der den Verlauf ihrer Begebenheiten bloß anhört, zu Mitleid und Furcht über diese Begebenheiten bringet; so wie die Fabel des Ödips, die man nur anhören darf, um dazu gebracht zu werden. Diese Absicht aber durch das Gesicht erreichen wollen, erfodert weniger Kunst, und ist deren Sache, welche die Vorstellung des Stücks übernommen.«

Wie entbehrlich überhaupt die theatralischen Verzierungen sind, davon will man mit den Stücken des Shakespeares eine sonderbare Erfahrung gehabt haben. Welche Stücke brauchten, wegen ihrer beständigen Unterbrechung und Veränderung des Orts, des Beistandes der Szenen und der ganzen Kunst des Decorateurs wohl mehr, als eben diese? Gleichwohl war eine Zeit, wo die Bühnen, auf welchen sie gespielt wurden, aus nichts bestanden, als aus einem Vorhange von schlechtem groben Zeuge, der, wenn er aufgezogen war, die bloßen blanken, höchstens mit Matten oder Tapeten behangenen, Wände zeigte; da war nichts als die Einbildung, was dem Verständnisse des Zuschauers und der Ausführung des Spielers zu Hülfe kommen konnte: und dem ohngeachtet, sagt man, waren damals die Stücke des Shakespeares [604] ohne alle Szenen verständlicher, als sie es hernach mit denselben gewesen sind. 130

Wenn sich also der Dichter um die Verzierung gar nicht zu bekümmern hat; wenn die Verzierung, auch wo sie nötig scheinet, ohne besondern Nachteil seines Stücks wegbleiben kann: warum sollte es an dem engen, schlechten Theater gelegen haben, daß uns die französischen Dichter keine rührendere Stücke geliefert? Nicht doch: es lag an ihnen selbst.

Und das beweiset die Erfahrung. Denn nun haben ja die Franzosen eine schönere, geräumlichere Bühne; keine Zuschauer werden mehr darauf geduldet; die Coulissen sind leer; der Decorateur hat freies Feld; er malt und bauet dem Poeten alles, was dieser von ihm verlangt; aber wo sind sie denn die wärmern Stücke, die sie seitdem erhalten haben? Schmeichelt sich der Herr von Voltaire, daß seine Semiramis ein solches Stück ist? Da ist Pomp und Verzierung genug; ein Gespenst oben darein: und doch kenne ich nichts kälteres, als seine Semiramis.

Ein und achtzigstes Stück

Den 9ten Februar, 1768


Will ich denn nun aber damit sagen, daß kein Franzose fähig sei, ein wirklich rührendes tragisches Werk zu machen? daß der volatile Geist der Nation einer solchen Arbeit nicht gewachsen sei? – Ich würde mich schämen, wenn mir das nur [605] eingekommen wäre. Deutschland hat sich noch durch keinen Bouhours lächerlich gemacht. Und ich, für mein Teil, hätte nun gleich die wenigste Anlage dazu. Denn ich bin sehr überzeugt, daß kein Volk in der Welt irgend eine Gabe des Geistes vorzüglich vor anderen Völkern erhalten habe. Man sagt zwar: der tiefsinnige Engländer, der witzige Franzose. Aber wer hat denn die Teilung gemacht? Die Natur gewiß nicht, die alles unter alle gleich verteilet. Es gibt eben so viel witzige Engländer, als witzige Franzosen; und eben so viel tiefsinnige Franzosen, als tiefsinnige Engländer: der Braß von dem Volke aber ist keines von beiden. –

Was will ich denn? Ich will bloß sagen, was die Franzosen gar wohl haben könnten, daß sie das noch nicht haben: die wahre Tragödie. Und warum noch nicht haben? – Dazu hätte sich der Herr von Voltaire selbst besser kennen müssen, wenn er es hätte treffen wollen.

Ich meine: sie haben es noch nicht; weil sie es schon lange gehabt zu haben glauben. Und in diesem Glauben werden sie nun freilich durch etwas bestärkt, das sie vorzüglich vor allen Völkern haben; aber es ist keine Gabe der Natur: durch ihre Eitelkeit.

Es geht mit den Nationen, wie mit einzeln Menschen. – Gottsched (man wird leicht begreifen, wie ich eben hier auf diesen falle,) galt in seiner Jugend für einen Dichter, weil man damals den Versmacher von dem Dichter noch nicht zu unterscheiden wußte. Philosophie und Kritik setzten nach und nach diesen Unterschied ins Helle: und wenn Gottsched mit dem Jahrhunderte nur hätte fortgehen wollen, wenn sich seine Einsichten und sein Geschmack nur zugleich mit den Einsichten und dem Geschmacke seines Zeitalters hätten verbreiten und läutern wollen: so hätte er vielleicht wirklich aus dem Versmacher ein Dichter werden können. Aber da er sich schon so oft den größten Dichter hatte nennen hören, da ihn seine Eitelkeit überredet hatte, daß er es sei: so unterblieb jenes. Er konnte unmöglich erlangen, was er schon zu besitzen glaubte: und je älter er ward, desto hartnäckiger und unverschämter ward er, sich in diesem träumerischen Besitze zu behaupten.

[606] Gerade so, dünkt mich, ist es den Franzosen ergangen. Kaum riß Corneille ihr Theater ein wenig aus der Barbarei: so glaubten sie es der Vollkommenheit schon ganz nahe. Racine schien ihnen die letzte Hand angelegt zu haben; und hierauf war gar nicht mehr die Frage, (die es zwar auch nie gewesen,) ob der tragische Dichter nicht noch pathetischer, noch rührender sein könne, als Corneille und Racine, sondern dieses ward für unmöglich angenommen, und alle Beeiferung der nachfolgenden Dichter mußte sich darauf einschränken, dem einen oder dem andern so ähnlich zu werden als möglich. Hundert Jahre haben sie sich selbst, und zum Teil ihre Nachbarn mit, hintergangen: nun komme einer, und sage ihnen das, und höre, was sie antworten!

Von beiden aber ist es Corneille, welcher den meisten Schaden gestiftet, und auf ihre tragischen Dichter den verderblichsten Einfluß gehabt hat. Denn Racine hat nur durch seine Muster verführt: Corneille aber, durch seine Muster und Lehren zugleich.

Diese letztern besonders, von der ganzen Nation (bis auf einen oder zwei Pedanten, einen Hedelin, einen Dacier, die aber oft selbst nicht wußten, was sie wollten,) als Orakelsprüche angenommen, von allen nachherigen Dichtern befolgt: haben, ich getraue mich, es Stück vor Stück zu beweisen, – nichts anders, als das kahlste, wäßrigste, untragischste Zeug hervorbringen können.

Die Regeln des Aristoteles, sind alle auf die höchste Wirkung der Tragödie kalkuliert. Was macht aber Corneille damit? Er trägt sie falsch und schielend genug vor; und weil er sie doch noch viel zu strenge findet: so sucht er, bei einer nach der andern, quelque moderation, quelque favorable interpretation; entkräftet und verstümmelt, deutelt und vereitelt eine jede, – und warum? pour n'etre pas obligés de condamner beaucoup de poemes que nous avons vû réussir sur nos theatres; um nicht viele Gedichte verwerfen zu dürfen, die auf unsern Bühnen Beifall gefunden. Eine schöne Ursache!

Ich will die Hauptpunkte geschwind berühren. Einige davon habe ich schon berührt; ich muß sie aber, des Zusammenhanges wegen, wiederum mitnehmen.

[607] 1. Aristoteles sagt: die Tragödie soll Mitleid und Furcht erregen. – Corneille sagt: o ja, aber wie es kömmt; beides zugleich ist eben nicht immer nötig; wir sind auch mit einem zufrieden; itzt einmal Mitleid, ohne Furcht; ein andermal Furcht, ohne Mitleid. Denn wo blieb ich, ich der große Corneille, sonst mit meinem Rodrigue und meiner Chimene? Die guten Kinder erwecken Mitleid; und sehr großes Mitleid: aber Furcht wohl schwerlich. Und wiederum: wo blieb ich sonst mit meiner Cleopatra, mit meinem Prusias, mit meinem Phocas? Wer kann Mitleid mit diesen Nichtswürdigen haben? Aber Furcht erregen sie doch. – So glaubte Corneille: und die Franzosen glaubten es ihm nach.

2. Aristoteles sagt: die Tragödie soll Mitleid und Furcht erregen; beides, versteht sich, durch eine und eben dieselbe Person. – Corneille sagt: wenn es sich so trifft, recht gut. Aber absolut notwendig ist es eben nicht; und man kann sich gar wohl auch verschiedener Personen bedienen, diese zwei Empfindungen hervorzubringen: so wie ich in meiner Rodogune getan habe. – Das hat Corneille getan: und die Franzosen tun es ihm nach.

3. Aristoteles sagt: durch das Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie erweckt, soll unser Mitleid und unsere Furcht, und was diesen anhängig, gereiniget werden. – Corneille weiß davon gar nichts, und bildet sich ein, Aristoteles habe sagen wollen: die Tragödie erwecke unser Mitleid, um unsere Furcht zu erwecken, um durch diese Furcht die Leidenschaften in uns zu reinigen, durch die sich der bemitleidete Gegenstand sein Unglück zugezogen. Ich will von dem Werte dieser Absicht nicht sprechen: genug, daß es nicht die aristotelische ist; und daß, da Corneille seinen Tragödien eine ganz andere Absicht gab, auch notwendig seine Tragödien selbst ganz andere Werke werden mußten, als die waren, von welchen Aristoteles seine Absicht abstrahiert hatte; es mußten Tragödien werden, welches keine wahre Tragödien waren. Und das sind nicht allein seine, sondern alle französische Tragödien geworden; weil ihre Verfasser alle, nicht die Absicht des Aristoteles, sondern die Absicht des Corneille, sich vorsetzten. Ich habe schon gesagt, daß Dacier [608] beide Absichten wollte verbunden wissen: aber auch durch diese bloße Verbindung, wird die erstere geschwächt, und die Tragödie muß unter ihrer höchsten Wirkung bleiben. Dazu hatte Dacier, wie ich gezeigt, von der erstern nur einen sehr unvollständigen Begriff, und es war kein Wunder, wenn er sich daher einbildete, daß die französischen Tragödien seiner Zeit, noch eher die erste, als die zweite Absicht erreichten. »Unsere Tragödie, sagt er, ist, zu Folge jener, noch so ziemlich glücklich, Mitleid und Furcht zu erwecken und zu reinigen. Aber diese gelingt ihr nur sehr selten, die doch gleichwohl die wichtigere ist, und sie reiniget die übrigen Leidenschaften nur sehr wenig, oder, da sie gemeiniglich nichts als Liebesintriguen enthält, wenn sie ja eine davon reinigte, so würde es einzig und allein die Liebe sein, woraus denn klar erhellet, daß ihr Nutzen nur sehr klein ist.« 131 Gerade umgekehrt! Es gibt noch eher französische Tragödien, welche der zweiten, als welche der ersten Absicht ein Genüge leisten. Ich kenne verschiedene französische Stücke, welche die unglücklichen Folgen irgend einer Leidenschaft recht wohl ins Licht setzen; aus denen man viele gute Lehren, diese Leidenschaft betreffend, ziehen kann: aber ich kenne keines, welches mein Mitleid in dem Grade erregte, in welchem die Tragödie es erregen sollte, in welchem ich, aus verschiedenen griechischen und englischen Stücken gewiß weiß, daß sie es erregen kann. Verschiedene französische Tragödien sind sehr feine, sehr unterrichtende Werke, die ich alles Lobes wert halte: nur, daß es keine Tragödien sind. Die Verfasser derselben konnten nicht anders, als sehr gute Köpfe sein; sie verdienen, zum Teil, unter den Dichtern keinen geringen Rang: nur daß sie keine tragische Dichter sind; nur daß ihr Corneille und Racine, ihr Crebillon und Voltaire von dem [609] wenig oder gar nichts haben, was den Sophokles zum Sophokles, den Euripides zum Euripides, den Shakespeare zum Shakespeare macht. Diese sind selten mit den wesentlichen Foderungen des Aristoteles im Widerspruch: aber jene desto öfterer. Denn nur weiter –

Zwei und achtzigstes Stück

Den 12ten Februar, 1768


4. Aristoteles sagt: man muß keinen ganz guten Mann, ohne alle sein Verschulden, in der Tragödie unglücklich werden lassen; denn so was sei gräßlich. – Ganz recht, sagt Corneille; »ein solcher Ausgang erweckt mehr Unwillen und Haß gegen den, welcher das Leiden verursacht, als Mitleid für den, welchen es trifft. Jene Empfindung also, welche nicht die eigentliche Wirkung der Tragödie sein soll, würde, wenn sie nicht sehr fein behandelt wäre, diese ersticken, die doch eigentlich hervorgebracht werden sollte. Der Zuschauer würde mißvergnügt weggehen, weil sich allzuviel Zorn mit dem Mitleiden vermischt, welches ihm gefallen hätte, wenn er es allein mit wegnehmen können. Aber« – kömmt Corneille hinten nach; denn mit einem Aber muß er nachkommen, – »aber, wenn diese Ursache wegfällt, wenn es der Dichter so eingerichtet, daß der Tugendhafte, welcher leidet, mehr Mitleid für sich, als Widerwillen gegen den erweckt, der ihn leiden läßt: alsdenn? – O alsdenn, sagt Corneille, halte ich dafür, darf man sich gar kein Bedenken machen, auch den tugendhaftesten Mann auf dem Theater im Unglücke zu zeigen.« 132 – Ich begreife nicht, wie man gegen einen Philosophen so in den Tag hineinschwatzen kann; wie man sich das Ansehen geben kann, ihn zu verstehen, indem man ihn Dinge sagen läßt, an die er nie gedacht hat. Das gänzlich unverschuldete Unglück eines rechtschaffenen Mannes, sagt Aristoteles, ist kein Stoff für das Trauerspiel; denn [610] es ist gräßlich. Aus diesem Denn, aus dieser Ursache, macht Corneille ein Insofern, eine bloße Bedingung, unter welcher es tragisch zu sein aufhört. Aristoteles sagt: es ist durchaus gräßlich, und eben daher untragisch. Corneille aber sagt: es ist untragisch, insofern es gräßlich ist. Dieses Gräßliche findet Aristoteles in dieser Art des Unglückes selbst: Corneille aber setzt es in den Unwillen, den es gegen den Urheber desselben verursacht. Er sieht nicht, oder will nicht sehen, daß jenes Gräßliche ganz etwas anders ist, als dieser Unwille; daß wenn auch dieser ganz wegfällt, jenes doch noch in seinem vollen Maße vorhanden sein kann: genug, daß vors erste mit diesem Quid pro quo verschiedene von seinen Stücken gerechtfertigt scheinen, die er so wenig wider die Regeln des Aristoteles will gemacht haben, daß er vielmehr vermessen genug ist, sich einzubilden, es habe dem Aristoteles bloß an dergleichen Stücken gefehlt, um seine Lehre darnach näher einzuschränken, und verschiedene Manieren daraus zu abstrahieren, wie dem ohngeachtet das Unglück des ganz rechtschaffenen Mannes ein tragischer Gegenstand werden könne. En voici, sagt er, deux ou trois manières, que peut-être Aristote n'a sû prevoir, parce qu'on n'en voyoit pas d'exemples sur les théatres de son temps. Und von wem sind diese Exempel? Von wem anders, als von ihm selbst? Und welches sind jene zwei oder drei Manieren? Wir wollen geschwind sehen. – »Die erste, sagt er, ist, wenn ein sehr Tugendhafter durch einen sehr Lasterhaften verfolgt wird, der Gefahr aber entkömmt, und so, daß der Lasterhafte sich selbst darin verstricket, wie es in der Rodogune und im Heraklius geschiehet, wo es ganz unerträglich würde gewesen sein, wenn in dem ersten Stücke Antiochus und Rodogune, und in dem andern Heraklius, Pulcheria und Martian umgekommen wären, Cleopatra und Phokas aber triumphieret hätten. Das Unglück der erstern erweckt ein Mitleid, welches durch den Abscheu, den wir wider ihre Verfolger haben, nicht erstickt wird, weil man beständig hofft, daß sich irgend ein glücklicher Zufall eräugnen werde, der sie nicht unterliegen lasse.« Das mag Corneille sonst jemanden weiß machen, daß Aristoteles diese Manier nicht gekannt habe! Er hat sie so wohl[611] gekannt, daß er sie, wo nicht gänzlich verworfen, wenigstens mit ausdrücklichen Worten für angemessener der Komödie als Tragödie erklärt hat. Wie war es möglich, daß Corneille dieses vergessen hatte? Aber so geht es allen, die im voraus ihre Sache zu der Sache der Wahrheit machen. Im Grunde gehört diese Manier auch gar nicht zu dem vorhabenden Falle. Denn nach ihr wird der Tugendhafte nicht unglücklich, sondern befindet sich nur auf dem Wege zum Unglücke; welches gar wohl mitleidige Besorgnisse für ihn erregen kann, ohne gräßlich zu sein. – Nun, die zweite Manier! »Auch kann es sich zutragen, sagt Corneille, daß ein sehr tugendhafter Mann verfolgt wird, und auf Befehl eines andern umkömmt, der nicht lasterhaft genug ist, unsern Unwillen allzu sehr zu verdienen, indem er in der Verfolgung, die er wider den Tugendhaften betreibet, mehr Schwachheit als Bosheit zeiget. Wenn Felix seinen Eidam Polyeukt umkommen läßt, so ist es nicht aus wütendem Eifer gegen die Christen, der ihn uns verabscheuungswürdig machen würde, sondern bloß aus kriechender Furchtsamkeit, die sich nicht getrauet, ihn in Gegenwart des Severus zu retten, vor dessen Hasse und Rache er in Sorgen stehet. Man fasset also wohl einigen Unwillen gegen ihn, und mißbilliget sein Verfahren; doch überwiegt dieser Unwille nicht das Mitleid, welches wir für den Polyeukt empfinden, und verhindert auch nicht, daß ihn seine wunderbare Bekehrung, zum Schlusse des Stücks, nicht völlig wieder mit den Zuhörern aussöhnen sollte.« Tragische Stümper, denke ich, hat es wohl zu allen Zeiten, und selbst in Athen gegeben. Warum sollte es also dem Aristoteles an einem Stücke, von ähnlicher Einrichtung, gefehlt haben, um daraus eben so erleuchtet zu werden, als Corneille? Possen! Die furchtsamen, schwanken, unentschlossenen Charaktere, wie Felix, sind in dergleichen Stücken ein Fehler mehr, und machen sie noch oben darein ihrer Seits kalt und ekel, ohne sie auf der andern Seite im geringsten weniger gräßlich zu machen. Denn, wie gesagt, das Gräßliche liegt nicht in dem Unwillen oder Abscheu, den sie erwecken: sondern in dem Unglücke selbst, das jene unverschuldet trifft; das sie einmal so unverschuldet trifft als das andere, ihre Verfolger mögen [612] böse oder schwach sein; mögen mit oder ohne Vorsatz ihnen so hart fallen. Der Gedanke ist an und für sich selbst gräßlich, daß es Menschen geben kann, die ohne alle ihr Verschulden unglücklich sind. Die Heiden hätten diesen gräßlichen Gedanken so weit von sich zu entfernen gesucht, als möglich: und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns an Schauspielen vergnügen, die ihn bestätigen? wir? die Religion und Vernunft überzeuget haben sollte, daß er eben so unrichtig als gotteslästerlich ist? – Das nämliche würde sicherlich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn sie Corneille nicht selbst näher anzugeben, vergessen hätte.

5. Auch gegen das, was Aristoteles von der Unschicklichkeit eines ganz Lasterhaften zum tragischen Helden sagt, als dessen Unglück weder Mitleid noch Furcht erregen könne, bringt Corneille seine Läuterungen bei. Mitleid zwar, gesteht er zu, könne er nicht erregen; aber Furcht allerdings. Denn ob sich schon keiner von den Zuschauern der Laster desselben fähig glaube, und folglich auch desselben ganzes Unglück nicht zu befürchten habe: so könne doch ein jeder irgend eine jenen Lastern ähnliche Unvollkommenheit bei sich hegen, und durch die Furcht vor den zwar proportionierten, aber doch noch immer unglücklichen Folgen derselben, gegen sie auf seiner Hut zu sein lernen. Doch dieses gründet sich auf den falschen Begriff, welchen Corneille von der Furcht und von der Reinigung der in der Tragödie zu erweckenden Leidenschaften hatte, und widerspricht sich selbst. Denn ich habe schon gezeigt, daß die Erregung des Mitleids von der Erregung der Furcht unzertrennlich ist, und daß der Bösewicht, wenn es möglich wäre, daß er unsere Furcht erregen könne, auch notwendig unser Mitleid erregen müßte. Da er aber dieses, wie Corneille selbst zugesteht, nicht kann, so kann er auch jenes nicht, und bleibt gänzlich ungeschickt, die Absicht der Tragödie erreichen zu helfen. Ja Aristoteles hält ihn hierzu noch für ungeschickter, als den ganz tugendhaften Mann; denn er will ausdrücklich, Falls man den Held aus der mittlern Gattung nicht haben könne, daß man ihn eher besser als schlimmer wählen solle. Die Ursache ist klar: ein Mensch kann sehr gut sein, und doch noch [613] mehr als eine Schwachheit haben, mehr als einen Fehler begehen, wodurch er sich in ein unabsehliches Unglück stürzet, das uns mit Mitleid und Wehmut erfüllet, ohne im geringsten gräßlich zu sein, weil es die natürliche Folge seines Fehlers ist. – Was Du Bos 133 von dem Gebrauche der lasterhaften Personen in der Tragödie sagt, ist das nicht, was Corneille will. Du Bos will sie nur zu den Nebenrollen erlauben; bloß zu Werkzeugen, die Hauptpersonen weniger schuldig zu machen; bloß zur Abstechung. Corneille aber will das vornehmste Interesse auf sie beruhen lassen, so wie in der Rodogune: und das ist es eigentlich, was mit der Absicht der Tragödie streitet, und nicht jenes. Du Bos merket dabei auch sehr richtig an, daß das Unglück dieser subalternen Bösewichter keinen Eindruck auf uns mache. Kaum, sagt er, daß man den Tod des Narciß im Britannicus bemerkt. Aber also sollte sich der Dichter, auch schon deswegen, ihrer so viel als möglich enthalten. Denn wenn ihr Unglück die Absicht der Tragödie nicht unmittelbar befördert, wenn sie bloße Hülfsmittel sind, durch die sie der Dichter desto besser mit andern Personen zu erreichen sucht: so ist es unstreitig, daß das Stück noch besser sein würde, wenn es die nämliche Wirkung ohne sie hätte. Je simpler eine Maschine ist, je weniger Federn und Räder und Gewichte sie hat, desto vollkommener ist sie.

Drei und achtzigstes Stück

Den 16ten Februar, 1768


6. Und endlich, die Mißdeutung der ersten und wesentlichsten Eigenschaft, welche Aristoteles für die Sitten der tragischen Personen fodert! Sie sollen gut sein, die Sitten. – Gut? sagt Corneille. »Wenn gut hier so viel als tugendhaft heißen soll: so wird es mit den meisten alten und neuen Tragödien übel aussehen, in welchen schlechte und lasterhafte, wenigstens mit einer Schwachheit, die nächst der Tugend so recht [614] nicht bestehen kann, behaftete Personen genug vorkommen.« Besonders ist ihm für seine Cleopatra in der Rodogune bange. Die Güte, welche Aristoteles fodert, will er also durchaus für keine moralische Güte gelten lassen; es muß eine andere Art von Güte sein, die sich mit dem moralisch Bösen eben so wohl verträgt, als mit dem moralisch Guten. Gleichwohl meinet Aristoteles schlechterdings eine moralische Güte: nur daß ihm tugendhafte Personen, und Personen, welche in gewissen Umständen tugendhafte Sitten zeigen, nicht einerlei sind. Kurz, Corneille verbindet eine ganz falsche Idee mit dem Worte Sitten, und was die Proäresis ist, durch welche allein, nach unserm Weltweisen, freie Handlungen zu guten oder bösen Sitten werden, hat er gar nicht verstanden. Ich kann mich itzt nicht in einen weitläuftigen Beweis einlassen; er läßt sich nur durch den Zusammenhang, durch die syllogistische Folge aller Ideen des griechischen Kunstrichters, einleuchtend genug führen. Ich verspare ihn daher auf eine andere Gelegenheit, da es bei dieser ohnedem nur darauf ankömmt, zu zeigen, was für einen unglücklichen Ausweg Corneille, bei Verfehlung des richtigen Weges, ergriffen. Dieser Ausweg lief dahin: daß Aristoteles unter der Güte der Sitten den glänzenden und erhabnen Charakter irgend einer tugendhaften oder strafbaren Neigung verstehe, so wie sie der eingeführten Person entweder eigentümlich zukomme, oder ihr schicklich beigeleget werden könne: le caractere brillant et élevé d'une habitude vertueuse ou criminelle, selon qu'elle est propre et convenable à la personne qu'on introduit. »Cleopatra in der Rodogune, sagt er, ist äußerst böse; da ist kein Meuchelmord, vor dem sie sich scheue, wenn er sie nur auf dem Throne zu erhalten vermag, den sie allem in der Welt vorzieht; so heftig ist ihre Herrschsucht. Aber alle ihre Verbrechen sind mit einer gewissen Größe der Seele verbunden, die so etwas Erhabenes hat, daß man, indem man ihre Handlungen verdammet, doch die Quelle, woraus sie entspringen, bewundern muß. Eben dieses getraue ich mir von dem Lügner zu sagen. Das Lügen ist unstreitig eine lasterhafte Angewohnheit; allein Dorant bringt seine Lügen mit einer solchen Gegenwart des Geistes, mit so [615] vieler Lebhaftigkeit vor, daß diese Unvollkommenheit ihm ordentlich wohl läßt, und die Zuschauer gestehen müssen, daß die Gabe so zu lügen ein Laster sei, dessen kein Dummkopf fähig ist.« – Wahrlich, einen verderblichern Einfall hätte Corneille nicht haben können! Befolget ihn in der Ausführung, und es ist um alle Wahrheit, um alle Täuschung, um allen sittlichen Nutzen der Tragödie getan! Denn die Tugend, die immer bescheiden und einfältig ist, wird durch jenen glänzenden Charakter eitel und romantisch: das Laster aber, mit einem Firnis überzogen, der uns überall blendet, wir mögen es aus einem Gesichtspunkte nehmen, aus welchem wir wollen. Torheit, bloß durch die unglücklichen Folgen von dem Laster abschrecken wollen, indem man die innere Häßlichkeit desselben verbirgt! Die Folgen sind zufällig; und die Erfahrung lehrt, daß sie eben so oft glücklich als unglücklich fallen. Dieses bezieht sich auf die Reinigung der Leidenschaften, wie sie Corneille sich dachte. Wie ich mir sie vorstelle, wie sie Aristoteles gelehrt hat, ist sie vollends nicht mit jenem trügerischen Glanze zu verbinden. Die falsche Folie, die so dem Laster untergelegt wird, macht daß ich Vollkommenheiten erkenne, wo keine sind; macht, daß ich Mitleiden habe, wo ich keines haben sollte. – Zwar hat schon Dacier dieser Erklärung widersprochen, aber aus untriftigern Gründen; und es fehlt nicht viel, daß die, welche er mit dem Pater Le Bossu dafür annimmt, nicht eben so nachteilig ist, wenigstens den poetischen Vollkommenheiten des Stücks eben so nachteilig werden kann. Er meinet nämlich, »die Sitten sollen gut sein,« heiße nichts mehr als das, sie sollen gut ausgedrückt sein, qu'elles soient bien marquées. Das ist allerdings eine Regel, die, richtig verstanden, an ihrer Stelle, aller Aufmerksamkeit des dramatischen Dichters würdig ist. Aber wenn es die französischen Muster nur nicht bewiesen, daß man »gut ausdrücken« für stark ausdrücken genommen hätte. Man hat den Ausdruck überladen, man hat Druck auf Druck gesetzt, bis aus charakterisierten Personen, personifierte Charaktere; aus lasterhaften oder tugendhaften Menschen, hagere Gerippe von Lastern und Tugenden geworden sind. –

[616] Hier will ich diese Materie abbrechen. Wer ihr gewachsen ist, mag die Anwendung auf unsern Richard, selbst machen.

Vom Herzog Michel, welcher auf den Richard folgte, brauche ich wohl nichts zu sagen. Auf welchem Theater wird er nicht gespielt, und wer hat ihn nicht gesehen oder gelesen? Krüger hat indes das wenigste Verdienst darum; denn er ist ganz aus einer Erzählung in den Bremischen Beiträgen genommen. Die vielen guten satyrischen Züge, die er enthält, gehören jenem Dichter, so wie der ganze Verfolg der Fabel. Krügern gehört nichts, als die dramatische Form. Doch hat wirklich unsere Bühne an Krügern viel verloren. Er hatte Talent zum niedrig Komischen, wie seine Kandidaten beweisen. Wo er aber rührend und edel sein will, ist er frostig und affektiert. Hr. Löwen hat seine Schriften gesammelt, unter welchen man jedoch die »Geistlichen auf dem Lande« vermißt. Dieses war der erste dramatische Versuch, welchen Krüger wagte, als er noch auf dem Grauen Kloster in Berlin studierte.

Den neun und vierzigsten Abend, (Donnerstags, den 23sten Julius) ward das Lustspiel des Hrn. von Voltaire, die Frau die Recht hat, gespielt, und zum Beschlusse des L'Affichard Ist er von Familie? 134 wiederholt.

Die Frau, die Recht hat, ist eines von den Stücken, welche der Hr. von Voltaire für sein Haustheater gemacht hat. Dafür war es nun auch gut genug. Es ist schon 1758 zu Carouge gespielt worden: aber noch nicht zu Paris; so viel ich weiß. Nicht als ob sie da, seit der Zeit, keine schlechtern Stücke gespielt hätten: denn dafür haben die Marins und Le Brets wohl gesorgt. Sondern weil – ich weiß selbst nicht. Denn ich wenigstens möchte doch noch lieber einen großen Mann in seinem Schlafrocke und seiner Nachtmütze, als einen Stümper in seinem Feierkleide sehen.

Charaktere und Interesse hat das Stück nicht; aber verschiedene Situationen, die komisch genug sind. Zwar ist auch das Komische aus dem allergemeinsten Fache, da es sich auf nichts als aufs Incognito, auf Verkennungen und Mißverständnisse [617] gründet. Doch die Lacher sind nicht ekel; am wenigsten würden es unsre deutschen Lacher sein, wenn ihnen das fremde der Sitten und die elende Übersetzung das mot pour rire nur nicht meistens so unverständlich machte.

Den funfzigsten Abend (Freitags de 24ten Julius) ward Gressets Sidney wiederholt. Den Beschluß machte, der sehende Blinde.

Dieses kleine Stück ist vom Le Grand, und auch nicht von ihm. Denn er hat Titel und Intrigue und alles, einem alten Stücke des de Brosse abgeborgt. Ein Offizier, schon etwas bei Jahren, will eine junge Witwe heiraten, in die er verliebt ist, als er Ordre bekömmt, sich zur Armee zu verfügen. Er verläßt seine Versprochene, mit den wechselseitigen Versicherungen der aufrichtigsten Zärtlichkeit. Kaum aber ist er weg, so nimmt die Witwe die Aufwartungen des Sohnes von diesem Offiziere an. Die Tochter desselben macht sich gleichergestalt die Abwesenheit ihres Vaters zu Nutze, und nimmt einen jungen Menschen, den sie liebt, im Hause auf. Diese doppelte Intrigue wird dem Vater gemeldet, der, um sich selbst davon zu überzeugen, ihnen schreiben läßt, daß er sein Gesicht verloren habe. Die List gelingt; er kömmt wieder nach Paris, und mit Hülfe eines Bedienten, der um den Betrug weiß, sieht er alles, was in seinem Hause vorgeht. Die Entwicklung läßt sich erraten; da der Offizier an der Unbeständigkeit der Witwe nicht länger zweifeln kann, so erlaubt er seinem Sohne, sie zu heiraten, und der Tochter gibt er die nämliche Erlaubnis, sich mit ihrem Geliebten zu verbinden. Die Szenen zwischen der Witwe und dem Sohn des Offiziers, in Gegenwart des letzten, haben viel Komisches; die Witwe versichert, daß ihr der Zufall des Offiziers sehr nahe gehe, daß sie ihn aber darum nicht weniger liebe; und zugleich gibt sie seinem Sohn, ihrem Liebhaber, einen Wink mit den Augen, oder bezeigt ihm sonst ihre Zärtlichkeit durch Gebärden. Das ist der Inhalt des alten Stückes vom de Brosse, 135 und ist auch der Inhalt von dem neuen Stücke des Le Grand. Nur daß in diesem die Intrigue mit [618] der Tochter weggeblieben ist, um jene fünf Akte desto leichter ineinen zu bringen. Aus dem Vater ist ein Onkel geworden, und was sonst dergleichen kleine Veränderungen mehr sind. Es mag endlich entstanden sein wie es will; gnug, es gefällt sehr. Die Übersetzung ist in Versen, und vielleicht eine von den besten die wir haben; sie ist wenigstens sehr fließend, und hat viele drollige Zeilen.

Vier und achtzigstes Stück

Den 19ten Februar, 1768


Den ein und funfzigsten Abend (Montags, den 27. Julius,) ward der Hausvater des Hrn. Diderot aufgeführt.

Da dieses vortreffliche Stück, welches den Franzosen nur so so gefällt, – wenigstens hat es mit Müh und Not kaum ein oder zweimal auf dem Pariser Theater erscheinen dürfen, – sich, allem Ansehen nach, lange, sehr lange, und warum nicht immer? auf unsern Bühnen erhalten wird; da es auch hier nicht oft genug wird können gespielt werden: so hoffe ich, Raum und Gelegenheit genug zu haben, alles auszukramen, was ich sowohl über das Stock selbst, als über das ganze dramatische System des Verfassers, von Zeit zu Zeit angemerkt habe.

Ich hole recht weit aus. – Nicht erst mit dem natürlichen Sohne, in den beigefügten Unterredungen, welche zusammen im Jahre 1757 herauskamen, hat Diderot sein Mißvergnügen mit dem Theater seiner Nation geäußert. Bereits verschiedne Jahre vorher ließ er es sich merken, daß er die hohen Begriffe gar nicht davon habe, mit welchen sich seine Landsleute täuschen, und Europa sich von ihnen täuschen lassen. Aber er tat es in einem Buche, in welchem man freilich dergleichen Dinge nicht sucht; in einem Buche, in welchem der persiflierende Ton so herrschet, daß den meisten Lesern auch das, was guter gesunder Verstand darin ist, nichts als Posse und Höhnerei zu sein scheinet. Ohne Zweifel hatte Diderot seine Ursachen, warum er mit seiner Herzensmeinung lieber erst in einem solchen Buche hervorkommen wollte: ein kluger [619] Mann sagt öfters erst mit Lachen, was er hernach im Ernste wiederholen will.

Dieses Buch heißt Les Bijoux indiscrets, und Diderot will es itzt durchaus nicht geschrieben haben. Daran tut Diderot auch sehr wohl; aber doch hat er es geschrieben, und muß es geschrieben haben, wenn er nicht ein Plagiarius sein will. Auch ist es gewiß, daß nur ein solcher junger Mann dieses Buch schreiben konnte, der sich einmal schämen würde, es geschrieben zu haben.

Es ist eben so gut, wenn die wenigsten von meinen Lesern dieses Buch kennen. Ich will mich auch wohl hüten, es ihnen weiter bekannt zu machen, als es hier in meinen Kram dienet. –

Ein Kaiser – was weiß ich, wo und welcher? – hatte mit einem gewissen magischen Ringe gewisse Kleinode so viel häßliches Zeug schwatzen lassen, daß seine Favoritin durchaus nichts mehr davon hören wollte. Sie hätte lieber gar mit ihrem ganzen Geschlechte darüber brechen mögen; wenigstens nahm sie sich auf die ersten vierzehn Tage vor, ihren Umgang einzig auf des Sultans Majestät und ein Paar witzige Köpfe einzuschränken. Diese waren, Selim und Riccaric: Selim, ein Hofmann; und Riccaric, ein Mitglied der Kaiserlichen Akademie, ein Mann, der das Altertum studieret hatte und ein großer Verehrer desselben war, doch ohne Pedant zu sein. Mit diesen unterhält sich die Favoritin einsmals, und das Gespräch fällt auf den elenden Ton der akademischen Reden, über den sich niemand mehr ereifert als der Sultan selbst, weil es ihn verdrießt, sich nur immer auf Unkosten seines Vaters und seiner Vorfahren darin loben zu hören, und er wohl voraussieht, daß die Akademie eben so auch seinen Ruhm einmal dem Ruhme seiner Nachfolger aufopfern werde. Selim, als Hofmann, war dem Sultan in allem beigefallen: und so spinnt sich die Unterredung über das Theater an, die ich meinen Lesern hier ganz mitteile.

»Ich glaube, Sie irren sich, mein Herr: antwortete Ricaric dem Selim. Die Akademie ist noch itzt das Heiligtum des guten Geschmacks, und ihre schönsten Tage haben weder Weltweise noch Dichter auf zu weisen, denen wir nicht andere [620] aus unserer Zeit entgegen setzen könnten. Unser Theater ward für das erste Theater in ganz Afrika gehalten, und wird noch dafür gehalten. Welch ein Werk ist nicht der Tamerlan des Tuxigraphe! Es verbindet das Pathetische des Eurisope mit dem Erhabnen des Azophe. Es ist das klare Altertum!«

»Ich habe, sagte die Favoritin, die erste Vorstellung des Tamerlans gesehen, und gleichfalls den Faden des Stücks sehr richtig geführet, den Dialog sehr zierlich, und das Anständige sehr wohl beobachtet gefunden.«

»Welcher Unterschied, Madam, unterbrach sie Ricaric, zwischen einem Verfasser wie Tuxigraphe, der sich durch Lesung der Alten genähret, und dem größten Teile unsrer Neuern!«

»Aber diese Neuern, sagte Selim, die Sie hier so wacker über die Klinge springen lassen, sind doch bei weitem so verächtlich nicht, als Sie vorgeben. Oder wie? finden Sie kein Genie, keine Erfindung, kein Feuer, keine Charaktere, keine Schilderungen, keine Tiraden bei ihnen? Was bekümmere ich mich um Regeln, wenn man mir nur Vergnügen macht? Es sind wahrlich nicht die Bemerkungen des weisen Almudir und des gelehrten Abdaldok, noch die Dichtkunst des scharfsinnigen Facardin, die ich alle nicht gelesen habe, welche es machen, daß ich die Stücke des Aboulcazem, des Muhardar, des Albaboukre, und so vieler andren Sarazenen bewundre! Gibt es denn auch eine andere Regel, als die Nachahmung der Natur? Und haben wir nicht eben die Augen, mit welchen diese sie studierten?«

»Die Natur, antwortete Ricaric, zeiget sich uns alle Augenblicke in verschiednen Gestalten. Alle sind wahr, aber nicht alle sind gleich schön. Eine gute Wahl darunter zu treffen, das müssen wir aus den Werken lernen, von welchen Sie eben nicht viel zu halten scheinen. Es sind die gesammelten Erfahrungen, welche ihre Verfasser und deren Vorgänger gemacht haben. Man mag ein noch so vortrefflicher Kopf sein, so erlangt man doch nur seine Einsichten eine nach der andern; und ein einzelner Mensch schmeichelt sich vergebens, in dem kurzen Raume seines Lebens, alles selbst zu bemerken, [621] was in so vielen Jahrhunderten vor ihm entdeckt worden. Sonst ließe sich behaupten, daß eine Wissenschaft ihren Ursprung, ihren Fortgang, und ihre Vollkommenheit einem einzigen Geiste zu verdanken haben könne; welches doch wider alle Erfahrung ist.«

»Hieraus, mein Herr, antwortete ihm Selim, folget weiter nichts, als daß die Neuern, welche sich alle die Schätze zu Nutze machen können, die bis auf ihre Zeit gesammelt worden, reicher sein müssen, als die Alten: oder, wenn Ihnen diese Vergleichung nicht gefällt, daß sie auf den Schultern dieser Kolossen, auf die sie gestiegen, notwendig müssen weiter sehen können, als diese selbst. Was ist auch, in der Tat, ihre Naturlehre, ihre Astronomie, ihre Schiffskunst, ihre Mechanik, ihre Rechenlehre, in Vergleichung mit unsern? Warum sollten wir ihnen also in der Beredsamkeit und Poesie nicht eben so wohl überlegen sein?«

»Selim, versetzte die Sultane, der Unterschied ist groß, und Ricaric kann Ihnen die Ursachen davon ein andermal erklären. Er mag Ihnen sagen, warum unsere Tragödien schlechter sind, als der Alten ihre: aber daß sie es sind, kann ich leicht selbst auf mich nehmen, Ihnen zu beweisen. Ich will Ihnen nicht Schuld geben, fuhr sie fort, daß Sie die Alten nicht gelesen haben. Sie haben sich um zu viele schöne Kenntnisse beworben, als daß Ihnen das Theater der Alten unbekannt sein sollte. Nun setzen Sie gewisse Ideen, die sich auf ihre Gebräuche, auf ihre Sitten, auf ihre Religion beziehen, und die Ihnen nur deswegen anstößig sind, weil sich die Umstände geändert haben, bei Seite, und sagen Sie mir, ob ihr Stoff nicht immer edel, wohlgewählt und interessant ist? ob sich die Handlung nicht gleichsam von selbst einleitet? ob der simple Dialog dem Natürlichen nicht sehr nahe kömmt? ob die Entwicklungen im geringsten gezwungen sind? ob sich das Interesse wohl teilt, und die Handlung mit Episoden überladen ist? Versetzen Sie sich in Gedanken in die Insel Alindala; untersuchen Sie alles, was da vorging, hören Sie alles, was von dem Augenblicke an, als der junge Ibrahim und der verschlagne Forfanti ans Land stiegen, da gesagt ward; nähern Sie sich der Höhle des unglücklichen [622] Polipsile; verlieren Sie kein Wort von seinen Klagen, und sagen Sie mir, ob das geringste vorkömmt, was Sie in der Täuschung stören könnte? Nennen Sie mir ein einziges neueres Stück, welches die nämliche Prüfung aushalten, welches auf den nämlichen Grad der Vollkommenheit Anspruch machen kann: und Sie sollen gewonnen haben.«

»Beim Brama! rief der Sultan und gähnte; Madame hat uns da eine vortreffliche akademische Vorlesung gehalten!«

»Ich verstehe die Regeln nicht, fuhr die Favoritin fort, und noch weniger die gelehrten Worte, in welchen man sie abgefaßt hat. Aber ich weiß, daß nur das Wahre gefällt und rühret. Ich weiß auch, daß die Vollkommenheit eines Schauspiels in der so genauen Nachahmung einer Handlung bestehet, daß der ohne Unterbrechung betrogne Zuschauer bei der Handlung selbst gegenwärtig zu sein glaubt. Findet sich aber in den Tragödien, die Sie uns so rühmen, nur das geringste, was diesem ähnlich sähe?«

Fünf und achtzigstes Stück

Den 23sten Februar, 1768


»Wollen Sie den Verlauf darin loben? Er ist meistens so vielfach und verwickelt, daß es ein Wunder sein würde, wenn wirklich so viel Dinge in so kurzer Zeit geschehen wären. Der Untergang oder die Erhaltung eines Reichs, die Heirat einer Prinzessin, der Fall eines Prinzen, alles das geschieht so geschwind, wie man eine Hand umwendet. Kömmt es auf eine Verschwörung an? im ersten Akte wird sie entworfen; im zweiten ist sie beisammen; im dritten werden alle Maßregeln genommen, alle Hindernisse gehoben, und die Verschwornen halten sich fertig; mit nächstem wird es einen Aufstand setzen, wird es zum Treffen kommen, wohl gar zu einer förmlichen Schlacht. Und das alles nennen Sie gut geführt, interessant, warm, wahrscheinlich? Ihnen kann ich nun so etwas am wenigsten vergeben, der Sie wissen, wie viel es oft kostet, die allerelendeste Intrigue zu Stande zu bringen,[623] und wie viel Zeit bei der kleinsten politischen Angelegenheit auf Einleitungen, auf Besprechungen und Beratschlagungen geht.«

»Es ist wahr, Madame, antwortete Selim, unsere Stücke sind ein wenig überladen; aber das ist ein notwendiges Übel; ohne Hülfe der Episoden würden wir uns vor Frost nicht zu lassen wissen.«

»Das ist: um der Nachahmung einer Handlung Feuer und Geist zu geben, muß man die Handlung weder so vorstellen, wie sie ist, noch so, wie sie sein sollte. Kann etwas lächerlicheres gedacht werden? Schwerlich wohl; es wäre denn etwa dieses, daß man die Geigen ein lebhaftes Stück, eine muntere Sonate spielen läßt, während daß die Zuhörer um den Prinzen bekümmert sein sollen, der auf dem Punkte ist, seine Geliebte, seinen Thron und sein Leben zu verlieren.«

»Madame, sagte Mongogul, Sie haben vollkommen Recht; traurige Arien müßte man indes spielen, und ich will Ihnen gleich einige bestellen gehen. Hiermit stand er auf, und ging heraus, und Selim, Riccaric und die Favoritin setzten die Unterredung unter sich fort.«

»Wenigstens, Madame, erwiderte Selim, werden Sie nicht leugnen, daß, wenn die Episoden uns aus der Täuschung heraus bringen, der Dialog uns wieder herein setzt. Ich wüßte nicht, wer das besser verstünde, als unsere tragische Dichter.«

»Nun so versteht es durchaus niemand«, antwortete Mirzoza. Das Gesuchte, das Witzige, das Spielende, das darin herrscht, ist tausend und tausend Meilen von der Natur entfernt. Umsonst sucht sich der Verfasser zu verstecken; er entgeht meinen Augen nicht, und ich erblicke ihn unaufhörlich hinter seinen Personen. Cinna, Sertorius, Maximus, Aemilia, sind alle Augenblicke das Sprachrohr des Corneille. So spricht man bei unsern alten Sarazenen nicht mit einander. Herr Ricaric kann Ihnen, wenn Sie wollen, einige Stellen daraus übersetzen; und Sie werden die bloße Natur hören, die sich durch den Mund derselben ausdrückt. Ich möchte gar zu gern zu den Neuern sagen: »Meine Herren, anstatt daß ihr euern Personen bei aller Gelegenheit Witz gebt, so [624] sucht sie doch lieber in Umstände zu setzen, die ihnen welchen geben.«

»Nach dem zu urteilen, was Madame von dem Verlaufe und dem Dialoge unserer dramatischen Stücke gesagt hat, scheint es wohl nicht, sagte Selim, daß Sie den Entwicklungen wird Gnade widerfahren lassen.«

»Nein, gewiß nicht, versetzte die Favoritin: es gibt hundert schlechte für eine gute. Die eine ist nicht vorbereitet; die andere eräugnet sich durch ein Wunder. Weiß der Verfasser nicht, was er mit einer Person, die er von Szene zu Szene ganze fünf Akte durchgeschleppt hat, anfangen soll: geschwind fertiget er sie mit einem guten Dolchstoße ab; die ganze Welt fängt an zu weinen, und ich, ich lache, als ob ich toll wäre. Hernach, hat man wohl jemals so gesprochen, wie wir deklamieren? Pflegen die Prinzen und Könige wohl anders zu gehen, als sonst ein Mensch, der gut geht? Gestikulieren sie wohl jemals, wie Besessene und Rasende? Und wenn Prinzessinnen sprechen, sprechen sie wohl in so einem heulenden Tone? Man nimmt durchgängig an, daß wir die Tragödie zu einem hohen Grade der Vollkommenheit gebracht haben: und ich, meines Teils, halte es fast für erwiesen, daß von allen Gattungen der Literatur, auf die sich die Afrikaner in den letzten Jahrhunderten gelegt haben, gerade diese die unvollkommenste geblieben ist.«

Eben hier war die Favoritin mit ihrem Ausfalle gegen unsere theatralische Werke, als Mongogul wieder herein kam. »Madame, sagte er, Sie werden mir einen Gefallen erweisen, wenn Sie fortfahren. Sie sehen, ich verstehe mich darauf, eine Dichtkunst abzukürzen, wenn ich sie zu lang finde.«

»Lassen Sie uns, fuhr die Favoritin fort, einmal annehmen, es käme einer ganz frisch aus Angote, der in seinem Leben von keinem Schauspiele etwas gehört hätte; dem es aber weder an Verstande noch an Welt fehle; der ungefähr wisse, was an einem Hofe vorgehe; der mit den Anschlägen der Höflinge, mit der Eifersucht der Minister, mit den Hetzereien der Weiber nicht ganz unbekannt wäre, und zu dem ich im Vertrauen sagte: ›Mein Freund, es äußern sich in dem Seraglio schreckliche Bewegungen. Der Fürst, der mit seinem [625] Sohne mißvergnügt ist, weil er ihn im Verdacht hat, daß er die Manimonbande liebt, ist ein Mann, den ich für fähig halte, an beiden die grausamste Rache zu üben. Diese Sache muß, allem Ansehen nach, sehr traurige Folgen haben. Wenn Sie wollen, so will ich machen, daß Sie von allem, was vorgeht, Zeuge sein können.‹ Er nimmt mein Anerbieten an, und ich führe ihn in eine mit Gitterwerk vermachte Loge, aus der er das Theater sieht, welches er für den Palast des Sultans hält. Glauben Sie wohl, daß Trotz alles Ernstes, in dem ich mich zu erhalten bemühte, die Täuschung dieses Fremden einen Augenblick dauern könnte? Müssen Sie nicht vielmehr gestehen, daß er, bei dem steifen Gange der Akteurs, bei ihrer wunderlichen Tracht, bei ihren ausschweifenden Gebärden, bei dem seltsamen Nachdrucke ihrer gereimten, abgemessenen Sprache, bei tausend andern Ungereimtheiten, die ihm auffallen würden, gleich in der ersten Szene mir ins Gesicht lachen und gerade heraus sagen würde, daß ich ihn entweder zum besten haben wollte, oder daß der Fürst mit samt seinem Hofe nicht wohl bei Sinnen sein müßten.«

»Ich bekenne, sagte Selim, daß mich dieser angenommene Fall verlegen macht; aber könnte man Ihnen nicht zu bedenken geben, daß wir in das Schauspiel gehen, mit der Überzeugung, der Nachahmung einer Handlung, nicht aber der Handlung selbst, beizuwohnen.«

»Und sollte denn diese Überzeugung verwehren, erwiderte Mirzoza, die Handlung auf die allernatürlichste Art vorzustellen?« –

Hier kömmt das Gespräch nach und nach auf andere Dinge, die uns nichts angehen. Wir wenden uns also wieder, zu sehen, was wir gelesen haben. Den klaren lautern Diderot! Aber alle diese Wahrheiten waren damals in den Wind gesagt. Sie erregten eher keine Empfindung in dem französischen Publico, als bis sie mit allem didaktischen Ernste wiederholt, und mit Proben begleitet wurden, in welchen sich der Verfasser von einigen der gerügten Mängel zu entfernen, und den Weg der Natur und Täuschung besser einzuschlagen, bemüht hatte. Nun weckte der Neid die Kritik. Nun [626] war es klar, warum Diderot das Theater seiner Nation auf dem Gipfel der Vollkommenheit nicht sahe, auf dem wir es durchaus glauben sollen; warum er so viel Fehler in den gepriesenen Meisterstücken desselben fand: bloß und allein, um seinen Stücken Platz zu schaffen. Er mußte die Methode seiner Vorgänger verschrien haben, weil er empfand, daß in Befolgung der nämlichen Methode, er unendlich unter ihnen bleiben würde. Er mußte ein elender Charlatan sein, der allen fremden Theriak verachtet, damit kein Mensch andern als seinen kaufe. Und so fielen die Palissots über seine Stück her.

Allerdings hatte er ihnen auch, in seinem natürlichen Sohne, manche Blöße gegeben. Dieser erste Versuch ist bei weiten das nicht, was der Hausvater ist. Zu viel Einförmigkeit in den Charakteren, das Romantische in diesen Charakteren selbst, ein steifer kostbarer Dialog, ein pedantisches Geklingle von neumodisch philosophischen Sentenzen: alles das machte den Tadlern leichtes Spiel. Besonders zog die feierliche Theresia (oder Constantia, wie sie in dem Originale heißt,) die so philosophisch selbst auf die Freierei geht, die mit einem Manne, der sie nicht mag, so weise von tugendhaften Kindern spricht, die sie mit ihm zu erzielen gedenkt, die Lacher auf ihre Seite. Auch kann man nicht leugnen, daß die Einkleidung, welche Diderot den beigefügten Unterredungen gab, daß der Ton, den er darin annahm, ein wenig eitel und pompös war; daß verschiedene Anmerkungen als ganz neue Entdeckungen darin vorgetragen wurden, die doch nicht neu und dem Verfasser nicht eigen waren; daß andere Anmerkungen die Gründlichkeit nicht hatten, die sie in dem blendenden Vortrage zu haben schienen.

Sechs und achtzigstes Stück

Den 26sten Februar, 1768


Z. E. Diderot behauptete, 136 daß es in der menschlichen Natur aufs höchste nur ein Dutzend wirklich komische Charaktere [627] gäbe, die großer Züge fähig wären; und daß die kleinen Verschiedenheiten unter den menschlichen Charakteren nicht so glücklich bearbeitet werden könnten, als die reinen unvermischten Charaktere. Er schlug daher vor, nicht mehr die Charaktere, sondern die Stände auf die Bühne zu bringen; und wollte die Bearbeitung dieser, zu dem besondern Geschäfte der ernsthaften Komödie machen. »Bisher, sagt er, ist in der Komödie der Charakter das Hauptwerk gewesen; und der Stand war nur etwas Zufälliges: nun aber muß der Stand das Hauptwerk, und der Charakter das Zufällige werden. Aus dem Charakter zog man die ganze Intrigue: man suchte durchgängig die Umstände, in welchen er sich am besten äußert, und verband diese Umstände unter einander. Künftig muß der Stand, müssen die Pflichten, die Vorteile, die Unbequemlichkeiten desselben zur Grundlage des Werks dienen. Diese Quelle scheint mir weit ergiebiger, von weit größerm Umfange, von weit größerm Nutzen, als die Quelle der Charaktere. War der Charakter nur ein wenig übertrieben, so konnte der Zuschauer zu sich selbst sagen: das bin ich nicht. Das aber kann er unmöglich leugnen, daß der Stand, den man spielt, sein Stand ist; seine Pflichten kann er unmöglich verkennen. Er muß das, was er hört, notwendig auf sich anwenden.«

Was Palissot hierwider erinnert, 137 ist nicht ohne Grund. Er leugnet es, daß die Natur so arm an ursprünglichen Charakteren sei, daß sie die komischen Dichter bereits sollten erschöpft haben. Moliere sahe noch genug neue Charaktere vor sich, und glaubte kaum den allerkleinsten Teil von denen behandelt zu haben, die er behandeln könne. Die Stelle, in welcher er verschiedne derselben in der Geschwindigkeit entwirft, ist so merkwürdig als lehrreich, indem sie vermuten läßt, daß der Misanthrop schwerlich sein Non plus ultra in dem hohen Komischen dürfte geblieben sein, wann er länger gelebt hätte. 138 Palissot selbst ist nicht unglücklich, einige [628] neue Charaktere von seiner eignen Bemerkung beizufügen: den dummen Mäzen, mit seinen kriechenden Klienten; den Mann, an seiner unrechten Stelle; den Arglistigen, dessen ausgekünstelte Anschläge immer gegen die Einfalt eines treuherzigen Biedermanns scheitern; den Scheinphilosophen; den Sonderling, den Destouches verfehlt habe; den Heuchler mit gesellschaftlichen Tugenden, da der Religionsheuchler ziemlich aus der Mode sei. – Das sind wahrlich nicht gemeine Aussichten, die sich einem Auge, das gut in die Ferne trägt, bis ins Unendliche erweitern. Da ist noch Ernte genug für die wenigen Schnitter, die sich daran wagen dürfen!

Und wenn auch, sagt Palissot, der komischen Charaktere wirklich so wenige, und diese wenigen wirklich alle schon bearbeitet wären: würden die Stände denn dieser Verlegenheit abhelfen? Man wähle einmal einen; z. E. den Stand des Richters. Werde ich ihm denn, dem Richter, nicht einen Charakter geben müssen? Wird er nicht traurig oder lustig, ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig oder stürmisch sein müssen? Wird es nicht bloß dieser Charakter sein, der ihn aus der [629] Klasse metaphysischer Abstrakte heraushebt, und eine wirkliche Person aus ihm macht? Wird nicht folglich die Grundlage der Intrigue und die Moral des Stücks wiederum auf dem Charakter beruhen? Wird nicht folglich wiederum der Stand nur das Zufällige sein?

Zwar könnte Diderot hierauf antworten: Freilich muß die Person, welche ich mit dem Stande bekleide, auch ihren individuellen moralischen Charakter haben; aber ich will, daß es ein solcher sein soll, der mit den Pflichten und Verhältnissen des Standes nicht streitet, sondern aufs beste harmonieret. Also, wenn diese Person ein Richter ist, so steht es mir nicht frei, ob ich ihn ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig oder stürmisch machen will: er muß notwendig ernsthaft und leutselig sein, und jedesmal es in dem Grade sein, den das vorhabende Geschäfte erfodert.

Dieses, sage ich, könnte Diderot antworten: aber zugleich hätte er sich einer andern Klippe genähert; nämlich der Klippe der vollkommnen Charaktere. Die Personen seiner Stände würden nie etwas anders tun, als was sie nach Pflicht und Gewissen tun müßten; sie würden handeln, völlig wie es im Buche steht. Erwarten wir das in der Komödie? Können dergleichen Vorstellungen anziehend genug werden? Wird der Nutzen, den wir davon hoffen dürfen, groß genug sein, daß es sich der Mühe verlohnt, eine neue Gattung dafür fest zu setzen, und für diese eine eigene Dichtkunst zu schreiben?

Die Klippe der vollkommenen Charaktere scheinet mir Diderot überhaupt nicht genug erkundiget zu haben. In seinen Stücken steuert er ziemlich gerade darauf los: und in seinen kritischen Seekarten findet sich durchaus keine Warnung davor. Vielmehr finden sich Dinge darin, die den Lauf nach ihr hin zu lenken raten. Man erinnere sich nur, was er bei Gelegenheit des Kontrasts unter den Charakteren, von den Brüdern des Terenz sagt. 139 »Die zwei kontrastierten Väter darin sind mit so gleicher Stärke gezeichnet, daß man dem feinsten Kunstrichter Trotz bieten kann, die Hauptperson [630] zu nennen; ob es Micio oder ob es Demea sein soll? Fällt er sein Urteil vor dem letzten Auftritte, so dürfte er leicht mit Erstaunen wahrnehmen, daß der, den er ganzer fünf Aufzüge hindurch, für einen verständigen Mann gehalten hat, nichts als ein Narr ist, und daß der, den er für einen Narren gehalten hat, wohl gar der verständige Mann sein könnte. Man sollte zu Anfange des fünften Aufzuges dieses Drama fast sagen, der Verfasser sei durch den beschwerlichen Kontrast gezwungen worden, seinen Zweck fahren zu lassen, und das ganze Interesse des Stücks umzukehren. Was ist aber daraus geworden? Dieses, daß man gar nicht mehr weiß, für wen man sich interessieren soll. Vom Anfange her ist man für den Micio gegen den Demea gewesen, und am Ende ist man für keinen von beiden. Beinahe sollte man einen dritten Vater verlangen, der das Mittel zwischen diesen zwei Personen hielte, und zeigte, worin sie beide fehlten.«

Nicht ich! Ich verbitte mir ihn sehr, diesen dritten Vater; es sei in dem nämlichen Stücke, oder auch allein. Welcher Vater glaubt nicht zu wissen, wie ein Vater sein soll? Auf dem rechten Wege dünken wir uns alle: wir verlangen nur, dann und wann vor den Abwegen zu beiden Seiten gewarnet zu werden.

Diderot hat Recht: es ist besser, wenn die Charaktere bloß verschieden, als wenn sie kontrastiert sind. Kontrastierte Charaktere sind minder natürlich und vermehren den romantischen Anstrich, an dem es den dramatischen Begebenheiten so schon selten fehlt. Für eine Gesellschaft, im gemeinen Leben, wo sich der Kontrast der Charaktere so abstechend zeigt, als ihn der komische Dichter verlangt, werden sich immer tausend finden, so sie weiter nichts als verschieden sind. Sehr richtig! Aber ist ein Charakter, der sich immer genau in dem graden Gleise hält, das ihm Vernunft und Tugend vorschreiben, nicht eine noch seltenere Erscheinung? Von zwanzig Gesellschaften im gemeinen Leben, werden eher zehn sein, in welchen man Väter findet, die bei Erziehung ihrer Kinder völlig entgegen gesetzte Wege einschlagen, als eine, die den wahren Vater aufweisen könnte. Und dieser wahre Vater ist noch dazu immer der nämliche, ist nur [631] ein einziger, da der Abweichungen von ihm unendlich sind. Folglich werden die Stücke, die den wahren Vater ins Spiel bringen, nicht allein jedes vor sich unnatürlicher, sondern auch unter einander einförmiger sein, als es die sein können, welche Väter von verschiednen Grundsätzen einführen. Auch ist es gewiß, daß die Charaktere, welche in ruhigen Gesellschaften bloß verschieden scheinen, sich von selbst kontrastieren, sobald ein streitendes Interesse sie in Bewegung setzt. Ja es ist natürlich, daß sie sich sodann beeifern, noch weiter von einander entfernt zu scheinen, als sie wirklich sind. Der Lebhafte wird Feuer und Flamme gegen den, der ihm zu lau sich zu betragen scheinet: und der Laue wird kalt wie Eis, um jenem so viel Übereilungen begehen zu lassen, als ihm nur immer nützlich sein können.

Sieben und achtzig und acht und achtzigstes Stück
Sieben und achtzig und
acht und achtzigstes Stück

Den 4ten März, 1768


Und so sind andere Anmerkungen des Palissot mehr, wenn nicht ganz richtig, doch auch nicht ganz falsch. Er sieht den Ring, in den er mit seiner Lanze stoßen will, scharf genug; aber in der Hitze des Ansprengens, verrückt die Lanze, und er stößt den Ring gerade vorbei.

So sagt er über den natürlichen Sohn unter andern: »Welch ein seltsamer Titel! der natürliche Sohn! Warum heißt das Stück so? Welchen Einfluß hat die Geburt des Dorval? Was für einen Vorfall veranlaßt sie? Zu welcher Situation gibt sie Gelegenheit? Welche Lücke füllt sie auch nur? Was kann also die Absicht des Verfassers dabei gewesen sein? Ein Paar Betrachtungen über das Vorurteil gegen die uneheliche Geburt aufzuwärmen? Welcher vernünftige Mensch weiß denn nicht von selbst, wie ungerecht ein solches Vorurteil ist?«

Wenn Diderot hierauf antwortete: Dieser Umstand war allerdings zur Verwickelung meiner Fabel nötig; ohne ihm würde es weit unwahrscheinlicher gewesen sein, daß Dorval [632] seine Schwester nicht kennet, und seine Schwester von keinem Bruder weiß; es stand mir frei, den Titel davon zu entlehnen, und ich hätte den Titel von noch einem geringern Umstande entlehnen können. – Wenn Diderot dieses antwortete, sag ich, wäre Palissot nicht ungefähr widerlegt?

Gleichwohl ist der Charakter des natürlichen Sohnes einem ganz andern Einwurfe bloß gestellet, mit welchem Palissot dem Dichter weit schärfer hätte zusetzen können. Diesem nämlich: daß der Umstand der unehelichen Geburt, und der daraus erfolgten Verlassenheit und Absonderung, in welcher sich Dorval von allen Menschen so viele Jahre hindurch sahe, ein viel zu eigentümlicher und besonderer Umstand ist, gleichwohl auf die Bildung seines Charakters viel zu viel Einfluß gehabt hat, als daß dieser diejenige Allgemeinheit haben könne, welche nach der eignen Lehre des Diderot ein komischer Charakter notwendig haben muß. – Die Gelegenheit reizt mich zu einer Ausschweifung über diese Lehre: und welchem Reize von der Art brauchte ich in einer solchen Schrift zu widerstehen?

»Die komische Gattung, sagt Diderot, 140 hat Arten, und die tragische hat Individua. Ich will mich erklären. Der Held einer Tragödie ist der und der Mensch: es ist Regulus, oder Brutus, oder Cato, und sonst kein anderer. Die vornehmste Person einer Komödie hingegen muß eine große Anzahl von Men schen vorstellen. Gäbe man ihr von ohngefähr eine so eigene Physiognomie, daß ihr nur ein einziges Individuum ähnlich wäre, so würde die Komödie wieder in ihre Kindheit zurücktreten. – Terenz scheinet mir einmal in diesen Fehler gefallen zu sein. Sein Heautontimorumenos ist ein Vater, der sich über den gewaltsamen Entschluß grämet, zu welchem er seinen Sohn durch übermäßige Strenge gebracht hat, und der sich deswegen nun selbst bestraft, indem er sich in Kleidung und Speise kümmerlich hält, allen Umgang fliehet, sein Gesinde abschafft, und das Feld mit eigenen Händen bauet. Man kann gar wohl sagen, daß es so einen Vater nicht gibt. Die größte Stadt würde kaum in einem ganzen [633] Jahrhunderte ein Beispiel einer so seltsamen Betrübnis aufzuweisen haben.«

Zuerst von der Instanz des Heautontimorumenos. Wenn dieser Charakter wirklich zu tadeln ist: so trifft der Tadel nicht sowohl den Terenz, als den Menander. Menander war der Schöpfer desselben, der ihn, allem Ansehen nach, in seinem Stücke noch eine weit ausführlichere Rolle spielen lassen, als er in der Kopie des Terenz spielet, in der sich seine Sphäre, wegen der verdoppelten Intrigue, wohl sehr einziehen müssen. 141 Aber daß er von Menandern herrührt, dieses[634] allein schon hätte, mich wenigstens, abgeschreckt, den Terenz desfalls zu verdammen. Das ω Μενανδρε και βιε, ποτερος αρ' ύμων ποτερον εμιμησατο; ist zwar frostiger, als witzig gesagt: doch würde man es wohl überhaupt von einem Dichter gesagt haben, der Charaktere zu schildern im Stande wäre, wovon sich in der größten Stadt kaum in einem ganzen Jahrhunderte ein einziges Beispiel zeiget? Zwar in hundert und mehr Stücken könnte ihm auch wohl ein solcher Charakter entfallen sein. Der fruchtbarste Kopf schreibt sich leer; und wenn die Einbildungskraft sich keiner wirklichen [635] Gegenstände der Nachahmung mehr erinnern kann, so komponiert sie deren selbst, welches denn freilich meistens Karikaturen werden. Dazu will Diderot bemerkt haben, daß schon Horaz, der einen so besonders zärtlichen Geschmack hatte, den Fehler, wovon die Rede ist, eingesehen, und im Vorbeigehen, aber fast unmerklich, getadelt habe.

Die Stelle soll die in der zweiten Satyre des ersten Buchs sein, wo Horaz zeigen will, »daß die Narren aus einer Übertreibung in die andere entgegengesetzte zu fallen pflegen. Fufidius, sagt er, fürchtet für einen Verschwender gehalten zu [636] werden. Wißt ihr, was er tut? Er leihet monatlich für fünf Prozent, und macht sich im voraus bezahlt. Je nötiger der andere das Geld braucht, desto mehr fodert er. Er weiß die Namen aller jungen Leute, die von gutem Hause sind, und itzt in die Welt treten, dabei aber über harte Väter zu klagen haben. Vielleicht aber glaubt ihr, daß dieser Mensch wieder einen Aufwand mache, der seinen Einkünften entspricht? Weit gefehlt! Er ist sein grausamster Feind, und der Vater in der Komödie, der sich wegen der Entweichung seines Sohnes bestraft, kann sich nicht schlechter quälen: non se pejus cruciaverit.« – Dieses schlechter, dieses pejus, will Diderot, soll hier einen doppelten Sinn haben; einmal soll es auf den Fufidius, und einmal auf den Terenz gehen; dergleichen beiläufige Hiebe, meinet er, wären dem Charakter des Horaz auch vollkommen gemäß.

Das letzte kann sein, ohne sich auf die vorhabende Stelle anwenden zu lassen. Denn hier, dünkt mich, würde die beiläufige [637] Anspielung dem Hauptverstande nachteilig werden. Fufidius ist kein so großer Narr, wenn es mehr solche Narren gibt. Wenn sich der Vater des Terenz eben so abgeschmackt peinigte, wenn er eben so wenig Ursache hätte, sich zu peinigen, als Fufidius, so teilt er das Lächerliche mit ihm, und Fufidius ist weniger seltsam und abgeschmackt. Nur alsdenn, wenn Fufidius ohne alle Ursache eben so hart und grausam gegen sich selbst ist, als der Vater des Terenz mit Ursache ist, wenn jener aus schmutzigem Geize tut, was dieser aus Reu und Betrübnis tat: nur alsdenn wird uns jener unendlich lächerlicher und verächtlicher, als mitleidswürdig wir diesen finden.

Und allerdings ist jede große Betrübnis von der Art, wie die Betrübnis dieses Vaters: die sich nicht selbst vergißt, die peiniget sich selbst. Es ist wider alle Erfahrung, daß kaum alle hundert Jahre sich ein Beispiel einer solchen Betrübnis finde: vielmehr handelt jede ungefähr eben so; nur mehr oder weniger, mit dieser oder jener Veränderung. Cicero hatte auf die Natur der Betrübnis genauer gemerkt; er sahe daher in dem Betragen des Heautontimorumenos nichts mehr, als was alle Betrübte, nicht bloß von dem Affekte hingerissen, tun, sondern auch bei kälterm Geblüte fortsetzen zu müssen glauben. 142 Haec omnia recta, vera, debita putantes, faciunt in dolore: maximeque declaratur, hoc quasi officii judicio fieri, quod si qui forte, cum se in luctu esse vellent, aliquid fecerunt humanius, aut si hilarius locuti essent, revocant se rursus ad moestitiam, peccatique se insimulant, quod dolere intermiserint: pueros vero matres et magistri castigare etiam solent, nec verbis solum, sed etiam verberibus, si quid in domestico luctu hilarius ab iis factum est, aut dictum: plorare cogunt. – Quid ille Terentianus ipse se puniens? u.s.w.

Menedemus aber, so heißt der Selbstpeiniger bei dem Terenz, hält sich nicht allein so hart aus Betrübnis; sondern, warum er sich auch jeden geringen Aufwand verweigert, ist die Ursache und Absicht vornehmlich dieses: um desto mehr [638] für den abwesenden Sohn zu sparen, und dem einmal ein desto gemächlicheres Leben zu versichern, den er itzt gezwungen, ein so ungemächliches zu ergreifen. Was ist hierin, was nicht hundert Väter tun würden? Meint aber Diderot, daß das Eigene und Seltsame darin bestehe, daß Menedemus selbst hackt, selbst gräbt, selbst ackert: so hat er wohl in der Eil mehr an unsere neuere, als an die alten Sitten gedacht. Ein reicher Vater itziger Zeit, würde das freilich nicht so leicht tun: denn die wenigsten würden es zu tun verstehen. Aber die wohlhabensten, vornehmsten Römer und Griechen waren mit allen ländlichen Arbeiten bekannter, und schämten sich nicht, selbst Hand anzulegen.

Doch alles sei, vollkommen wie es Diderot sagt! Der Charakter des Selbstpeinigers sei wegen des allzu Eigentümlichen, wegen dieser ihm fast nur allein zukommenden Falte, zu einem komischen Charakter so ungeschickt, als er nur will. Wäre Diderot nicht in eben den Fehler gefallen? Denn was kann eigentümlicher sein, als der Charakter seines Dorval? Welcher Charakter kann mehr eine Falte haben, die ihm nur allein zukömmt, als der Charakter dieses natürlichen Sohnes? »Gleich nach meiner Geburt, läßt er ihn von sich selbst sagen, ward ich an einen Ort verschleidert, der die Grenze zwischen Einöde und Gesellschaft heißen kann; und als ich die Augen auftat, mich nach den Banden umzusehen, die mich mit den Menschen verknüpften, konnte ich kaum einige Trümmer davon erblicken. Dreißig Jahre lang irrte ich unter ihnen einsam, unbekannt und verabsäumet umher, ohne die Zärtlichkeit irgend eines Menschen empfunden, noch irgend einen Menschen angetroffen zu haben, der die meinige gesucht hätte.« Daß ein natürliches Kind sich vergebens nach seinen Ältern, vergebens nach Personen umsehen kann, mit welchen es die nähern Bande des Bluts verknüpfen: das ist sehr begreiflich; das kann unter zehnen neunen begegnen. Aber daß es ganze dreißig Jahre in der Welt herum irren könne, ohne die Zärtlichkeit irgend eines Menschen empfunden zu haben, ohne irgend einen Menschen angetroffen zu haben, der die seinige gesucht hätte: das, sollte ich fast sagen, ist schlechterdings unmöglich. Oder, wenn es [639] möglich wäre, welche Menge ganz besonderer Umstände müßten von beiden Seiten, von Seiten der Welt und von Seiten dieses so lange insulierten Wesens, zusammen gekommen sein, diese traurige Möglichkeit wirklich zu machen? Jahrhunderte auf Jahrhunderte werden verfließen, ehe sie wieder einmal wirklich wird. Wolle der Himmel nicht, daß ich mir je das menschliche Geschlecht anders vorstelle! Lieber wünschte ich sonst, ein Bär geboren zu sein, als ein Mensch. Nein, kein Mensch kann unter Menschen so lange verlassen sein! Man schleidere ihn hin, wohin man will: wenn er noch unter Menschen fällt, so fällt er unter Wesen, die, ehe er sich umgesehen, wo er ist, auf allen Seiten bereit stehen, sich an ihn anzuketten. Sind es nicht vornehme, so sind es geringe! Sind es nicht glückliche, so sind es unglückliche Menschen! Menschen sind es doch immer. So wie ein Tropfen nur die Fläche des Wassers berühren darf, um von ihm aufgenommen zu werden und ganz in ihm zu verfließen: das Wasser heiße, wie es will, Lache oder Quelle, Strom oder See, Belt oder Ozean.

Gleichwohl soll diese dreißigjährige Einsamkeit unter den Menschen, den Charakter des Dorval gebildet haben. Welcher Charakter kann ihm nun ähnlich sehen? Wer kann sich in ihm erkennen? nur zum kleinsten Teil in ihm erkennen?

Eine Ausflucht, finde ich doch, hat sich Diderot auszusparen gesucht. Er sagt in dem Verfolge der angezogenen Stelle: »In der ernsthaften Gattung werden die Charaktere oft eben so allgemein sein, als in der komischen Gattung; sie werden aber allezeit weniger individuell sein, als in der Tragischen.« Er würde sonach antworten: Der Charakter des Dorval ist kein komischer Charakter; er ist ein Charakter, wie ihn das ernsthafte Schauspiel erfodert; wie dieses den Raum zwischen Komödie und Tragödie füllen soll, so müssen auch die Charaktere desselben das Mittel zwischen den komischen und tragischen Charakteren halten; sie brauchen nicht so allgemein zu sein als jene, wenn sie nur nicht so völlig individuell sind, als diese; und solcher Art dürfte doch wohl der Charakter des Dorval sein.

[640] Also wären wir glücklich wieder an dem Punkte, von welchem wir ausgingen. Wir wollten untersuchen, ob es wahr sei, daß die Tragödie Individua, die Komödie aber Arten habe: das ist, ob es wahr sei, daß die Personen der Komödie eine große Anzahl von Menschen fassen und zugleich vorstellen müßten; da hingegen der Held der Tragödie nur der und der Mensch, nur Regulus, oder Brutus, oder Cato sei, und sein solle. Ist es wahr, so hat auch das, was Diderot von den Personen der mittlern Gattung sagt, die er die ernsthafte Komödie nennt, keine Schwierigkeit, und der Charakter seines Dorval wäre so tadelhaft nicht. Ist es aber nicht wahr, so fällt auch dieses von selbst weg, und dem Charakter des natürlichen Sohnes kann aus einer so ungegründeten Einteilung keine Rechtfertigung zufließen.

Neun und achtzigstes Stück

Den 8ten März, 1768


Zuerst muß ich anmerken, daß Diderot seine Assertion ohne allen Beweis gelassen hat. Er muß sie für eine Wahrheit angesehen haben, die kein Mensch in Zweifel ziehen werde, noch könne; die man nur denken dürfe, um ihren Grund zugleich mit zu denken. Und sollte er den wohl gar in den wahren Namen der tragischen Personen gefunden haben? Weil diese Achilles, und Alexander, und Cato und Augustus heißen, und Achilles, Alexander, Cato, Augustus, wirkliche einzelne Personen gewesen sind: sollte er wohl daraus geschlossen haben, daß sonach alles, was der Dichter in der Tragödie sie sprechen und handeln läßt, auch nur diesen einzeln so genannten Personen, und keinem in der Welt zugleich mit, müsse zukommen können? Fast scheint es so.

Aber diesen Irrtum hatte Aristoteles schon vor zwei tausend Jahren widerlegt, und auf die ihr entgegen stehende Wahrheit den wesentlichen Unterschied zwischen der Geschichte und Poesie, so wie den größern Nutzen der letztern vor der erstern, gegründet. Auch hat er es auf eine so einleuchtende Art getan, daß ich nur seine Worte anführen [641] darf, um keine geringe Verwunderung zu erwecken, wie in einer so offenbaren Sache ein Diderot nicht gleicher Meinung mit ihm sein könne.

»Aus diesen also,« sagt Aristoteles, 143 nachdem er die wesentlichen Eigenschaften der poetischen Fabel festgesetzt, »aus diesen also erhellet klar, daß des Dichters Werk nicht ist, zu erzählen, was geschehen, sondern zu erzählen, von welcher Beschaffenheit das Geschehene, und was nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit dabei möglich gewesen. Denn Geschichtschreiber und Dichter unterscheiden sich nicht durch die gebundene oder ungebundene Rede: indem man die Bücher des Herodotus in gebundene Rede bringen kann, und sie darum doch nichts weniger in gebundener Rede eine Geschichte sein werden, als sie es in ungebundener waren. Sondern darin unterscheiden sie sich, daß jener erzählet, was geschehen; dieser aber, von welcher Beschaffenheit das Geschehene gewesen. Daher ist denn auch die Poesie philosophischer und nützlicher als die Geschichte. Denn die Poesie geht mehr auf das Allgemeine, und die Geschichte auf das Besondere. Das Allgemeine aber ist, wie so oder so ein Mann nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit sprechen und handeln würde; als worauf die Dichtkunst bei Erteilung der Namen sieht. Das Besondere hingegen ist, was Alcibiades getan, oder gelitten hat. Bei der Komödie nun hat sich dieses schon ganz offenbar gezeigt; denn wenn die Fabel nach der Wahrscheinlichkeit abgefaßt ist, legt man die etwanigen Namen sonach bei, und macht es nicht wie die Jambischen Dichter, die bei dem Einzeln bleiben. Bei der Tragödie aber hält man sich an die schon vorhandenen Namen; aus Ursache, weil das Mögliche glaubwürdig ist, und wir nicht möglich glauben, was nie geschehen, da hingegen was geschehen, offenbar möglich sein muß, weil es nicht geschehen wäre, wenn es nicht möglich wäre. Und doch sind auch in den Tragödien, in einigen nur ein oder zwei bekannte Namen, und die übrigen sind erdichtet; in einigen auch gar keiner, so wie in derBlume des Agathon. Denn in [642] diesem Stücke sind Handlungen und Namen gleich erdichtet, und doch gefällt es darum nichts weniger.«

In dieser Stelle, die ich nach meiner eigenen Übersetzung anführe, mit welcher ich so genau bei den Worten geblieben bin, als möglich, sind verschiedene Dinge, welche von den Auslegern, die ich noch zu Rate ziehen können, entweder gar nicht oder falsch verstanden worden. Was davon hier zur Sache gehört, muß ich mitnehmen.

Das ist unwidersprechlich, daß Aristoteles schlechterdings keinen Unterschied zwischen den Personen der Tragödie und Komödie, in Ansehung ihrer Allgemeinheit, macht. Die einen sowohl als die andern, und selbst die Personen der Epopee nicht ausgeschlossen, alle Personen der poetischen Nachahmung ohne Unterschied, sollen sprechen und handeln, nicht wie es ihnen einzig und allein zukommen könnte, sondern so wie ein jeder von ihrer Beschaffenheit in den nämlichen Umständen sprechen oder handeln würde und müßte. In diesem καϑολου, in dieser Allgemeinheit liegt allein der Grund, warum die Poesie philosophischer und folglich lehrreicher ist, als die Geschichte; und wenn es wahr ist, daß derjenige komische Dichter, welcher seinen Personen so eigene Physiognomien geben wollte, daß ihnen nur ein einziges Individuum in der Welt ähnlich wäre, die Komödie, wie Diderot sagt, wiederum in ihre Kindheit zurücksetzen und in Satyre verkehren würde: so ist es auch eben so wahr, daß derjenige tragische Dichter, welcher nur den und den Menschen, nur den Cäsar, nur den Cato, nach allen den Eigentümlichkeiten, die wir von ihnen wissen, vorstellen wollte, ohne zugleich zu zeigen, wie alle diese Eigentümlichkeiten mit dem Charakter des Cäsar und Cato zusammen gehangen, der ihnen mit mehrern kann gemein sein, daß, sage ich, dieser die Tragödie entkräften und zur Geschichte erniedrigen würde.

Aber Aristoteles sagt auch, daß die Poesie auf dieses Allgemeine der Personen mit den Namen, die sie ihnen erteile, ziele, (όυ σοχαζεται ή ποιησις ονοματα επιτιϑεμενη;) welches sich besonders bei der Komödie deutlich gezeigt habe. Und dieses ist es, was die Ausleger dem Aristoteles nach zu sagen sich begnügt, im geringsten aber nicht erläutert haben. Wohl [643] aber haben verschiedene sich so darüber ausgedrückt, daß man klar sieht, sie müssen entweder nichts, oder etwas ganz falsches dabei gedacht haben. Die Frage ist: wie sieht die Poesie, wenn sie ihren Personen Namen erteilt, auf das Allgemeine dieser Personen? und wie ist diese ihre Rücksicht auf das Allgemeine der Person, besonders bei der Komödie, schon längst sichtbar gewesen?

Die Worte: εσι δε καϑολου μεν, τω ποιω τα ποι' αττα συμβαινει λεγειν, η πραττειν κατα το εικος, η το αναγκαιον, όυ σοχαζεται ή ποιησις ονοματα επιτιϑεμενη, übersetzt Dacier: une chose generale, c'est ce que tout homme d'un tel ou d'un tel caractere, a dû dire, ou faire vraisemblablement ou necessairement, ce qui est le but de la Poesie lors même, qu'elle impose les noms à ses personnages. Vollkommen so übersetzt sie auch Herr Curtius: »Das Allgemeine ist, was einer, vermöge eines gewissen Charakters, nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit redet oder tut. Diese Allgemeine ist der Endzweck der Dichtkunst, auch wenn sie den Personen besondere Namen beilegt.« Auch in ihrer Anmerkung über diese Worte, stehen beide für einen Mann; der eine sagt vollkommen eben das, was der andere sagt. Sie erklären beide, was das Allgemeine ist; sie sagen beide, daß dieses Allgemeine die Absicht der Poesie sei: aber wie die Poesie bei Erteilung der Namen auf dieses Allgemeine sieht, davon sagt keiner ein Wort. Vielmehr zeigt der Franzose durch sein lors même, so wie der Deutsche durch sein auch wenn, offenbar, daß sie nichts davon zu sagen gewußt, ja daß sie gar nicht einmal verstanden, was Aristoteles sagen wollen. Denn dieses lors même, dieses auch wenn, heißt bei ihnen nichts mehr als ob schon; und sie lassen den Aristoteles sonach bloß sagen, daß ungeachtet die Poesie ihren Personen Namen von einzeln Personen beilege, sie dem ohngeachtet nicht auf das Einzelne dieser Personen, sondern auf das Allgemeine derselben gehe. Die Worte des Dacier, die ich in der Note anführen will, 144 zeigen dieses [644] deutlich. Nun ist es wahr, daß dieses eigentlich keinen falschen Sinn macht; aber es erschöpft doch auch den Sinn des Aristoteles hier nicht. Nicht genug, daß die Poesie, ungeachtet der von einzeln Personen genommenen Namen, auf das Allgemeine gehen kann: Aristoteles sagt, daß sie mit diesen Namen selbst auf das Allgemeine ziele, όυ σοχαζεται. Ich sollte doch wohl meinen, daß beides nicht einerlei wäre. Ist es aber nicht einerlei: so gerät man notwendig auf die Frage; wie zielt sie darauf? Und auf diese Frage antworten die Ausleger nichts.

Neunzigstes Stück

Den 11ten März, 1768


Wie sie darauf ziele, sagt Aristoteles, dieses habe sich schon längst an der Komödie deutlich gezeigt: Επι μεν ουν της κωμωδιας ηδη τουτο δηλον γεγονεν συσησαντες γαρ τον μυϑον δια των εικοτων, όυτω τα τυχοντα ονοματα επιτιϑεασι, και ουχ ώσπερ όι [645] ιαμβοποιοι περι των καϑ' έκασον ποιουσιν. Ich muß auch hiervon die Übersetzung des Dacier und Curtius anführen. Dacier sagt: C'est ce qui est déja rendu sensible dans la Comedie, car les Poetes comiques, après avoir dressé leur sujet sur la vraisemblance imposent après cela à leurs personnages tels noms qu'il leur plait, et n'imitent pas les Poetes satyriques, qui ne s'attachent qu'aux choses particulieres. Und Curtius: »In dem Lustspiele ist dieses schon lange sichtbar gewesen. Denn wenn die Komödienschreiber den Plan der Fabel nach der Wahrscheinlichkeit entworfen haben, legen sie den Personen willkürliche Namen bei, und setzen sich nicht, wie die jambischen Dichter, einen besondern Vorwurf zum Ziele.« Was findet man in diesen Übersetzungen von dem, was Aristoteles hier vornehmlich sagen will? Beide lassen ihn weiter nichts sagen, als daß die komischen Dichter es nicht machten wie die Jambischen, (das ist, satyrischen Dichter,) und sich an das Einzelne hielten, sondern auf das Allgemeine mit ihren Personen gingen, denen sie willkürliche Namen, tels noms qu'il leur plait, beilegten. Gesetzt nun auch, daß τα τυχοντα ονοματα dergleichen Namen bedeuten könnten: wo haben denn beide Übersetzer das όυτω gelassen? Schien ihnen denn dieses όυτω gar nichts zu sagen? Und doch sagt es hier alles: denn diesem όυτω zu Folge, legten die komischen Dichter ihren Personen nicht allein willkürliche Namen bei, sondern sie legten ihnen diese willkürlichen Namen so, όυτω, bei. Und wie so? So, daß sie mit diesen Namen selbst auf das Allgemeine zielten: όυ σοχαζεται ή ποιησις ονοματα επιτιϑεμενη. Und wie geschah das? Davon finde man mir ein Wort in den Anmerkungen des Dacier und Curtius!

Ohne weitere Umschweife: es geschah so, wie ich nun sagen will. Die Komödie gab ihren Personen Namen, welche, vermöge ihrer grammatischen Ableitung und Zusammensetzung, oder auch sonstigen Bedeutung, die Beschaffenheit dieser Personen ausdrückten: mit einem Worte, sie gaben ihnen redende Namen; Namen, die man nur hören durfte, um sogleich zu wissen, von welcher Art die sein würden, die sie führen. Ich will eine Stelle des Donatus hierüber anziehen.

[646]

Nomina personarum, sagt er bei Gelegenheit der ersten Zeile in dem ersten Aufzuge der Brüder, in comoediis duntaxat, habere debent rationem et etymologiam. Etenim absurdum est, comicum aperte argumentum cofingere: vel nomen personae incongruum dare vel officium quod sit a nomine diversum. 145 Hinc servus fidelis Parmeno: infidelis vel Syrus velGeta miles Thraso, vel Polemon: juvenis Pamphilus: matrona Myrrhina, et puer ab odore Storax: vel a ludo et a gesticulatione Circus: et item similia. In quibus summum Poetae vitium est, si quid e contrario repugnans contrarium diversumque protulerit, nisi per αντιφρασιν nomen imposuerit joculariter, ut Misargyrides in Plauto dicitur trapezita. Wer sich durch noch mehr Beispiele hiervon überzeugen will, der darf nur die Namen bei dem Plautus und Terenz untersuchen. Da ihre Stücke alle aus dem Griechischen genommen sind: so sind auch die Namen ihrer Personen griechischen Ursprungs, und haben, der Etymologie nach, immer eine Beziehung auf den Stand, auf die Denkungsart, oder auf sonst etwas, was diese Personen mit mehrern gemein haben können; wenn wir schon solche Etymologie nicht immer klar und sicher angeben können.

Ich will mich bei einer so bekannten Sache nicht verweilen aber wundern muß ich mich, wie die Ausleger des Aristoteles [647] sich ihrer gleichwohl da nicht erinnern können, wo Aristoteles so unwidersprechlich auf sie verweiset. Denn was kann nunmehr wahrer, was kann klärer sein, als was der Philosoph von der Rücksicht sagt, welche die Poesie bei Erteilung der Namen auf das Allgemeine nimmt? Was kann unleugbarer sein, als daß επι μεν της κωμωδιας ηδη τουτο δηλον γεγονεν, daß sich diese Rücksicht bei der Komödie besonders längst offenbar gezeigt habe? Von ihrem ersten Ursprunge an, das ist, sobald sie die Jambischen Dichter von dem Besondern zu dem Allgemeinen erhoben, sobald aus der beleidigenden Satyre die unterrichtende Komödie entstand: suchte man jenes Allgemeine durch die Namen selbst anzudeuten. Der großsprecherische feige Soldat hieß nicht wie dieser oder jener Anführer aus diesem oder jenem Stamme: er hieß Pyrgopolinices, Hauptmann Mauerbrecher. Der elende Schmaruzer, der diesem um das Maul ging, hieß nicht, wie ein gewisser armer Schlucker in der Stadt: er hieß Artotrogus, Brockenschröter. Der Jüngling, welcher durch seinen Aufwand, besonders auf Pferde, den Vater in Schulden setzte, hieß nicht, wie der Sohn dieses oder jenes edeln Bürgers: er hieß Phidippides, Junker Spaarroß.

Man könnte einwenden, daß dergleichen bedeutende Namen wohl nur eine Erfindung der neuern Griechischen Komödie sein dürften, deren Dichtern es ernstlich verboten war, sich wahrer Namen zu bedienen; daß aber Aristoteles diese neuere Komödie nicht gekannt habe, und folglich bei seinen Regeln keine Rücksicht auf sie nehmen können. Das Letztere behauptet Hurd; 146 aber es ist eben so falsch, als falsch es ist, [648] daß die ältere Griechische Komödie sich nur wahrer Namen bedient habe. Selbst in denjenigen Stücken, deren vornehmste, einzige Absicht es war, eine gewisse bekannte Person lächerlich und verhaßt zu machen, waren, außer dem wahren Namen dieser Person, die übrigen fast alle erdichtet, und mit Beziehung auf ihren Stand und Charakter erdichtet.

[649]
Ein und neunzigstes Stück

Den 15ten März, 1768


Ja die wahren Namen selbst, kann man sagen, gingen nicht selten mehr auf das Allgemeine, als auf das Einzelne. Unter dem Namen Sokrates wollte Aristophanes nicht den einzeln Sokrates, sondern alle Sophisten, die sich mit Erziehung junger Leute bemengten, lächerlich und verdächtig machen. Der gefährliche Sophist überhaupt war sein Gegenstand, und er nannte diesen nur Sokrates, weil Sokrates als ein solcher verschrien war. Daher eine Menge Züge, die auf den Sokrates gar nicht paßten; so daß Sokrates in dem Theater getrost aufstehen, und sich der Vergleichung Preis geben konnte! Aber wie sehr verkennt man das Wesen der Komödie, wenn man diese nicht treffende Züge für nichts als mutwillige Verleumdungen erklärt, und sie durchaus dafür nicht erkennen will, was sie doch sind, für Erweiterungen des einzeln Charakters, für Erhebungen des Persönlichen zum Allgemeinen!

Hier ließe sich von dem Gebrauche der wahren Namen in der Griechischen Komödie überhaupt verschiednes sagen, was von den Gelehrten so genau noch nicht aus einander gesetzt worden, als es wohl verdiente. Es ließe sich anmerken, daß dieser Gebrauch keineswegs in der ältern Griechischen Komödie allgemein gewesen, 147 daß sich nur der und jener Dichter gelegentlich desselben erkühnet, 148 daß er folglich [650] nicht als ein unterscheidendes Merkmal dieser Epoche der Komödie zu betrachten. 149 Es ließe sich zeigen, daß als er endlich durch ausdrückliche Gesetze untersagt war, doch noch immer gewisse Personen von dem Schutze dieser Gesetze entweder namentlich ausgeschlossen waren, oder doch stillschweigend für ausgeschlossen gehalten wurden. In den [651] Stücken des Menanders selbst, wurden noch Leute genug bei ihren wahren Namen genannt und lächerlich gemacht. 150 Doch ich muß mich nicht aus einer Ausschweifung in die andere verlieren.

Ich will nur noch die Anwendung auf die wahren Namen der Tragödie machen. So wie der Aristophanische Sokrates nicht den einzeln Mann dieses Namens vorstellte, noch vorstellen sollte; so wie dieses personifierte Ideal einer eiteln und gefährlichen Schulweisheit nur darum den Namen Sokrates bekam, weil Sokrates als ein solcher Täuscher und Verführer zum Teil bekannt war, zum Teil noch bekannter werden sollte; so wie bloß der Begriff von Stand und Charakter, den man mit dem Namen Sokrates verband und noch näher verbinden sollte, den Dichter in der Wahl des Namens bestimmte: so ist auch bloß der Begriff des Charakters, den wir mit den Namen Regulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt sind, die Ursache, warum der tragische Dichter seinen Personen diese Namen erteilet. Er führt einen Regulus, einen [652] Brutus auf, nicht um uns mit den wirklichen Begegnissen dieser Männer bekannt zu machen, nicht um das Gedächtnis derselben zu erneuern: sondern um uns mit solchen Begegnissen zu unterhalten, die Männern von ihrem Charakter überhaupt begegnen können und müssen. Nun ist zwar wahr, daß wir diesen ihren Charakter aus ihren wirklichen Begegnissen abstrahieret haben: es folgt aber doch daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter wieder auf ihre Begegnisse zurückführen müsse; er kann uns nicht selten weit kürzer, weit natürlicher auf ganz andere bringen, mit welchen jene wirkliche weiter nichts gemein haben, als daß sie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzuverfolgenden Umwegen und über Erdstriche hergeflossen sind, welche ihre Lauterheit verdorben haben. In diesem Falle wird der Poet jene erfundene den wirklichen schlechterdings vorziehen, aber den Personen noch immer die wahren Namen lassen. Und zwar aus einer doppelten Ursache: einmal, weil wir schon gewohnt sind, bei diesen Namen einen Charakter zu denken, wie er ihn in seiner Allgemeinheit zeiget; zweitens, weil wirklichen Namen auch wirkliche Begebenheiten anzuhängen scheinen, und alles, was einmal geschehen, glaubwürdiger ist, als was nicht geschehen. Die erste dieser Ursachen fließt aus der Verbindung der Aristotelischen Begriffe überhaupt; sie liegt zum Grunde, und Aristoteles hatte nicht nötig, sich umständlicher bei ihr zu verweilen; wohl aber bei der zweiten, als einer von anderwärts noch dazu kommenden Ursache. Doch diese liegt itzt außer meinem Wege, und die Ausleger insgesamt haben sie weniger mißverstanden als jene.

Nun also auf die Behauptung des Diderot zurück zu kommen. Wenn ich die Lehre des Aristoteles richtig erklärt zu haben, glauben darf: so darf ich auch glauben, durch meine Erklärung bewiesen zu haben, daß die Sache selbst unmöglich anders sein kann, als sie Aristoteles lehret. Die Charaktere der Tragödie müssen eben so allgemein sein, als die Charaktere der Komödie. Der Unterschied, den Diderot behauptet, ist falsch: oder Diderot muß unter der Allgemeinheit eines Charakters ganz etwas anders verstehen, als Aristoteles darunter verstand.

[653]
Zwei und neunzigstes Stück

Den 18ten März, 1768


Und warum könnte das Letztere nicht sein? Finde ich doch noch einen andern, nicht minder trefflichen Kunstrichter, der sich fast eben so ausdrückt als Diderot, fast eben so gerade zu dem Aristoteles zu widersprechen scheint, und gleichwohl im Grunde so wenig widerspricht, daß ich ihn vielmehr unter allen Kunstrichtern für denjenigen erkennen muß, der noch das meiste Licht über diese Materie verbreitet hat.

Es ist dieses der englische Kommentator der Horazischen Dichtkunst, Hurd: ein Schriftsteller aus derjenigen Klasse, die durch Übersetzungen bei uns immer am spätesten bekannt werden. Ich möchte ihn aber hier nicht gern anpreisen, um diese seine Bekanntmachung zu beschleunigen. Wenn der Deutsche, der ihr gewachsen wäre, sich noch nicht gefunden hat: so dürften vielleicht auch der Leser unter uns noch nicht viele sein, denen daran gelegen wäre. Der fleißige Mann, voll guten Willens, übereile sich also lieber damit nicht, und sehe, was ich von einem noch unübersetzten gutem Buche hier sage, ja für keinen Wink an, den ich seiner allezeit fertigen Feder geben wollen.

Hurd hat seinem Kommentar eine Abhandlung,über die verschiednen Gebiete des Drama, beigefügt. Denn er glaubte bemerkt zu haben, daß bisher nur die allgemeinen Gesetze dieser Dichtungsart in Erwägung gezogen worden, ohne die Grenzen der verschiednen Gattungen derselben festzusetzen. Gleichwohl müsse auch dieses geschehen, um von dem eigenen Verdienste einer jeden Gattung insbesondere ein billiges Urteil zu fällen. Nachdem er also die Absicht des Drama überhaupt, und der drei Gattungen desselben, die er vor sich findet, der Tragödie, der Komödie und des Possenspiels, insbesondere festgesetzt: so folgert er, aus jener allgemeinen und aus diesen besondern Absichten, sowohl diejenigen Eigenschaften, welche sie unter sich gemein haben, als diejenigen, in welchen sie von einander unterschieden sein müssen.

Unter die letztern rechnet er, in Ansehung der Komödie [654] und Tragödie, auch diese, daß der Tragödie eine wahre, der Komödie hingegen eine erdichtete Begebenheit zuträglicher sei. Hierauf fährt er fort: The same genius in the two dramas is observable, in their draught of characters. Comedy makes all its characters general; Tragedy particular. The ›Avare‹ of Moliere is not so properly the picture of a covetous man, as of covetousness itself. Racine's ›Nero‹ on the other hand, is not a picture of cruelty, but of a cruel man. D. i. »In dem nämlichen Geiste schildern die zwei Gattungen des Drama auch ihre Charaktere. Die Komödie macht alle ihre Charaktere general; die Tragödie partikular. Der Geizige des Moliere ist nicht so eigentlich das Gemälde eines geizigen Mannes, als des Geizes selbst. Racines ›Nero‹ hingegen ist nicht das Gemälde der Grausamkeit, sondern nur einesgrausamen Mannes.«

Hurd scheinet so zu schließen: wenn die Tragödie eine wahre Begebenheit erfodert, so müssen auch ihre Charaktere wahr, das ist, so beschaffen sein, wie sie wirklich in den Individuis existieren; wenn hingegen die Komödie sich mit erdichteten Begebenheiten begnügen kann, wenn ihr wahrscheinliche Begebenheiten, in welchen sich die Charaktere nach allen ihrem Umfange zeigen können, lieber sind, als wahre, die ihnen einen so weiten Spielraum nicht erlauben, so dürfen und müssen auch ihre Charaktere selbst allgemeiner sein, als sie in der Natur existieren; angesehen dem Allgemeinen selbst, in unserer Einbildungskraft eine Art von Existenz zukömmt, die sich gegen die wirkliche Existenz des Einzeln eben wie das Wahrscheinliche zu dem Wahren verhält.

Ich will itzt nicht untersuchen, ob diese Art zu schließen nicht ein bloßer Zirkel ist: ich will die Schlußfolge bloß annehmen, so wie sie da liegt, und wie sie der Lehre des Aristoteles schnurstracks zu widersprechen scheint. Doch, wie gesagt, sie scheint es bloß, welches aus der weitern Erklärung des Hurd erhellet.

Es wird aber, fährt er fort, hier dienlich sein, einerdoppelten Verstoßung vorzubauen, welche der eben angeführte Grundsatz zu begünstigen scheinen könnte.

[655] Die erste betrifft die Tragödie, von der ich gesagt habe, daß sie partikuläre Charaktere zeige. Ich meine, ihre Charaktere sind partikulärer, als die Charaktere der Komödie. Das ist: die Absicht der Tragödie verlangt es nicht und erlaubt es nicht, daß der Dichter von den charakteristischen Umständen, durch welche sich die Sitten schildern, so viele zusammen zieht, als die Komödie. Denn in jener wird von dem Charakter nicht mehr gezeigt, als so viel der Verlauf der Handlung unumgänglich erfodert. In dieser hingegen werden alle Züge, durch die er sich zu unterscheiden pflegt, mit Fleiß aufgesucht und angebracht.

Es ist fast, wie mit dem Portraitmalen. Wenn ein großer Meister ein einzelnes Gesicht abmalen soll, so gibt er ihm alle die Lineamente, die er in ihm findet, und macht es Gesichtern von der nämlichen Art nur so weit ähnlich, als es ohne Verletzung des allergeringsten eigentümlichen Zuges geschehen kann. Soll eben derselbe Künstler hingegen einen Kopf überhaupt malen, so wird er alle die gewöhnlichen Mienen und Züge zusammen anzubringen suchen, von denen er in der gesammten Gattung bemerkt hat, daß sie die Idee am kräftigsten ausdrücken, die er sich itzt in Gedanken gemacht hat, und in seinem Gemälde darstellen will.

Eben so unterscheiden sich die Schildereien der beiden Gattungen des Drama: woraus denn erhellet, daß, wenn ich den tragischen Charakter partikular nenne, ich bloß sagen will, daß er die Art, zu welcher er gehöret, weniger vorstellig macht, als der komische; nicht aber, daß das, was man von dem Charakter zu zeigen für gut befindet, es mag nun so wenig sein, als es will, nicht nach dem Allgemeinen entworfen sein sollte, als wovon ich das Gegenteil anderwärts behauptet und umständlich erläutert habe. 151 [656] Was zweitens die Komödie anbelangt, so habe ich gesagt, daß sie generale Charaktere geben müsse, und habe zum Beispiele den ›Geizigen‹ des Moliere angeführt, der mehr der Idee des Geizes, als eines wirklichen geizigen Mannes entspricht. Doch auch hier muß man meine Worte nicht in aller ihrer Strenge nehmen. Moliere dünkt mich in diesem Beispiele selbst fehlerhaft; ob es schon sonst, mit der erforderlichen Erklärung, nicht ganz unschicklich sein wird, meine Meinung begreiflich zu machen.

Da die komische Bühne die Absicht hat, Charaktere zu schildern, so meine ich kann diese Absicht am vollkommensten erreicht werden, wenn sie diese Charaktere so allgemein macht, als möglich. Denn indem auf diese Weise die in dem Stücke aufgeführte Person gleichsam der Repräsentant aller Charaktere dieser Art wird, so kann unsere Lust an der Wahrheit der Vorstellung so viel Nahrung darin finden, als nur möglich. Es muß aber sodann diese Allgemeinheit sich nicht bis auf unsern Begriff von den möglichen Wirkungen des Charakters, im Abstracto betrachtet, erstrecken, sondern nur bis auf die wirkliche Äußerung seiner Kräfte, so wie sie von der Erfahrung gerechtfertiget werden, und im gemeinen Leben Statt finden können. Hierin haben Moliere, und vor ihm Plautus, gefehlt; statt der Abbildung eines geizigen Mannes, haben sie uns eine grillenhafte widrige Schilderung der Leidenschaft des Geizes gegeben. Ich nenne es eine grillenhafte Schilderung, weil sie kein Urbild in der Natur hat. Ich nenne es eine widrige Schilderung; denn da es die Schilderung einer einfachen unvermischten Leidenschaft ist, so fehlen ihr alle die Lichter und Schatten, deren richtige Verbindung allein ihr Kraft und Leben erteilen könnte. Diese Lichter und Schatten sind die Vermischung verschiedener Leidenschaften, welche mit der vornehmsten oder herrschenden Leidenschaft zusammen den menschlichen Charakter ausmachen; und diese Vermischung muß sich in jedem dramatischen Gemälde von Sitten finden, weil es zugestanden ist, daß das Drama vornehmlich das wirkliche Leben abbilden soll. Doch aber muß die Zeichnung der herrschenden Leidenschaft so allgemein entworfen sein, als es ihr Streit mit [657] den andern in der Natur nur immer zulassen will, damit der vorzustellende Charakter sich desto kräftiger ausdrücke.

Drei und neunzigstes Stück

Den 22sten März, 1768


Alles dieses läßt sich abermals aus der Malerei sehr wohl erläutern. In charakteristischen Porträten, wie wir diejenigen nennen können, welche eine Abbildung der Sitten geben sollen, wird der Artist, wenn er ein Mann von wirklicher Fähigkeit ist, nicht auf die Möglichkeit einer abstrakten Idee losarbeiten. Alles was er sich vornimmt zu zeigen, wird dieses sein, daß irgend eine Eigenschaft die herrschende ist; diese drückt er stark, und durch solche Zeichen aus, als sich in den Wirkungen der herrschenden Leidenschaft am sichtbarsten äußern. Und wenn er dieses getan hat, so dürfen wir, nach der gemeinen Art zu reden, oder, wenn man will, als ein Kompliment gegen seine Kunst gar wohl von einem solchen Portraite sagen, daß es uns nicht sowohl den Menschen, als die Leidenschaft zeige; gerade so, wie die Alten von der berühmten Bildsäule des Apollodorus vom Silanion angemerkt haben, daß sie nicht sowohl den zornigen Apollodorus, als die Leidenschaft des Zornes vorstelle. 152 Dieses aber muß bloß so verstanden werden, daß er die hauptsächlichen Züge der vorgebildeten Leidenschaft gut ausgedrückt habe. Denn im übrigen behandelt er seinen Vorwurf eben so, wie er jeden andern behandeln würde: das ist, er vergißt die mitverbundenen Eigenschaften nicht, und nimmt das allgemeine Ebenmaß und Verhältnis, welches man an einer menschlichen Figur erwartet, in Acht. Und das heißt denn die Natur schildern, welche uns kein Beispiel von einem Menschen gibt, der ganz und gar in eine einzige Leidenschaft verwandelt wäre. Keine Metamorphosis könnte seltsamer und unglaublicher sein. Gleichwohl sind Portraite, in diesem tadelhaften Geschmacke verfertiget, die Bewunderung gemeiner [658] Gaffer, die, wenn sie in einer Sammlung das Gemälde, z. E. eines Geizigen, (denn ein gewöhnlicheres gibt es wohl in dieser Gattung nicht,) erblicken, und nach dieser Idee jede Muskel, jeden Zug angestrenget, verzerret und überladen finden, sicherlich nicht ermangeln, ihre Billigung und Bewunderung darüber zu äußern. – Nach diesem Begriffe der Vortrefflichkeit würde Le Bruns Buch von den Leidenschaften, eine Folge der besten und richtigsten moralischen Portraite enthalten: und die Charaktere des Theophrasts müßten, in Absicht auf das Drama, den Charakteren des Terenz weit vorzuziehen sein.

Über das erstere dieser Urteile, würde jeder Virtuose in den bildenden Künsten unstreitig lachen. Das letztere aber, fürchte ich, dürften wohl nicht alle so seltsam finden; wenigstens, nach der Praxis verschiedener unserer besten komischen Schriftsteller und nach dem Beifalle zu urteilen, welchen dergleichen Stücke gemeiniglich gefunden haben. Es ließen sich leicht fast aus allen charakteristischen Komödien Beispiele anführen. Wer aber die Ungereimtheit dramatische Sitten nach abstrakten Ideen auszuführen, in ihrem völligen Lichte sehen will, der darf nur B. Jonsons Jedermann aus seinem Humor 153 vor sich nehmen; welches ein charakteristisches [659] Stück sein soll, in der Tat aber nichts als eine unnatürliche, und wie es die Maler nenen würden, harte Schilderung einer Gruppe von für siel, bestehenden Leidenschaften ist, wovon man das Urbild in dem wirklichen Leben nirgends findet. Dennoch hat diese Komödie immer ihre Bewunderer gehabt; und besonders muß Randolph von ihrer Einrichtung sehr bezaubert gewesen sein, weil er sie in seinem Spiegel der Muse ausdrücklich nachgeahmet zu haben scheint.

Auch hierin, müssen wir anmerken, ist Shakespeare, so wie in allen andern noch wesentlichern Schönheiten des Drama, ein vollkommenes Muster. Wer seine Komödien in dieser Absicht aufmerksam durchlesen will, wird finden, daß seine auch noch so kräftig gezeichneten Charaktere, den größten Teil ihrer Rollen durch, sich vollkommen wie alle andere ausdrücken, und ihre wesentlichen und herrschenden[660] Eigenschaften nur gelegentlich, so wie die Umstände eine ungezwungene Äußerung veranlassen, an den Tag legen. Diese besondere Vortrefflichkeit seiner Komödien entstand daher, daß er die Natur getreulich kopierte, und sein reges und feuriges Genie auf alles aufmerksam war, was ihm in dem Verlaufe der Szenen dienliches aufstoßen konnte: da hingegen Nachahmung und geringere Fähigkeiten kleine Skribenten verleiten, sich um die Fertigkeit zu beeifern, diesen einen Zweck keinen Augenblick aus dem Gesichte zu lassen, und mit der ängstlichen Sorgfalt ihre Lieblingscharaktere in beständigem Spiele und ununterbrochner Tätigkeit zu erhalten. Man könnte über diese ungeschickte Anstrengung ihres Witzes sagen, daß sie mit den Personen ihres Stücks nicht anders umgehen, als gewisse spaßhafte Leute mit ihren Bekannten, denen sie mit ihren Höflichkeiten so zusetzen, daß sie [661] ihren Anteil an der allgemeinen Unterhaltung gar nicht nehmen können, sondern nur immer, zum Vergnügen der Gesellschaft, Sprünge und Männchen machen müssen.

Vier und neunzigstes Stück

Den 25sten März, 1768


Und so viel von der Allgemeinheit der komischen Charaktere, und den Grenzen dieser Allgemeinheit, nach der Idee des Hurd! – Doch es wird nötig sein, noch erst die zweite Stelle beizubringen, wo er erklärt zu haben versichert, in wie weit auch den tragischen Charakteren, ob sie schon nur partikular wären, dennoch eine Allgemeinheit zukomme: ehe wir den Schluß überhaupt machen können, ob und wie Hurd mit Diderot, und beide mit dem Aristoteles übereinstimmen.

»Wahrheit, sagt er, heißt in der Poesie ein solcher Ausdruck, als der allgemeinen Natur der Dinge gemäß ist; Falschheit hingegen ein solcher, als sich zwar zu dem vorhabenden besondern Falle schicket, aber nicht mit jener allgemeinen Natur übereinstimmet. Diese Wahrheit des Ausdurcks in der dramatischen Poesie zu erreichen, empfiehlet Horaz 154 zwei Dinge: einmal, die Sokratische Philosophie fleißig zu studieren; zweitens, sich um eine genaue Kenntnis des menschlichen Lebens zu bewerben. Jenes, weil es der eigentümliche Vorzug dieser Schule ist, ad veritatem vitae propius accedere; 155 dieses, um unserer Nachahmung eine desto allgemeinere Ähnlichkeit erteilen zu können. Sich hiervon zu überzeugen, darf man nur erwägen, daß man sich in Werken der Nachahmung an die Wahrheit zu genau halten kann; und dieses auf doppelte Weise. Denn entweder kann der Künstler, wenn er die Natur nachbilden will, sich zu ängstlich befleißigen, alle und jede Besonderheiten seines Gegenstandes anzudeuten, und so die allgemeine Idee der [662] Gattung auszudrücken verfehlen. Oder er kann, wenn er sich diese allgemeine Idee zu erteilen bemüht, sie aus zu vielen Fällen des wirklichen Lebens, nach seinem weitesten Umfange, zusammen setzen; da er sie vielmehr von dem lautern Begriffe, der sich bloß in der Vorstellung der Seele findet, hernehmen sollte. Dieses letztere ist der allgemeine Tadel, womit die Schule der Niederländischen Maler zu belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirklichen Natur, und nicht, wie die Italienische, von dem geistigen Ideale der Schönheit entlehnet. 156 Jenes aber entspricht einem andern Fehler, den man gleichfalls den Niederländischen Meistern vorwirft, und der dieser ist, daß sie lieber die besondere, seltsame und groteske, als die allgemeine und reizende Natur, sich zum Vorbilde wählen.

Wir sehen also, daß der Dichter, indem er sich von der eigenen und besondern Wahrheit entfernet, desto getreuer die allgemeine Wahrheit nachahmet. Und hieraus ergibt sich die Antwort auf jenen spitzfindigen Einwurf, den Plato gegen die Poesie ausgegrübelt hatte, und nicht ohne Selbstzufriedenheit vorzutragen schien. Nämlich, daß die poetische Nachahmung uns die Wahrheit nur sehr von weitem zeigen könne.Denn, der poetische Ausdruck, sagt der Philosoph,ist das Abbild von des Dichters eigenen Begriffen; die Begriffe des Dichters sind das Abbild der Dinge; und die Dinge das Abbild des Urbildes, welches in dem göttlichen Verstande existieret. Folglich ist der Ausdruck des Dichters nur das Bild von dem Bilde eines Bildes, und liefert uns ursprüngliche Wahrheit nur gleichsam aus der dritten Hand 157. Aber alle diese Vernünftelei fällt weg, sobald man die nur gedachte Regel des Dichters gehörig fasset, und fleißig in Ausübung bringet. Denn indem der Dichter von den Wesen alles absondert, was allein das Individuum angehet und unterscheidet, [663] überspringet sein Begriff gleichsam alle die zwischen inne liegenden besondern Gegenstände, und erhebt sich, so viel möglich, zu dem göttlichen Urbilde, um so das unmittelbare Nachbild der Wahrheit zu werden. Hieraus lernt man denn auch einsehen, was und wie viel jenes ungewöhnliche Lob, welches der große Kunstrichter der Dichtkunst erteilet, sagen wolle; daß sie, gegen die Geschichte genommen, das ernstere und philosophischere Studium sei: φιλοσοφωτερον και σπουδαιοτερον ποιησις ίσοριας εσιν. Die Ursache, welche gleich darauf folgt, ist nur gleichfalls sehr begreiflich: ή μεν γαρ ποιησις μαλλον τα καϑολου, ή δ' ίσορια τα καϑ' έκασον λεγει. 158 Ferner wird hieraus ein wesentlicher Unterschied deutlich, der sich, wie man sagt, zwischen den zwei großen Nebenbuhlern der Griechischen Bühne soll befunden haben. Wenn man dem Sophokles vorwarf, daß es seinen Charakteren an Wahrheit fehle, so pflegte er sich damit zu verantworten, daß er die Menschen so schildere, wie sei sein sollten, Euripides aber so, wie sie wären. Σοφοκλης εφη, αυτος μεν όιους δει ποιειν Ευριπιδην δε όιοι εισι. 159 Der Sinn hiervon ist dieser: Sophokles hatte, durch seinen ausgebreitetern Umgang mit Menschen, die eingeschränkte enge Vorstellung, welche aus der Betrachtung einzelner Charaktere entsteht, in einen vollständigen Begriff des Geschlechts erweitert; der philosophische Euripides hingegen, der seine meiste Zeit in der Akademie zugebracht hatte, und von da aus das Leben übersehen wollte, hielt seinen Blick zu sehr auf das Einzelne, auf wirklich existierende Personen geheftet, versenkte das Geschlecht in das Individuum, und malte folglich, den vorhabenden Gegenständen nach, seine Charaktere zwar natürlich und wahr, aber auch dann und wann ohne die höhere allgemeine Ähnlichkeit, die zur Vollendung der poetischen Wahrheit erfodert wird. 160 [664] Ein Einwurf stößt gleichwohl hier auf, den wir nicht unangezeigt lassen müssen. Man könnte sagen, ›daß philosophische Spekulationen die Begriffe eines Menschen eherabstrakt und allgemein machen, als sie auf das Individuelle einschränken müßten. Das letztere sei ein Mangel, welcher aus der kleinen Anzahl von Gegenständen entspringe, die den Menschen zu betrachten vorkommen; und diesem Mangel sei nicht allein dadurch abzuhelfen, daß man sich mit mehrern Individuis bekannt mache, als worin die Kenntnis der Welt bestehe; sondern auch dadurch, daß man über die allgemeine Natur der Menschen nachdenke, so wie sie in guten moralischen Büchern gelehrt werde. Denn die Verfasser solcher Bücher hätten ihren allgemeinen Begriff von der menschlichen Natur nicht anders als aus einer ausgebreiteten Erfahrung (es sei nun ihrer eignen, oder fremden) haben können, ohne welche ihre Bücher sonst von keinem Werte sein würden.‹ Die Antwort hierauf, dünkt mich, ist diese. Durch Erwägung der allgemeinen Natur des Menschen lernet der Philosoph, wie die Handlung beschaffen sein muß, die aus dem Übergewichte gewisser Neigungen und Eigenschaften entspringet: das ist, er lernet das Betragen überhaupt, welches der beigelegte Charakter erfodert. Aber deutlich und zuverlässig zu wissen, wie weit und in welchem [665] Grade von Stärke sich dieser oder jener Charakter, bei besondern Gelegenheiten, wahrscheinlicher Weise äußern würde, das ist einzig und allein eine Frucht von unserer Kenntnis der Welt. Daß Beispiele von dem Mangel dieser Kenntnis, bei einem Dichter, wie Euripides war, sehr häufig sollten gewesen sein, läßt sich nicht wohl annehmen: auch werden, wo sich dergleichen in seinen übrig gebliebenen Stücken etwa finden sollten, sie schwerlich so offenbar sein, daß sie auch einem gemeinen Leser in die Augen fallen müßten. Es können nur Feinheiten sein, die allein der wahre Kunstrichter zu unterscheiden vermögend ist; und auch diesem kann, in einer solchen Entfernung von Zeit, aus Unwissenheit der griechischen Sitten, wohl etwas als ein Fehler vorkommen, was im Grunde eine Schönheit ist. Es würde also ein sehr gefährliches Unternehmen sein, die Stellen im Euripides anzeigen zu wollen, welche Aristoteles diesem Tadel unterworfen zu sein, geglaubt hatte. Aber gleichwohl will ich es wagen, eine anzuführen, die, wenn ich sie auch schon nicht nach aller Gerechtigkeit kritisieren sollte, wenigstens meine Meinung zu erläutern, dienen kann.

Fünf und neunzigstes Stück

Den 29sten März, 1768


Die Geschichte seiner Elektra ist ganz bekannt. Der Dichter hatte, in dem Charakter dieser Prinzessin, ein tugendhaftes, aber mit Stolz und Groll erfülltes Frauenzimmer zu schildern, welches durch die Härte, mit der man sich gegen sie selbst betrug, erbittert war, und durch noch weit stärkere Bewegungsgründe angetrieben ward, den Tod eines Vaters zu rächen. Eine solche heftige Gemütsverfassung, kann der Philosoph in seinem Winkel wohl schließen, muß immer sehr bereit sein, sich zu äußern. Elektra, kann er wohl einsehen, muß, bei der geringsten schicklichen Gelegenheit, ihren Groll an den Tag legen, und die Ausführung ihres Vorhabens beschleunigen zu können wünschen. Aber zu welcher Höhe dieser Groll steigen darf? d.i. wie stark Elektra ihre Rachsucht [666] ausdrücken darf, ohne daß ein Mann, der mit dem menschlichen Geschlechte und mit den Wirkungen der Leidenschaften im Ganzen bekannt ist, dabei ausrufen kann: das ist unwahrscheinlich? Dieses auszumachen, wird die abstrakte Theorie von wenig Nutzen sein. So gar eine nur mäßige Bekanntschaft mit dem wirklichen Leben, ist hier nicht hinlänglich uns zu leiten. Man kann eine Menge Individua bemerkt haben, welche den Poeten, der den Ausdruck eines solchen Grolles bis auf das Äußerste getrieben hätte, zu rechtfertigen scheinen. Selbst die Geschichte dürfte vielleicht Exempel an die Hand geben, wo eine tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter getrieben worden, als es der Dichter hier vorgestellet. Welches sind denn nun also die eigentlichen Grenzen derselben, und wodurch sind sie zu bestimmen? Einzig und allein durch Bemerkung so vieler einzeln Fälle als möglich; einzig und allein vermittelst der ausgebreitesten Kenntnis, wie viel eine solche Erbitterung über dergleichen Charaktere unter dergleichen Umständen, im wirklichen Leben gewöhnlicher Weise vermag. So verschieden diese Kenntnis in Ansehung ihres Umfanges ist, so verschieden wird denn auch die Art der Vorstellung sein. Und nun wollen wir sehen, wie der vorhabende Charakter von dem Euripides wirklich behandelt worden.

In der schönen Szene, welche zwischen der Elektra und dem Orestes vorfällt, von dem sie aber noch nicht weiß, daß er ihr Bruder ist, kömmt die Unterredung ganz natürlich auf die Unglücksfälle der Elektra, und auf den Urheber derselben, die Klytämnestra, so wie auch auf die Hoffnung, welche Elektra hat, von ihren Drangsalen durch den Orestes befreiet zu werden. Das Gespräch, wie es hierauf weiter gehet, ist dieses:


ORESTES. Und Orestes? Gesetzt, er käme nach Argos zurück –
ELEKTRA. Wozu diese Frage, da er, allem Ansehen nach, niemals zurückkommen wird?
ORESTES. Aber gesetzt, er käme! Wie müßte er es anfangen, um den Tod seines Vaters zu rächen?
[667] ELEKTRA. Sich eben des erkühnen, wessen die Feinde sich gegen seinen Vater erkühnten.
ORESTES. Wolltest du es wohl mit ihm wagen, deine Mutter umzubringen?
ELEKTRA. Sie mit dem nämlichen Eisen umbringen, mit welchem sie meinen Vater mordete!
ORESTES. Und darf ich das, als deinen festen Entschluß, deinem Bruder vermelden?
ELEKTRA. Ich will meine Mutter umbringen, oder nicht leben!

Das Griechische ist noch stärker:

Θανοιμι, μητρος άιμ' επισφαξασ' εμης.
Ich will gern des Todes sein, sobald ich meine
Mutter umgebracht habe!

Nun kann man nicht behaupten, daß diese letzte Rede schlechterdings unnatürlich sei. Ohne Zweifel haben sich Beispiele genug eräugnet, wo unter ähnlichen Umständen die Rache sich eben so heftig ausgedrückt hat. Geichwohl, denke ich, kann uns die Härte dieses Ausdrucks nicht anders als ein wenig beleidigen. Zum mindesten hielt Sophokles nicht für gut, ihn so weit zu treiben. Bei ihm sagt Elektra unter gleichen Umständen nur das: Jetzt sei dir die Ausführung überlassen! Wäre ich aber allein geblieben, so glaube mir nur: beides hätte mir gewiß nicht mißlingen sollen; entweder mit Ehren mich zu befreien, oder mit Ehren zu sterben!

Ob nun diese Vorstellung des Sophokles der Wahrheit, in so fern sie aus einer ausgebreitetern Erfahrung, d.i. aus der Kenntnis der menschlichen Natur überhaupt, gesammelt worden, nicht weit gemäßer ist, als die Vorstellung des Euripides, will ich denen zu beurteilen überlassen, die es zu beurteilen fähig sind. Ist sie es, so kann die Ursache keine andere sein, als die ich angenommen: daß nämlich Sophokles seine Charaktere so geschildert, als er unzähligen von ihm beobachteten Beispielen der nämlichen Gattung zu Folge, glaubte, daß sie sein sollten; Euripides aber so, als er in der [668] engeren Sphäre seiner Beobachtungen erkannt hatte, daß sie wirklich wären.

Vortrefflich! Auch unangesehen der Absicht, in welcher ich diese langen Stellen des Hurd angeführet habe, enthalten sie unstreitig so viel feine Bemerkungen, daß es mir der Leser wohl erlassen wird, mich wegen Einschaltung derselben zu entschuldigen. Ich besorge nur, daß er meine Absicht selbst darüber aus den Augen verloren. Sie war aber diese: zu zeigen, daß auch Hurd, so wie Diderot, der Tragödie besondere, und nur der Komödie allgemeine Charaktere zuteile, und dem ohngeachtet dem Aristoteles nicht widersprechen wolle, welcher das Allgemeine von allen poetischen Charakteren, und folglich auch von den tragischen verlanget. Hurd erklärt sich nämlich so: der tragische Charakter müsse zwar partikular oder weniger allgemein sein, als der komische, d.i. er müsse die Art, zu welcher er gehöre, weniger vorstellig machen; gleichwohl aber müsse das Wenige, was man von ihm zu zeigen für gut finde, nach dem Allgemeinen entworfen sein, welches Aristoteles fordere. 161

Und nun wäre die Frage, ob Diderot sich auch so verstanden wissen wolle? – Warum nicht, wenn ihm daran gelegen wäre, sich nirgends in Widerspruch mit dem Aristoteles finden zu lassen? Mir wenigstens, dem daran gelegen ist, daß zwei denkende Köpfe von der nämlichen Sache nicht Ja und Nein sagen, könnte es erlaubt sein, ihm diese Auslegung unterzuschieben, ihm diese Ausflucht zu leihen.

Aber lieber von dieser Ausflucht selbst, ein Wort! – Mich dünkt, es ist eine Ausflucht, und ist auch keine. Denn das Wort Allgemein wird offenbar darin in einer doppelten und ganz verschiedenen Bedeutung genommen. Die eine, in welcher es Hurd und Diderot von dem tragischen Charakter verneinen, ist nicht die nämliche, in welcher es Hurd von ihm bejahet. Freilich beruhet eben hierauf die Ausflucht: [669] aber wie, wenn die eine die andere schlechterdings ausschlösse?

In der ersten Bedeutung heißt ein allgemeiner Charakter ein solcher, in welchen man das, was man an mehrern oder allen Individuis bemerkt hat, zusammen nimmt; es heißt mit einem Worte, ein überladener Charakter; es ist mehr die personifierte Idee eines Charakters, als eine charakterisierte Person. In der andern Bedeutung aber heißt ein allgemeiner Charakter ein solcher, in welchem man von dem, was an mehrern oder allen Individuis bemerkt worden, einen gewissen Durchschnitt, eine mittlere Proportion angenommen; es heißt mit einem Worte, ein gewöhnlicher Charakter, nicht zwar in so fern der Charakter selbst, sondern nur in so fern der Grad, das Maß desselben gewöhnlich ist.

Hurd hat vollkommen Recht, das καϑολου des Aristoteles von der Allgemeinheit in der zweiten Bedeutung zu erklären. Aber wenn denn nun Aristoteles diese Allgemeinheit eben sowohl von den komischen als tragischen Charakteren erfodert: wie ist es möglich, daß der nämliche Charakter zugleich auch jene Allgemeinheit haben kann? Wie ist es möglich, daß er zugleich überladen und gewöhnlich sein kann? Und gesetzt auch er wäre so überladen noch lange nicht, als es die Charaktere in dem getadelten Stücke des Jonson sind; gesetzt, er ließe sich noch gar wohl in einem Individuo gedenken, und man habe Beispiele, daß er sich wirklich in mehrern Menschen eben so stark, eben so ununterbrochen geäußert habe: würde er dem ohngeachtet nicht auch noch viel ungewöhnlicher sein, als jene Allgemeinheit des Aristoteles zu sein erlaubet?

Das ist die Schwierigkeit! – Ich erinnere hier meine Leser, daß diese Blätter nichts weniger als ein dramatisches System enthalten sollen. Ich bin also nicht verpflichtet, alle die Schwierigkeiten aufzulösen, die ich mache. Meine Gedanken mögen immer sich weniger zu verbinden, ja wohl gar sich zu widersprechen scheinen: wenn es denn nur Gedanken sind, bei welchen sie Stoff finden, selbst zu denken. Hier will ich nichts als Fermenta cognitionis ausstreuen.

[670]
Sechs und neunzigstes Stück

Den 1sten April, 1768


Den zwei und funfzigsten Abend (Dienstags, den 28sten Julius,) wurden des Herrn Romanus Brüder wiederholt.

Oder sollte ich nicht vielmehr sagen: die Brüder des Herrn Romanus? Nach einer Anmerkung nämlich, welche Donatus bei Gelegenheit der Brüder des Terenz macht: Hanc dicunt fabulam secundo loco actam, etiam tum rudi nomine poetae; itaque sic pronunciatam, Adelphoi Terenti, non Terenti Adelphoi, quod adhuc magis de fabulae nomine poeta, quam de poetae nomine fabula commendabatur. Herr Romanus hat seine Komödien zwar ohne seinen Namen herausgegeben: aber doch ist sein Name durch sie bekannt geworden. Noch itzt sind diejenigen Stücke, die sich auf unserer Bühne von ihm erhalten haben, eine Empfehlung seines Namens, der in Provinzen Deutschlandes genannt wird, wo er ohne sie wohl nie wäre gehöret worden. Aber welches widrige Schicksal hat auch diesen Mann abgehalten, mit seinen Arbeiten für das Theater so lange fortzufahren, bis die Stücke aufgehört hätten, seinen Namen zu empfehlen, und sein Name dafür die Stücke empfohlen hätte?

Das meiste, was wir Deutsche noch in der schönen Literatur haben, sind Versuche junger Leute. Ja das Vorurteil ist bei uns fast allgemein, daß es nur jungen Leuten zukomme, in diesem Felde zu arbeiten. Männer, sagt man, haben ernsthaftere Studia, oder wichtigere Geschäfte, zu welchen sie die Kirche oder der Staat auffodert. Verse und Komödien heißen Spielwerke; allenfalls nicht unnützliche Vorübungen, mit welchen man sich höchstens bis in sein fünf und zwanzigstes Jahr beschäftigen darf. Sobald wir uns dem männlichen Alter nähern, sollen wir fein alle unsere Kräfte einem nützlichen Amte widmen; und läßt uns dieses Amt einige Zeit, etwas zu schreiben, so soll man ja nichts anders schreiben, als was mit der Gravität und dem bürgerlichen Range desselben bestehen kann; ein hübsches Kompendium aus den höhern Fakultäten, eine gute Chronike von der lieben Vaterstadt, eine erbauliche Predigt und dergleichen.

[671] Daher kömmt es denn auch, daß unsere schöne Literatur, ich will nicht bloß sagen gegen die schöne Literatur der Alten, sondern sogar fast gegen aller neuern polierten Völker ihre, ein so jugendliches, ja kindisches Ansehen hat, und noch lange, lange haben wird. An Blut und Leben, an Farbe und Feuer fehlet es ihr endlich nicht: aber Kräfte und Nerven, Mark und Knochen mangeln ihr noch sehr. Sie hat noch so wenig Werke, die ein Mann, der im Denken geübt ist, gern zur Hand nimmt, wenn er, zu seiner Erholung und Stärkung, einmal außer dem einförmigen ekeln Zirkel seiner alltäglichen Beschäftigungen denken will! Welche Nahrung kann so ein Mann wohl, z. E. in unsern höchst trivialen Komödien finden? Wortspiele, Sprichwörter, Späßchen, wie man sie alle Tage auf den Gassen hört: solches Zeug macht zwar das Parterr zu lachen, das sich vergnügt so gut es kann; wer aber von ihm mehr als den Bauch erschüttern will, wer zugleich mit seinem Verstande lachen will, der ist einmal da gewesen und kömmt nicht wieder.

Wer nichts hat, der kann nichts geben. Ein junger Mensch, der erst selbst in die Welt tritt, kann unmöglich die Welt kennen und sie schildern. Das größte komische Genie zeigt sich in seinen jugendlichen Werken hohl und leer; selbst von den ersten Stücken des Menanders sagt Plutarch, 162 daß sie mit seinen spätern und letztern Stücken gar nicht zu vergleichen gewesen. Aus diesen aber, setzt er hinzu, könne man schließen, was er noch würde geleistet haben, wenn er länger gelebt hätte. Und wie jung meint man wohl, daß Menander starb? Wie viel Komödien meint man wohl, daß er erst geschrieben hatte? Nicht weniger als hundert und fünfe; und nicht jünger als zwei und funfzig.

Keiner von allen unsern verstorbenen komischen Dichtern, von denen es sich noch der Mühe verlohnte zu reden, ist so alt geworden; keiner von den itztlebenden ist es noch zur Zeit; keiner von beiden hat das vierte Teil so viel Stücke gemacht. Und die Kritik sollte von ihnen nicht eben das zu [672] sagen haben, was sie von dem Menander zu sagen fand? – Sie wage es aber nur, und spreche!

Und nicht die Verfasser allein sind es, die sie mit Unwillen hören. Wir haben, dem Himmel sei Dank, itzt ein Geschlecht selbst von Kritikern, deren beste Kritik darin besteht, – alle Kritik verdächtig zu machen. »Genie! Genie! schreien sie. Das Genie setzt sich über alle Regeln hinweg! Was das Genie macht, ist Regel!« So schmeicheln sie dem Genie: ich glaube, damit wir sie auch für Genies halten sollen. Doch sie verraten zu sehr, daß sie nicht einen Funken davon in sich spüren, wenn sie in einem und eben demselben Atem hinzusetzen: »die Regeln unterdrücken das Genie!« – Als ob sich Genie durch etwas in der Welt unterdrücken ließe! Und noch dazu durch etwas, das, wie sie selbst gestehen, aus ihm hergeleitet ist. Nicht jeder Kunstrichter ist Genie: aber jedes Genie ist ein geborner Kunstrichter. Es hat die Probe aller Regeln in sich. Es begreift und behält und befolgt nur die, die ihm seine Empfindung in Worten ausdrücken. Und diese seine in Worten ausgedrückte Empfindung sollte seine Tätigkeit verringern können? Vernünftelt darüber mit ihm, so viel ihr wollt; es versteht euch nur, in so fern es eure allgemeinen Sätze den Augenblick in einem einzeln Falle anschauend erkennet; und nur von diesem einzeln Falle beibt Erinnerung in ihm zurück, die während der Arbeit auf seine Kräfte nicht mehr und nicht weniger wirken kann, als die Erinnerung eines glücklichen Beispiels, die Erinnerung einer eignen glücklichen Erfahrung auf sie zu wirken im Stande ist. Behaupten also, daß Regeln und Kritik das Genie unterdrücken können: heißt mit andern Worten behaupten, daß Beispiele und Übung eben dieses vermögen; heißt, das Genie nicht allein auf sich selbst, heißt es sogar, lediglich auf seinen ersten Versuch einschränken.

Eben so wenig wissen diese weise Herren, was sie wollen, wenn sie über die nachteiligen Eindrücke, welche die Kritik auf das genießende Publikum mache, so lustig wimmern! Sie möchten uns lieber bereden, daß kein Mensch einen Schmetterling mehr bunt und schön findet, seitdem das böse Vergrößerungsglas erkennen lassen, daß die Farben desselben nur Staub sind.

[673] »Unser Theater, sagen sie, ist noch in einem viel zu zarten Alter, als daß es den monarchischen Scepter der Kritik ertragen könne. – Es ist fast nötiger die Mittel zu zeigen, wie das Ideal erreicht werden kann, als darzutun, wie weit wir noch von diesem Ideale entfernt sind. – Die Bühne muß durch Beispiele, nicht durch Regeln reformieret werden. – Räsonieren ist leichter, als selbst erfinden.«

Heißt das, Gedanken in Worte kleiden: oder heißt es nicht vielmehr, Gedanken zu Worten suchen, und keine erhaschen? – Und wer sind sie denn, die so viel von Beispielen, und vom selbst Erfinden reden? Was für Beispiele haben sie denn gegeben? Was haben sie denn selbst erfunden? – Schlaue Köpfe! Wenn ihnen Beispiele zu beurteilen vorkommen, so wünschen sie lieber Regeln; und wenn sie Regeln beurteilen sollen, so möchten sie lieber Beispiele haben. Anstatt von einer Kritik zu beweisen, daß sie falsch ist, beweisen sie, daß sie zu strenge ist; und glauben vertan zu haben! Anstatt ein Raisonnement zu widerlegen, merken sie an, daß Erfinden schwerer ist, als Raisonnieren; und glauben widerlegt zu haben!

Wer richtig raisonniert, erfindet auch: und wer erfinden will, muß raisonnieren können. Nur die glauben, daß sich das eine von dem andern trennen lasse, die zu keinem von beiden aufgelegt sind.

Doch was halte ich mich mit diesen Schwätzern auf? Ich will meinen Gang gehen, und mich unbekümmert lassen, was die Grillen am Wege schwirren. Auch ein Schritt aus dem Wege, um sie zu zertreten, ist schon zu viel. Ihr Sommer ist so leicht abgewartet!

Also, ohne weitere Einleitung, zu den Anmerkungen, die ich bei Gelegenheit der ersten Vorstellung der Brüder des Hrn. Romanus, 163 annoch über dieses Stück versprach! – Die vornehmsten derselben werden die Veränderungen betreffen, die er in der Fabel des Terenz machen zu müssen geglaubet, um sie unsern Sitten näher zu bringen.

Was soll man überhaupt von der Notwendigkeit dieser [674] Veränderungen sagen? Wenn wir so wenig Anstoß finden, römische oder griechische Sitten in der Tragödie geschildert zu sehen: warum nicht auch in der Komödie? Woher die Regel, wenn es anders eine Regel ist, die Szene der erstern in ein entferntes Land, unter ein fremdes Volk; die Szene der andern aber, in unsere Heimat zu legen? Woher die Verbindlichkeit, die wir dem Dichter aufbürden, in jener die Sitten desjenigen Volkes, unter dem er seine Handlung vorgehen läßt, so genau als möglich zu schildern; da wir in dieser nur unsere eigene Sitten von ihm geschildert zu sehen verlangen? »Dieses, sagt Pope an einem Orte, scheinet dem ersten Ansehen nach bloßer Eigensinn, bloße Grille zu sein: es hat aber doch seinen guten Grund in der Natur. Das Hauptsächlichste, was wir in der Komödie suchen, ist ein getreues Bild des gemeinen Lebens, von dessen Treue wir aber nicht so leicht versichert sein können, wenn wir es in fremde Moden und Gebräuche verkleidet finden. In der Tragödie hingegen ist es die Handlung, was unsere Aufmerksamkeit am meisten an sich ziehet. Einen einheimischen Vorfall aber für die Bühne bequem zu machen, dazu muß man sich mit der Handlung größere Freiheiten nehmen, als eine zu bekannte Geschichte verstattet.«

Sieben und neunzigstes Stück

Den 5ten April, 1768


Diese Auflösung, genau betrachtet, dürfte wohl nicht in allen Stücken befriedigend sein. Denn zugegeben, daß fremde Sitten der Absicht der Komödie nicht so gut entsprechen, als einheimische: so bleibt noch immer die Frage, ob die einheimischen Sitten nicht auch zur Absicht der Tragödie ein besseres Verhältnis haben, als fremde? Diese Frage ist wenigstens durch die Schwierigkeit, einen einheimischen Vorfall ohne allzumerkliche und anstößige Veränderungen für die Bühne bequem zu machen, nicht beantwortet. Freilich erfodern einheimische Sitten auch einheimische Vorfälle: wenn denn aber nur mit jenen die Tragödie am leichtesten und [675] gewissesten ihren Zweck erreichte, so müßte es ja doch wohl besser sein, sich über alle Schwierigkeiten, welche sich bei Behandlung dieser finden, wegzusetzen, als in Absicht des Wesentlichsten zu kurz zu fallen, welches ohnstreitig der Zweck ist. Auch werden nicht alle einheimische Vorfälle so merklicher und anstößiger Veränderungen bedürfen; und die deren bedürfen, ist man ja nicht verbunden zu bearbeiten. Aristoteles hat schon angemerkt, daß es gar wohl Begebenheiten geben kann und gibt, die sich vollkommen so eräugnet haben, als sie der Dichter braucht. Da dergleichen aber nur selten sind, so hat er auch schon entschieden, daß sich der Dichter um den wenigern Teil seiner Zuschauer, der von den wahren Umständen vielleicht unterrichtet ist, lieber nicht bekümmern, als seiner Pflicht minder Genüge leisten müsse.

Der Vorteil, den die einheimischen Sitten in der Komödie haben, beruhet auf der innigen Bekanntschaft, in der wir mit ihnen stehen. Der Dichter braucht sie uns nicht erst bekannt zu machen; er ist aller hierzu nötigen Beschreibungen und Winke überhoben; er kann seine Personen sogleich nach ihren Sitten handeln lassen, ohne uns diese Sitten selbst erst langweilig zu schildern. Einheimische Sitten also erleichtern ihm die Arbeit, und befördern bei dem Zuschauer die Illusion.

Warum sollte nun der tragische Dichter sich dieses wichtigen doppelten Vorteils begeben? Auch er hat Ursache, sich die Arbeit so viel als möglich zu erleichtern, seine Kräfte nicht an Nebenzwecke zu verschwenden, sondern sie ganz für den Hauptzweck zu sparen. Auch ihm kömmt auf die Illusion des Zuschauers alles an. – Man wird vielleicht hierauf antworten, daß die Tragödie der Sitten nicht groß bedürfe; daß sie ihrer ganz und gar entübriget sein könne. Aber sonach braucht sie auch keine fremde Sitten; und von dem Wenigen, was sie von Sitten haben und zeigen will, wird es doch immer besser sein, wenn es von einheimischen Sitten hergenommen ist, als von fremden.

Die Griechen wenigstens haben nie andere als ihre eigene Sitten, nicht bloß in der Komödie, sondern auch in der Tragödie, [676] zum Grunde gelegt. Ja sie haben fremden Völkern, aus deren Geschichte sie den Stoff ihrer Tragödie etwa einmal entlehnten, lieber ihre eigenen griechischen Sitten leihen, als die Wirkungen der Bühne durch unverständliche barbarische Sitten entkräften wollen. Auf das Costume, welches unsern tragischen Dichtern so ängstlich empfohlen wird, hielten sie wenig oder nichts. Der Beweis hiervon können vornehmlich die Perserinnen des Aeschylus sein; und die Ursache, warum sie sich so wenig an das Costume binden zu dürfen glaubten, ist aus der Absicht der Tragödie leicht zu folgern.

Doch ich gerate zu weit in denjenigen Teil des Problems, der mich itzt gerade am wenigsten angeht. Zwar indem ich behaupte, daß einheimische Sitten auch in der Tragödie zuträglicher sein würden, als fremde: so setze ich schon als unstreitig voraus, daß sie es wenigstens in der Komödie sind. Und sind sie das, glaube ich wenigstens, daß sie es sind: so kann ich auch die Veränderungen, welche Herr Romanus in Absicht derselben, mit dem Stücke des Terenz ge macht hat, überhaupt nicht anders als billigen.

Er hatte Recht, eine Fabel, in welche so besondere Griechische und Römische Sitten so innig verwebet sind, umzuschaffen. Das Beispiel erhält seine Kraft nur von seiner innern Wahrscheinlichkeit, die jeder Mensch nach dem beurteilet, was ihm selbst am gewöhnlichsten ist. Alle Anwendung fällt weg, wo wir uns erst mit Mühe in fremde Umstände versetzen müssen. Aber es ist auch keine leichte Sache mit einer solchen Umschaffung. Je vollkommner die Fabel ist, desto weniger läßt sich der geringste Teil verändern, ohne das Ganze zu zerrütten. Und schlimm! wenn man sich sodann nur mit Flicken begnügt, ohne im eigentlichen Verstande umzuschaffen.

Das Stück heißt die Brüder, und dieses bei dem Terenz aus einem doppelten Grunde. Denn nicht allein die beiden Alten, Micio und Demea, sondern auch die beiden jungen Leute, Aeschinus und Ktesipho, sind Brüder. Demea ist dieser beider Vater; Micio hat den einen, den Aeschinus, nur an Sohnes Statt angenommen. Nun begreif ich nicht, warum [677] unserm Verfasser diese Adoption mißfallen. Ich weiß nicht anders, als daß die Adoption auch unter uns, auch noch itzt gebräuchlich, und vollkommen auf den nämlichen Fuß gebräuchlich ist, wie sie es bei den Römern war. Dem ohngeachtet ist er davon abgegangen: bei ihm sind nur die zwei Alten Brüder, und jeder hat einen leiblichen Sohn, den er nach seiner Art erziehet. Aber, desto besser! wird man vielleicht sagen. So sind denn auch die zwei Alte wirkliche Väter; und das Stück ist wirklich eine Schule der Väter, d.i. solcher, denen die Natur die väterliche Pflicht aufgelegt, nicht solcher, die sie freiwillig zwar übernommen, die sich ihrer aber schwerlich weiter unterziehen, als es mit ihrer eignen Gemächlichkeit bestehen kann.


Pater esse disce ab illis, qui vere sciunt!


Sehr wohl! Nur Schade, daß durch Auflösung dieses einzigen Knoten, welcher bei dem Terenz den Aeschinus und Ktesipho unter sich, und beide mit dem Demea, ihrem Vater, verbindet, die ganze Maschine aus einander fällt, und aus einem allgemeinen Interesse zwei ganz verschiedene entstehen, die bloß die Konvenienz des Dichters, und keinesweges ihre eigene Natur zusammen hält!

Denn ist Aeschinus nicht bloß der angenommene, sondern der leibliche Sohn des Micio, was hat Demea sich viel um ihn zu bekümmern? Der Sohn eines Bruders geht mich so nahe nicht an, als mein eigener. Wenn ich finde, daß jemand meinen eigenen Sohn verziehet, geschähe es auch in der besten Absicht von der Welt, so habe ich Recht, diesem gutherzigen Verführer mit aller der Heftigkeit zu begegnen, mit welcher, beim Terenz, Demea dem Micio begegnet. Aber wenn es nicht mein Sohn ist, wenn es der eigene Sohn des Verziehers ist, was kann ich mehr, was darf ich mehr, als daß ich diesen Verzieher warne, und wenn er mein Bruder ist, ihn öfters und ernstlich warne? Unser Verfasser setzt den Demea aus dem Verhältnisse, in welchem er bei dem Terenz stehet, aber er läßt ihm die nämliche Ungestümheit, zu welcher ihn doch nur jenes Verhältnis berechtigen konnte. Ja bei ihm schimpfet und tobet Demea noch weit ärger, als bei[678] dem Terenz. Er will aus der Haut fahren, »daß er an seines Bruders Kinde Schimpf und Schande erleben muß.« Wenn ihm nun aber dieser antwortete: »Du bist nicht klug, mein lieber Bruder, wenn du glaubest, du könntest an meinem Kinde Schimpf und Schande erleben. Wenn mein Sohn ein Bube ist und bleibt, so wird, wie das Unglück, also auch der Schimpf nur meine sein. Du magst es mit deinem Eifer wohl gut meinen; aber er geht zu weit; er beleidiget mich. Falls du mich nur immer so ärgern willst, so komm mir lieber nicht über die Schwelle! u.s.w.« Wenn Micio, sage ich, dieses antwortete: nicht wahr, so wäre die Komödie auf einmal aus? Oder könnte Micio etwa nicht so antworten? Ja müßte er wohl eigentlich nicht so antworten?

Wie viel schicklicher eifert Demea beim Terenz. Dieser Aeschinus, den er ein so lüderliches Leben zu führen glaubt, ist noch immer sein Sohn, ob ihn gleich der Bruder an Kindes Statt angenommen. Und dennoch bestehet der römische Micio weit mehr auf seinem Rechte als der deutsche. Du hast mir, sagt er, deinen Sohn einmal überlassen; bekümmere dich um den, der dir noch übrig ist;


– – nam ambos curare, propemodum
Reposcere illum est, quem dedisti – –

Diese versteckte Drohung, ihm seinen Sohn zurück zu geben, ist es auch, die ihn zum Schweigen bringt; und doch kann Micio nicht verlangen, daß sie alle väterliche Empfindungen bei ihm unterdrücken soll. Es muß den Micio zwar verdrießen, daß Demea auch in der Folge nicht aufhört, ihm immer die nämlichen Vorwürfe zu machen: aber er kann es dem Vater doch auch nicht verdenken, wenn er seinen Sohn nicht gänzlich will verderben lassen. Kurz, der Demea des Terenz ist ein Mann, der für das Wohl dessen besorgt ist, für den ihm die Natur zu sorgen aufgab; er tut es zwar auf die unrechte Weise, aber die Weise macht den Grund nicht schlimmer. Der Demea unsers Verfassers hingegen ist ein beschwerlicher Zänker, der sich aus Verwandtschaft zu allen Grobheiten berechtiget glaubt, die Micio auf keine Weise an dem bloßen Bruder dulden müßte.

[679]
Acht und neunzigstes Stück

Den 8ten April, 1768


Eben so schielend und falsch wird, durch Aufhebung der doppelten Brüderschaft, auch das Verhältnis der beiden jungen Leute. Ich verdenke es dem deutschen Aeschinus, daß er 164 »vielmals an den Torheiten des Ktesipho Anteil nehmen zu müssen geglaubt, um ihn, als seinen Vetter, der Gefahr und öffentlichen Schande zu entreißen.« Was Vetter? Und schickt es sich wohl für den leiblichen Vater, ihm darauf zu antworten: »ich billige deine hierbei bezeigte Sorgfalt und Vorsicht; ich verwehre dir es auch inskünftige nicht?« Was verwehrt der Vater dem Sohne nicht? An den Torheiten eines ungezogenen Vetters Anteil zu nehmen? Wahrlich, das sollte er ihm verwehren. »Suche deinen Vetter, müßte er ihm höchstens sagen, so viel möglich von Torheiten abzuhalten: wenn du aber findest, daß er durchaus darauf besteht, so entziehe dich ihm; denn dein guter Name muß dir werter sein, als seiner.«

Nur dem leiblichen Bruder verzeihen wir, hierin weiter zu gehen. Nur an leiblichen Brüdern kann es uns freuen, wenn einer von dem andern rühmet:


– – Illius opera nunc vivo! Festivum caput,
Qui omnia sibi post putarit esse prae meo commodo:
Maledicta, famam, meum amorem et peccatum in se transtulit.

Denn der brüderlichen Liebe wollen wir von der Klugheit keine Grenzen gesetzt wissen. Zwar ist es wahr, daß unser Verfasser seinem Aeschinus die Torheit überhaupt zu ersparen gewußt hat, die der Aeschinus des Terenz für seinen Bruder begehet. Eine gewaltsame Entführung hat er in eine kleine Schlägerei verwandelt, an welcher sein wohlgezogner Jüngling weiter keinen Teil hat, als daß er sie gern verhindern wollen. Aber gleichwohl läßt er diesen wohlgezognen Jüngling, für einen ungezognen Vetter noch viel zu viel [680] tun. Denn müßte es jener wohl auf irgend eine Weise gestatten, daß dieser ein Kreatürchen, wie Citalise ist, zu ihm in das Haus brächte? in das Haus seines Vaters? unter die Augen seiner tugendhaften Geliebten? Es ist nicht der verführerische Damis, diese Pest für junge Leute, 165 dessenwegen der deutsche Aeschinus seinem lüderlichen Vetter die Niederlage bei sich erlaubt: es ist die bloße Konvenienz des Dichters.

Wie vortrefflich hängt alles das bei dem Terenz zusammen! Wie richtig und notwendig ist da auch die geringste Kleinigkeit motivieret! Aeschinus nimmt einem Sklavenhändler ein Mädchen mit Gewalt aus dem Hause, in das sich sein Bruder verliebt hat. Aber er tut das, weniger um der Neigung seines Bruders zu willfahren, als um einem größern Übel vorzubauen. Der Sklavenhändler will mit diesem Mädchen unverzüglich auf einen auswärtigen Markt: und der Bruder will dem Mädchen nach; will lieber sein Vaterland verlassen, als den Gegenstand seiner Liebe aus den Augen verlieren. 166 Noch erfährt Aeschinus zu rechter Zeit diesen Entschluß. Was soll er tun? Er bemächtiget sich in der Geschwindigkeit des Mädchens, und bringt sie in das Haus seines Oheims, um diesem gütigen Manne den ganzen Handel zu entdecken. Denn das Mädchen ist zwar entführt, aber sie muß ihrem Eigentümer doch bezahlt werden. Micio bezahlt sie auch ohne Anstand, und freuet sich nicht sowohl über die Tat der jungen Leute, als über die brüderliche Liebe, welche er zum Grunde siehet, und über das Vertrauen, welches sie auf ihn dabei setzen wollen. Das größte ist geschehen; warum sollte er nicht noch eine Kleinigkeit hinzufügen, ihnen einen vollkommen vergnügten Tag zu machen?


[681]
– – – Argentum adnumeravit illico:
Dedit praeterea in sumptum dimidium minae.

Hat er dem Ktesipho das Mädchen gekauft, warum soll er ihm nicht verstatten, sich in seinem Hause mit ihr zu vergnügen? Da ist nach den alten Sitten nichts, was im geringsten der Tugend und Ehrbarkeit widerspräche.

Aber nicht so in unsern Brüdern! Das Haus des gütigen Vaters wird auf das ungeziemendste gemißbraucht. Anfangs ohne sein Wissen, und endlich gar mit seiner Genehmigung. Citalise ist eine weit unanständigere Person, als selbst jene Psaltria; und unser Ktesipho will sie gar heiraten. Wenn das der Terenzische Ktesipho mit seiner Psaltria vorgehabt hätte, so würde sich der Terenzische Micio sicherlich ganz anders dabei genommen haben. Er würde Citalisen die Türe gewiesen, und mit dem Vater die kräftigsten Mittel verabredet haben, einen sich so sträflich emanzipierenden Burschen im Zaume zu halten.

Überhaupt ist der deutsche Ktesipho von Anfange viel zu verderbt geschildert, und auch hierin ist unser Verfasser von seinem Muster abgegangen. Die Stelle erweckt mir immer Grausen, wo er sich mit seinem Vetter über seinen Vater unterhält. 167


LEANDER. Aber wie reimt sich das mit der Ehrfurcht, mit der Liebe, die du deinem Vater schuldig bist?

LYCAST. Ehrfurcht? Liebe? hm! die wird er wohl nicht von mir verlangen.

LEANDER. Er sollte sie nicht verlangen?

LYCAST. Nein, gewiß nicht. Ich habe meinen Vater gar nicht lieb. Ich müßte es lügen, wenn ich es sagen wollte.

LEANDER. Unmenschlicher Sohn! Du bedenkst nicht, was du sagst. Denjenigen nicht lieben, der dir das Leben gegeben hat! So sprichst du itzt, da du ihn noch leben siehst. Aber verliere ihn einmal; hernach will ich dich fragen.

LYCAST. Hm! Ich weiß nun eben nicht, was da geschehen würde. Auf allen Fall würde ich wohl auch so gar unrecht [682] nicht tun. Denn ich glaube, er würde es auch nicht besser machen. Er spricht ja fast täglich zu mir: »Wenn ich dich nur los wäre! wenn du nur weg wärest!« Heißt das Liebe? Kannst du verlangen, daß ich ihn wieder lieben soll?


Auch die strengste Zucht müßte ein Kind zu so unnatürlichen Gesinnungen nicht verleiten. Das Herz, das ihrer, aus irgend einer Ursache, fähig ist, verdienet nicht anders als sklavisch gehalten zu werden. Wenn wir uns des ausschweifenden Sohnes gegen den strengen Vater annehmen sollen: so müssen jenes Ausschweifungen kein grundböses Herz verraten; es müssen nichts als Ausschweifungen des Temperaments, jugendliche Unbedachtsamkeiten, Torheiten des Kitzels und Mutwillens sein. Nach diesem Grundsatze haben Menander und Terenz ihren Ktesipho geschildert. So streng ihn sein Vater hält, so entfährt ihm doch nie das geringste böse Wort gegen denselben. Das einzige, was man so nennen könnte, macht er auf die vortrefflichste Weise wieder gut. Er möchte seiner Liebe gern wenigstens ein Paar Tage, ruhig genießen; er freuet sich, daß der Vater wieder hinaus auf das Land an seine Arbeit ist; und wünscht, daß er sich damit so abmatten, – so abmatten möge, daß er ganze drei Tage nicht aus dem Bette könne. Ein rascher Wunsch! aber man sehe, mit welchem Zusatze:


– – – utinam quidem
Quod cum salute ejus fiat, ita se defatigarit velim,
Ut triduo hoc perpetuo prorsum e lecto nequeat surgere.

Quod cum salute ejus fiat! Nur müßte es ihm weiter nicht schaden! – So recht! so recht, liebenswürdiger Jüngling! Immer geh, wohin dich Freude und Liebe rufen! Für dich drücken wir gern ein Auge zu! Das Böse, das du begehst, wird nicht sehr böse sein! Du hast einen strengern Aufseher in dir, als selbst dein Vater ist! – Und so sind mehrere Züge in der Szene, aus der diese Stelle genommen ist. Der deutsche Ktesipho ist ein abgefeumter Bube, dem Lügen und Betrug sehr geläufig sind: der römische hingegen ist in der äußersten [683] Verwirrung um einen kleinen Vorwand, durch den er seine Abwesenheit bei seinem Vater rechtfertigen könnte.


Rogabit me: ubi fuerim? quem ego hodie toto non vidi die.
Quid dicam?
SY. Nil ne in mentem venit?
CT. Nunquam quicquam.
SY. Tanto nequior.
Cliens, amicus, hospes, nemo est vobis?
CT. Sunt, quid postea?
SY. Hisce opera ut data sit.
CT. Quae non data sit? Non potest fieri!

Dieses naive, aufrichtige: quae non data sit! Der gute Jüngling sucht einen Vorwand; und der schalkische Knecht schlägt ihm eine Lüge vor. Eine Lüge! Nein, das geht nicht: non potest fieri!

Neun und neunzigstes Stück

Den 12ten April, 1768


Sonach hatte Terenz auch nicht nötig, uns seinen Ktesipho am Ende des Stücks beschämt, und durch die Beschämung auf dem Wege der Besserung zu zeigen. Wohl aber mußte dieses unser Verfasser tun. Nur fürchte ich, daß der Zuschauer die kriechende Reue, und die furchtsame Unterwerfung eines so leichtsinnigen Buben nicht für sehr aufrichtig halten kann. Eben so wenig, als die Gemütsänderung seines Vaters. Beider Umkehrung ist so wenig in ihrem Charakter gegründet, daß man das Bedürfnis des Dichters, sein Stück schließen zu müssen, und die Verlegenheit, es auf eine bessere Art zu schließen, ein wenig zu sehr darin empfindet. – Ich weiß überhaupt nicht, woher so viele komische Dichter die Regel genommen haben, daß der Böse notwendig am Ende des Stücks entweder bestraft werden, oder sich bessern müsse. In der Tragödie möchte diese Regel noch eher gelten; sie kann uns da mit dem Schicksale versöhnen, und Murren in Mitleid kehren. Aber in der Komödie, denke ich, hilft sie nicht allein nichts, sondern sie verdirbt vielmehr vieles. Wenigstens [684] macht sie immer den Ausgang schielend, und kalt, und einförmig. Wenn die verschiednen Charaktere, welche ich in eine Handlung verbinde, nur diese Handlung zu Ende bringen, warum sollen sie nicht bleiben, wie sie waren? Aber freilich muß die Handlung sodann in etwas mehr, als in einer bloßen Kollision der Charaktere, bestehen. Diese kann allerdings nicht anders, als durch Nachgebung und Veränderung des einen Teiles dieser Charaktere, geendet werden; und ein Stück, das wenig oder nichts mehr hat als sie, nähert sich nicht sowohl seinem Ziele, sondern schläft vielmehr nach und nach ein. Wenn hingegen jene Kollision, die Handlung mag sich ihrem Ende nähern, so viel als sie will, dennoch gleich stark fortdauert: so begreift man leicht, daß das Ende eben so lebhaft und unterhaltend sein kann, als die Mitte nur immer war. Und das ist gerade der Unterschied, der sich zwischen dem letzten Akte des Terenz, und dem letzten unsers Verfassers befindet. Sobald wir in diesem hören, daß der strenge Vater hinter die Wahrheit gekommen: so können wir uns das Übrige alles an den Fingern abzählen; denn es ist der fünfte Akt. Er wird Anfangs poltern und toben; bald darauf wird er sich besänftigen lassen, wird sein Unrecht erkennen und so werden wollen, daß er nie wieder zu einer solchen Komödie den Stoff geben kann: desgleichen wird der ungeratene Sohn kommen, wird abbitten, wird sich zu bessern versprechen; kurz, alles wird ein Herz und eine Seele werden. Den hingegen will ich sehen, der in dem fünften Akte des Terenz die Wendungen des Dichters erraten kann! Die Intrigue ist längst zu Ende, aber das fortwährende Spiel der Charaktere läßt es uns kaum bemerken, daß sie zu Ende ist. Keiner verändert sich; sondern jeder schleift nur dem andern eben so viel ab, als nötig ist, ihn gegen den Nachteil des Exzesses zu verwahren. Der freigebige Micio wird durch das Manöuvre des geizigen Demea dahin gebracht, daß er selbst das Übermaß in seinem Bezeigen erkennet, und fragt:


Quod proluvium? quae istaec subita est largitas?


So wie umgekehrt der strenge Demea durch das Manöuvre [685] des nachsichtsvollen Micio endlich erkennet, daß es nicht genug ist, nur immer zu tadeln und zu bestrafen, sondern es auch gut sei, obsecundare in loco. –

Noch eine einzige Kleinigkeit will ich erinnern, in welcher unser Verfasser sich, gleichfalls zu seinem eigenem Nachteile, von seinem Muster entfernt hat.

Terenz sagt es selbst, daß er in die Brüder des Menanders eine Episode aus einem Stücke des Diphilus übertragen, und so seine Brüder zusammen gesetzt habe. Diese Episode ist die gewaltsame Entführung der Psaltria durch den Aeschinus: und das Stück des Diphilus hieß, die mit einander Sterbenden.


Synapothnescontes Diphili comoedia est –
In Graeca adolescens est, qui lenoni eripit
Meretricem in prima fabula – –
– – eum hic locum sumpsit sibi
In Adelphos – – –

Nach diesen beiden Umständen zu urteilen, mochte Diphilus ein Paar Verliebte aufgeführet haben, die fest entschlossen waren, lieber mit einander zu sterben, als sich trennen zu lassen: und wer weiß was geschehen wäre, wenn sich gleichfalls nicht ein Freund ins Mittel geschlagen, und das Mädchen für den Liebhaber mit Gewalt entführt hätte? Den Entschluß, mit einander zu sterben, hat Terenz in den bloßen Entschluß des Liebhabers, dem Mädchen nachzufliehen und Vater und Vaterland um sie zu verlassen, gemildert. Donatus sagt dieses ausdrücklich: Menander mori illum voluisse fingit, Terentius fugere. Aber sollte es in dieser Note des Donatus nicht Diphilus anstatt Menander heißen? Ganz gewiß; wie Peter Nannius dieses schon angemerkt hat. 168 Denn [686] der Dichter, wie wir gesehen, sagt es ja selbst, daß er diese ganze Episode von der Entführung nicht aus dem Menander, sondern aus dem Diphilus entlehnet habe; und das Stück des Diphilus hatte von dem Sterben sogar seinen Titel.

Indes muß freilich, anstatt dieser von dem Diphilus entlehnten Entführung, in dem Stücke des Menanders eine andere Intrigue gewesen sein, an der Aeschinus gleicher Weise für den Ktesipho Anteil nahm, und wodurch er sich bei seiner Geliebten in eben den Verdacht brachte, der am Ende ihre Verbindung so glücklich beschleunigte. Worin diese eigentlich bestanden, dürfte schwer zu erraten sein. Sie mag aber bestanden haben, worin sie will: so wird sie doch gewiß eben so wohl gleich vor dem Stücke vorhergegangen sein, als die vom Terenz dafür gebrauchte Entführung. Denn auch sie muß es gewesen sein, wovon man noch überall sprach, als Demea in die Stadt kam; auch sie muß die Gelegenheit und der Stoff gewesen sein, worüber Demea gleich Anfangs mit seinem Bruder den Streit beginnet, in welchem sich beider Gemütsarten so vortrefflich entwickeln.


– – Nam illa, quae antehac facta sunt
Omitto: modo quid designavit? –
Fores effregit, atque in aedes irruit
Alienas – – – –
– – clamant omnes, indignissime
Factum esse. Hoc advenienti quot mihi, Micio
Dixere? in ore est omni populo –

Nun habe ich schon gesagt, daß unser Verfasser diese gewaltsame Entführung in eine kleine Schlägerei verwandelt hat. Er mag auch seine guten Ursachen dazu gehabt haben; wenn er nur diese Schlägerei selbst, nicht so spät hätte geschehen lassen. Auch sie sollte und müßte das sein, was den strengen Vater aufbringt. So aber ist er schon aufgebracht, ehe sie geschieht, und man weiß gar nicht worüber? Er tritt auf und zankt, ohne den geringsten Anlaß. Er sagt zwar: »Alle Leute reden von der schlechten Aufführung deines Sohnes; ich darf nur einmal den Fuß in die Stadt setzen, so höre ich mein blaues Wunder.« Aber was denn die Leute eben itzt [687] reden; worin das blaue Wunder bestanden, das er eben itzt gehört, und worüber er ausdrücklich mit seinem Bruder zu zanken kömmt, das hören wir nicht, und können es auch aus dem Stücke nicht erraten. Kurz, unser Verfasser hätte den Umstand, der den Demea in Harnisch bringt, zwar verändern können, aber er härte ihn nicht versetzen müssen! Wenigstens, wenn er ihn versetzen wollen, hätte er den Demea im ersten Akte seine Unzufriedenheit mit der Erziehungsart seines Bruders nur nach und nach müssen äußern, nicht aber auf einmal damit herausplatzen lassen. –

Möchten wenigstens nur diejenigen Stücke des Menanders auf uns gekommen sein, welche Terenz genutzet hat! Ich kann mir nichts Unterrichtenders denken, als eine Vergleichung dieser griechischen Originale mit den lateinischen Kopien sein würde.

Denn gewiß ist es, daß Terenz kein bloßer sklavischer Übersetzer gewesen. Auch da, wo er den Faden des Menandrischen Stückes völlig beibehalten, hat er sich noch manchen kleinen Zusatz, manche Verstärkung oder Schwächung eines und des andern Zuges erlaubt; wie uns deren verschiedne Donatus in seinen Scholien angezeigt. Nur Schade, daß sich Donatus immer so kurz, und öfters so dunkel darüber ausdrückt, (weil zu seiner Zeit die Stücke des Menanders noch selbst in jedermanns Händen waren,) daß es schwer wird, über den Wert oder Unwert solcher Terenzischen Künsteleien etwas Zuverlässiges zu sagen. In den Brüdern findet sich hiervon ein sehr merkwürdiges Exempel.

Hundertstes Stück

Den 15ten April, 1768


Demea, wie schon angemerkt, will im fünften Akte dem Micio eine Lektion nach seiner Art geben. Er stellt sich lustig, um die andern wahre Ausschweifungen und Tollheiten begehen zu lassen; er spielt den Freigebigen, aber nicht aus seinem, sondern aus des Bruders Beutel; er möchte diesen lieber auf einmal ruinieren, um nur das boshafte Vergnügen zu haben,[688] ihm am Ende sagen zu können: »Nun sieh, was du von deiner Gutherzigkeit hast!« So lange der ehrliche Micio nur von seinem Vermögen dabei zusetzt, lassen wir uns den hämischen Spaß ziemlich gefallen. Aber nun kömmt es dem Verräter gar ein, den guten Hagestolze mit einem alten verlebten Mütterchen zu verkuppeln. Der bloße Einfall macht uns Anfangs zu lachen; wenn wir aber endlich sehen, daß es Ernst damit wird, daß sich Micio wirklich die Schlinge über den Kopf werfen läßt, der er mit einer einzigen ernsthaften Wendung hätte ausweichen können: wahrlich, so wissen wir kaum mehr, auf wen wir ungehaltner sein sollen; ob auf den Demea, oder auf den Micio. 169


[689] DEMEA. Ja wohl ist das mein Wille! Wir müssen von nun an mit diesen guten Leuten nur eine Familie machen; wir müssen ihnen auf alle Weise aushelfen, uns auf alle Art mit ihnen verbinden. –

AESCHINUS. Das bitte ich, mein Vater.

MICIO. Ich bin gar nicht dagegen.

DEMEA. Es schickt sich auch nicht anders für uns. – Denn erst ist sie seiner Frauen Mutter –

MICIO. Nun dann?

DEMEA. Auf die nichts zu sagen; brav, ehrbar –

MICIO. So höre ich.

DEMEA. Bei Jahren ist sie auch.

MICIO. Ja wohl.

DEMEA. Kinder kann sie schon lange nicht mehr haben. Dazu ist niemand, der sich um sie bekümmerte; sie ist ganz verlassen.

MICIO. Was will der damit?

DEMEA. Die mußt du billig heiraten, Bruder. Und du, Zum Aeschinus. mußt ja machen, daß er es tut.

MICIO. Ich? sie heiraten?

DEMEA. Du!

MICIO. Ich?

[690] DEMEA. Du! wie gesagt, du!

MICIO. Du bist nicht klug.

DEMEA zum Aeschinus. Nun zeige, was du kannst! Er muß!

AESCHINUS. Mein Vater –

MICIO. Wie? – Und du, Geck, kannst ihm noch folgen?

DEMEA. Du streibest dich umsonst: es kann nun einmal nicht anders sein.

MICIO. Du schwärmst.

AESCHINUS. Laß dich erbitten, mein Vater.

MICIO. Rasest du? Geh!

DEMEA. O, So mach dem Sohne doch die Freude!

MICIO. Bist du wohl bei Verstande? Ich, in meinem fünf und sechzigsten Jahre noch heiraten? Und ein altes verlebtes Weib heiraten? Das könnet ihr mir zumuten?

AESCHINUS. Tu es immer; ich habe es ihnen versprochen.

MICIO. Versprochen gar? – Bürschchen, versprich für dich, was du versprechen willst!

DEMEA. Frisch! Wenn es nun etwas wichtigeres wäre, warum er dich bäte?

MICIO. Als ob etwas wichtigers sein könnte, wie das?

DEMEA. So willfahre ihm doch nur!

AESCHINUS. Sei uns nicht zuwider!

DEMEA. Fort, versprich!

MICIO. Wie lange soll das währen?

AESCHINUS. Bis du dich erbitten lassen.

MICIO. Aber das heißt Gewalt brauchen.

DEMEA. Tu ein Übriges, guter Micio.

MICIO. Nun dann; – ob ich es zwar sehr unrecht, sehr abgeschmackt finde; ob es sich schon weder mit der Vernunft, noch mit meiner Lebensart reimet: – weil ihr doch so sehr darauf besteht; es sei!


»Nein, sagt die Kritik; das ist zu viel! Der Dichter ist hier mit Recht zu tadeln. Das einzige, was man noch zu seiner Rechtfertigung sagen könnte, wäre dieses, daß er die nachteiligen Folgen einer übermäßigen Gutherzigkeit habe zeigen wollen. Doch Micio hat sich bis dahin so liebenswürdig bewiesen, [691] er hat so viel Verstand, so viel Kenntnis der Welt gezeigt, daß diese seine letzte Ausschweifung wider alle Wahrscheinlichkeit ist, und den feinern Zuschauer notwendig beleidigen muß. Wie gesagt also: der Dichter ist hier zu tadeln, auf alle Weise zu tadeln!«

Aber welcher Dichter? Terenz? oder Menander? oder beide? – Der neue englische Übersetzer des Terenz, Colmann, will den größern Teil des Tadels auf den Menander zurückschieben; und glaubt aus einer Anmerkung des Donatus beweisen zu können, daß Terenz die Ungereimtheit seines Originals in dieser Stelle wenigstens sehr gemildert habe. Donatus sagt nämlich: Apud Menandrum senex de nuptiis non gravatur. Ergo Terentius εύρητικως.

»Es ist sonderbar,« erklärt sich Colmann, »daß diese Anmerkung des Donatus so gänzlich von allen Kunstrichtern übersehen worden, da sie, bei unserm Verluste des Menanders, doch um so viel mehr Aufmerksamkeit verdienet. Unstreitig ist es, daß Terenz in dem letzten Akte dem Plane des Menanders gefolgt ist: ob er nun aber schon die Ungereimtheit, den Micio mit der alten Mutter zu verheiraten, angenommen, so lernen wir doch vom Donatus, daß dieser Umstand ihm selber anstößig gewesen, und er sein Original dahin verbessert, daß er den Micio alle den Widerwillen gegen eine solche Verbindung äußern lassen, den er in dem Stücke des Menanders, wie es scheinet, nicht geäußert hatte.«

Es ist nicht unmöglich, daß ein Römischer Dichter nicht einmal etwas besser könne gemacht haben, als ein Griechischer. Aber der bloßen Möglichkeit wegen, möchte ich es gerne in keinem Falle glauben.

Colmann meinet also, die Worte des Donatus: Apud Menandrum senex de nuptiis non gravatur, heißen so viel, als: beim Menander streibet sich der Alte gegen die Heirat nicht. Aber wie, wenn sie das nicht hießen? Wenn sie vielmehr zu übersetzen wären: beim Menander fällt man dem Alten mit der Heirat nicht beschwerlich? Nuptias gravari würde zwar allerdings jenes heißen; aber auch de nuptiis gravari? In jener Redensart wird gravari gleichsam als ein Deponens gebraucht: in dieser aber ist es ja wohl das eigentliche Passivum, [692] und kann also meine Auslegung nicht allein leiden, sondern vielleicht wohl gar keine andere leiden, als sie.

Wäre aber dieses: wie stünde es dann um den Terenz? Er hätte sein Original so wenig verbessert, daß er es vielmehr verschlimmert hätte; er hätte die Ungereimtheit mit der Verheiratung des Micio, durch die Weigerung desselben, nicht gemildert, sondern sie selber erfunden. Terentius εύρητικως.

Aber nur, daß es mit den Erfindungen der Nachahmer nicht weit her ist!

Hundert und erstes, zweites, drittes und viertes Stück
Hundert und erstes, zweites,
drittes und viertes Stück

Den 19ten April 1768


Hundert und erstes bis viertes? – Ich hatte mir vorgenommen, den Jahrgang dieser Blätter nur aus hundert Stücken bestehen zu lassen. Zwei und funfzig Wochen, und die Woche zwei Stück, geben zwar allerdings hundert und viere. Aber warum sollte, unter allen Tagewerkern, dem einzigen wöchentlichen Schriftsteller kein Feiertag zu Statten kommen? Und in dem ganzen Jahre nur viere: ist ja so wenig!

Doch Dodsley und Compagnie haben dem Publico, in meinem Namen, ausdrücklich hundert und vier Stück versprochen. Ich werde die guten Leute schon nicht zu Lügnern machen müssen.

Die Frage ist nur, wie fange ich es am besten an? – Der Zeug ist schon verschnitten: ich werde einflicken oder recken müssen. – Aber das klingt so stümpermäßig. Mir fällt ein, – was mir gleich hätte einfallen sollen: die Gewohnheit der Schauspieler, auf ihre Hauptvorstellung ein kleines Nachspiel folgen zu lassen. Das Nachspiel kann handeln, wovon es will, und braucht mit dem Vorhergehenden nicht in der geringsten Verbindung zu stehen. – So ein Nachspiel dann, mag die Blätter nun füllen, die ich mir ganz ersparen wollte.

Erst ein Wort von mir selbst! Denn warum sollte nicht auch ein Nachspiel einen Prolog haben dürfen, der sich mit [693] einem Poeta, cum primum animum ad scribendum appulit, anfinge?

Als vor Jahr und Tag, einige gute Leute hier den Einfall bekamen, einen Versuch zu machen, ob nicht für das deutsche Theater sich etwas mehr tun lasse, als unter der Verwaltung eines sogenannten Principals geschehen könne: so weiß ich nicht, wie man auf mich dabei fiel, und sich träumen ließ, daß ich bei diesem Unternehmen wohl nützlich sein könnte? – Ich stand eben am Markte und war müßig; niemand wollte mich dingen: ohne Zweifel, weil mich niemand zu brauchen wußte; bis gerade auf diese Freunde! – Noch sind mir in meinem Leben alle Beschäftigungen sehr gleichgültig gewesen: ich habe mich nie zu einer gedrungen, oder nur erboten; aber auch die geringfügigste nicht von der Hand gewiesen, zu der ich mich aus einer Art von Prädilection erlesen zu sein, glauben konnte.

Ob ich zur Aufnahme des hiesigen Theaters concurrieren wolle? darauf war also leicht geantwortet. Alle Bedenklichkeiten waren nur die: ob ich es könne? und wie ich es am besten könne?

Ich bin weder Schauspieler, noch Dichter.

Man erweiset mir zwar manchmal die Ehre, mich für den letztern zu erkennen. Aber nur, weil man mich verkennt. Aus einigen dramatischen Versuchen, die ich gewagt habe, sollte man nicht so freigebig folgern. Nicht jeder, der den Pinsel in die Hand nimmt, und Farben verquistet, ist ein Maler. Die ältesten von jenen Versuchen sind in den Jahren hingeschrieben, in welchen man Lust und Leichtigkeit so gern für Genie hält. Was in den neuerern erträgliches ist, davon bin ich mir sehr bewußt, daß ich es einzig und allein der Kritik zu verdanken habe. Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich empor arbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt: ich muß alles durch Druckwerk und Röhren aus mir herauf pressen. Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu wärmen, und durch die Gläser der Kunst mein Auge [694] zu stärken. Ich bin daher immer beschämt oder verdrüßlich geworden, wenn ich zum Nachteil der Kritik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken: und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kömmt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmähschrift auf die Krücke unmöglich erbauen kann.

Doch freilich; wie die Krücke den Lahmen wohl hilft, sich von einem Orte zum andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Läufer machen kann: so auch die Kritik. Wenn ich mit ihrer Hülfe etwas zu Stande bringe, welches besser ist, als es einer von meinen Talenten ohne Kritik machen würde: so kostet es mich so viel Zeit, ich muß von andern Geschäften so frei, von unwillkürlichen Zerstreuungen so ununterbrochen sein, ich muß meine ganze Belesenheit so gegenwärtig haben, ich muß bei jedem Schritte alle Bemerkungen, die ich jemals über Sitten und Leidenschaften gemacht, so ruhig durchlaufen können; daß zu einem Arbeiter, der ein Theater mit Neuigkeiten unterhalten soll, niemand in der Welt ungeschickter sein kann, als ich.

Was Goldoni für das italienische Theater tat, der es in einem Jahre mit dreizehn neuen Stücken bereicherte, das muß ich für das deutsche zu tun, folglich bleiben lassen. Ja, das würde ich bleiben lassen, wenn ich es auch könnte. Ich bin mißtrauischer gegen alle erste Gedanken, als De la Casa und der alte Shandy nur immer gewesen sind. Denn wenn ich sie auch schon nicht für Eingebungen des bösen Feindes, weder des eigentlichen noch des allegorischen, halte: 170 so[695] denke ich doch immer, daß die ersten Gedanken die ersten sind, und daß das Beste auch nicht einmal in allen Suppen obenauf zu schwimmen pflegt. Meine ersten Gedanken sind gewiß kein Haar besser, als Jedermanns erste Gedanken: und mit Jedermanns Gedanken bleibt man am klügsten zu Hause.

– Endlich fiel man darauf, selbst das, was mich zu einem so langsamen, oder, wie es meinen rüstigern Freunden scheinet, so faulen Arbeiter macht, selbst das, an mir nutzen zu wollen: die Kritik. Und so entsprang die Idee zu diesem Blatte.

Sie gefiel mir, diese Idee. Sie erinnerte mich an die Didaskalien der Griechen, d.i. an die kurzen Nachrichten, dergleichen selbst Aristoteles von den Stücken der griechischen Bühne zu schreiben der Mühe wert gehalten. Sie erinnerte mich, vor langer Zeit einmal über den grundgelehrten Casaubonus bei mir gelacht zu haben, der sich, aus wahrer Hochachtung für das Solide in den Wissenschaften, einbildete daß es dem Aristoteles vornehmlich um die Berichtigung der Chronologie bei seinen Didaskalien zu tun gewesen. 171 – Wahrhaftig, es wäre auch eine ewige Schande für den Aristoteles, wenn er sich mehr um den poetischen Wert der Stücke, mehr um ihren Einfluß auf die Sitten, mehr um die Bildung des Geschmacks, darin bekümmert hätte, als um die Olympiade, als um das Jahr der Olympiade, als um die Namen der Archonten, unter welchen sie zuerst aufgeführet worden!

Ich war schon Willens, das Blatt selbst Hamburgische Didaskalien zu nennen. Aber der Titel klang mir allzufremd, und nun ist es mir sehr lieb, daß ich ihm diesen vorgezogen habe. Was ich in eine Dramaturgie bringen oder nicht bringen [696] wollte, das stand bei mir: wenigstens hatte mir Lione Allacci desfalls nichts vorzuschreiben. Aber wie eine Didaskalie aussehen müsse, glauben die Gelehrten zu wissen, wenn es auch nur aus den noch vorhandenen Didaskalien des Terenz wäre, die eben dieser Casaubonus breviter et eleganter scriptas nennt. Ich hatte weder Lust, meine Didaskalien so kurz, noch so elegant zu schreiben: und unsere itztlebende Casauboni würden die Köpfe trefflich geschüttelt haben, wenn sie gefunden hätten, wie selten ich irgend eines chronologischen Umstandes gedenke, der künftig einmal, wenn Millionen anderer Bücher verloren gegangen wären, auf irgend ein historisches Factum einiges Licht werfen könnte. In welchem Jahre Ludewigs des Vierzehnten, oder Ludewigs des Funfzehnten, ob zu Paris, oder zu Versailles, ob in Gegenwart der Prinzen vom Geblüte, oder nicht der Prinzen vom Geblüte, dieses oder jenes französische Meisterstück zuerst aufgeführet worden: das würden sie bei mir gesucht, und zu ihrem großen Erstaunen nicht gefunden haben.

Was sonst diese Blätter werden sollten, darüber habe ich mich in der Ankündigung erkläret: was sie wirklich geworden, das werden meine Leser wissen. Nicht völlig das, wozu ich sie zu machen versprach: etwas anderes; aber doch, denke ich, nichts schlechteres.

»Sie sollten jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers hier tun würde.«

Die letztere Hälfte bin ich sehr bald überdrüssig geworden. Wir haben Schauspieler, aber keine Schauspielkunst. Wenn es vor Alters eine solche Kunst gegeben hat: so haben wir sie nicht mehr; sie ist verloren; sie muß ganz von neuem wieder erfunden werden. Allgemeines Geschwätze darüber, hat man in verschiedenen Sprachen genug: aber spezielle, von jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Präzision abgefaßte Regeln, nach welchen der Tadel oder das Lob des Akteurs in einem besondern Falle zu bestimmen sei, deren wüßte ich kaum zwei oder drei. Daher kömmt es, daß alles Raisonnement über diese Materie immer so schwankend und vieldeutig scheinet, daß es eben kein Wunder ist, wenn der Schauspieler, der nichts als eine glückliche Routine hat, sich [697] auf alle Weise dadurch beleidiget findet. Gelobt wird er sich nie genug, getadelt aber allezeit viel zu viel glauben: ja öfters wird er gar nicht einmal wissen, ob man ihn tadeln oder loben wollen. Überhaupt hat man die Anmerkung schon längst gemacht, daß die Empfindlichkeit der Künstler, in Ansehung der Kritik, in eben dem Verhältnisse steigt, in welchem die Gewißheit und Deutlichkeit und Menge der Grundsätze ihrer Künste abnimmt. – So viel zu meiner, und selbst zu deren Entschuldigung, ohne die ich mich nicht zu entschuldigen hätte.

Aber die erstere Hälfte meines Versprechens? Bei dieser ist freilich das Hier zur Zeit noch nicht sehr in Betrachtung gekommen, – und wie hätte es auch können? Die Schranken sind noch kaum geöffnet, und man wollte die Wettläufer lieber schon bei dem Ziele sehen; bei einem Ziele, das ihnen alle Augenblicke immer weiter und weiter hinausgesteckt wird? Wenn das Publikum fragt; was ist denn nun geschehen? und mit einem höhnischen Nichts sich selbst antwortet: so frage ich wiederum; und was hat denn das Publikum getan, damit etwas geschehen könnte? Auch nichts; ja noch etwas schlimmers, als nichts. Nicht genug, daß es das Werk nicht allein nicht befördert: es hat ihm nicht einmal seinen natürlichen Lauf gelassen. – Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind! Ich rede nicht von der politischen Verfassung, sondern bloß von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen, dieser sei: keinen eigenen haben zu wollen. Wir sind noch immer die geschwornen Nachahmer alles Ausländischen, besonders noch immer die untertänigen Bewunderer der nie genug bewunderten Franzosen; alles was uns von jenseit dem Rheine kömmt, ist schön, reizend, allerliebst, göttlich; lieber verleugnen wir Gesicht und Gehör, als daß wir es anders finden sollten; lieber wollen wir Plumpheit für Ungezwungenheit, Frechheit für Grazie, Grimasse für Ausdruck, ein Geklingle von Reimen für Poesie, Geheule für Musik, uns einreden lassen, als im geringsten an der Superiorität zweifeln, welche dieses liebenswürdige Volk, dieses erste Volk in der Welt, wie es sich [698] selbst sehr bescheiden zu nennen pflegt, in allem, was gut und schön und erhaben und anständig ist, von dem gerechten Schicksale zu seinem Anteile erhalten hat. –

Doch dieser Locus communis ist so abgedroschen, und die nähere Anwendung desselben könnte leicht so bitter werden, daß ich lieber davon abbreche.

Ich war also genötiget, anstatt der Schritte, welche die Kunst des dramatischen Dichters hier wirklich könnte getan haben, mich bei denen zu verweilen, die sie vorläufig tun müßte, um sodann mit eins ihre Bahn mit desto schnellern und größern zu durchlaufen. Es waren die Schritte, welche ein Irrender zurückgehen muß, um wieder auf den rechten Weg zu gelangen, und sein Ziel gerade in das Auge zu bekommen.

Seines Fleißes darf sich jedermann rühmen: ich glaube, die dramatische Dichtkunst studiert zu haben; sie mehr studiert zu haben, als zwanzig, die sie ausüben. Auch habe ich sie so weit ausgeübet, als es nötig ist, um mitsprechen zu dürfen: denn ich weiß wohl, so wie der Maler sich von niemanden gern tadeln läßt, der den Pinsel ganz und gar nicht zu führen weiß, so auch der Dichter. Ich habe es wenigstens versucht, was er bewerkstelligen muß, und kann von dem, was ich selbst nicht zu machen vermag, doch urteilen, ob es sich machen läßt. Ich verlange auch nur eine Stimme unter uns, wo so mancher sich eine anmaßt, der, wenn er nicht dem oder jenem Ausländer nachplaudern gelernt hätte, stummer sein würde, als ein Fisch.

Aber man kann studieren, und sich tief in den Irrtum hinein studieren. Was mich also versichert, daß mir dergleichen nicht begegnet sei, daß ich das Wesen der dramatischen Dichtkunst nicht verkenne, ist dieses, daß ich es vollkommen so erkenne, wie es Aristoteles aus den unzähligen Meisterstücken der griechischen Bühne abstrahieret hat. Ich habe von dem Entstehen, von der Grundlage der Dichtkunst dieses Philosophen, meine eigene Gedanken, die ich hier ohne Weitläuftigkeit nicht äußern könnte. Indes steh ich nicht an, zu bekennen, (und sollte ich in diesen erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht werden!) daß ich sie für ein eben [699] so unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer sind. Ihre Grundsätze sind eben so wahr und gewiß, nur freilich nicht so faßlich, und daher mehr der Chicane ausgesetzt, als alles, was diese enthalten. Besonders getraue ich mir von der Tragödie, als über die uns die Zeit so ziemlich alles daraus gönnen wollen, unwidersprechlich zu beweisen, daß sie sich von der Richtschnur des Aristoteles keinen Schritt entfernen kann, ohne sich eben so weit von ihrer Vollkommenheit zu entfernen.

Nach dieser Überzeugung nahm ich mir vor, einige der berühmtesten Muster der französischen Bühne ausführlich zu beurteilen. Denn diese Bühne soll ganz nach den Regeln des Aristoteles gebildet sein; und besonders hat man uns Deutsche bereden wollen, daß sie nur durch diese Regeln die Stufe der Vollkommenheit erreicht habe, auf welcher sie die Bühnen aller neuern Völker so weit unter sich erblicke. Wir haben das auch lange so fest geglaubt, daß bei unsern Dichtern, den Franzosen nachahmen, eben so viel gewesen ist, als nach den Regeln der Alten arbeiten.

Indes konnte das Vorurteil nicht ewig gegen unser Gefühl bestehen. Dieses ward, glücklicher Weise, durch einige Englische Stücke aus seinem Schlummer erwecket, und wir machten endlich die Erfahrung, daß die Tragödie noch einer ganz andern Wirkung fähig sei, als ihr Corneille und Racine zu erteilen vermocht. Aber geblendet von diesem plötzlichen Strahle der Wahrheit, prallten wir gegen den Rand eines andern Abgrundes zurück. Den englischen Stücken fehlten zu augenscheinlich gewisse Regeln, mit welchen uns die Französischen so bekannt gemacht hatten. Was schloß man daraus? Dieses: daß sich auch ohne diese Regeln der Zweck der Tragödie erreichen lasse; ja daß diese Regeln wohl gar Schuld sein könnten, wenn man ihn weniger erreiche.

Und das hätte noch hingehen mögen! – Aber mitdiesen Regeln fing man an, alle Regeln zu vermengen, und es überhaupt für Pedanterei zu erklären, dem Genie vorzuschreiben, was es tun, und was es nicht tun müsse. Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Erfahrungen der vergangnen Zeit mutwillig zu verscherzen; und von den Dichtern lieber zu [700] verlangen, daß jeder die Kunst aufs neue für sich erfinden solle.

Ich wäre eitel genug, mir einiges Verdienst um unser Theater beizumessen, wenn ich glauben dürfte, das einzige Mittel getroffen zu haben, diese Gährung des Geschmacks zu hemmen. Darauf los gearbeitet zu haben, darf ich mir wenigstens schmeicheln, indem ich mir nichts angelegner sein lassen, als den Wahn von der Regelmäßigkeit der französischen Bühne zu bestreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln des alten Drama mehr verkannt, als die Franzosen. Einige beiläufige Bemerkungen, die sie über die schicklichste äußere Einrichtung des Drama bei dem Aristoteles fanden, haben sie für das Wesentliche angenommen, und das Wesentliche, durch allerlei Einschränkungen und Deutungen, dafür so entkräftet, daß notwendig nichts anders als Werke daraus entstehen konnten, die weit unter der höchsten Wirkung blieben, auf welche der Philosoph seine Regeln kalkuliert hatte.

Ich wage es, hier eine Äußerung zu tun, mag man sie doch nehmen, wofür man will! – Man nenne mir das Stück des großen Corneille, welches ich nicht besser machen wollte. Was gilt die Wette? –

Doch nein; ich wollte nicht gern, daß man diese Äußerung für Prahlerei nehmen könne. Man merke also wohl, was ich hinzu setze: Ich werde es zuverlässig besser machen, – und doch lange kein Corneille sein, – und doch lange noch kein Meisterstück gemacht haben. Ich werde es zuverlässig besser machen; – und mir doch wenig darauf einbilden dürfen. Ich werde nichts getan haben, als was jeder tun kann, – der so fest an den Aristoteles glaubet, wie ich.

Eine Tonne, für unsere kritische Wallfische! Ich freue mich im voraus, wie trefflich sie damit spielen werden. Sie ist einzig und allein für sie ausgeworfen; besonders für den kleinen Wallfisch in dem Salzwasser zu Halle! –

Und mit diesem Übergange, – sinnreicher muß er nicht sein, – mag denn der Ton des ernsthaftern Prologs in den Ton des Nachspiels verschmelzen, wozu ich diese letztern Blätter bestimmte. Wer hätte mich auch sonst erinnern können, [701] daß es Zeit sei, dieses Nachspiel anfangen zu lassen, als eben der Hr. Stl., welcher in der deutschen Bibliothek des Hrn. Geheimerat Klotz, den Inhalt desselben bereits angekündiget hat? – 172

Aber was bekömmt denn der schnakische Mann in dem bunten Jäckchen, daß er so dienstfertig mit seiner Trommel ist? Ich erinnere mich nicht, daß ich ihm etwas dafür versprochen hätte. Er mag wohl bloß zu seinem Vergnügen trommeln; und der Himmel weiß, wo er alles her hat, was die liebe Jugend auf den Gassen, die ihn mit einem bewundernden Ah! nachfolgt, aus der ersten Hand von ihm zu erfahren bekömmt. Er muß einen Wahrsagergeist haben, Trotz der Magd in der Apostelgeschichte. Denn wer hätte es ihm sonst sagen können, daß der Verfasser der Dramaturgie auch mit der Verleger derselben ist? Wer hätte ihm sonst die geheimen Ursachen entdecken können, warum ich der einen Schauspielerin eine sonore Stimme beigelegt, und das Probestück einer andern so erhoben habe? Ich war freilich damals in beide verliebt; aber ich hätte doch nimmermehr geglaubt, daß es eine lebendige Seele erraten sollte. Die Damen können es ihm auch unmöglich selbst gesagt haben: folglich hat es mit dem Wahrsagergeiste seine Richtigkeit. Ja, weh uns armen Schriftstellern, wenn unsere hochgebietende Herren, die Jurnalisten und Zeitungsschreiber, mit solchen Kälbern pflügen wollen! Wenn sie zu ihren Beurteilungen, außer ihrer gewöhnlichen Gelehrsamkeit und Scharfsinnigkeit, sich auch noch solcher Stückchen aus der geheimsten Magie bedienen wollen: wer kann wider sie bestehen?

»Ich würde,« schreibt dieser Hr. Stl. aus Eingebung seines Kobolts, »auch den zweiten Band der Dramaturgie anzeigen können, wenn nicht die Abhandlung wider die Buchhändler dem Verfasser zu viel Arbeit machte, als daß er das Werk bald beschließen könnte.«

Man muß auch einen Kobolt nicht zum Lügner machen wollen, wenn er es gerade einmal nicht ist. Es ist nicht ganz ohne, was das böse Ding dem guten Stl. hier eingeblasen.

[702] Ich hatte allerdings so etwas vor. Ich wollte meinen Lesern erzählen, warum dieses Werk so oft unterbrochen worden; warum in zwei Jahren erst, und noch mit Mühe, so viel davon fertig geworden, als auf ein Jahr versprochen war. Ich wollte mich über den Nachdruck beschweren, durch den man den geradesten Weg eingeschlagen, es in seiner Geburt zu ersticken. Ich wollte über die nachteiligen Folgen des Nachdrucks überhaupt, einige Betrachtungen anstellen. Ich wollte das einzige Mittel vorschlagen, ihm zu steuern. – Aber, das wäre ja sonach keine Abhandlung wider die Buchhändler geworden? Sondern vielmehr, für sie: wenigstens, der rechtschaffenen Männer unter ihnen; und es gibt deren. Trauen Sie, mein Herr Stl., Ihrem Kobolte also nicht immer so ganz! Sie sehen es: was solch Geschmeiß des bösen Feindes von der Zukunft noch etwa weiß, das weiß es nur halb. –

Doch nun genug dem Narren nach seiner Narrheit geantwortet, damit er sich nicht weise dünke. Denn eben dieser Mund sagt: anworte dem Narren nicht nach seiner Narrheit, damit du ihm nicht gleich werdest! Das ist: antworte ihm nicht so nach seiner Narrheit, daß die Sache selbst darüber vergessen wird; als wodurch du ihm gleich werden würdest. Und so wende ich mich wieder an meinen ernsthaften Leser, den ich dieser Possen wegen ernstlich um Vergebung bitte.

Es ist die lautere Wahrheit, daß der Nachdruck, durch den man diese Blätter gemeinnütziger machen wollen, die einzige Ursache ist, warum sich ihre Ausgabe bisher so verzögert hat, und warum sie nun gänzlich liegen bleiben. Ehe ich ein Wort mehr hierüber sage, erlaube man mir, den Verdacht des Eigennutzes von mir abzulehnen. Das Theater selbst hat die Unkosten dazu hergegeben, in Hoffnung, aus dem Verkaufe wenigstens einen ansehnlichen Teil derselben wieder zu erhalten. Ich verliere nichts dabei, daß diese Hoffnung fehl schlägt. Auch bin ich gar nicht ungehalten darüber, daß ich den zur Fortsetzung gesammelten Stoff nicht weiter an den Mann bringen kann. Ich ziehe meine Hand von diesem Pfluge eben so gern wieder ab, als ich sie anlegte. Klotz und Konsorten wünschen ohnedem, daß ich sie nie angelegt hätte; und es wird sich leicht einer unter ihnen finden,[703] der das Tageregister einer mißlungenen Unternehmung bis zu Ende führet, und mir zeiget, was für einen periodischen Nutzen ich einem solchen periodischen Blatte hätte erteilen können und sollen.

Denn ich will und kann es nicht bergen, daß diese letzten Bogen fast ein Jahr später niedergeschrieben worden, als ihr Datum besagt. Der süße Traum, ein Nationaltheater hier in Hamburg zu gründen, ist schon wieder verschwunden: und so viel ich diesen Ort nun habe kennen lernen, dürfte er auch wohl gerade der sein, wo ein solcher Traum am spätesten in Erfüllung gehen wird.

Aber auch das kann mir sehr gleichgültig sein! – Ich möchte überhaupt nicht gern das Ansehen haben, als ob ich es für ein großes Unglück hielte, daß Bemühungen vereitelt worden, an welchen ich Anteil genommen. Sie können von keiner besondern Wichtigkeit sein, eben weil ich Anteil daran genommen. Doch wie, wenn Bemühungen von weiterm Belange durch die nämlichen Undienste scheitern könnten, durch welche meine gescheitert sind? Die Welt verliert nichts, daß ich anstatt fünf und sechs Bände Dramaturgie, nur zwei an das Licht bringen kann. Aber sie könnte verlieren, wenn einmal ein nützlicheres Werk eines bessern Schriftstellers eben so ins Stecken geriete; und es wohl gar Leute gäbe, die einen ausdrücklichen Plan darnach machten, daß auch das nützlichste, unter ähnlichen Umständen unternommene Werk verunglücken sollte und müßte.

In diesem Betracht stehe ich nicht an, und halte es für meine Schuldigkeit, dem Publico ein sonderbares Komplot zu denunzieren. Eben diese Dodsley und Compagnie, welche sich die Dramaturgie nachzudrucken erlaubet, lassen seit einiger Zeit einen Aufsatz, gedruckt und geschrieben, bei den Buchhändlern umlaufen, welcher von Wort zu Wort so lautet:

Nachricht an die Herren Buchhändler

Wir haben uns mit Beihülfe verschiedener Herren Buchhändler entschlossen, künftig denenjenigen, welche sich ohne die erforderlichen Eigenschaften in die Buchhandlung mischen werden, (wie es, zum Exempel, die neuaufgerichtete in Hamburg und anderer[704] Orten vorgebliche Handlungen mehrere) das Selbst-Verlegen zu verwehren, und ihnen ohne Ansehen nachzudrucken; auch ihre gesetzten Preise alle Zeit um die Hälfte zu verringern. Die diesen Vorhaben bereits beigetretene Herren Buchhändler, welche wohl eingesehen, daß eine solche unbefugte Störung für alle Buchhändler zum größten Nachteil gereichen müsse, haben sich entschlossen, zu Unterstützung dieses Vorhabens, eine Kasse aufzurichten, und eine ansehnliche Summe Geld bereits eingelegt, mit Bitte, ihre Namen vorerst noch nicht zu nennen, dabei aber versprochen, selbige ferner zu unterstützen. Von den übrigen gutgesinnten Herren Buchhändlern erwarten wir demnach zur Vermehrung der Kasse, desgleichen, und ersuchen, auch unsern Verlag bestens zu recommandieren. Was den Druck und die Schönheit des Papiers betrifft, so werden wir der Ersten nichts nachgeben; übrigens aber uns bemühen, auf die unzählige Menge der Schleichhändler genau Acht zu geben, damit nicht jeder in der Buchhandlung zu höken und zu stören anfange. So viel versichern wir, so wohl als die noch zutretende Herren Mitkollegen, daß wir keinem rechtmäßigen Buchhändler ein Blatt nachdrucken werden; aber dagegen werden wir sehr aufmerksam sein, so bald jemanden von unserer Gesellschaft ein Buch nachgedruckt wird, nicht allein dem Nachdrucker hinwieder allen Schaden zuzufügen, sondern auch nicht weniger denenjenigen Buchhändlern, welche ihren Nachdruck zu verkaufen sich unterfangen. Wir ersuchen demnach alle und jede Herren Buchhändler dienstfreundlichst, von alle Arten des Nachdrucks in einer Zeit von einem Jahre, nachdem wir die Namen der ganzen Buchhändler-Gesellschaft gedruckt angezeigt haben werden, sich los zu machen, oder zu erwarten, ihren besten Verlag für die Hälfte des Preises oder noch weit geringer verkaufen zu sehen. Denenjenigen Herren Buchhändlern von unsre Gesellschaft aber, welchen etwas nachgedruckt werden sollte, werden wir nach Proportion und Ertrag der Kasse eine ansehnliche Vergütung widerfahren zu lassen nicht ermangeln. Und so hoffen wir, daß sich auch die übrigen Unordnungen bei der Buchhandlung mit Beihülfe gutgesinnter Herren Buchhändler in kurzer Zeit legen werden.

Wenn die Umstände erlauben, so kommen wir alle Oster-Messen selbst nach Leipzig, wo nicht, so werden wir doch desfalls Kommission geben. Wir empfehlen uns Deren guten Gesinnungen und verbleiben Deren getreuen Mitkollegen,

J. Dodsley und Compagnie.


Wenn dieser Aufsatz nichts enthielte als die Einladung zu einer genauern Verbindung der Buchhändler, um dem eingerissenen Nachdrucke unter sich zu steuern, so würde schwerlich ein Gelehrter ihm seinen Beifall versagen. Aber [705] wie hat es vernünftigen und rechtschaffenen Leuten einkommen können, diesem Plane eine so strafbare Ausdehnung zu geben? Um ein Paar armen Hausdieben das Handwerk zu legen, wollen sie selbst Straßenräuber werden? »Sie wollen dem nachdrucken, der ihnen nackdruckt.« Das möchte sein; wenn es ihnen die Obrigkeit anders erlauben will, sich auf diese Art selbst zu rächen. Aber sie wollen zugleich das Selbst-Verlegen verwehren. Wer sind die, die das verwehren wollen? Haben sie wohl das Herz, sich unter ihren wahren Namen zu diesem Frevel zu bekennen? Ist irgendwo das Selbst-Verlegen jemals verboten gewesen? Und wie kann es verboten sein? Welch Gesetz kann dem Gelehrten das Recht schmälern, aus seinem eigentümlichen Werke alle den Nutzen zu ziehen, den er möglicher Weise daraus ziehen kann? »Aber sie mischen sich ohne die erforderlichen Eigenschaften in die Buchhandlung.« Was sind das für erforderliche Eigenschaften? Daß man fünf Jahre bei einem Manne Pakete zubinden gelernt, der auch nichts weiter kann, als Pakete zubinden? Und wer darf sich in die Buchhandlung nicht mischen? Seit wenn ist der Buchhandel eine Innung? Welches sind seine ausschließenden Privilegien? Wer hat sie ihm erteilt?

Wenn Dodsley und Compagnie ihren Nachdruck der Dramaturgie vollenden, so bitte ich sie, mein Werk wenigstens nicht zu verstümmeln, sondern auch das getreulich nachdrucken zu lassen, was sie hier gegen sich finden. Daß sie ihre Verteidigung beifügen – wenn anders eine Verteidigung für sie möglich ist – werde ich ihnen nicht verdenken. Sie mögen sie auch in einem Tone abfassen, oder von einem Gelehrten, der klein genug sein kann, ihnen seine Feder dazu zu leihen, abfassen lassen, in welchem sie wollen: selbst in dem so interessanten der Klotzischen Schule, reich an allerlei Histörchen und Anekdötchen und Pasquillchen, ohne ein Wort von der Sache. Nur erkläre ich im voraus die geringste Insinuation, daß es gekränkter Eigennutz sei, der mich so warm gegen sie sprechen lassen, für eine Lüge. Ich habe nie etwas auf meine Kosten drucken lassen, und werde es schwerlich in meinem Leben tun. Ich kenne, wie schon gesagt, [706] mehr als einen rechtschaffenen Mann unter den Buchhändlern, dessen Vermittelung ich ein solches Geschäft gern überlasse. Aber keiner von ihnen muß mir es auch verübeln, daß ich meine Verachtung und meinen Haß gegen Leute bezeige, in deren Vergleich alle Buschklepper und Weglaurer wahrlich nicht die schlimmern Menschen sind. Denn jeder von ihnen macht seinen coup de main für sich: Dodsley und Compagnie aber wollen Bandenweise rauben.

Das Beste ist, daß ihre Einladung wohl von den wenigsten dürfte angenommen werden. Sonst wäre es Zeit, daß die Gelehrten mit Ernst darauf dächten, das bekannte Leibnizische Projekt auszuführen.


Ende des zweiten Bandes

Fußnoten

1 Werke, dritter Teil, S. 252.

2 Teil VI. S. 15.

3 Teil X. S. 255 u. f.

4 Journal Etranger, Decembre 1761.

5 From English Plays, Zara's French author fir'd

Confess'd his Muse, beyond herself, inspir'd;

From rack'd Othello's rage, he rais'd his style

And snatch'd the brand, that lights this tragic pile.

6 Le plus sage de vos ecrivains, setzt Voltaire hinzu. Wie wäre das wohl recht zu übersetzen? Sage heißt, weise; aber der weiseste unter den englischen Schriftstellern, wer würde den Addison dafür erkennen? Ich besinne mich, daß die Franzosen auch ein Mädchen sage nennen, dem man keinen Fehltritt, so keinen von den groben Fehltritten, vorzuwerfen hat. Dieser Sinn dürfte vielleicht hier passen. Und nach diesem könnte man ja wohl gerade zu übersetzen: Addison, derjenige von euern Schriftstellern, der uns harmlosen, nüchternen Franzosen am nächsten kömmt.

7 Questo mortale orror che per le vene

Tutte mi scorre, omai non è dolore,

Che basti ad appagarti, anima bella.

Feroce cor, cor dispietato, e misero,

Paga la pena del delitto orrendo.

Mani crudeli – oh Dio – Mani, che siete

Tinte del sangue di sì cara donna,

Voi – voi – dov' è quel ferro? Un' altra volta

In mezzo al petto – Oimè, dov' è quel ferro?

L'acuta punta – –

Tenebre, e notte

Si fanno intorno – –

Perchè non posso – –

Non posso spargere

Il sangue tutto?

Sì, sì lo spargo tutto, anima mia,

Dove sei? – piu non posso – oh Dio! non posso –

Vorrei – vederti – io manco, io manco, oh Dio!

8 Zaire, bekeerde Turkinne. Treurspel. Amsterdam 1745.

9 Le Comedien, Partie II. Chap. X. p. 209.

10 Histoire du Theatre François. T. XIV. p. 164.

11 Journal Encyclopédique. Juillet 1762.

12 De Officiis Lib. I. Cap. 38.

13 Le Chateau d'Otrante, Pref. p. XIV.

14 Stück 67.

15

BLAISE. Eh! eh! eh! baille-moi cinq sols de monnoye, je n'ons que de grosses pièces.

CLAUDINE le contrefaisant. Eh! eh! eh! di donc, Nicaise, avec tes cinq sols de monnoye, qu'est-ce que t'en veux faire?

BLAISE. Eh! eh! eh! baille moi cinq sols de monnoye, te dis-je.

CLAUDINE. Pourquoi donc, Nicodeme?

BLAISE. Pour ce garçon qui apporte mon paquet depis la voiture jusqu'à cheux nous, pendant que je marchois tout bellement et à mon aise.

CLAUDINE. T'es venu dans la voiture?

BLAISE. Oui, parce que cela est plus commode.

CLAUDINE. T'a baillè un écu?

BLAISE, Oh bian noblement. Combien faut-il? ai-je fait. Un écu, ce m'a-t-on fait. Tenez, le vela, prennez. Tout comme ça.

CLAUDINE. Et tu dépenses cinq sols en porteurs de paquets?

BLAISE. Oui, par maniere de recreation.

ARLEQUIN. Est-ce pour moi les cinq sols, Monsieur Blaise?

BLAISE. Oui, mon ami. etc.

16 Diogenes Laertius Libr. I. § 59.

17 Journal Encyclop. Janvier: 1762.

18 Oben S. 338.

19 Pindarus Olymp. II. str. 5. v. 10.

20 S. 383.

21

Sultan, j'ai pénetré ton ame;

J'en ai demêlé les ressorts.

Elle est grande, elle est fiere, et la gloire l'enflame,

Tant de vertus excitent mes transports.

A ton tour, tu vas me connoitre:

Je t'aime, Soliman; mais tu l'as mérité.

Reprends tes droits, reprends ma liberté;

Sois mon Sultan, mon Heros et mon Maitre.

Tu me soupçonnerois d'injuste vanité.

Va, ne fais rien, que ta loi n'autorise;

Il est des préjugés qu'on ne doit point trahir,

Et je veux un Amant, qui n'ait point à rougir:

Tu vois dans Roxelane une Esclave soumise.

22 Dieses vorausgesetzt, (wie man es denn wohl sicher voraussetzen kann, weil es bei den alten Dichtern nicht gebräuchlich, und auch nicht erlaubt war, einander solche eigene Situationen abzustehlen,) würde sich an der angezogenen Stelle des Plutarchs ein Fragment des Euripides finden, welches Josua Barnes nicht mitgenommen hätte, und ein neuer Herausgeber des Dichters nutzen könnte.

23 Herrn Curtius. S. 214.

24 Lettres familières.

25 Aristote, dans sa Poëtique immortelle, ne balance pas à dire que la reconnoissance de Merope et de son fils étaient le moment le plus interessant de toute la scène Grecque. Il donnait à ce coup de Théatre la preferance sur tous les autres. Plutarque dit que les Grecs, ce peuple si sensible, fremissaient de crainte que le vieillard, qui devait arrêter le bras de Merope, n'arrivât pas assez-tot. Cette pièce, qu'on jouait de son tems, et dont il nous reste tres peu de fragmens, lui paraissait la plus touchante de toutes les tragedies d'Euripide etc. Lettre à Mr. Maffei.

26 Dasjenige, welches Dacier anführet, (Poetique d'Aristote, Chap. XV. Rem. 23.) ohne sich zu erinnern, wo er es gelesen, stehet bei dem Plutarch in der Abhandlung, Wie man seine Feinde nützen solle.

27 Remarque 22. sur le Chapitre XV. de la Poet. d'Arist. Une Mere, qui va tuer son fils, comme Merope va tuer Cresphonte etc.

28 Questa scoperta penso io d'aver fatta, nel leggere la Favola 184 d'Igino, la quale a mio credere altro non è, che l'Argomento di quella Tragedia, in cui si rappresenta interamente la condotta di essa. Sovvienmi, che al primo gettar gli occhi, ch' io feci già in quell' Autore, mi apparve subito nella mente, altro non essere le più di quelle Favole, che gli Argomenti delle Tragedie antiche: mi accertai di eiò col confrontarne alcune poche con le Tragedie, che ancora abbiamo; e appunto in questi giorni, venuta a mano l'ultima edizione d'Igino, mi é stato caro di vedere in un passo addotto, come fu anche il Reinesio di tal sentimento. Una miniera é però questa di Tragici Argomenti, che se fosse stata nota a' Poeti, non avrebbero penato tanto in rinvenir soggetti a lor fantasia: io la scoprirò loro di buona voglia, perchè rendano col loro ingegno alla nostra età ciò, che dal tempo invidioso le fu rapito. Merita dunque, almeno per questo capo, alquanto più di considerazione quell' Operetta, anche tal qual l'abbiamo, che da gli Eruditi non è stato creduto: e quanto al discordar tal volta dagli altri Scrittori della favolose Storie, questa avertenza ce ne addita la ragione, non avendole costui narrate sceondo la tradizione, ma conforme i Poeti in proprio uso convertendole, le avean ridotte.

29 In der 184sten Fabel des Hyginus, aus welcher obige Erzählung genommen, sind offenbar Begebenheiten in einander geflossen, die nicht die geringste Verbindung unter sich haben. Sie fängt an mit dem Schicksale des Pentheus und der Agave, und endet sich mit der Geschichte der Merope. Ich kann gar nicht begreifen, wie die Herausgeber diese Verwirrung unangemerkt lassen können; es wäre denn, daß sie sich bloß in derjenigen Ausgabe, welche ich vor mir habe, (Joannis Schefferi, Hamburgi 1674) befände. Diese Untersuchung überlasse ich dem, der die Mittel dazu bei der Hand hat. Genug, daß hier, bei mir, die 184ste Fabel mit den Worten, quam Licoterses excepit, aus sein muß. Das übrige macht entweder eine besondere Fabel, von der die Anfangsworte verloren gegangen; oder gehöret, welches mir das wahrscheinlichste ist, zu der 137sten, so daß, beides mit einander verbunden, ich die ganze Fabel von der Merope, man mag sie nun zu der 137sten oder zu der 184sten machen wollen, folgendermaßen zusammenlesen würde. Es versteht sich, daß in der letztern die Worte, cum qua Polyphontes, occiso Cresphonte, regnum occupavit, als eine unnötige Wiederholung, mit samt dem darauf folgenden ejus, welches auch so schon überflüssig ist, wegfallen müßte.

Merope

Polyphontes, Messeniae rex, Cresphontem Aristomachi filium cum interfecisset, ejus imperium et Meropem uxorem possedit. Filium autem infantem Merope mater, quem ex Cresphonte habebat, absconse ad hospitem in Aetoliam mandavit. Hunc Polyphontes maxima cum industria quaerebat, aurumque pollicebatur, si quis eum necasset. Qui postquam ad puberem aetatem venit, capit consilium, ut exequatur patris et fratrum mortem. Itaque venit ad regem Polyphontem, aurum petitum, dicens se Cresphontis interfecisse filium et Meropis, Telephontem. Interim rex eum jussit in hospitio manere, ut amplius de eo perquireret. Qui cum per lassitudinem obdormisset, senex qui inter matrem et filium internuncius erat, flens ad Meropem venit, negans eum apud hospitem esse, nec comparere. Merope credens eum esse filii sui interfectorem, qui dormiebat, in Chalcidicum cum securi venit, inscia ut filium suum interfiecret, quem senex cognovit, et matrem a scelere retraxit. Merope postquam invenit, occasionem sibi datam esse, ab inimico se ulciscendi, redit cum Polyphonte in gratiam. Rex laetus cum rem divinam faceret, hospes falso simulavit se hostism percussisse, eumque interfecit, patriumque regnum adeptus est.

30 Je n'ai pu me servir comme Mr. Maffei d'un anneau, parce que depuis l'anneau royal dont Boileau se moque dans ses satyres, cela semblerait trop petit sur notre theatre.

31 Je n'oserais hazarder de faire prendre un heros pour un voleur, quoique la circonstance ou il se trouve autorise cette meprise.

32 Atto I. Sc. III. – – – – – – In core Pero mi venne di lanciar nel fiume Il morto, o semivivo; e con fatica (Ch' inutil' era per riuscire, e vana) L'alzai da terra, e in terra rimaneva Una pozza di sangue a mezo il ponte Portailo in fretta, di vermiglia striscia Sempre rigando il suol; quinci cadere Col capo in giù il lasciai: piombò, e gran tonfo S'udi nel profondarsi in alto salse Lo spruzzo, e l'onda sopra lui si chiuse.

33 Non essendo dunque stato mio pensiero di seguir la Tragedia d'Euripide, non ho cercato per consequenza di porre nella mia que' sentimenti di essa, che son rimasti qua, e là; avendone tradotti cinque versi Cicerone, e recati tre passi Plutarco, e due versi Gellio, e alcuni trovandosene ancora, se la memoria non m'inganna, presso Stobeo.

34 Und der Herr von Voltaire gleichfalls. Denn nicht allein Lindelle sagt: ensuite cette suivante rencontre le jeune Egiste, je ne sais comment, et lui persuade de se reposer dans le vestibule, afin que, quand il sera endormi, la reine puisse le tuer tout à son aise: sondern auch der Hr. von Voltaire selbst la confidente de Mérope engage le jeune Egiste à dormir sur la scene, afin de donner le tems a la reine de venir l'y assassiner. Was aus dieser Übereinstimmung zu schließen ist, brauche ich nicht erst zu sagen. Selten stimmt ein Lügner mit sich selbst überein, und wenn zwei Lügner mit einander übereinstimmen, so ist es gewiß abgeredete Karte.

35 Atto IV. Sc. II.

EGI. Mà di tanto furor, di tanto affanno

Qual' ebbe mai cagion? – –

ISM. Il tutto

Scoprirti io non ricuso; mà egli è d'uopo

Che qui t'arresti per brev' ora: urgente

Cura or mi chiama altrove.

EGI. Io volontieri

T'attendo quanto vuoi.

ISM.Ma non partire

E non far si, ch' io quà ritorni indarno.

EGI. Mia fè dò in pegno; e dove gir dovrei? –

36 Atto IV. Sc. VII.

MER. Ma quale, ô mio fedel, qual potrò io

Darti già mai mercè, che i merti agguagli?

POL. Il mio stesso servir fu premio; ed ora

M'è, il vederti contenta, ampia mercede.

Che vuoi tu darmi? io nulla bramo: caro

Sol mi saria ciò, ch' altri dar non puote,

Che scemato mi fosse il grave incarco

De gli anni, che mi stà su'l capo, e à terra

Il curva, e preme sì, che parmi un monte –

37 Dieses war, zum Teil, schon das Urteil unsers Schlegels. »Die Wahrheit zu gestehen,« sag: er in seinen Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters, beobachten die Engländer, die sich keiner Einheit des Ortes rühmen, dieselbe großenteils viel besser, als die Franzosen, die sich damit viel wissen, daß sie die Regeln des Aristoteles so genau beobachten. Darauf kömmt gerade am allerwenigsten an, daß das Gemälde der Szenen nicht verändert wird. Aber wenn keine Ursache vorhanden ist, warum die auftretenden Personen sich an dem angezeigten Orte befinden, und nicht vielmehr an demjenigen geblieben sind, wo sie vorhin waren; wenn eine Person sich als Herr und Bewohner eben des Zimmers aufführt, wo kurz vorher eine andere, als ob sie ebenfalls Herr vom Hause wäre, in aller Gelassenheit mit sich selbst, oder mit einem Vertrauten gesprochen, ohne daß dieser Umstand auf eine wahrscheinliche Weise entschuldiget wird; kurz, wenn die Personen nur deswegen in den angezeigten Saal oder Garten kommen, um auf die Schaubühne zu treten: so würde der Verfasser des Schauspiels am besten getan haben, anstatt der Worte, »der Schauplatz ist ein Saal in Climenens Hause,« unter das Verzeichnis seiner Personen zu setzen: »der Schauplatz ist auf dem Theater.« Oder im Ernste zu reden, es würde weit besser gewesen sein, wenn der Verfasser, nach dem Gebrauche der Engländer, die Szene aus dem Hause des einen in das Haus eines andern verlegt, und also den Zuschauer seinem Helden nachgeführet hätte; als daß er seinem Helden die Mühe macht, den Zuschauern zu gefallen, an einen Platz zu kommen, wo er nichts zu tun hat.

38 On met des rideaux qui se tirent et retirent, pour faire que les Acteurs paroissent et disparoissent selon la necessité du Sujet – ces rideaux ne sont bons qu'à faire des couvertures pour berner ceux qui les ont inventez, et ceux qui les approuvent. Pratique du Theatre Liv. II. chap. 6.

39 Atto III. Sc. I.

– – – Quando

Saran da poi sopiti alquanto, e queti

Gli animi, I'arte del regnar mi giovi.

Per mute oblique vie n'andranno a Stige

L'alme piu audaci, e generose. A i vizi

Per cui vigor si abbatte, ardir si toglie

Il freno allargherò. Lunga clemenza

Con pompa di pietà farò, che splenda

Su i delinquenti; a i gran delitti invito,

Onde restino i buoni esposti, e paghi

Renda gl'iniqui la licenza; ed onde

Poi fra se distruggendosi, in crudeli

Gare private il lor furor si stempri.

Udrai sovente risonar gli editti,

E raddopiar le leggi, che al sovrano

Giovan servate, e transgredite. Udrai

Correr minaccia ognor di guerra esterna;

Ond' io n'andrò su l'atterrita plebe

Sempre crescendo i pesi, e peregrine

Milizie introdurrò. – –

40 Acte I. Sc. 4.

Si ce fils, tant pleuré, dans Messene est produit,

De quinze ans de travaux j'ai perdu tout le fruit.

Crois-moi, ces projugés de sang et de naissance

Revivront dans les coeurs, y prendront sa defense.

Le souvenir du pere, et cent rois pour ayeux,

Cet honneur pretendu d'etre issu de nos Dieux;

Les cris, le desespoir d'une mere eplorée,

Detruiront ma puissance encor mal aussurée.

41 Atto II. Sc. 6.

Quel scelerato in mio poter vorrei

Per trarne prima, s'ebbe parte in questo

Assassinio il tiranno; io voglio poi

Con una scure spalancargli il petto,

Voglio strappargli il cor, voglio co' denti

Lacerarlo, e sbranarlo – –

42 Oben S. 435.

43 Acte II. Sc. I.

– –

MER. Non, mon fils ne le souffrirait pas.

L'exil ou son enfance a langui condamnée

Lui serait moins affreux que ce lâche hymenée.

EUR. Il le condamnerait, si, paisible en son rang,

Il n'en croyait ici que les droits de son sang;

Mais si par les malheurs son ame etait instruite,

Sur ses vrais intérêts s'il réglait sa conduite,

De ses tristes amis s'il consultait la voix,

Et la necessité souveraine des loix,

Il verrait que jamais sa malheureuse mere

Ne lui donna d'amour une marque plus chére.

ME. Ah que me dites-vous?

EUR. De dures vérités

Que m'arrachent mon zèle et vos calamités.

ME. Quoi! Vous me demandez que l'interet surmonte

Cette invincible horreur que j'ai pour Polifonte!

Vous qui me l'avez peint de si noires couleurs!

EUR. Je l'ai peint dangereux, je connais ses fureurs;

Mais il est tout-puissant; mais rien ne lui resiste;

Il est sans héritier, et vous aimez Egiste. –

44 S. 416.

45 In seiner dramatischen Dichtkunst, hinter dem Hausvater S. 327 d. Übs.

46 Pratique du Théatre Lib. III. chap. I.

47 Fin ne i nomi de' Personaggi si è levato quell' errore, comunissimo alle stampe d'ogni drama, di scoprire il secreto nel premettergli, e per conseguenza di levare il piacere a chi legge, overo ascolta, essendosi messo Egisto, dove era, Cresfonte sotto nome d'Egisto.

48 S. den 5ten und 7ten Abend, Seite 277 und 286.

49 L'Observateur des Spectacles T. II. p. 135.

50 Misantrope Acte II. Sc. 4.

C'est de la tête aux pieds, un homme tout mistere,

Qui vous jette, en passant, un coup d'oeil egaré,

Et sans aucune affaire est toujours affairé.

Tout ce qu'il vous debite en grimaces abonde.

A force de façons il assomme le monde.

Sans cesse il a tout bas, pour rompre l'entretien,

Un secret a vous dire, et ce secret n'est rien.

De la moindre vetille il fait une merveille

Et jusques au bon jour, il dit tout à l'oreille.

51 Briefe, die neueste Literatur betreffend. T. XXI. S. 133.

52 S. den 23sten und 29sten Abend, Seite 321 und 332.

53 Observateur des Spectacles Tome I. p. 211.

54 à d'Alembert p. 193.

55 Ibid. p. 78.

56 Essais de Litt. et de Morale T. IV. p. 295.

57 In der Kritik der Frauenschule, in der Person des Dorante: Les recits euxmêmes y sont des actions suivant la constitution du sujet.

58 S. den 26sten u. 30sten Abend Seite 326 u. 332.

59 Cibber's Lives of the Engl. Poets. Vol. I. p. 147.

60 The Companion to the Theatre. Vol. II. p. 99.

61 Ich weiß zwar nicht, wer diesen Namen eigentlich zuerst gebraucht hat; aber das weiß ich gewiß, daß es Garnier nicht ist. Hedelin sagte: Je ne sçai si Garnier fut le premier qui s'en servit, mais il a fait porter ce titre à sa Bradamante, ce que depuis plusieurs ont imité. (Prat. du Th. Iiv. II. ch. 10) Und dabei hätten es die Geschichtschreiber des französischen Theaters auch nur sollen bewenden lassen. Aber sie machen die leichte Vermutung des Hedelins zur Gewißheit, und gratulieren ihrem Landsmanne zu einer so schönen Erfindung. Voici la première Tragi-Comedie, ou pour mieux dire le premier poeme du Theatre qui a porté ce titre – Garnier ne connoissoit pas assez les finesses de l'art qu'il professoit; tenons-lui cependant compte d'avoir le premier, et sans le secours des Anciens, ni de ses contemporains, fait entrevoir une idée, qui n'a pas été inutile à beaucoup d'Auteurs du dernier siecle. Garniers Bradamante ist von 1582, und ich kenne eine Menge weit frühere spanische und italienische Stücke, die diesen Titel führen.

62 Act. III.

– – – – By all

The Subtilty, and Woman in your Sex,

I swear, that had you been a Man you durst not,

Nay, your bold Father Harry durst not this

Have done – Why say I him? Not all the Harrys,

Nor Alexander's self, were he alive,

Shou'd boust of such a deed on Essex done

Without revenge. – – –

63 Zweite Unterredung hinter dem natürlichen Sohne. S. d. Übers. 247.

64 (Companion to the Theatre Vol. II. p. 105) – The Diction is every where very bad, and in some Places so low, that it even becomes unnatural. – And I think, there cannot be a greater Proof of the little Encouragement this Age affords to Merit, than that no Gentleman possest of a true Genius and Spirit of Poetry, thinks it worth his Attention to adorn so celebrated a Part of History with that Dignity of Expression befitting Tragedy in general, but more particularly, where the Characters are perhaps the greatest the World ever produced.

65 (Journal Encycl. Mars 1761) Il a aussi fait tomber en demence la Comtesse de Rutland au moment que cet illustre epoux est conduit à l'echafaud; ce moment ou cette Comtesse est un objet bien digne de pitié, a produit une tres grande sensation, et a été trouvé admirable à Londres: en Franee il eut paru ridicule, il auroit été sifflé et l'on auroit envoyé la Comtesse avec l'Auteur aux Petites-Maisons.

66 Dar la vida por su Dama, ó el Conde de Sex; de un Ingenio de esta Corte.

67 Las dos columnas bellas

Metiò dentro del rio, y como al vellas

Vi un crystal en el rio desatado,

Y vi crystal en ellas condensado,

No supe si las aguas que se vian

Eran sus pies, que liquidos corrian,

O si sus dos columnas se formaban

De las aguas, que alli se congelaban.

Diese Ähnlichkeit treibt der Dichter noch weiter, wenn er beschreiben will, wie die Dame, das Wasser zu kosten, es mit ihrer hohlen Hand geschöpft, und nach dem Munde geführt habe. Diese Hand, sagt er, war dem klaren Wasser so ähnlich, daß der Fluß selbst für Schrecken zusammen fuhr, weil er befürchtete, sie möchte einen Teil ihrer eigenen Hand mittrinken.

Quiso probar a caso

El agua, y fueron crystalino vaso

Sus manos, acercò las a los labios,

Y entonces el arroyo Ilorò agravios,

Y como tanto, en fin, se parecia

A sus manos aquello que bebia,

Temi con sobresalto (y no fue en vano)

Que se bebiera parte de la mano.

68 Yo, que al principio vi, ciego, y turbado

A una parte nevado

Y en otra negro el rostro,

Juzguè, mirando tan divino monstruo,

Que la naturaleza cuidadosa

Desigualdad uniendo tan hermosa,

Quiso hacer por assombro, o por ultrage,

De azabache y marfil un maridage.

69 Ruido de armas en la Quinta.

Y dentro el Conde? Que aguardo

Que no voi à socorrerle?

Que aguardo? Lindo recado:

Aguardo à que quiera el miedo

Dexarme entrar – –

– – – – –

Cosme, que ha tenido un miedo

Que puede valer por quatro.

70 La muger del hortelano,

Que se lavaba las piernas.

71 Bien podrè seguramente

Revelarte intentos mios,

Como a galan, como a dueño

Como a esposo, y como a amigo.

72 Ay tal traicion! vive el Cielo,

Que de amarla estoi corrido.

Blanca, que es mi dulce dueño,

Blanca, à quien quiero, y estimo,

Me propone tal traicion!

Que harè, porque si ofendido,

Respondiendo, como es justo,

Contra su traicion me irrito,

No por esso ha de evitar

Su resuelto desatino.

Pues darle cuenta a la Reina

Es impossible, pues quiso

Mi suerte, que tenga parte

Blanca en aqueste delito.

Pues si procuro con ruegos

Disuadirla, es desvario,

Que es una muger resuelta

Animal tan vengativo,

Que no se dobla à los riesgos:

Antes con afecto impio,

En el mismo rendimiento

Suelen agusar los filos;

Y quizà desesperada

De mi enojo, o mi desvio,

Se declarara con otro

Menos leal, menos fino,

Que quizà por ella intente,

Lo que yo hacer no he querido.

73 Si estàs consultando, Conde,

Alla dentro de ti mismo

Lo que ha de hacer, no me quieres,

Ya el dudarlo fue delito.

Vive Dios, que eres ingrato!

74

Por vida del Rey mi hermano,

Y por la que mas estimo,

De la Reina mi señora,

Y por – pero yo lo digo

Que en mi es el mayor empeño

De la verdad del decirlo,

Que no tiene Blanca parte

De estar yo aqui – –

– – – –

Y estad mui agradecido

A Blanca, de que yo os dè,

No satisfacion, aviso

De esta verdad, porque a vos,

Hombres como yo –

COND. Imagino

Que no me conoceis bien.

DUQ. No os havia conocido

Hasta aqui; mas ya os conozco,

Pues ya tan otro os he visto

Que os reconozco traidor.

COND. Quien dixere-

DUQ. Yo lo digo,

No pronuncieis algo, Conde,

Que ya no puedo sufriros.

COND. Qualquier cosa que yo intente –

DUQ. Mirad que estoi persuadido

Que hace la traicion cobardes;

Y assi quando os he cogido

En un lance que me dà

De que sois cobarde indicios,

No he de aprovecharme de esto,

Y assi os perdona mi brio

Este rato que teneis

El valor desminuido;

Que a estar tado vos entero,

Supiera daros castigo.

COND. Yo soi el Conde de Sex

Y nadie se me ha atrevido

Sino el hermano del Rey

De Franeia.

DUQ. Yo tengo brio

Para que sin ser quien soi,

Pueda mi valor invicto

Castigar, non digo yo

Solo a vos, mas a vos mismo,

Siendo leal, que es lo mas

Con que queda encarecido.

Y pues sois tan gran Soldado,

No echeis a perder, os pido,

Tantas heroicas hazañas

Con un hecho tan indigno –

75 Miradlo mejor, dexad

Un intento tan indigno,

Corresponded à quien sois,

Y sino bastan avisos,

Mirad que ay Verdugo en Londres,

Y en vos cabeza, harto os digo.

76 No he de responder al Duque

Hasta que el sucesso mismo

Muestre como fueron falsos

De mi traicion los indicios,

Y que soi mas leal, quando

Mas traidor he parecido.

77 Y pues son dos los culpados

Podrà ser, que alguno de ellos

Entregue al otro, que es Ilano,

Que serà traidor amigo

Quien fue desleal vassallo.

78 Y es gran materia de estado

Dar a entender, que los Reyes

Estan en si tan guardados

Que aunque la traicion los busque,

Nunca ha de poder hallarlos;

Y assi el secreto averigue

Enormes delitos, quando

Mas que el castigo escarmientos,

Dè exemplares el pecado.

79 Que ya solo con miraros

Sè el sucesso de la guerra.

80 No bastaba, amor tyranno,

Una inclinacion tan fuerte,

Sin que te ayas ayudado

Del deberle yo la vida?

81

REIN. Loeo Amor –

COND.Necio impossible –

REIN. Què ciego –

COND.Què temerario –

REIN. Me abates a tal baxeza –

COND. Me quieres subir tan alto –

REIN. Advierte, que soi la Reina –

COND. Advierte que soi vasallo –

REIN. Pues me humillas a el abysmo –

COND. Pues me acercas a los rayos –

REIN. Sin reparar mi grandeza –

COND. Sin mirar mi humilde estado –

REIN. Ya que te miro acà dentro –

COND. Ya que en mi te vas entrando –

REIN. Muere entre el pecho, y la voz.

COND. Muere entre el alma, y los labios.

82 Arte nuevo de hazer Comedias, die sich hinter des Lope Rimas befindet.

El Capitan Virves insigne ingenio,

Puso en tres actos la Comedia, que antes

Andava en quatro, como pies de niño,

Que eran entonces niñas las Comedias,

Y yo las escrivi de onze, y doze años,

De à quatro actos, y de à quatro pliegos,

Porque cada acto un pliego contenia.

83 In der Vorrede zu seinen Komödien: Donde me atrevi a reducir las Comedias a tres Jornadas, de cinco que tenian.

84 – Yo no me acordaba

De decirlo, y lo callaba,

Y como me lo entregò,

Ya por decirlo rebiento,

Que tengo tal propriedad,

Que en un hora, ô la mitad,

Se me hace postema un cuenro.

85 Alla va Flora; mas no,

Sera persona mas grave –

No es bien que Flora se alabe

Que el cuento me desflorò.

86 Ya se me viene a la boca

La purga. – – –

O que regueldos tan secos

Me vienen! terrible aprieto. –

Mi estomago no lo Ileva;

Protesto que es gran trabajo,

Meto los dedos – –

Y pues la purga he trocado,

Y el secreto he vomitado

Desde el principio hasta el fin,

Y sin dexar cosa alguna,

Tal asco me diò al decillo,

Voi à probar de un membrillo,

O a morder de una azeituna. – –

87 Es hombre al fin, y ay de aquella

Que a un hombre fiò su honor,

Siendo tan malo el mejor.

88 Abate, abate las alas,

No subas tanto, busquemos

Mas proporcionada esfera

A tan limitado vuelo.

Blanca me quiere, y a Blanca

Adoro yo ya en mi dueño;

Pues como de amor tan noble

Por una ambicion me alexo?

No conveniencia bastarda

Venza un legitimo afecto.

89 Die Spanier haben eine Art von Gedichten welche sie Glossas nennen. Sie nehmen eine oder mehrere Zeilen gleichsam zum Texte, und erklären oder umschreiben diesen Text so, daß sie die Zeilen selbst in diese Erklärung oder Umschreibung wiederum einflechten. Den Text heißen sie Mote oder Letra, und die Auslegung insbesondere Glossa, welches denn aber auch der Name des Gedichts überhaupt ist. Hier läßt der Dichter den Essex das Lied der Irene zum Mote machen, das aus vier Zeilen besteht, deren jede er in einer besondern Stanze umschreibt, die sich mit der umschriebenen Zeile schließt. Das Ganze sieht so aus:

MOTE

Si acaso mis desvarios

Llegaren a tus umbrales,

La lastima de ser males

Quite el horror de ser mios.

GLOSSA

Aunque el dolor me provoca

De mis quexas, y no puedo,

Que es mi osadia tan poca,

Que entre el respeto, y el miedo

Se me mueren en la boca;

Y assi non Ilegan tan mios

Mis males a tus orejas.

Porque no han de ser oidos

Si acaso digo mis quexas,

Si acaso mis desvarios.

El ser tan mal explicados

Sea su mayor indicio,

Que trocando en mis cuidados

El silencio, y vos su oficio,

Quedaran mas ponderados:

Desde oy por estas señales

Sean de ti conocidos,

Que sin duda son mis males

Si algunos mal repetidos

Llegaren a tus umbrales.

Mas ay Dios! que mis cuidados

De tu crueldad conocidos,

Aunque mas acreditados,

Seran menos adquiridos,

Que con los otros mezclados:

Porque no sabiendo a quales

Mas tu ingratitud se deba

Viendolos todos iguales

Fuerza es que en commun te mueva

La lastima de ser males.

En mi este afecto violento

Tu hermoso desden le causa;

Tuyo, y mio es mi tormento;

Tuyo, porque eres la causa;

Y mio, porque yo le siento:

Sepan, Laura, tus desvios

Que mis males son tan tuyos,

Y en mis cuerdos desvarios

Esto que tienen de tuyos

Quite el horror de ser mios.

Es müssen aber eben nicht alle Glossen so symmetrisch sein, als diese. Man hat alle Freiheit, die Stanzen, die man mit den Zeilen des Mote schließt, so ungleich zu machen, als man will. Man braucht auch nicht alle Zeilen einzuflechten; man kann sich auf eine einzige einschränken und diese mehr als einmal wiederholen. Übrigens gehören diese Glossen unter die ältern Gattungen der spanischen Poesie, die nach dem Boscan und Garcilasso ziemlich aus der Mode gekommen.

90 – El mas verdadero amor

Es el que en si mismo quieto

Descansa, sin atender

A mas paga, o mas intento:

La correspondencia es paga,

Y tener por blanco el precio

Es querer por grangeria. – –

– – – – –

Dentro esta nel silencio, y del respeto

Mi amor, y assi mi dicha esta segura,

Presumiendo tal vez (dulce locura!)

Que es admitido del mayor sugeto.

Dexandome engañar de este concepto,

Dura mi bien, porque mi engaño dura;

Necia sera la lengua, si aventura

Un bien que esta seguro en el secreto. –

Que es feliz quien no siendo venturoso

Nunca llega a saber, que es desdichado.

91 Por no morir de mal, quando

Puedo morir de remedio,

Digo pues, ea, ossadia,

Ella me alentò, que temo? –

Que sera bien que a tu Alteza –

Sale Blanca con la vanda puesta.

BL. Señora, el duque –

CON.A mal tiempo

Viene Blanca.

BL. Esta aguardando

En la antecamara –

REIN.Ay, cielo!

BL. Para entrar –

REIN.Que es lo que miro!

BL. Licencia.

REIN.Decid; – que veo! –

Decid que espere; – estoi loca!

Decid, andad.

BL.Ya obedezco.

REIN. Venid aca, volved.

BL.Que manda

Vuestra Alteza?

REIN.El daño es cierto. –

Decidle – no ay que dudar –

Entretenedle un momento –

Ay de mi! – mientras yo salgo –

Y dexadme.

BL.Que es aquesto?

Ya voi.

CON.Ya Blanca se fue,

Quiero pues volver –

REIN.Ha zelos!

CON. A declararme atrevido,

Pues si me atrevo, me atrevo

En fè de sus pretensiones.

REIN. Mi prenda en poder ageno?

Vive dios, pero es verguenza

Que pueda tanto un afecto

En mi.

CON.Segun lo que dixo

Vuestra Alteza aqui, y supuesto,

Que cuesta cara la dicha,

Que se compra con el miedo,

Quiero morir noblemente.

REIN. Porque lo decis?

CON.Que espero,

Si a vuestra Alteza (que dudo!)

Le declarasse mi afecto,

Algun amor –

REIN.Que decis?

A mi? como, loco, necio,

Conoceisme? Quien soi yo?

Decid, quien soi? que sospecho,

Que se os huyo la memoria. –

92 – – No me veais.

Y agradeced el que os dexo

Cabeza, en que se engendraron

Tan livianos pensamientos.

93 – – Ya estoi resuelta;

No a la voluntad mudable

De un hombre esté yo sujeta,

Que aunque no sè que me olvide,

Es necedad, que yo quiera

Dexar a su cortesia

Lo que puede hacer la fuerza.

Gran Isabela, escuchadme,

Y al escucharme tu Alteza,

Ponga aun mas que la atencion,

La piedad con las orejas.

Isabela os he llamado

En esta ocasion, no Reina,

Que quando vengo a deciros

Del honor una flaqueza,

Que he hecho como muger,

Porque mejor o parezca,

No Reina, muger os busco.

Solo muger os quisiera.

94

BL. Le llamè una noche obscura –

REIN. Y vino a verte?

BL. Pluguiera

A dios, que no fuera tanta

Mi desdicha, y su fineza.

Vino mas galan que nunca,

Y yo que dos veces ciega,

Por mi mal, estaba entonces

Del amor, y las tinieblas –

95

REIN. Este es zelo, Blanca.

BL.Zelos,

Añadiendose una letra.

REIN. Que decis?

BL.Señora, que

Si acaso possible fuera,

A no ser vos la que dice

Essas palabras, dixera,

Que eran zelos.

REIN.Que son zelos?

No son zelos, es ofensa

Que me estais haciendo vos.

Supougamos, que quisiera

A el Conde en esta ocasion:

Pues si yo a el Conde quisiera

Y alguna atrevida, loca

Presumida, descompuesta

Le quisiera, que es querer?

Que le mirara, o le viera;

Que es verle? No sè que diga,

No hai cosa que menos sea –

No la quitara la vida?

La sangre no la bebiera? –

Los zelos, aunque fingidos,

Me arrebataron la lengua,

Y dispararon mi enojo –

Mirad que no me deis zelos,

Que si fingidos se altera

Tanto mi enojo, ved vos,

Si fuera verdad, que hiciera –

Escarmentad en las burlas,

No me deis zelos de veras.

96 Conde, vos traidor? Vos, Blanca?

El juicio esta indiferente,

Qual me libra, qual me mata.

Conde, Blanca, respondedme!

Tu a la Reina? tu a la Reina?

Oi, aunque confusamente:

Ha, traidora, dixo el Conde;

Blanca dixo: Traidor eres.

Estas razones de entrambos

A entrambas cosas convienen:

Uno de los dos me libra,

Otro de los dos me ofende.

Conde, qual me daba vida?

Blanca, qual me daba muerte?

Decidme! – no lo digais,

Que neutral mi valor quiere,

Por no saber el traidor,

No saber el innocente.

Mejor es quedar confusa,

En duda mi juieio quede,

Porque quando mire a alguno,

Y de la traicion me acuerde,

A pensar, que es el traidor,

Que es el leal tambien piense.

Yo le agradeciera à Blanca,

Que ella la traidora fuesse,

Solo à trueque de que el Conde

Fuera el, que estaba innocente. –

97 No pudo ser que mintiera

Blanca en lo que me conto

De gozarla el Conde? No,

Que Blanca no lo fingiera:

No pudo haverla gozado,

Sin estar enamorado,

Y quando tierno, y rendido,

Entonces la haya querido,

No puede haverla olvidado?

No le vieron mis antojos

Entre acogimientos sabios,

Mui callando con los labios,

Mui bachiller con los ojos,

Quando al decir sus enojos

Yo su despecho reñi?

98 Que escucho? Señores mios;

Dos mil demonios me lleven,

Si yo confidente soi,

Si lo he sido, o si lo fuere,

Ni tengo intencion de serlo.

– – – Tengo yo

Cara de ser confidente?

Yo no sè que ha visto en mi

Mi amo para tenerme

En esta opinion; y à fe,

Que me holgara de que fuesse

Cosa de mas importancia

Un secretillo mui leve,

Que rabio ya por decirlo,

Que es que el Conde a Blanca quiere,

Que estan casados los dos

En secreto – – –

99

COND. Solo el descargo que tengo

Es el estar innocente.

SENESCAL. Aunque yo quiera creerlo

No me dexan los indicios,

Y advertid, que ya no es tiempo

De dilacion, que mañana

Haveis de morir.

CON.Yo muero

Innocente.

SEN.Pues decid

No escribisteis a Roberto

Esta carta? Aquesta firma

No es la vuestra?

CON.No lo niego.

SEN. El gran duque de Alanzon

No os oyò en el aposento

De Blanca trazar la muerte

De la Reina?

CON.Aquesso es cierto.

SEN. Quando despertò la Reina

No os hallò, Conde, a vos mesmo

Con la pistola en la mano?

Y la pistola que vemos

Vuestro nombre alli gravado

No es vuestro?

CON.Os lo concedo.

SEN. Luego vos estais culpado.

CON. Esso solamente niego.

SEN. Pues como escribisteis, Conde,

La carta al traidor Roberto?

CON. No lo sè.

SEN.Pues como el Duque

Que escuchò vuestros intentos,

Os convence en la traicion?

CON. Porque assi lo quiso el cielo.

SEN. Como hallado en vuestra mano

Os culpa el vil instrumento?

CON. Porque tengo poca dicha. –

SEN. Pues sabed, que si es desdicha

Y no culpa, en tanto aprieto

Os pone vuestra fortuna,

Conde amigo, que supuesto

Que no dais otro descargo,

En fe de indicios tan ciertos,

Mañana vuestra cabeza

Ha de pagar –

100 El Conde me diò la vida

Y assi obligada me veo;

El Conde me daba muerte,

Y assi ofendida me quexo.

Pues ya que con la sentencia

Esta parte he satisfecho,

Pues cumpli con la justicia,

Con el amor cumplir quiero. –

101 Ingeniosa mi fortuna

Hallò en la dicha mas nuevo

Modo de hacerme infeliz,

Pues quando dichoso veo,

Que me libra quien me mata,

Tambien desdichado advierto,

Que me mata quien me libra.

102 Pues si esto ha de ser, primero

Tomad Conde, aqueste llave,

Que si ha de ser instrumento

De vuestra vida, quiza

Tan otra, quitando el velo,

Serè, que no pueda entonces

Hacer lo que ahora puedo,

Y como a daros la vida

Me empeñè, por lo que os debo,

Por si no puedo despues,

De esta suerte me prevengo.

103 Morirè yo consolado,

Aunque si por privilegio

En viendo la cara al Rey

Queda perdonado el reo;

Yo de este indulto, Señora,

Vida por ley me prometo;

Esto es en comun, que es

Lo que a todos da el derecho;

Pero si en particular

Merecer el perdon quiero,

Oid, vereis, que me ayuda

Mayor indulto en mis hechos,

Mis hazañas – –

104 Luego esta, que assi camino

Abrirà a mi vida, abriendo,

Tambien lo abrirà a mi infamia;

Luego esta, que instrumento

De mi libertad, tambien

Lo havrà de ser de mi miedo.

Esta, que solo me sirve

De huir, es el desempeño

De Reinos, que os he ganado,

De servicios, que os he hecho,

Y en fin, de essa vida, de essa,

Que teneis oy por mi esfuerzo?

En esta se cifra tanto? –

105 Vil instrumento

De mi vida, y de mi infamia,

Por esta rexa cayendo

Del parque, que bate el rio,

Entre sus crystales quiero,

Si sois mi esperanza, hundiros,

Caed al humedo centro,

Donde el Tamasis sepulte

Mi esperanza, y mi remedio.

106 Hasta que el tronco cadaver

Le sirva de muda lengua.

107 Y assi al salon de palacio

Hareis que llamados vengan

Los Grandes y los Milordes,

Y para que alli le vean,

Debaxo de una cortina

Hareis poner la cabeza

Con el sangriento cuchillo,

Que amenaza junto a ella,

Por symbole de justicia,

Costumbre de Inglaterra:

Y en estando todos juntos,

Mostrandome justiciera

Exhortandolos primero

Con amor a la obediencia,

Les mostrarè luego al Conde,

Para que todos atiendan,

Que en mi ay rigor que los rinda,

Si ay piedad gue los atreva.

108 Blanca en el ultimo trance,

Porque hablarte no me dexan,

He de escribirte un consejo,

Y tambien una advertencia;

La advertencia es, que yo nunca

Fui traidor, que la promessa

De ayudar en lo que sabes,

Fue por servir a la Reina,

Cogiendo a Roberto en Londres,

Y a los que seguirle intentan;

Para aquesto fue la carta:

Esto he querido que sepas,

Porque adviertas el prodigio

De mi amor, que assi se dexa

Morir, por guardar tu vida.

Esta ha sido la advertencia:

(Valgame dios!) el eonsejo

Es, que desistas la empressa

A que Roberto te incita.

Mira que sin mi te quedas,

Y no ha de haver cada dia

Quien por mucho que te quiera,

Por conservarte la vida

Por traidor la suya pierda.

109 Theatralische Bibliothek, erstes Stück, S. 117.

110 Eligese el sujeto, y no se mire,

(Perdonen los preceptos) si es de Reyes,

Aunque por esto entiendo, que el prudente,

Filipo Rey de España, y Señor nuestro,

En viendo un Rey en ellos se enfadava,

O fuesse el ver, que al arte contradize,

O que la autoridad real no deve

Andar fingida entre la humilde plebe,

Esto es bover à la Comedia antigua,

Donde vemos, que Plauto puso Dioses,

Como en su Anfitrion lo muestra Jupiter.

Sabe Dios, que me pesa de aprovarlo,

Porque Plutarco hablando de Menandro,

No siente bien de la Comedia antigua,

Mas pues del arte vamos tan remotos,

Y en España le hazemos mil agravios,

Cierren los Doctos esta vez los labios.

Lo Tragico, y lo Comico mezclado,

Y Tereneio con Seneca, aunque sea,

Como otro Minotauro de Pasife,

Haran grave una parte, orta ridicula,

Que aquesta variedad deleyta mucho,

Buen exemplo nos da naturaleza,

Que por tal variedad tiene belleza.

111 Zweiter Teil S. 192.

112 – Nam ego vitam duram, quam vixi usque adhuc

Prope jam excurso spatio mitto –

113

MI. Quid istuc? quae res tam repente mores mutavit tuos?

Quod prolubium, quae istaec subita est largitas?

DE.Dicam tibi:

Ut id ostenderem, quod te isti facilem et festivum putant,

Id non fieri ex vera vita, neque adeo ex aequo et bono,

Sed ex assentando, indulgendo, et largiendo, Micio.

Nunc adeo, si ob eam rem vobis mea vita invisa est, Aeschine,

Quia non justa injusta prorsus omnia, omnino obsequor;

Missa facio; effundite, emite, facite quod vobis lubet!

114 – – –

DE. Eccum adest

Communis corruptela nostrum liberum.

MI. Tandem reprime iracundiam, atque ad te redi.

DE. Repressi, redii, mitto maledicta omnia:

Rem ipsam putemus. Dictum hoc inter nos fuit,

Et ex te adeo est ortum, ne tu curares meum,

Neve ego tuum? responde. –

115 – – –

DE. Ne nimium modo

Bonae tuae istae nos rationes, Micio,

Et tuus iste animus aequus subvertat.

MI.Tace;

Non fiet. Mitte jam istaec; da te hodie mihi:

Exporge frontem.

DE.Scilicet ita tempus fert,

Faciendum est: ceterum rus cras cum filio

Cum primo lucu ibo hinc.

MI.De nocte censeo:

Hodie modo hilarum fac te.

DE.Et istam psaltriam

Una illuc mecum hinc abstraham.

MI.Pugnaveris.

Eo pacto prorsum illic alligaris filium.

Modo facito, ut illam serves.

DE.Ego istuc videro,

Atque ibi favillae plena, fumi, ac pollinis,

Coquendo sit faxo et molendo; praeter haec

Meridie ipso faciam ut stipulam colligat:

Tam excoctam reddam atque atram, quam carbo est.

MI.Placet

Nunc mihi videre sapere. Atque equidem filium,

Tum etiam si nolit, cogam, ut cum illa una cubet.

DE. Derides? fortunatus, qui istoc animo sies:

Ego sentio.

MI.Ah, pergisne?

DE.Jam jam desino.

116 Halle 1753. Wunders halben erlaube man mir die Stelle daraus anzuführen, die ich eben itzt übersetzt habe. Was mir hier aus der Feder geflossen, ist weit entfernt, so zu sein, wie es sein sollte; aber man wird doch ungefähr daraus sehen können, worin das Verdienst besteht, das ich dieser Übersetzung absprechen muß.

DEMEA. Aber mein lieber Bruder, daß uns nur nicht deine schönen Gründe, und dein gleichgültiges Gemüte sie ganz und gar ins Verderben stürzen.

MICIO. Ach, schweig doch nur, das wird nicht geschehen. Laß das immer sein. Überlaß dich heute einmal mir. Weg mit den Runzeln von der Stirne.

DEMEA. Ja, ja, die Zeit bringt es so mit sich, ich muß es wohl tun. Aber mit anbrechendem Tage gehe ich wieder mit meinem Sohne aufs Land.

MICIO. Ich werde dich nicht aufhalten, und wenn du die Nacht wieder gehn willst; sei doch heute nur einmal fröhlich.

DEMEA. Die Sängerin will ich zugleich mit herausschleppen.

MICIO. Da tust du wohl, dadurch wirst du machen, daß dein Sohn ohne sie nicht wird leben können. Aber sorge auch, daß du sie gut verhältst.

DEMEA. Dafür werde ich schon sorgen. Sie soll mir kochen, und Rauch, Asche und Mehl sollen sie schon kenntlich machen. Außerdem soll sie mir in der größten Mittagshitze gehen und Ähren lesen, und dann will ich sie ihm so verbrannt und so schwarz, wie eine Kohle, überliefern.

MICIO. Das gefällt mir; nun seh ich recht ein, daß du weislich handelst; aber dann kannst du auch deinen Sohn mit Gewalt zwingen, daß er sie mit zu Bette nimmt.

DEMEA. Lachst du mich etwa aus? Du bist glücklich, daß du ein solches Gemüt hast; aber ich fühle.

MICIO. Ach! hältst du noch nicht inne?

DEMEA. Ich schweige schon.

117 So soll es ohne Zweifel heißen, und nicht: stirbt ohnmöglich bald. Für viele von unsern Schauspielern ist es nötig, auch solche Druckfehler anzumerken.

118 S. den 11ten Abend, Seite 293.

119 S. den 27sten und 33sten und 37sten Abend, Seite 326.

120 Eben erinnere ich mich noch: in des Herrn Schmids Zusätzen zu seiner Theorie der Poesie. S. 45.

121 Im 13ten Kapitel der Dichtkunst.

122 Hr. S. in der Vorrede zu s. komischen Theater, S. 35.

123 Philosophische Schriften des Herrn Moses Mendelssohn, zweiter Teil, S. 4.

124 'Ως δ' άπλως ειπειν, φοβερα εσιν, όσα εφ' έτε ρων γιγνομενα, η μελλοντα, ελεεινα εσιν. Ich weiß nicht, was dem Aemilius Portus (in seiner Ausgabe der Rhetorik, Spirae 1598) eingekommen ist, dieses zu übersetzen: Denique ut simpliciter loquar, formidabilia sunt, quaecunque simulac in aliorum potestatem venerunt, vel ventura sunt, miseranda sunt. Es muß schlechtweg heißen, quaecunque simulac aliis evenerunt, vel eventura sunt.

125 Je hazarderai quelque chose sur cinquante ans de travail pour la scène, sagt er in seiner Abhandlung über das Drama. Sein erstes Stück, Melite, war von 1625, und sein letztes, Surena, von 1675; welches gerade die funfzig Jahr ausmacht, so daß es gewiß ist, daß er, bei den Auslegungen des Aristoteles, auf alle seine Stücke ein Auge haben konnte, und hatte.

126 Il est aisé de nous accommoder avec Aristote etc.

127 Επει δ'εγγυς φαινομενα τα παϑη, ελεεινα εισι. Τα δε μυριοσον ετος γενομενα, η εσομενα, ουτ' ελπιζοντες, ουτε μεμνημενοι, η όλως ουκ ελεουσιν, η ουχ όμοιως, αναγκη τους συναπεργαζομενους σχημασι και φωναις, και εσϑητι, και όλως τη ύποκρισει, ελεεινοτερους ειναι.

128 Hr. Curtius in seiner Abhandlung von der Absicht des Trauerspiels, hinter der Aristotelischen Dichtkunst.

129 Arist. Rhet. lib. II. cap. 9.

130 (Cibber's Lives of the Poets of G. B. and Ir. Vol. II. p. 78. 79) – Some have insinuated, that fine scenes proved the ruin of acting. – In the reign of Charles I. there was nothing more than a curtain of very coarse stuff, upon the drawing up of which, the stage appeared either with bare walls on the sides, coarsly matted, or covered with tapestry; so that for the place originally represented, and all the successive changes, in which the poets of those times freely indulged themselves, there was nothing to help the spectator's understanding, or to assist the actor's performance, but bare imagination. – The spirit and judgement of the actors supplied all deficiencies, and made as some would insinuate, plays more intelligible without scenes, than they afterwards were with them.

131 (Poet. d'Arist. Chap. VI. Rem. 8) Notre Tragedie peut réussir assez dans la premiere partie, c'est a dire, qu'elle peut exciter et purger la terreur et la compassion. Mais elle parvient rarement à la derniere, qui est pourtant la plus utile, elle purge peu les autres passions, ou comme elle roule ordinairement sur des intrigues d'amour, si elle en purgeoit quelqu'une, ce seroit celle-la seule, et par la il est aisé de voir qu'elle ne fait que peu de fruit.

132 J'estime qu'il ne faut point faire de difficulté d'exposer sur la scene des hommes tres vertueux.

133 Reflexions cr. T. I. Sect. XV.

134 S. den 17ten Abend Seite 309.

135 Hist. du Th. Fr. Tome VII. p. 226.

136 S. die Unterredungen hinter dem Natürlichen Sohne S. 321. 22. d. Übers.

137 Petites Lettres sur de grands Philosophes Lettr. II.

138 Impromptu de Versailles Sc. 3. Eh! mon pauvre Marquis, nous lui (à Moliere) fournirons toujours assez de matiere, et nous ne prenons guères le chemin de nous rendre sages par tout ce qu'il fait et tout ce qu'il dit. Crois-tu qu'il ait épuisé dans ses Comedies tous les ridicules des hommes, et sans sortir de la Cour, n'a-t-il pas encore vingt caractères de gens, ou il n'a pas touché? N'a-t-il pas, par exemple, ceux qui se font les plus grandes amitiés du monde, et qui, le dos tourné, font galanterie de se dechirer l'un l'autre? N'a-t-il pas ces adulateurs à outrance, ces flatteurs insipides qui n'assaisonnent d'aucun sel les louanges qu'ils donnent, et dont toutes les flatteries ont une douceur fade qui fait mal au cœur à ceux qui les écoutent? N'a-t-il pas ces lâches courtisans de la faveur, ces perfides adorateurs de la fortune, qui vous encensent dans la prosperité, et vous accablent dans la disgrace? N'a-t-il pas ceux qui sont toujours mécontens de la Cour, ces suivans inutiles, ces incommodes assidus, ces gens, dis-je, qui pour services ne peuvent compter que des importunités, et qui veulent, qu'on les recompense d'avoir obsedé le Prince dix ans durant? N'a-t-il pas ceux qui caressent egalement tout le monde, qui promenent leurs civilités à droite, à gauche, et courent à tous ceux qu'ils voyent avec les mêmes embrassades, et les mêmes protestations d'amitié? – – Va, va, Marquis, Moliere aura toujours plus de sujets qu'il n'en voudra, et tout ce qu'il a touché n'est que bagatelle au prix de ce qui reste.

139 In der dr. Dichtkunst hinter dem Hausvater S. 258. d. Übers.

140 Unterred. S. 292 d. Übers.

141 Falls nämlich die 6te Zeile des Prologs

Duplex quae ex argumento facta est simplici,

von dem Dichter wirklich so geschrieben, und nicht anders zu verstehen ist, als die Dacier und nach ihr der neue englis. Übersetzer des Terenz, Colman, sie erklären. Terence only meant to say, that he had doubled the characters; instead of one old man, one young gallant, one mistress, as in Menander, he had two old men etc. He therefore adds very properly: novam esse ostendi, – which certainly could not have been implied, had the characters been the same in the Greek poet. Auch schon Adrian Barlandus, ja selbst die alte Glossa interlinealis des Ascensius, hatte das duplex nicht anders verstanden: propter senes et juvenes sagt diese; und jener schreibt, nam in hac latina senes duo, adolescentes item duo sunt. Und dennoch will mir diese Auslegung nicht in den Kopf, weil ich gar nicht einsehe, was von dem Stücke übrig bleibt, wenn man die Personen, durch welche Terenz den Alten, den Liebhaber und die Geliebte verdoppelt haben soll, wieder wegnimmt. Mir ist es unbegreiflich, wie Menander diesen Stoff, ohne den Chremes und ohne den Clitipho, habe behandeln können; beide sind so genau hineingeflochten, daß ich mir weder Verwicklung noch Auflösung ohne sie denken kann. Einer andern Erklärung, durch welche sich Julius Scaliger lächerlich gemacht hat, will ich gar nicht gedenken. Auch die, welche Eugraphius gegeben hat, und die vom Faerne angenommen worden, ist ganz unschicklich. In dieser Verlegenheit haben die Kritici bald das duplex bald das simplici in der Zeile zu verändern gesucht, wozu sie die Handschriften gewissermaßen berechtigten. Einige haben gelesen:

Duplex quae ex argumento facta est duplici.

Andere:

Simplex quae ex argumento facta est duplici.

Was bleibt noch übrig, als daß nun auch einer lieset:

Simplex quae ex argumento facta est simplici.

Und in allem Ernste: so möchte ich am liebsten lesen. Man sehe die Stelle im Zusammenhange, und überlege meine Gründe.

Ex integra Graeca integram comoediam

Hodie sum acturus Heavtontimorumenon:

Simplex quae ex argumento facta est simplici.

Es ist bekannt, was dem Terenz von seinen neidischen Mitarbeitern am Theater vorgeworfen ward:

Multas contaminasse graecas, dum facit

Paucas latinas –

Er schmelzte nämlich öfters zwei Stücke in eines, und machte aus zwei Griechischen Komödien eine einzige Lateinische. So setzte er seine Andria aus der Andria und Perinthia des Menanders zusammen; seinen Eunuchus, aus dem Eunuchus und dem Colax eben dieses Dichters; seine Brüder, aus den Brüdern des nämlichen und einem Stücke des Diphilus. Wegen dieses Vorwurfs rechtfertiget er sich nun in dem Prologe des Heautontimorumenos. Die Sache selbst gesteht er ein; aber er will damit nichts anders getan haben, als was andere gute Dichter vor ihm getan hätten.

– – – Id esse factum hic non negat

Neque se pigere, et deinde factum iri autumat.

Habet bonorum exemplum: quo exemplo sibi

Licere id facere, quod illi fecerunt, putant.

Ich habe es getan, sagt er, und ich denke, daß ich es noch öfterer tun werde. Das bezog sich aber auf vorige Stücke, und nicht auf das Gegenwärtige, den Heautontimorumenos. Denn dieser war nicht aus zwei griechischen Stücken, sondern nur aus einem einzigen gleiches Namens genommen. Und das ist es, glaube ich, was er in der streitigen Zeile sagen will, so wie ich sie zu lesen vorschlage:

Simplex quae ex argumento facta est simplici.

So einfach, will Terenz sagen, als das Stück des Menanders ist, eben so einfach ist auch mein Stück; ich habe durchaus nichts aus andern Stücken eingeschaltet; es ist, so lang es ist, aus dem griechischen Stücke genommen, und das griechische Stück ist ganz in meinem Lateinischen; ich gebe also

Ex integra Graeca integram Comoediam.

Die Bedeutung, die Faerne dem Worte integra in einer alten Glosse gegeben fand, daß es so viel sein sollte, als a nullo tacta, ist hier offenbar falsch, weil sie sich nur auf das erste integra, aber keinesweges auf das zweite integram schicken würde. – Und so glaube ich, daß sich meine Vermutung und Auslegung wohl hören läßt! Nur wird man sich an die gleich folgende Zeile stoßen:

Novam esse ostendi, et quae esset –

Man wird sagen: wenn Terenz bekennet, daß er das ganze Stück aus einem einzigen Stücke des Menanders genommen habe; wie kann er eben durch dieses Bekenntnis bewiesen zu haben vorgeben, daß sein Stück neu sei, novam esse? – Doch diese Schwierigkeit kann ich sehr leicht heben, und zwar durch eine Erklärung eben dieser Worte, von welcher ich mich zu behaupten getraue, daß sie schlechterdings die einzige wahre ist, ob sie gleich nur mir zugehört, und kein Ausleger, so viel ich weiß, sie nur von weitem vermutet hat. Ich sage nämlich: die Worte,

Novam esse ostendi, et quae esset –

beziehen sich keineswegs auf das, was Terenz den Vorredner in dem Vorigen sagen lassen; sondern man muß darunter verstehen, apud Aediles; novus aber heißt hier nicht, was aus des Terenz eigenem Kopfe geflossen, sondern bloß, was im Lateinischen noch nicht vorhanden gewesen. Daß mein Stück, will er sagen, ein neues Stück sei, das ist, ein solches Stück, welches noch nie lateinisch erschienen, welches ich selbst aus dem Griechischen übersetzt, das habe ich den Ädilen, die mir es abgekauft, bewiesen. Um mir hierin ohne Bedenken beizufallen, darf man sich nur an den Streit erinnern, welchen er, wegen seines Eunuchus, vor den Ädilen hatte. Diesen hatte er ihnen als ein neues, von ihm aus dem Griechischen übersetztes Stück verkauft: aber sein Widersacher, Lavinius, wollte den Ädilen überreden, daß er es nicht aus dem Griechischen, sondern aus zwei alten Stücken des Nävius und Plautus genommen habe. Freilich hatte der Eunuchus mit diesen Stücken vieles gemein; aber doch war die Beschuldigung des Lavinius falsch; denn Terenz hatte nur aus eben der griechischen Quelle geschöpft, aus welcher, ihm unwissend, schon Nävius und Plautus vor ihm geschöpft hatten. Also, um dergleichen Verleumdungen bei seinem Heautontimorumenos vorzubauen, was war natürlicher, als daß er den Ädilen das griechische Original vorgezeigt, und sie wegen des Inhalts unterrichtet hatte? Ja, die Ädilen konnten das leicht selbst von ihm gefodert haben. Und darauf geht das

Novam esse ostendi, et quae esset.

142 Tusc. Quaest. lib. III. c. 27.

143 Dichtk. 9tes Kapitel.

144 Aristote previent ici une objection, qu'on pouvoit lui faire, sur la definition, qu'il vient de donner d'une chose generale; car les ignorans n'auroient pas manqué de lui dire, qu' Homere, par exemple, n'a point en vuë d'ecrire une action generale et universelle, mais une action particuliere, puisqu'il raconte ce qu'ont fait de certains hommes, comme Achille, Agamemnon, Ulysse, etc. et que par consequent, il n'y a aucune difference entre Homere et un Historien, qui auroit ecrit les actions d'Achille. Le Philosophe va au devant de cette objection, en faisant voir que les Poetes, c'est a dire, les Auteurs d'une Tragedie ou d'un Poeme Epique, lors meme, qu'ils imposent les noms à leurs personnages, ne pensent en aucune maniere à les faire parler veritablement, ce qu'ils seroient obligez de faire, s'ils ecrivoient les actions particulieres et veritables d'un certain homme, nommé Achille ou Edipe, mais qu'ils se proposent de les faire parler et agir necessairement ou vraisemblablement; c'est à dire, de leur faire dire, et faire tout ce que des hommes de ce meme caractére devoient faire et dire en cet etat, ou par necessité, ou au moins selon les regles de la vraisemblance; ce qui prouve incontestablement que ce sont des actions generales et universelles. Nichts anders sagt auch Herr Curtius in seiner Anmerkung; nur daß er das Allgemeine und Einzelne noch an Beispielen zeigen wollen, die aber nicht so recht beweisen, daß er auf den Grund der Sache gekommen. Denn ihnen zu Folge würden es nur personifierte Charaktere sein, welche der Dichter reden und handeln ließe: da es doch charakterisierte Personen sein sollen.

145 Diese Periode könnte leicht sehr falsch verstanden werden. Nämlich wenn man sie so verstehen wollte, als ob Donatus auch das für etwas ungereimtes hielte, Comicum aperte argumentum confingere. Und das ist doch die Meinung des Donatus gar nicht. Sondern er will sagen: es würde ungereimt sein, wenn der komische Dichter, da er seinen Stoff offenbar erfindet, gleichwohl den Personen unschickliche Namen, oder Beschäftigungen beilegen wollte, die mit ihren Namen stritten. Denn freilich, da der Stoff ganz von der Erfindung des Dichters ist, so stand es ja einzig und allein bei ihm, was er seinen Personen für Namen beilegen, oder was er mit diesen Namen für einen Stand oder für eine Verrichtung verbinden wollte. Sonach dürfte sich vielleicht Donatus auch selbst so zweideutig nicht ausgedrückt haben; und mit Veränderung einer einzigen Sylbe ist dieser Anstoß vermieden. Man lese nämlich entweder: Absurdum est, Comicum aperte argumentum confingentem vel nomen personae etc. Oder auch aperte argumentum confingere et nomen personae u.s.w.

146 Hurd in seiner Abhandlung über die verschiedenen Gebiete des Drama: From the account of Comedy, here given, it may appear, that the idea of this drama is much enlarged beyond what it was in Aristotle's time; who defines it to be, an imitation of light and trivial actions, provoking ridicule. His notion was taken from the state and practice of the Athenian stage; that is from the old or middle comedy, which answer to this description. The great revolution, which the introduction of the new comedy made in the drama, did not happen till afterwards. Aber dieses nimmt Hurd bloß an, damit seine Erklärung der Komödie mit der Aristotelischen nicht so gerade zu zu streiten scheine. Aristoteles hat die Neue Komödie allerdings erlebt, und er gedenkt ihrer namentlich in der Moral an den Nicomachus, wo er von dem anständigen und unanständigen Scherze handelt. (Lib. IV. cap. 14) Ιδοι δ' αν τις και εκ των κωμωδιων των παλαιων και των καινων. Τοις μεν γαρ ην γελοιον ή αισχρολογια, τοις δε μαλλον ή ύπονοια. Man könnte zwar sagen, daß unter der Neuen Komödie hier dieMittlere verstanden werde; denn als noch keine Neue gewesen, habe notwendig die Mittlere die Neue heißen müssen. Man könnte hinzusetzen, daß Aristoteles in eben der Olympiade gestorben, in welcher Menander sein erstes Stück aufführen lassen, und zwar noch das Jahr vorher. (Eusebius in Chronico ad Olymp. CXIV. 4) Allein man hat Unrecht, wenn man den Anfang der Neuen Komödie von dem Menander rechnet; Menander war der erste Dichter dieser Epoche, dem poetischen Werte nach, aber nicht der Zeit nach. Philemon, der dazu gehört, schrieb viel früher, und der Übergang von der Mittlern zur Neuen Komödie war so unmerklich, daß es dem Aristoteles unmöglich an Mustern derselben kann gefehlt haben. Aristophanes selbst hatte schon ein solches Muster gegeben; seinKokalos war so beschaffen, wie ihn Philemon sich mit wenigen Veränderungen zueignen konnte: Κωκαλον heißt es in dem Leben des Aristophanes, εν ώ εισαγει φϑοραν και αναγνωρισμον, και ταλλα παντα ά εζηλωσε Μενανδρος. Wie nun also Aristophanes Muster von allen verschiedenen Abänderungen der Komödie gegeben, so konnte auch Aristoteles seine Erklärung der Komödie überhaupt auf sie alle einrichten. Das tat er denn; und die Komödie hat nachher keine Erweiterung bekommen, für welche diese Erklärung zu enge geworden wäre. Hurd hätte sie nur recht verstehen dürfen; und er würde gar nicht nötig gehabt haben, um seine an und für sich richtigen Begriffe von der Komödie außer allen Streit mit den Aristotelischen zu setzen, seine Zuflucht zu der vermeintlichen Unerfahrenheit des Aristoteles zu nehmen.

147 Wenn, nach dem Aristoteles, das Schema der Komödie von dem Margites des Homer, ου ψογον, αλλα το γελοιον δραματοποιησαντος, genommen worden: so wird man, allem Ansehen nach, auch gleich Anfangs die erdichteten Namen mit eingeführt haben. Denn Margites war wohl nicht der wahre Name einer gewissen Person: indem Μαργειτης, wohl eher von μαργης gemacht worden, als daß μαργης von Μαργειτης sollte entstanden sein. Von verschiednen Dichtern der alten Komödie finden wir es auch ausdrücklich angemerkt, daß sie sich aller Anzüglichkeiten enthalten, welches bei wahren Namen nicht möglich gewesen wäre. Z.E. von dem Pherekrates.

148 Die persönliche und namentliche Satyre war so wenig eine wesentliche Eigenschaft der alten Komödie, daß man vielmehr denjenigen ihrer Dichter gar wohl kennet, der sich ihrer zuerst erkühnet. Es war Cratinus welcher zuerst τω χαριεντι της κωμωδιας το ωφελιμον προσεϑηκε, τους κακως πραττοντας διαβαλλων, και ώσπερ δημοσια μασιγι τη κωμωδια κολαζων. Und auch dieser wagte sich nur Anfangs an gemeine verworfene Leute, von deren Ahndung er nichts zu befürchten hatte. Aristophanes wollte sich die Ehre nicht nehmen lassen, daß er es sei, welcher sich zuerst an die Großen des Staats gewagt habe: (Ir. v. 750)

Ουκ ιδιωτας ανϑρωπισκους κωμωδων, ουδε γυναικας,

Αλλ' 'Ηρακλεους οργην τιν' εχων, τοισι μεγισοις επιχειρει.

Ja er hätte lieber gar diese Kühnheit als sein eigenes Privilegium betrachten mögen. Er war höchst eifersüchtig, als er sahe, daß ihn so viele andere Dichter, die er verachtete, darin nachfolgten.

149 Welches gleichwohl fast immer geschieht. Ja man geht noch weiter, und will behaupten, daß mit den wahren Namen auch wahre Begebenheiten verbunden gewesen, an welchen die Erfindung des Dichters keinen Teil gehabt. Dacier selbst sagt: Aristote n'a pu vouloir dire qu'Epicharmus et Phormis inventerent les sujets de leurs pieces, puisque l'un et l'autre ont été des Poëtes de la vieille Comedie, ou il n'y avoit rien de feint, et que ces avantures feintes ne commencerent à etre mises sur le theatre, que du tems d'Alexandre le Grand, c'est à dire dans la nouvelle Comedie. Remarque sur le Chap. V. de la Poet. d'Arist. Man sollte glauben, wer so etwas sagen könne, müßte nie auch nur einen Blick in den Aristophanes getan haben. Das Argument, die Fabel der alten Griechischen Komödie war eben sowohl erdichtet, als es die Argumente und Fabeln der Neuen nur immer sein konnten. Kein einziges von den übrig gebliebenen Stücken des Aristophanes stellt eine Begebenheit vor, die wirklich geschehen wäre: und wie kann man sagen, daß sie der Dichter deswegen nicht erfunden, weil sie zum Teil auf wirkliche Begebenheiten anspielt? Wenn Aristoteles als ausgemacht annimmt, ότι τον ποιητην μαλλον των μυϑων ειναι δει ποιητην, η των μετρων: würde er nicht schlechterdings die Verfasser der alten Griechischen Komödie aus der Klasse der Dichter haben ausschließen müssen, wenn er geglaubt hätte, daß sie die Argumente ihrer Stücke nicht erfunden? Aber so wie es, nach ihm, in der Tragödie gar wohl mit der poetischen Erfindung bestehen kann, daß Namen und Umstände aus der wahren Geschichte entlehnt sind: so muß es, seiner Meinung nach, auch in der Komödie bestehen können. Es kann unmöglich seinen Begriffen gemäß gewesen sein, daß die Komödie dadurch, daß sie wahre Namen brauche, und auf wahre Begebenheiten anspiele, wiederum in die Jambische Schmähsucht zurück falle: vielmehr muß er geglaubt haben, daß sich das καϑολου ποιειν λογους η μυϑους gar wohl damit vertrage. Er gesteht dieses den ältesten komischen Dichtern, dem Epicharmus, dem Phormis und Krates zu, und wird es gewiß dem Aristophanes nicht abgesprochen haben, ob er schon wußte, wie sehr er nicht allein den Kleon und Hyperbolus, sondern auch den Perikles und Sokrates namentlich mitgenommen.

150 Mit der Strenge, mit welcher Plato das Verbot, jemand in der Komödie lächerlich zu machen, in seiner Republik einführen wollte, (μητε λογω, μητε εικονι, μητε ϑυμω, μητε ανευ ϑυμου, μηδαμως μηδενα των πολιτων κωμωδειν) ist in der wirklichen Republik niemals darüber gehalten worden. Ich will nicht anführen, daß in den Stücken des Menander noch so mancher Cynische Philosoph, noch so manche Buhlerin mit Namen genennt ward: man könnte antworten, daß dieser Abschaum von Menschen nicht zu den Bürgern gehört. Aber Ktesippus, der Sohn des Chabrias, war doch gewiß Atheniensischer Bürger, so gut wie einer: und man sehe, was Menander von ihm sagte. (Menandri Fr. p. 137. Edit. CI.)

151 Bei den Versen der Horazischen Dichtkunst: Respicere exemplar vitae morumque jubebo Doctum imitatorem, et veras hinc ducere voces, wo Hurd zeiget, daß die Wahrheit, welche Horaz hier verlangt, einen solchen Ausdruck bedeute, als der allgemeinen Natur der Dinge gemäß ist; Falschheit hingegen das heiße, was zwar dem vorhabenden besondern Falle angemessen, aber nicht mit jener allgemeinen Natur übereinstimmend sei.

152 Non hominem ex aere fecit, sed iracundiam. Plinius libr. 34. 8.

153 Beim B. Jonson sind zwei Komödien, die er vom Humor benennt hat: die eine Every Man in his Humour, und die andere Every Man out of his Humour. Das Wort Humor war zu seiner Zeit aufgekommen, und wurde auf die lächerlichste Weise gemißbraucht. Sowohl diesen Mißbrauch, als den eigentlichen Sinn desselben, bemerkt er in folgender Stelle selbst:

As when some one peculiar quality

Doth so possess a Man, that it doth draw

All his affects, his spirits, and his powers,

In their construction, all to run one way,

This may be truly said to be a humour.

But that a rook by wearing a py'd feather,

The cable hatband, or the three-pil'd ruff,

A yard of shoe-tye, Switzer's knot

On his French garters, should affect a humour!

O, it is more than most ridiculous.

In der Geschichte des Humors sind beide Stücke des Jonson also sehr wichtige Dokumente, und das letztere noch mehr als das erstere. Der Humor, den wir den Engländern itzt so vorzüglich zuschreiben, war damals bei ihnen großen Teils Affektation; und vornehmlich diese Affektation lächerlich zu machen, schilderte Jonson Humor. Die Sache genau zu nehmen, müßte auch nur der affektierte, und nie der wahre Humor ein Gegenstand der Komödie sein. Denn nur die Begierde, sich von andern auszuzeichnen, sich durch etwas Eigentümliches merkbar zu machen, ist eine allgemeine menschliche Schwachheit, die, nach Beschaffenheit der Mittel, welche sie wählet, sehr lächerlich, oder auch sehr strafbar werden kann. Das aber, wodurch die Natur selbst, oder eine anhaltende zur Natur gewordene Gewohnheit, einen einzeln Menschen von allen andern auszeichnet, ist viel zu speziell, als daß es sich mit der allgemeinen philosophischen Absicht des Drama vertragen könnte. Der überhäufte Humor in vielen Englischen Stücken, dürfte sonach auch wohl das Eigene, aber nicht das Bessere derselben sein. Gewiß ist es, daß sich in dem Drama der Alten keine Spur von Humor findet. Die alten dramatischen Dichter wußten das Kunststück, ihre Personen auch ohne Humor zu individualisieren: ja die alten Dichter überhaupt. Wohl aber zeigen die alten Geschichtschreiber und Redner dann und wann Humor; wenn nämlich die historische Wahrheit, oder die Aufklärung eines gewissen Facti, diese genaue Schilderung καϑ' έκασον erfodert. Ich habe Exempel davon fleißig gesammelt, die ich auch bloß darum in Ordnung bringen zu können wünschte, um gelegentlich einen Fehler wieder gut zu machen, der ziemlich allgemein geworden ist. Wir übersetzen nämlich itzt, fast durchgängig, Humor durch Laune; und ich glaube mir bewußt zu sein, daß ich der erste bin, der es so übersetzt hat. Ich habe sehr unrecht daran getan, und ich wünschte, daß man mir nicht gefolgt wäre. Denn ich glaube es unwidersprechlich beweisen zu können, daß Humor und Laune ganz verschiedene, ja in gewissem Verstande gerade entgegen gesetzte Dinge sind. Laune kann zu Humor werden; aber Humor ist, außer diesem einzigen Falle, nie Laune. Ich hätte die Abstammung unsers deutschen Worts und den gewöhnlichen Gebrauch desselben, besser untersuchen und genauer erwägen sollen. Ich schloß zu eilig, weil Laune das Französische Humeur ausdrücke, daß es auch das Englische Humour ausdrücken könnte: aber die Franzosen selbst können Humour nicht durch Humeur übersetzen. – Von den genannten zwei Stücken des Jonson hat das erste, Jedermann in seinem Humor, den vom Hurd hier gerügten Fehler weit weniger. Der Humor, den die Personen desselben zeigen, ist weder so individuell, noch so überladen, daß er mit der gewöhnlichen Natur nicht bestehen könnte; sie sind auch alle zu einer gemeinschaftlichen Handlung so ziemlich verbunden In dem zweiten hingegen, Jedermann aus seinem Humor, ist fast nicht die geringste Fabel; es treten eine Menge der wunderlichsten Narren nach einander auf, man weiß weder wie, noch warum; und ihr Gespräch ist überall durch ein Paar Freunde des Verfassers unterbrochen, die unter dem Namen Grex eingeführt sind, und Betrachtung über die Charaktere der Personen und über die Kunst des Dichters, sie zu behandeln, anstellen. Das aus seinem Humor, out of his Humour, zeigt an, daß alle die Personen in Umstände geraten, in welchen sie ihres Humors satt und überdrüssig werden.

154 De arte poet. v. 310. 317. 18.

155 De Orat. I. 51.

156 Nach Maßgebung der Antiken. Nec enim Phidias, cum faceret Jovis formam aut Minervae, contemplabatur aliquem e quo similitudinem duceret: sed ipsius in mente insidebat species pulchritudinis eximia quaedam, quam intuens in eaque defixus ad illius similitudinem artem et manum dirigebat. (Cic. Or. 2)

157 Plato de Repl. L. X.

158 Dichtkunst Kap. 9.

159 Ebendas. Kap. 25.

160 Diese Erklärung ist der, welche Dacier von der Stelle des Aristoteles gibt, weit vorzuziehen. Nach den Worten der Übersetzung scheinet Dacier zwar eben das zu sagen, was Hurd sagt: que Sophocle faisoit ses Heros, comme ils devoient etre et qu' Euripide les faisoit comme ils etoient. Aber er verbindet im Grunde einen ganz andern Begriff damit. Hurd verstehet unter dem Wie sie sein sollten, die allgemeine abstrakte Idee des Geschlechts, nach welcher der Dichter seine Personen mehr, als nach ihren individuellen Verschiedenheiten schildern müsse. Dacier aber denkt sich dabei eine höhere moralische Vollkommenheit, wie sie der Mensch zu erreichen fähig sei, ob er sie gleich nur selten erreiche; und diese, sagt er, habe Sophokles seinen Personen gewöhnlicher Weise beigelegt: Sophocle tachoit de rendre ses imitations parfaites, en suivant toujours bien plus ce qu'une belle Nature etoit capable de faire, que ce qu'elle faisoit. Allein diese höhere moralische Vollkommenheit gehöret gerade zu jenem allgemeinen Begriffe nicht; sie stehet dem Individuo zu, aber nicht dem Geschlechte; und der Dichter, der sie seinen Personen beilegt, schildert gerade umgekehrt, mehr in der Manier des Euripides als des Sophokles. Die weitere Ausführung hiervon verdienet mehr als eine Note.

161 In calling the tragic character particular, I suppose it only less representative of the kind than the comic; not that the draught of so much character as it is concerned to represent should not be general.

162 Επιτ. της συγκρισεως Αρις. και Μεναν. p. 1588. Ed. Henr. Stephani.

163 Drei und siebzigstes Stück. S. 569.

164 Aufz. I. Auft. 3. S. 18.

165 Seite 30.

166 Act. II. Sc. 4.

AE. Hoc mihi dolet, nos paene sero scisse: et paene in eum locum

Rediisse, ut si omnes cuperent, nihil tibi possent auxiliarier.

CT. Pudebat.

AE. Ah, stultitia est istaec, non pudor, tam ob parvulam

Rem paene e patria: turpe dictu. Deos quaeso ut istaec prohibeant.

167 I. Aufz. 6. Auft.

168 Sylloge V. Miscell. cap. 10. Videat quaeso accuratus lector, num pro Menandro legendum sit Diphilus. Certe vel tota Comoedia, vel pars istius argumenti, quod hic tractatur, ad verbum e Diphilo translata est. – Ita cum Diphili comoedia a commoriendo nomen habeat, et ibi dicatur adolescens mori voluisse, quod Terentius in fugere mutavit: omnino adducor, eam imitationem a Diphilo, non a Menandro mutuatam esse, et ex eo commoriendi cum puella studio συναποϑνησκοντες nomen fabulae inditum esse. –

169 Act V. Sc. VIII.

DE. Ego vero jubeo, et in hac re, et in aliis omnibus,

Quam maxime unam facere nos hanc familiam;

Colere, adjuvare, adjungere.

AES. Ita quaeso pater.

MI. Haud aliter censeo.

DE. Imo hercle ita nobis decet.

Primum hujus uxoris est mater.

MI. Quid postea?

DE. Proba, et modesta.

MI. Ita ajunt.

DE. Natu grandior.

MI. Scio.

DE. Parere jam diu haec per annos non potest:

Nec qui eam respiciat, quisquam est; sola est.

MI. Quam hic rem agit?

DE. Hanc te aequum est ducere; et te operam, ut fiat, dare.

MI. Me ducere autem?

DE. Te.

MI. Me?

DE. Te inquam.

Ml. Ineptis.

DE. Si tu sis homo,

Hic faciat.

AES. Mi pater.

Ml. Quid? Tu autem huic, asine, auscultas.

DE. Nihil agis,

Fieri aliter non potest.

MI. Deliras.

AES. Sine te exorem, mi pater.

MI. Insanis, aufer.

DE. Age, da veniam filio.

MI. Satin' sanus es?

Ego novus maritus anno demum quinto et sexagesimo

Fiam; atque anum decrepitam ducam? Idne estis auctores mihi?

AES. Fac; promisi ego illis.

MI. Promisti autem? de te largitor puer.

DE. Age, quid, si quid te majus oret?

MI. Quasi non hoc sit maximum.

DE. Da veniam.

AES. Ne gravere.

DE. Fac, promitte.

MI. Non omittitis?

AES. Non; nisi te exorem.

MI. Vis est haec quidem.

DE. Age prolixe Micio.

MI. Etsi hoc mihi pravum, ineptum, absurdum, atque alienum a vita mea

Videtur: si vos tantopere istuc vultis, fiat. – – –

170 An opinion JOHN DE LA CASA, archbishop of Benevento, was afflicted with – which opinion was, – that whenever a Christian was writing a book (not for his private amusement, but) where his intent and purpose was bona fide, to print and publish it to the world, his first thoughts were the temptations of the evil one.

– My father was hugely pleased with this theory of John de la Casa; and (had it not cramped him a little in his creed) I believe would have given ten of the best acres in the Shandy estate, to have been the broacher of it; – but as he could not have the honour of it in the litteral sense of the doctrine, he took up with the allegory of it. Prejudice of education, he would say, is the devil etc. (Life and Op. of Tristram Shandy Vol. V. p. 74.)

171 (Animadv. in Athenaeum Libr. VI. cap. 7.) Διδασκαλια accipitur pro eo scripto, quo explicatur ubi, quando, quomodo et quo eventu fabula aliqua fuerit acta. – Quantum critici hac diligentia veteres chronologos adjuverint, soli aestimabunt illi, qui norunt quam infirma et tenuia praesidia habuerint, qui ad ineundam fugacis temporis rationem primi animum appulerunt. Ego non dubito, eo potissimum spectasse Aristotelem, cum Διδασκαλιας suas componeret –

172 Neuntes Stück S. 60.

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TextGrid Repository (2012). Lessing, Gotthold Ephraim. Ästhetische Schriften. Hamburgische Dramaturgie. Hamburgische Dramaturgie. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-E76A-3